Band 1 - 4
Sämtliche Personen, Orte und Begebenheiten sind frei erfunden, Ähnlichkeiten rein zufällig. Der Inhalt dieses Buches sagt nichts über die sexuelle Orientierung des Covermodels aus.
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Text: Sissi Kaipurgay
Foto von shutterstock
Covergestaltung: Lars Rogmann
Zwei unterschiedliche Männer reisen nach Amrum. Der eine, Lutz, möchte sich erholen, der andere, Roman, Party machen. Eigentlich kein Problem, sofern man sich nicht ins Gehege kommt.
Mit einer Hand beschatte ich meine Augen, um über die gleißende Meeresoberfläche zu blicken. Die Sonnenstrahlen blenden von oben und unten. Es sieht fantastisch aus. Möwen kreischen und übertreffen sich im Sturzflug, um die Brocken, die einige Passagiere ihnen zuwerfen, zu schnappen. Während ich das beobachte, fühle ich tiefe Ruhe in mir. Die endlose Weite macht auch mein Herz ganz weit. Ich liebe es, bis zum Horizont zu schauen.
Mein Name ist Lutz Schlachtermann. Zurzeit bin ich Referendar an der Ludwig-Frahm-Grundschule in Hamburg. Bis zur vierten Klasse sind die lieben Kleinen noch zu ertragen, trotzdem ist es anstrengend zu unterrichten. Manchmal fühle ich mich, als würde ich ein Theaterstück vor gelangweiltem Publikum aufführen. Der Urlaub auf Amrum soll meine Batterien neu aufladen und mir Kraft geben, um den Alltag bis zu den Herbstferien zu überstehen.
Außer mir sind überwiegend Familien und Paare an Bord, so scheint es mir jedenfalls. Ich komme mir dadurch ein wenig einsam vor, aber daran bin ich schon lange gewöhnt. Als Mann, der nicht auf Frauen steht, ist man eben ein Außenseiter. Ich propagiere mein Schwulsein nicht, verleugne es aber auch nicht. Wer mich fragt, bekommt offene Antworten. Gut, nicht zu allem, aber ich versuche stets, so ehrlich wie möglich die Neugierde Fremder zu befriedigen.
Am Horizont kristallisiert sich allmählich Amrums Silhouette. Ich bin das erste Mal hier und gucke gespannt hin. Ein Strich, auf dem sich ein Streichholz erhebt, bestimmt der Leuchtturm. Das flirrende Licht macht es schwer, Genaueres zu erkennen. Ich beuge mich über das Geländer und zucke erschrocken zusammen, als neben mir überraschend eine kratzige Stimme ertönt: „Hi Süßer. Das erste Mal für dich?“
Eine vollbusige Blondine lehnt sich kaugummikauend neben mir gegen die Reling. Sie blinzelt mich unter ihren langen Wimpern hervor an, eindeutig ein Flirtversuch.
„Ja, ich war noch nie hier“, antworte ich steif.
„Du wärest mir sonst sicher aufgefallen.“ Blondie mustert mich anerkennend.
Was sie sieht, rechtfertigt – nach meiner Meinung – ihre Aussage nicht. Ich bin klein, nur eins siebenundsiebzig, und unscheinbar. Meine Haare sind weder blond noch braun und ständig unordentlich und meine Augen wässrig blau. Außerdem bin ich kein Muskelprotz, da ich nur mit meinem Kopf arbeite. Was also – bitteschön – sieht diese Frau in mir?
„Ich finde dich sehr sexy“, behauptet das Busenwunder.
Ich riskiere einen Blick in ihr Dekolleté, das sie mir offenherzig entgegenstreckt. Doppel-D lässt grüßen, nichts für mich. Mir schaudert leicht, trotz der warmen Luft. „Danke“, murmele ich verlegen.
„Echt jetzt.“ Sie macht eine rosarote Blase mit dem Kaugummi und lacht, als sie platzt.
„Sehr schmeichelhaft. Du bist auch sehr ... ähm …“ Ich überlege, was ich als Kompliment anbieten kann. „…hübsch.“
„Wow.“ Blondchen kichert. „Anscheinend bist du ganz schön verklemmt oder – sag mal, stehst du vielleicht nicht auf Frauen?“
Die Dame ist sehr selbstsicher. Normalerweise müsste sie sich fragen, warum ich gerade auf sie nicht stehe, aber offensichtlich kommt ihr das gar nicht in den Sinn. „Wenn du mich so fragst: nein. Ich steh auf Männer“, gebe ich zu.
„Schade.“ Sie mustert mich kauend und grinst breit. „Ein Verlust für die Damenwelt.“
„Ich sehe das nicht so“, erwidere ich.
„Ach komm.“ Blondie klopft mir kumpelhaft auf den Rücken. „Ich finde dich in Ordnung. Wo wohnst du denn auf Amrum?“ Mit schiefgelegtem Kopf guckt sie mich neugierig an.
„In einer kleinen Pension in Wittdün. Soll nicht weit weg von einer Kneipe sein.“
„Ah, bei Tante Elvira!“, ruft Doppel-D und lacht. „War ja klar.“
Ich wende mich ihr ganz zu. „Wieso?“
Sie steckt in hautengen Jeans. Ihr Oberteil verdient den Namen kaum, dafür ist es zu klein. Es verdeckt nur das Notwendigste. Eine Art Schal, der links und rechts über ihre Titten läuft, mehr nicht.
„Tante Elvira ist bekannt dafür, nur die schärfsten Hengste zu beherbergen“, klärt sie mich auf.
„Witzig. Dann bin ich wohl ein Fehlgriff“, erwidere ich.
„Oh Mann, du musst mal lockerer werden.“ Blondie zwinkert mir zu und dreht sich um. Über die Schulter ruft sie: „Man sieht sich auf der Insel“, dann verschwindet sie zwischen den anderen Passagieren.
Ich atme auf und wende mich wieder der Aussicht zu. Amrum ist inzwischen deutlich zu erkennen. Ich betrachte die größer werdenden Häuser und sauge die frische Luft tief in meine Lunge. Urlaub, zwei Wochen Zeit zum Lesen und Ausspannen; Spazierengehen, gut essen und einfach mal die Seele baumeln lassen.
Mit dem Bus fahre ich vom Anleger bis zur Blauen Maus, wo ich anhand der Anfahrtsskizze schnell den richtigen Weg finde. Meinen Koffer hinter mir herziehend laufe ich durch eine kleine Seitenstraße gleich hinter der Kneipe und atme den Kiefernduft ein. Nach wenigen Metern biege ich links ab und finde mich vor der Pension wieder.
Ein langgestrecktes Gebäude im Friesenstil, wahrscheinlich über hundert Jahre alt, liegt vor mir. Der Garten wirkt gewollt verwildert. In den Beeten vor dem Haus blüht eine Vielfalt bunter Blumen, Bäume beschatten die Fenster. Ich entdecke einen Strandkorb, den ich mir gleich als Platz für nächtliche Sternbetrachtungen vormerke.
Langsam gehe ich auf die Haustür zu, die aufgestoßen wird, bevor ich sie erreiche. Eine kleine Frau mit grauen Löckchen und einem strahlenden Lächeln erscheint und wischt sich die Hände an ihrer Schürze ab.
„Lutz Schlachtermann?“, ruft sie mir entgegen.
„Ja, der bin ich.“ Ich lächle die Dame an, kann gar nicht anders.
„Willkommen.“ Ich werde an einen mütterlichen Busen gedrückt und in einen dämmrigen Flur geschoben. „Ich bin Elvira. Dein Zimmer ist oben. Geh schon mal die Treppe rauf, ich komm gleich nach.“
Die überschwängliche Begrüßung irritiert mich etwas, aber sie gefällt mir. Mein Freund Lars hat mir diese Pension ausdrücklich empfohlen. Ich weiß um die Dinge, die sich hier in der Vergangenheit abgespielt haben. Paare haben sich hier gefunden und auch Lars hat hier seine große Liebe entdeckt. Ob ich auch darauf aus bin? Klar habe ich Hoffnung, aber natürlich ist es Unsinn, diese an einem Gebäude festzumachen.
Ich steige die Stufen hinauf und bleibe in einem langen Gang stehen. Hier gibt es nur ein Fenster, das spärliches Licht hereinlässt.
Schnaufend erscheint Elvira hinter mir und öffnet eine Tür zu meiner Rechten. „Das ist dein Zimmer. Abendessen um sechs, Frühstück zwischen acht und zehn. Ich bin in der Küche, immer der Nase nach, wenn du Fragen hast.“
Die kleine Frau streicht mir sanft über den Arm und geht zurück zur Treppe. Dort stoppt sie. „Die Haustür ist immer offen.“ Sie lächelt mich an. „Ob du dein Zimmer abschließt bleibt dir überlassen. Der Schlüssel steckt. Wir sind hier nicht ängstlich. Geklaut wird selten.“
„Okay, danke.“ Ich gucke zu, wie sie vorsichtig die Treppe hinabgeht.
Sie muss wohl fast siebzig sein, dem grau ihrer Haare und den vielen Falten nach zu urteilen; doch hat sie eine erfrischende Art, die sie jünger wirken lässt. Ich rolle den Koffer in das Zimmer und gucke mich um.
Rosen. Das ist das erste, was ich sehe und was mich fast erschlägt. Auf den zweiten Blick wird es besser. Ein breites Bett, ein Stuhl, ein Schreibtisch. An der Wand hängt ein großer Spiegel, daneben steht ein Schrank. Eine Tür, hinten neben dem Fenster, scheint ins Bad zu führen. Ich schaue mich um, packe meinen Koffer aus und werfe einen Blick nach draußen. Der Garten und die Straße sind von hier aus gut zu sehen. Da ich noch eine halbe Stunde bis zum Abendessen habe, setze ich mich auf den Stuhl, um in Ruhe den Ausblick zu genießen.
Das Geräusch eines sich nähernden Motorrades höre ich schon von weitem. Das Dröhnen der schweren Maschine zerreißt die Stille. Gleich darauf sehe ich, wie ein schwarzgekleideter Kerl das Ungetüm vor dem Grundstück abbremst. Der Lärm erstirbt. Der Mann schwingt sich vom Sattel. Ein typischer Biker in Lederkluft, mit Sonnenbrille und Vollbart. Er beugt sich über die Maschine, löst die Satteltaschen, schultert sie und kommt mit federndem Gang auf das Haus zu. Ich weiche zurück, als er den Kopf hebt und die Front mustert. Ein blöder Reflex.
Vorsichtig linse ich durch die Scheibe, aber der Kerl ist inzwischen wohl schon im Haus. Ich höre schwere Schritte auf der Treppe, dann Elviras helle Stimme. Zum Glück sind die Wände nicht so dünn, dass ich einzelne Worte verstehen kann. Eine Tür klappt, Stufen knarren, dann herrscht wieder Ruhe.
Was für ein Typ, sicher ein Rocker. Ich muss bei dem Gedanken grinsen. Wie ein Hells Angel sieht er nun nicht aus, doch ganz schön verwegen. Sinnend betrachte ich das Motorrad und stelle mir vor, wie sich das Ding zwischen meinen Schenkeln anfühlen würde. Ich habe einen Führerschein für Zweiräder, mich bisher jedoch nur auf kleinere Maschinen gewagt. Dieses Ding dort draußen reizt mich schon.
Um Punkt sechs Uhr verlasse ich mein Zimmer und gehe hinunter in den Flur. Der Nase nach orientiere ich mich nach links, wo ich nach wenigen Metern die Küche finde. Elvira steht am Herd. Auf der Eckbank sitzt ein wettergegerbter Kerl, der eine kalte Pfeife im Mundwinkel hängen hat.
„Ah, Lutz!“, ruft meine Wirtin und lächelt mich an. „Bringst du bitte die Teller in die gute Stube?“
„Moin“, grüße ich den Mann, der mit einem stummen Kopfnicken antwortet, nehme den Stapel Geschirr und folge Elvira durch den Flur.
Sie öffnet eine Tür und stellt die Terrine, die sie vor sich hergetragen hat, auf den großen Esstisch. Auch hier dominieren Rosen den Raum. Ich verteile die Teller, vier an der Zahl und helfe, Besteck und Gläser herbeizuschaffen. Währenddessen taucht ein älteres Ehepaar auf, das sich mir als Fritz und Wilma vorstellt. Als letztes erscheint der Motorradfahrer, nun in Jeans und weißem T-Shirt.
„Hi, ich bin Roman“, grüßt er in die Runde und setzt sich an den Tisch.
Aus der Nähe sieht er noch verwegener aus als von weitem. Seine Augen sind sehr dunkel und die Haare reichen ihm bis zu den Schultern. Mit einer coolen Geste streicht er sie aus dem Gesicht. Es wirkt einstudiert. Der Vollbart ist sorgfältig getrimmt, so dass ich seine Lippen gut sehen kann. Ein schöner Mund. Überhaupt ist der Kerl wahnsinnig attraktiv. Seine gerade Nase und die schmalen Wangen wirken fast aristokratisch. Ich beende meine Musterung und widme mich dem Essen.
„Sie wollen sicher heute Nacht in die Blaue Maus?“, nimmt Fritz das Gespräch auf.
„Klar. Oder gibt es hier sonst noch eine Kneipe, wo ich Kontakt zum schönen Geschlecht suchen kann?“ Roman grinst.
„Das weiß ich nicht. Ich und meine Frau, wir gehen früh schlafen. In unserem Alter braucht man das ganze Gedöns nicht mehr.“ Fritz lacht und zwinkert seiner Gattin zu.
„Ich muss das auch nicht haben“, melde ich mich zu Wort.
„Ach.“ Roman guckt mich spöttisch an „Bist du auch zu alt?“
„Ich will mich erholen“, erkläre ich würdevoll.
„Aha, wie spannend.“ Er lacht. „Dann geh mal früh schlafen. Wer eher stirbt ist länger tot.“
„Was soll das denn heißen?“ Ich lächle freundlich, obwohl in mir Wut hochkocht.
„Ist doch klar: Verpenn dein Leben und du wirst am Ende froh sein, wenn du endlich ins Gras beißen darfst, weil du vor Langeweile sonst die Wände hochgehst“, erklärt Roman und lehnt sich lässig auf seinem Stuhl zurück.
„Ach? Und du meinst, nachts in Kneipen Weiber aufzureißen ist so aufregend, dass ich gar nicht sterben will?“
„Das hab ich so nicht gesagt“, entgegnet Roman.
„Weißt du was? Ich komm mit in die Blaue Maus und genieße das wilde Leben“, entscheide ich spontan.
„Recht so, junger Mann“, kommt es von Wilma.
Auch Fritz nickt wohlwollend und zwinkert mir zu. Mir ist allerdings etwas mulmig bei dem Gedanken, mit Roman Zeit zu verbringen. Der Kerl verunsichert mich und gefällt mir. Okay, es ist eher sein Äußeres, das mich anspricht, nicht sein Charakter.
„Dann treffen wir uns in zwei Stunden hier unten.“ Roman steht auf und verlässt den Raum.
Ich verbringe die Zeit bis zum Aufbruch mit Lesen. Allerdings kann ich mich kaum auf das Buch konzentrieren, da ich ständig an Roman denken muss. Er ist der typische Aufreißer, der sicher an jeder Hand zehn Frauen hat. Ich mag diese Typen eigentlich nicht, aber Roman beschäftigt mich.
Als es endlich soweit ist, stelle ich mich vor den Spiegel und prüfe mein Aussehen. Die Jeans ist neu und mein T-Shirt sauber. Ich fahre mir durchs Haar, was aber sinnlos ist. Es lässt sich einfach nicht ordentlich frisieren. Ich schnappe mir meine Jacke und gehe nach unten.
Roman erscheint nach ein paar Minuten, die ich unruhig im Flur auf und abgegangen bin. Klar, er darf gar nicht pünktlich sein, das widerspräche seinem Image. Er trägt wieder Leder und grinst mich breit an, während er die letzten Stufen herabsteigt. „Aufgeregt?“
„Wahnsinnig.“ Ich rolle mit den Augen und folge ihm aus dem Haus.
Die wenigen Meter bis zur Blauen Maus legen wir stumm zurück. Noch ist es hell und vor der Kneipe nichts los. Roman stößt die Eingangstür auf und betritt den Schankraum. Stimmengewirr empfängt uns, fast alle Plätze sind belegt. Er geht zum Tresen und schiebt sich auf einen Hocker. Ich setze mich auf den freien Platz neben ihm und gucke mich um. Junge Leute, aber auch älteres Publikum hält sich hier auf.
„Deine Klientel ist hier aber nicht vertreten“, bemerke ich, wobei ich Roman frech angrinse.
„Abwarten.“ Er winkt dem Barkeeper zu. „Der Abend ist noch jung.“
Wir bestellen Bier, trinken eine Weile schweigend und gucken in die Gegend. Schließlich wendet sich Roman an mich. „Und? Was machst du so im wirklichen Leben?“
„Ich studiere auf Lehramt, mache im Augenblick mein Referendariat. Und du?“
„Motorradzubehör. Ich hab mein Hobby zum Beruf gemacht.“ Er grinst stolz.
Ich nicke verstehend. „Aha.“
Roman trinkt einen Schluck und mustert mich. „Macht das Spaß – ich meine, du bist doch sicher so eine Art Entertainer für die Kinder, wenn ich mich an meine Schulzeit erinnere.“
Wir sitzen so nah beieinander, dass ich seinen Duft wahrnehmen kann. Er riecht männlich, nach Leder und einem herben Rasierwasser. „Klar, ich bin der Alleinunterhalter.“ Ich lache auf. „Die lassen sich berieseln und träumen von der großen Pause.“
„Klingt anstrengend.“
„Ist es auch, daher will ich hier ja auch ausspannen“, erwidere ich mit vielsagendem Augenbrauenwackeln.
„Ich hab schon verstanden“, brummelt Roman lächelnd.
Der Kerl wird mir richtiggehend sympathisch. Ich leere mein Glas und bestelle ein neues Bier. Er folgt meinem Beispiel.
Gerade habe ich einen Schluck von dem frischen Pils getrunken, als sich eine Hand auf meine Schulter legt. „Hey, wenn das mal nicht mein schwuler Freund von der Fähre ist“, posaunt eine mir leider bekannte Stimme heraus.
Roman glotzt mich an. „Schwul?“
Ich schüttele die Hand ab, bevor ich mich zu der Blondine umwende. „Hey danke. Willst du auch noch einen Aushang machen?“, fahre ich sie böse an.
„Ups, sorry.“ Sie kichert. „Wusste nicht, dass es ein Geheimnis ist.“
„Ist es auch nicht. Jedenfalls jetzt nicht mehr“, erwidere ich und drehe ihr den Rücken zu.
„Wer ist denn dein Freund?“ Blondie begutachtet Roman, der seine Aufmerksamkeit von mir auf sie richtet.
„Ich bin Roman und nicht schwul“, informiert er sie grinsend.
„Sehr witzig“, knurre ich.
„Schöner Name. Ich bin Susanne“, klärt Blondie uns auf.
„Machst du hier Urlaub?“, erkundigt sich Roman.
Ich konzentriere mich auf mein Bier und höre nur mit halbem Ohr hin. Das Balzverhalten der beiden ist unerträglich und ich atme auf, als Roman mich antippt und verkündet: „Ich geh dann mal. Bis morgen.“
Ich nicke und verarbeite das Gehörte. Diese Susanne ist hier Barkeeperin, hat aber heute frei. So, wie ich sie einschätze, reißt sie oft einen Gast auf. Ungewöhnlich für eine Frau, aber es soll ja Weiber geben, die einem One-Night-Stand gegenüber nicht abgeneigt sind. Ich bevorzuge längere Beziehungen, kann aber leider keine vorweisen. Seit Jahren bin ich schon allein und selbst gelegentlich losgezogen, um mir ein wenig Sex zu holen. Es ist zwar jedes Mal unbefriedigend, trotzdem brauche ich das ab und zu.
Nachdem ich mein Bier ausgetrunken habe, verlasse ich die Blaue Maus und gehe zurück zur Pension. Schon auf dem Weg die Treppe hinauf kann ich die eindeutigen Laute hören, die aus Romans Zimmer dringen.
Im Bett ziehe ich mir die Decke über die Ohren, aber Susannes Lustschreie sind einfach zu laut. Sie quiekt und bettelt darum, ‚es ihr ordentlich zu besorgen‘. Ich hoffe doch sehr, dass Roman dieser Aufforderung nachkommt, damit ich endlich schlafen kann. Es dauert dann noch eine Viertelstunde, bis der Lärm verebbt. Ich entspanne mich und lausche, höre eine Tür klappen, danach Schritte auf der Treppe. Susanne schläft also nicht bei meinem Nachbar, was mich aus welchem Grund auch immer erleichtert.
Eine Gruppe von Freunden reist nach Amrum. Es gibt einen Leithirsch unter den drei Männern, Connor, zu dem die beiden anderen bewundernd aufschauen. Kein Wunder: Er sieht toll aus, hat reiche Eltern und ist obendrein ein Snob. Alles Attribute, die ihn nicht besonders sympathisch machen, dennoch verliebt sich Jan, Kellner aus dem Hotel ‚Zum traurigen Seebären‘, auf den ersten Blick.
Sonnenstrahlen spiegeln sich auf den Wellen. Möwengeschrei hallt über das Deck der Fähre. Kühler Wind macht so manchen Fahrgast leichtsinnig, was man an einigen verbrannten Nasen erkennt. Ich befinde mich auf dem Weg nach Amrum und kapiere nicht, wie ich mich dazu überreden lassen konnte.
„Das Bier ist schal, die Sonne lacht, was hat mich bloß hierhergebracht?“, reime ich blöde, woraufhin meine Freunde lachen.
Ich mag die beiden, aber manchmal wünschte ich, sie wären etwas kritischer. Mein Vers ist saudumm und kein Stück lustig. Missmutig nehme ich einen Schluck aus meiner Bierflasche und spähe übers Wasser.
„Warum wollten wir eigentlich hierher fahren und nicht nach Ibiza?“, erkundige ich mich.
„Weil das Wetter hier auch schön ist und der Strand wesentlich breiter?“, antwortet Zeki grinsend.
„Ach ja“, murmele ich und betrachte Amrums Silhouette, die sich flirrend, wie eine Fata Morgana, am Horizont abzeichnet.
Bisher bin ich stets in den Urlaub geflogen und kenne etliche Fernziele, von Honolulu bis Toronto. In Deutschland bin ich nur selten gereist, und wenn, dann in größere Städte, um ein Konzert zu besuchen oder wegen meines Jobs.
„Mir ist Ibiza zu überlaufen“, verkündet Jeremy. „Ich finde es schöner, wenn es ruhig ist und ich Zeit zum Lesen habe.“
Apropos schöner: Wir sind ein ungleiches Gespann. Zeki ist Türke, Jeremy ein grüblerischer Mensch und ich bin der attraktivste von uns dreien. Von meiner Mutter, sie stammt aus Kopenhagen, hab ich die blonden Haare und blauen Augen geerbt. Meinem Vater habe ich meine Figur zu verdanken, außerdem ein ziemlich sorgloses Leben. Er macht ein Vermögen mit Software und lässt mich daran teilhaben. Nebenher verdiene ich mit gelegentlichen Fotoshootings mein eigenes Geld. Das hat sich so ergeben, ohne dass ich viel dazugetan habe.
„Lesen?“ Zeki lacht und schlingt einen Arm um Jeremys Schultern. „Dazu wirst du hoffentlich nicht allzu oft kommen.“
Jeremy windet sich aus seiner Umarmung und erwidert empört: „Hey, ich hab Urlaub“
Körperkontakt mit einem von uns ist ihm unangenehm, seit er gestanden hat, dass er schwul ist. Zeki und mich stört seine Neigung nicht. Ehrlich gesagt hab ich auch schon mal mit einem Mann Sex gehabt, aber das braucht niemand wissen. Als Model ist man besser strikt hetero, sonst mangelt es an Aufträgen. Warum das so ist? Keine Ahnung. Ich denke nicht darüber nach, nehme das meiste eh so, wie es nun mal ist.
„Ich glaube, wir sollten nach unten zum Wagen gehen“, meint Zeki.
Er ist ein Sicherheitsdenker und kommt lieber zehn Minuten zu früh als eine Minute zu spät. Die Insel ist noch weit entfernt. Es wird nach meiner Einschätzung bestimmt eine halbe Stunde dauern, bis wir anlegen.
Ich halte ihm die Autoschlüssel hin. „Du kannst dich gern schon auf den Weg machen.“
Zeki schnappt sich die Schlüssel und verschwindet, gefolgt von Jeremy. Ich wende mich wieder dem Meer zu und betrachte die Hallig, an der wir seit einer Weile entlang schippern. Langeness, wenn ich es richtig erinnere. Wie kann man nur auf einem Stück Land wohnen, das bei Sturmflut im Wasser versinkt? Versteh mal einer die Friesen.
Als der Anleger in Sicht kommt gehe ich runter, zum Autodeck, und geselle mich zu meinen Freunden, die im Wagen sitzen. Jeremy lächelt mir zu. Zeki pennt und schnarcht dabei.
„Ein Glück, dass ich mir mit diesem lauten Typen kein Zimmer teilen muss“, flüstert Jeremy.
„Darüber bin ich auch heilfroh.“ Entspannt zurückgelehnt schaue ich zu, wie die Brücke runtergelassen wird.
Kurz darauf gibt einer der Bediensteten ein Zeichen, dass der Motor angelassen werden kann. Ich drehe den Zündschlüssel und steuere den Wagen über die Brücke auf den Anleger. Als ich der Blechkarawane durch Wittdün folge, werfe ich neugierige Blicke nach links und rechts. Der Ort ist jedoch, bis auf wenige Gebäude, völlig unspektakulär.
Hinter der Blauen Maus biege ich links ab und entdecke nach wenigen Metern die Pension, die ich mir im Internet angeschaut habe. Das Gebäude ist im typischen Friesenstil errichtet und dürfte einige Jahrzehnte auf dem Buckel haben.
Nachdem ich auf dem Grünstreifen vorm Grundstück geparkt habe, lege ich meine Hand auf Zekis Schenkel - er schnarcht immer noch - und rüttele ihn wach.
„Sind wir schon da?“, murmelt er und reibt sich die Augen.
„Sieht so aus“, erwidere ich.
Während wir unser Gepäck ausladen, erscheint eine kleine, grauhaarige Frau und blickt zu uns rüber. Das wird Tante Elvira sein. Die Dame strahlt eine Herzlichkeit aus, wie ich sie mir bei meinen Eltern wünschen würde, aber das ist eine andere Geschichte.
Nach einer überschwänglichen Begrüßung zeigt sie uns unsere Zimmer im oberen Stockwerk. Das Rosenambiente ist schrecklich, doch für eine Woche wird es gehen. Ich rolle meinen Koffer in den mir zugewiesenen Raum und nehme auf der Bettkante Platz.
„Ich bin in der Küche, wenn ihr irgendetwas braucht“, sagt Elvira, bevor sie die Treppe wieder runtersteigt.
Einige Moment gucke ich mich schaudernd um, ehe ich beginne, meine Sachen auszupacken.
Jeremy hat endlich einen Partner. Zeki mag Holger zwar nicht, aber das ist Nebensache, denn Jeremys Zufriedenheit geht vor. Allerdings ist Holger von Beruf Fleischermeister. Seit wann gibt es schwule Schlachter? Gut, wohl ein Vorurteil oder hat Zeki andere Gründe, weshalb er Holger mehr als kritisch betrachtet?
Wenn ich Jeremy nicht so gern hätte, würde ich ihn zum Mond schießen. Seit Wochen ist er schwer erreichbar und hat kaum Zeit für mich. Natürlich verstehe ich, dass er momentan total auf seinen Partner fixiert ist, trotzdem … immerhin bin ich sein Kumpel. Missgestimmt fläze ich mich auf meine Couch und gucke an die Decke.
Meine Wohnung ist klein. Dreißig-Quadratmeter-Wohnklo nennt Jeremy spöttisch meine Behausung. Für mich ist sie okay. Groß genug, um meine paar Sachen aufzubewahren. Allerdings verdammt klein, wenn man Hummeln im Hintern hat, so wie in letzter Zeit. Die Wände kommen immer näher.
Es ist Wochenende, Samstag, der einzige Tag, an dem ich abends länger weggehen kann. Sechs Tage pro Woche arbeite ich im Laden meiner Eltern, einem typischen Gemüse- und Gemischtwarenhandel, wie ihn viele türkischstämmige Bürger betreiben. Nebenher studiere ich, habe aber selten Zeit, um zu Vorlesungen zu gehen. Das Geschäft meiner Eltern läuft gut, daher bin ich voll eingespannt. Mein Vater sagt zwar ständig, ich soll mich bilden, aber wenn es im Laden brummt bin ich nun mal unabkömmlich.
Meine Geschwister waren schlauer als ich und haben sich rechtzeitig vom Acker gemacht. Meine beiden Schwestern sind verheiratet, eine davon in der Türkei, und meine Brüder haben Ausbildungen absolviert und arbeiten inzwischen in ihren Berufen.
Nur das Nesthäkchen, also ich, ist geblieben. Von Kindesbeinen an habe ich im elterlichen Geschäft geholfen. Es macht mir Spaß mit den Kunden zu reden, und am Erfolg des Familienunternehmens beteiligt zu sein, doch in letzter Zeit stelle ich vieles infrage; vor allem meine Gefühlswelt.
Vor ein paar Wochen habe ich mal wieder eine Frau abgeschleppt, und es war die Enttäuschung meines Lebens. Also, nicht die Frau, sondern ich. Obwohl ich dachte, total spitz auf die Dame zu sein, ging es voll daneben. Am Ende musste ich mich zwingen, die Sache durchzuziehen und habe mir geschworen, vorläufig die Finger vom anderen Geschlecht zu lassen. Ich bin erst sechsundzwanzig und habe es nicht eilig, eine Familie zu gründen, daher gibt es keinen Grund in Panik zu verfallen, nur weil ich mal keinen hochgekriegt habe.
Ich werfe einen Blick auf die Uhr und seufze genervt. Es ist bereits nach zehn und ich habe Jeremy immer noch nicht erreicht. Sein Handy ist aus und zuhause geht niemand ran. Ich wähle Connors Nummer, obwohl ich nicht glaube, dass der sich mal von der Couch bewegt. Seit Jan bei ihm wohnt, ist es auch dort Zappen duster, jedenfalls was Aktivitäten angeht, die sich außerhalb des Bettes abspielen. Was finden meine Freude am Sex bloß so spannend? Mehr als rein, raus, abspritzen ist das doch nicht.
„Mikkelsen“, meldet sich Connor, trotzdem er meinen Namen auf dem Display sehen sollte. Vermutlich guckt er mal wieder Jan tief in die Augen.
„Hi, hier Zeki.“
„Schön, dass du dich meldest“, kommt es überraschend von ihm. „Wir sitzen hier gerade und reden über den nächsten Ausflug nach Amrum. Kommst du dazu?“
„Wer ist wir?“, erkundige ich mich argwöhnisch. Wenn er damit sich und Jan meint, dürfen sie gern allein weiterplaudern.
„Na, Holger, Jeremy, Jan und ich.“
Er sagt das, als ob es sonnenklar wäre. Hm … zwei Pärchen. Wie ätzend.
„Na komm, Zeki, beweg deinen Arsch hierher. Wir gehen nachher auch noch was trinken“, lockt Connor.
Mit saufen gehen hat er mich. Ich sage zu und lege auf.
Auf dem Weg überlege ich, ob ich wirklich in einen der Clubs, die Connor bevorzugt, gehen möchte. Beispielsweise den Goldenen Hirsch, einen Laden, der ausschließlich von schwulen Männern besucht wird. Mich stört überhaupt nicht, dass Connor und Jeremy zusammen sind, im Gegenteil: Manchmal finde ich es sogar prickelnd zuzugucken, wie sie sich küssen. Das heißt im Umkehrschluss aber nicht, dass ich mir ständig solche Paare reinziehen muss.
Meine Eltern sind zwar strikte Muslime, würden mich aber niemals verstoßen, wenn ich anders gepolt wäre. Dessen ungeachtet bin ich mir sicher, dass ich nicht schwul sein kann. Warum? Na, weil ich mit Frauen schlafe, ist doch klar. Es ist meist nicht besonders aufregend, aber das kommt bestimmt noch, wenn ich erst die Richtige gefunden habe.
„Sag mal, hast du einen Umweg über München gemacht?“, empfängt mich Jan, als ich nach einer Stunde eintrudle.
„Sorry, aber der Flug war gerade so günstig“, erwidere ich, wobei ich ihm durch den Flur ins Wohnzimmer folge.
Normalerweise brauche ich nur zwanzig Minuten für den Weg, doch ich hab ein bisschen getrödelt; mich rasiert, dreimal umgezogen und so. Es ist mir eben ein Bedürfnis, am Samstagabend richtig gut auszusehen.
Drei Augenpaare richten sich auf mich, als ich hinter Jan den Raum betrete.
„Hi zusammen“, grüße ich in die Runde. Entgegen der landläufigen Meinung, alle Türken würden einen Wangenkuss oder Faustcheck zur Begrüßung austauschen, tue ich so was generell nicht.
Auf der Couch neben Jeremy ist noch Platz. Ich setze mich zu ihm und lausche dem Gespräch, wobei ich ihn aus dem Augenwinkel mustere. Seine Haare sind verwuschelt, als wäre er gerade aus dem Bett gestiegen. Das kenne ich gar nicht von ihm. Animiert Holger ihn, so zerzaust rumzulaufen?
Gerade studiere ich sein Profil, als Connor mich anspricht. „Hey, Zeki, was ist nun? Kommst du mit?“
„Klar“, murmele ich ohne recht zu wissen, worauf ich mich einlasse, weil ich nicht richtig zugehört habe. Nun spitze ich aber die Ohren.
Vier Tage Amrum. An Christi Himmelfahrt soll es losgehen. Das kann ich gut einrichten, da meine Eltern dann nur zwei Tage auf mich verzichten müssen. Daran denke ich immer als erstes, obwohl ich mich davon allmählich lösen sollte. Auch mein Studium kann ich nicht mehr ewig rauszögern.
Mein Blick wandert zu Holger, Jeremys Lover, der am anderen Ende der Couch sitzt. Eigentlich sieht er ganz gut aus, ist so muskulös wie ich und hat angenehme Gesichtszüge, dennoch ist er mir suspekt. Zum einen, weil er Schlachter ist, zum anderen ... keine Ahnung.
„Oh Mann, spielen die hier immer solche Scheißmucke?“, brülle ich etwa eine Stunde später Jan ins Ohr, wobei wir uns durch das Gedränge im Goldenen Hirsch schlängeln.
„Nö, meist ist es erträglich“, antwortet er grinsend.
Die Technoklänge zerren an meinen Nerven. Wieso es Menschen gibt, die zu diesem synthetischen Müll schier ausflippen, ist mir unbegreiflich. Ich mag bodenständigen Rock und selten türkischen Pop. Letzteres aber nur aus sentimentalen Gründen. Die Musik erinnert mich an Urlaube in meiner Kindheit, in einem winzigen Dorf in Kurdistan, wo meine Verwandtschaft lebte. Inzwischen waren einige nach Deutschland gekommen, tot oder in größere Städte gezogen.
„Ich geh mal pissen“, verkünde ich, als wir endlich an der Bar angekommen sind.
Jan weist mit dem Kinn auf einen Torbogen. „Da hinten sind die Klos.“
Ich strebe darauf zu, wobei ich hier und da interessierte Blicke bemerke. Dass ich ankomme schmeichelt mir, auch wenn ich keines der Angebote annehmen möchte.
Hinter dem offenen Durchgang liegt schlecht beleuchteter Flur. Ganz hinten entdecke ich eine Tür mit dem bekannten Logo. Ich gehe darauf zu, wobei ich an einem Raum vorbeikomme, in dem lustvolles Stöhnen aus vielen Kehlen erklingt. Ich werfe einen kurzen Blick hinein. Nein, das ist wirklich nicht meine Welt. Es mag ja gewissen Reiz haben, in der Öffentlichkeit zu pimpern, aber dann doch bitte lieber in der Natur, als in diesem muffigen Kabuff.
Der Toilettenraum ist leer, bis auf Jeremy. Er steht vor einem der Pissoirs. Ich stell mich neben ihn, sonst hätte es dumm ausgesehen. Schließlich sind wir befreundet, da kann ich doch nicht drei Schüsseln weiter pinkeln gehen.
„Ganz schön voll in dem Laden“, brummele ich, während ich meinen Schwanz heraushole.
„Das ist es samstags immer.“ Jeremy guckt zu mir hoch. „Wäre doch schlimm, wenn es total leer wäre. So ist es mir lieber.“
„Mhm“, mache ich und riskiere aus dem Augenwinkel einen Blick nach drüben. Konkurrenzbeobachtung nennt sich das.
Nicht übel, was Jeremy da in der Hand hält. Meiner zickt plötzlich, indem er Anstalten macht sich zu versteifen, so dass ich schnell wegsehe und mich mit geschlossenen Augen auf meine Blase konzentriere. Neben mir plätschert es, was meinen Harndrang begünstigt und dafür sorgt, dass es zu laufen beginnt.
„Hast du nicht eine Frau, die du mit nach Amrum nehmen möchtest?“, fragt Jeremy, schließt seine Hose und begibt sich zum Waschbecken.
„Nö, aktuell nicht.“
„Versteh ich nicht.“ Im Spiegel sucht Jeremy meinen Blick, als ich mich an das zweite Waschbecken stelle. „Bei dir müssten die Mädels doch Schlange stehen.“
„Quatsch!“ Die Vorstellung finde ich erheiternd. „So schön bin ich auch wieder nicht.“
Darauf erwidert Jeremy nichts. Überhaupt ist er plötzlich sehr still. Ich gucke zu ihm rüber und stelle fest, dass er mich immer noch anschaut. Sein Blick ist schwer zu deuten. Ich bin ja eh kein Held in Sachen Wahrnehmung und laufe manchmal irgendwo gegen. Jeremy sagt oft, ich bin ein blinder Trottel und das stimmt auch. Dessen ungeachtet hab ich den Eindruck ... ach, Unsinn. Warum sollte Jeremy mich sehnsüchtig angucken? Er hat doch Holger und wir sind befreundet, da tut man sowas eh nicht.
„Alles klar bei dir?“, hake ich nach.
Jeremy seufzt, nickt und verlässt den Raum.
In den zwei Wochen bis zum Vatertag bin ich vollauf mit Arbeit und Studium beschäftigt. Ich hab mich überwunden, zu ein paar Vorlesungen zu gehen. Auch das Wochenende ist ausgefüllt mit Lernen und Job, so dass ich meine Freunde erst am Abreisetag wiedertreffe.
Pünktlich zur vereinbarten Zeit steht Connor vor dem Haus. Ich steige hinten ein, zu Holger und Jeremy. Glücklicherweise halten sich die beiden während der Fahrt mit Zuneigungsbekundungen zurück. Ein Gespräch will aber auch nicht recht in Gang kommen. Ich muss nicht ständig labern und vertreibe mir die Zeit, indem ich mit meinem Smartphone spiele.
Wir erreichen Dagebüll so rechtzeitig, dass wir uns nicht beeilen brauchen. Im Strom der anderen Passagiere gehen wir auf die Fähre, lassen unser Gepäck in der Ablage hinterm Einstieg und begeben uns aufs Oberdeck.
Der Mai zeigt sich von seiner besten Seite. Die Sonne brennt. Ihre Reflexe auf den Wellen blenden und kühler Wind vertreibt die Hitze. Ich spähe nach oben und entdecke ein paar Wolkenfetzen, die schnell vorbeiziehen. Es ist wunderschön, dennoch hab ich das Gefühl, das fünfte Rad am Wagen zu sein. Vielleicht wäre ich besser zu Hause geblieben.
Connor und Jan stehen engumschlungen an der Reling. Jeremy lehnt sich zwar an Holger, zieht aber an meiner Jacke, bis ich näher rücke. Er schlingt einen Arm um meine Taille. Das ist tröstlich. Er ist wirklich ein super Kumpel.
Als Connor vor der Pension parkt, springt die Tür auf und Elvira erscheint. Wir holen unser Gepäck aus dem Kofferraum und gehen den Gartenweg runter.
„Jungs“, ruft sie uns entgegen. „Was bin ich froh, euch gesund und munter zu sehen.“
Sie schafft es einem das Gefühl zu vermitteln, man wäre der verlorene Sohn, dabei war ich doch erst einmal hier. Die Beklemmung, die mich auf der Fährfahrt erfasst hat, weicht. Ich beschließe, die Urlaubstage zu genießen und weniger zu grübeln. Das bringt doch eh nichts.
Als ich Connor ins Haus folge, ramme ich voll gegen den Türrahmen, der plötzlich seine Position verändert haben muss. Der Aufprall ist so heftig, dass ich einen Moment Sterne sehe.
„Alles klar?“, fragt Jeremy besorgt in meinem Rücken.
„Mhm, ja, geht schon“, nuschele ich.
Ich reibe meine schmerzende Stirn, während ich weitergehe. Elvira steigt voran die Treppe hoch, Connor und Jan auf den Fersen. Ich schließe mich an und begebe mich in das Zimmer, das sie mir zuweist. Jeremy und Holger bringt sie im Nachbarzimmer unter, Jan und Connor gegenüber.
Nachdem ich meinen Koffer abgestellt habe, lass ich mich auf der Bettkante nieder. Sonnenstrahlen, die durchs Fenster fallen, malen Muster auf den Fußboden. Ich betrachte die Rosentapete, atme den vertrauten Duft ein - bei Elvira riecht es stets nach irgendeinem Weichspüler - und Wohlbehagen breitet sich aus. Es ist wie nach Hause kommen.
Nach einem ruhigen Abend – keiner von uns war in Stimmung, die Blaue Maus aufzusuchen – treffen wir uns beim Frühstück wieder. Connor und Jan strahlen mit der Sonne um die Wette, Holger ist maulfaul und Jeremy wirkt übernächtigt. Schlafmangel ist für ihn die schlimmste Folter. Er möchte immer zu hundert Prozent im Hier und Jetzt sein, sieht im Augenblick jedoch aus, als würde er gleich vom Stuhl kippen.
Wir beschließen, heute eine Wanderung nach Nebel zu unternehmen, um die Kirche und den Friedhof anzugucken. Ich liebe diesen Ort und lese gern die Grabsteininschriften, die ganze Geschichten erzählen. Beim letzten Besuch hatte ich den Eindruck, in die Vergangenheit versetzt zu werden. Ich konnte förmlich das Leben der Toten vor meinem inneren Auge vorbeiziehen sehen.
Als wir aufbrechen, bilden Connor und ich das Schlusslicht. Ich merke, dass er mich von der Seite mustert. Schließlich hält er mich am Arm fest und zwingt mich, stehenzubleiben.
„Was ist mir dir?“, fragt er eindringlich.
Keine Ahnung was er damit meint. Ich zucke die Achseln.
„Du bist so anders“, fügt Connor hinzu. „So nachdenklich.“
„Ach?“, erwidere ich spöttisch. „Ist das ungewöhnlich, weil ich sonst nie nachdenke?“
„Ja. Nein. Oh Mann!“ Er verdreht die Augen. „Du bist so schweigsam. So kenne ich dich gar nicht.“
Das kann ich zurückgeben. Der neue Connor ist für mich auch ungewohnt. Ich erkenne ihn kaum wieder, seit er mit Jan liiert ist. Das ist positiv gemeint, denn vorher war Connor ein ziemliches Arschloch.
„Ich weiß auch nicht … Ich fühl mich, als ob ich im freien Fall bin“, versuche ich meine Emotionen zu erklären. „Ich stehe neben mir und gucke zu, wie ich agiere. Obwohl ich eine Fernbedienung in der Hand habe, um mich zu lenken, tue ich ganz andere Sachen.“
Connor starrt mich mit großen Augen an. „Klingt irre, aber ich glaub ich weiß, was du mir sagen willst.“
„Du verstehst mich?“ Das würde mich wundern, weil ich mich selbst nicht verstehe.
„Ich denke, du bist einfach urlaubsreif.“ Connor schlingt einen Arm um meine Schultern. „Lass uns weitergehen.“
Vermutlich hält er mich für einen Spinner. Irgendwie bin ich das auch. Ach, egal. Es gibt viele Menschen, die nicht richtig ticken.
Der Ausflug ist richtig schön. Ich fühle mich nie überflüssig, weil ständig Connor oder Jeremy meine Gesellschaft suchen. Holger hält sich mit dummen Sprüchen zurück und das Wetter ist bombastisch.
Später am Abend gehen wir in die Blaue Maus, in der es brechend voll ist. Viele Leute haben offenbar den Feiertag genutzt, um Kurzurlaub zu machen. Connor und ich kümmern uns um die Getränke, während der Rest Sitzplätze organisiert. Die drei besetzen einen Strandkorb im Vorgarten. Ich quetsche mich zu Holger und Jeremy, letzterer sitzt in der Mitte, während sich Connor und Jan auf die Fußstützen hocken.
Eng an meinen Kumpel gepresst, nehme ich ihn mit allen Sinnen wahr. Jeremy riecht gut, fällt mir auf, außerdem mag ich unseren Körperkontakt. Leider mag ich ihn so sehr, dass ich ein Kribbeln in meinem Schritt spüre, das mir das Ganze verleidet. Ich bin daher froh, als Jeremy erklärt, er würde ersticken und sich aus der Mitte herauswindet. Er setzt sich ins Gras und somit habe ich Holger neben mir.
„Ich hol mal Nachschub“, brummelt der nach einer Weile, obwohl alle noch zu trinken haben.
Es dauert, bis er mit einem Tablett voller Bierflaschen zurückkehrt, ein breites Grinsen auf dem Gesicht. Nanu? Er sieht aus wie ein Kater, der Sahne geschleckt hat. Das fällt mir nur deshalb auf, weil er sonst eine ziemlich sauertöpfische Miene zur Schau trägt.
„Nette Leute hier“, meint er und lässt sich, nachdem er das Tablett auf den Rasen gestellt hat, wieder neben mir nieder.
Connor bringt das Gespräch auf Fußball. Etwas, das uns alle interessiert und genug Stoff bietet, bis sämtliche Getränke vernichtet sind und wir einhellig beschließen, zurück zur Pension zu gehen.
Pierre arbeitet eine Saison auf Amrum, als Bedienung in der Blauen Maus. Max, sein bester Freund, kommt ihn besuchen. Zeitgleich erscheint der Mann, der ihm das Herz geraubt und ihn anschließend eiskalt abblitzen lassen hat. Dem wird er zeigen, was eine Abfuhr bedeutet.
„Hey, Pierre, schlaf nicht ein“, ruft Jan, mein Chef, mir zu.
Tatsächlich habe ich gerade geträumt. Ich gucke auf meine Hände, die immer noch das Glas halten, das ich vor einigen Minuten zu polieren begonnen habe. Rasch vollende ich mein Werk und nehme den nächsten Bierkrug aus dem Spülbecken.
Meine Gedanken wandern wieder zu Holger, diesem Mistkerl. Er hat mich angebaggert und dann eiskalt abblitzen lassen. Ich wusste zwar, dass er hier mit seinem Freund Urlaub macht, doch er hatte mir versichert, dass die Beziehung eh hinüber wäre.
Wie wenig hinüber sie in Wirklichkeit ist habe ich festgestellt, als er mit fliegenden Fahnen zu seinem Lover zurück gerannt ist, nachdem ihn seine Kumpels mit mir auf dem Klo aufgespürt haben.
Wir haben uns bloß geküsst und ein bisschen gefummelt. Wenn Holger es darauf angelegt hätte, wäre auch mehr daraus geworden. Ich will ihn jedoch wegen seiner Zurückhaltung nicht schönreden, dafür tut es einfach zu weh. Für mich war es Liebe auf den ersten Blick.
Ich schnappe mir das nächste Glas hoch und schaue rüber zu Jan, der gerade die Whisky-Bestände prüft. Das Zeug ist sein Steckenpferd. Während ich mechanisch meine Arbeit verrichte, denke ich erneut an Holger. Er hat mir gleich gefallen, als er neulich in der Blauen Maus auftauchte.
Ich bin übrigens Pierre Straßenbaum und arbeite eine Saison in der Blauen Maus auf Amrum. In Hamburg wurde ich arbeitslos, als der Schlachterladen, in dem ich angestellt war, zumachte. Die Idee mit dieser Stelle kam mir, als ich mit meinem guten Freund Max für ein Wochenende auf der Insel war. Ich habe den Wirt gefragt und der hat mich sofort eingestellt. Was danach kommt? Keine Ahnung.
„Füllst du bitte die Biervorräte auf, wenn du irgendwann mal mit den Gläsern fertig bist“, meint Jan, als er an mir vorbeigeht.
Ich nicke.
Wir verstehen uns gut und auch der Rest der Crew ist echt klasse. Susanne arbeitet mit mir hinterm Tresen und Mine macht die Küche. Das Team harmoniert und es macht richtig Spaß. Für immer möchte ich trotzdem nicht hierbleiben. Mir fehlt der Kontakt zu gleichgesinnten Männern.
Nachdem die Gläser in Reih und Glied stehen, begebe ich mich in den Keller, aus dem ich einige Getränkekisten ins Erdgeschoss befördere. Im Grunde ist der Job genauso anstrengend wie mein vorheriger, was Kraft und Ausdauer angeht. Ich bin daher gut dafür gerüstet.
Als alle Kühlschränke gefüllt sind, ist meine Arbeit erstmal beendet. Um sechs öffnet die Blaue Maus ihre Pforten. Bis dahin sind es noch zwei Stunden, die ich gewöhnlich in meinem Appartement über der Kneipe verbringe.
Ich lege mich aufs Bett und denke an Holger, wie schon in den letzten Tagen. Er ist groß, muskulös, hat blaue Augen und kurze, braune Haare. Ich finde ihn höllisch attraktiv, wahrscheinlich, weil es bei mir gleich gefunkt hat. Er kam in die Kneipe und – zack – war ich hin und weg. Zuerst dachte ich, ihm würde es genauso gehen. Es hat alles dafür gesprochen, bis zu dem Moment, in dem er mich abserviert hat.
Seufzend drehe ich mich auf die Seite und gucke mich im spärlich möblierten Zimmer um. Für die paar Monate, die ich hier verbringen werde, habe ich nur das Nötigste mitgenommen. Ein wenig fehlt mir das Miteinander in meiner Wohngemeinschaft. Hier habe ich so gut wie keine sozialen Kontakte, außer zu den Kollegen und Gästen. Na ja, zwei Monate werde ich das schon noch aushalten. Dennoch ergreift mich gerade etwas Heimweh.
Zum Glück kommt heute mein bester Freund Max. Es wird dann zwar etwas eng in meiner Wohnung, aber wir verstehen uns so gut, dass wir es bestimmt hinbekommen. Ich freue mich riesig auf ihn. Er ist eine Frohnatur. In seiner Nähe färbt das stets ein bisschen auf mich ab, was ich momentan sehr gut gebrauchen kann.
Pünktlich um sechs trete ich zum Dienst an. Susanne hängt Kaugummi kauend in der Küche und klönt mit Mine, während ich den Tresen vorbereite. Wundervoller Frieden hängt über diesem Ort, bis die ersten Gäste eintreffen. Dann beginnt der hektische Teil des Abends und ich befinde mich im Dauerstress. Gegen zehn Uhr wird Max eintreffen und ich hoffe, dass sich bis dahin die Gästeschar reduziert hat, damit ich etwas Zeit für ihn habe.
Leider ist das nicht der Fall, sodass ich, als Max auftaucht, ihm nur den Schlüssel für meine Wohnung zustecken kann. Er verschwindet, bringt sein Gepäck weg und kreuzt gleich wieder auf, um am Tresen Platz zu nehmen. Ich reiche ihm ein Bier und kümmere mich um die anderen Gäste, als plötzlich Holger vor der Theke steht. Er strahlt mich an, als wäre ich sein liebster Schatz.
„Hi Pierre“, sagt er mit dieser sexy tiefen Stimme, die in meinem Bauch ein Kribbeln auslöst.
Sein Anblick versetzt mich in Hochstimmung, die ich, angesichts unseres unschönen Abschieds vor über einer Woche, jedoch sofort dämpfe. „Hi“, erwidere ich. „Was willst du trinken?“
„Gib mir bitte ein Duckstein.“
Der Kerl kann mich um den kleinen Finger wickeln, nur indem er mich breit angrinst. Ich will das aber nicht. Nicht mehr! Ich wende ihm den Rücken zu und übergebe die Bestellung an Susanne, die näher an der Zapfanlage steht.
Ohne Holger weitere Beachtung zu schenken, bediene ich die nächsten Gäste, wobei mir seine Nähe die ganze Zeit bewusst ist. Susanne schiebt das gefüllte Glas rüber und ich reiche es Holger, der mir einen Geldschein entgegenhält. Sorgsam darauf bedacht, ihn nicht zu berühren, schnappe ich mir den Schein und lege das Wechselgeld vor ihm auf den Tresen.
„Können wir später reden?“, fragt Holger, wofür er sich über den Tresen beugt.
Ich weiche zurück, um Distanz zu schaffen. „Nein.“
„Bitte!“, fleht Holger mit dem Augenaufschlag eines Welpen.
„Vergiss es“, erkläre ich kategorisch. „Ich bin nicht interessiert.“
Holger verzieht sich und beobachtet mich von seinem Platz an der gegenüberliegenden Wand aus.
Er macht mich nervös, weshalb mir immer mal wieder etwas fast aus der Hand fällt. Wie er da lehnt, die Augenlider auf Halbmast. Seine Haare sind zerwuschelt, wahrscheinlich vom Wind, oder von seinen Fingern, mit denen er gelegentlich hindurch fährt. Ich habe meine liebe Mühe, nicht ständig hinzusehen und versuche, ein Gespräch mit Max zu führen. Er hat inzwischen auf einen Hocker gewechselt, der sich näher an meinem Arbeitsbereich befindet.
„Wo guckst du denn immer hin?“, fragt er schließlich.
„Holger ist hier“, verrate ich leise.
„Der Holger? Der Vollidiot, der dich am langen Arm verhungern lassen hat?“ Max schaut sich um.
„Guck nicht hi-hin“, zischele ich mit zusammengebissenen Zähnen.
Als wäre das eine direkte Aufforderung, dreht sich mein Freund ganz herum und glotzt jeden verfügbaren Kerl an, bis sein Blick auf Holger fällt, der unverwandt zu uns herüber starrt.
„Wow!“, macht Max und ich würde am liebsten über den Tresen springen und ihn schütteln. Er glotzt Holger an, der seinerseits ihn mustert und den spöttisch grinst.
„Hör-auf-ihn-anzuglotzen!“, schimpfe ich.
„‘Tschuldige“, erwidert Max ohne eine Spur des Bedauerns und dreht sich wieder um. „Was für ein Sahneschnittchen.“
Trotzdem er mein Freund ist, fühle ich einen eifersüchtigen Stich in der Brustgegend. Zwar habe ich Holger eine Abfuhr erteilt, aber gehört er mir; zumindest seine Aufmerksamkeit, die ich – so ungern ich es zugeben mag – insgeheim genieße. Dennoch, ich will ihn nicht, nicht mehr. Er hat sein Recht auf mein Herz verwirkt, indem er es einmal berührt und dann im freien Fall sausen lassen hat.
„Der ist doch nicht übel, und scharf auf dich“, meint Max ungerührt. „Mach dir doch eine gute Zeit mit ihm und dann – hopp.“ Er vollführt mit der Hand eine wegwerfende Bewegung über die Schulter.
Ich werfe erst ihm, dann Holger einen bösen Blick zu. „Du weißt genau, dass ich nicht so bin.“
„Oh Mann, Pierre. Du wirst noch als Jungfrau sterben“, spottet Max.
Im Augenblick finde ich seine sorglose Art schlichtweg zum Kotzen. „Bitte, hör auf mit dem Scheiß.“
Zwei Stunden später - mittlerweile ist Holger verschwunden - mache ich Feierabend. Die letzten hartnäckigen Gäste wird Susanne abfertigen. Gähnend folge ich Max aus der Kneipe, um das Haus herum zu dem Eingang, der zu den Personalwohnungen führt. Mein Freund hat reichlich getankt und kichert die ganze Zeit, unterlässt es aber zum Glück, weitere Witze über Holger und mich zu reißen.
Max schafft es gerade noch, sich zu entkleiden, dann fällt er in mein Bett. Ich bugsiere ihn nach einer Katzenwäsche beiseite und decke ihn zu, bevor ich mich zu ihm lege und todmüde an die Decke starre. Holger ist weiterhin präsent, selbst wenn er nicht da ist. Es ist zum Heulen.
Ich wache in Max‘ Armen auf, der sich in der Nacht an mich geschmiegt hat. Jemand klopft an die Tür, was wohl auch der Grund ist, weshalb ich überhaupt aus tiefem Schlaf an die Oberfläche gekommen bin. Nachdem ich mich von Max befreit habe, krabble ich aus dem Bett und trotte zur Tür, um diese einen Spalt zu öffnen und blinzelnd den Störenfried zu mustern.
Es ist Holger, der mit einem unsicheren Lächeln im Treppenhaus steht. Ich werfe die Tür gleich wieder zu und gehe zurück zum Bett, als es erneut energisch klopft.
Dem muss ich wohl deutlicher meine Meinung geigen. Seufzend begebe ich mich wieder zur Tür, reiße sie auf und fahre ihn an: „Ich bin nicht interessiert!“
„Ach“, meint Holger, wirft sich gegen das Türblatt und steht gleich darauf im Zimmer.
Sein Blick fällt auf das Bett. Ich kann nicht deuten, welches Gefühl sich auf seiner Miene spiegelt. Er ballt seine Hände zu Fäusten.
„Dein Lover?“, fragt er.
„Das ist …“, beginne ich zu erklären, strecke dann jedoch angriffslustig das Kinn vor. „Ja, das ist Max, mein Freund.“
Ich hasse Lügen, daher bleibe ich bei einer Halbwahrheit. Das ist kindisch, aber ich will nur, dass Holger wieder verschwindet. Aus meiner Wohnung, aus meinem Leben und – bitte! – auch aus meinem Herzen.
„Okay, dann weiß ich Bescheid“, erwidert er leise, dreht sich um und verlässt mit hängenden Schultern mein Appartement.
Ich höre seine schweren Schritte auf der Treppe. Mein Herzschlag galoppiert. An Schlaf ist nicht mehr zu denken. Nun habe ich ihn endgültig verscheucht. Hoffentlich, sagt mein Verstand, doch gefühlsmäßig geht‘s mir damit sauelend.
Texte: Sissi Kaiserlos/Kaipurgay
Bildmaterialien: shutterstock
Tag der Veröffentlichung: 01.10.2012
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