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Amrum im Sturm




Ich habe einige Jahre auf einer Nordseeinsel gelebt. Noch heute denke ich gerne an die unendliche Weite, die ich von allen Fenstern unserer Wohnung sehen konnte. Nirgends wurde der Blick durch andere Häuser oder andere Bauten eingegrenzt, nur die Deiche verhinderten, dass ich den Strand sehen konnte. Das Meer allerdings konnte ich sehen bis zum Horizont.

Eigentlich liebte ich diese Weite, aber gleichzeitig flößte sie mir auch Angst ein. Ich war kein guter Schwimmer und hasste es, im freien Meer zu baden. Spätestens, nachdem ich den Film Moby Dick gesehen hatte, war ich überzeugt, dass es in den Tiefen von Ungeheuern nur so wimmelte, die mich fressen wollten. Als dann der erste Film mit dem weißen Hai herauskam, fühlte ich mich bestätigt: das offene Meer war definitiv ein Tummelplatz für fiese Fische.

Wer mal auf Amrum war weiß, dass hinter der letzten Düne sich ein weiter Strand erstreckte. Bis zum Wasser waren es an der breitesten Stelle gut zwei Kilometer, die man zurücklegen musste, um baden zu können. Das gab mir die Sicherheit und den Abstand zu dem gefährlichen Nass, den ich brauchte.
Ich wohnte mit meinem Mann im vorletzten Haus der Insel, ganz im Norden, im ersten Stock des nicht mehr existierenden Waschhauses, das zu dem berühmten Seehospiz 1 gehörte. Man nannte das Hospiz auch das Horrorhaus, weil es sich in der Dämmerung drohend mit seinen spitzen Giebeln in den Himmel reckte und die meiste Zeit unbewohnt war.
Um uns herum waren Felder, auf denen im Sommer Kühe weideten, sonst nur ungezähmte Natur. Vor dem Waschhaus erhob sich ein kleiner Hügel, der Rest der Landschaft war platt. Eigentlich störte mich das nicht, aber das änderte sich, als die erste Sturmflutwarnung kam.

Es war an einem Samstag, an dem im Radio und im Fernsehen die Ankündigung kam. Ich hätte es auch so gemerkt, der Wind hatte zugenommen, blies mit zunehmender Stärke aus einer Richtung. Verunsichert überlegte ich, ob wir unser Auto auf den kleinen Hügel fahren sollten. Wenn das Wasser über die Deiche trat, würde es das platte Land um unser Haus herum überschwemmen. Immer wieder sah ich aus dem Fenster, während der Wind weiterhin an Stärke zunahm. Schon ab Mittag verdunkelte sich der Himmel, wirkte alles in ein grau-gelbliches Licht getaucht.
Angst kroch in mir hoch, am liebsten hätte ich mich in einem Raum verkrochen, die Fenster vernagelt und die Ohren zugehalten. Am Nachmittag hatte der Sturm sich zu einer pfeifenden Kakophonie gesteigert, pfiff durch alle Ritzen und röhrte durch das große, leerstehende Haus neben dem unseren. Mein Mann hatte an der Sache eine fast diebische Freude, beobachtete von unserem Fenster aus gespannt die Nordsee.
Die wurde allerdings von der Strandseite gegen die Insel gepresst, die Wattseite blieb flach. Ich hätte auch nicht zusehen mögen, wie sich das Wasser uns entgegenfrass. Die Vorstellung versetzte mich in Panik.
„Komm, wir gehen mal gucken“, meinte mein Gatte dann.
Tatsächlich zog er seine Regenjacke über, wickelte sich einen Schal um und sah mich auffordernd an. Die Neugier überwog. Ich griff nach meinem Anorak und folgte ihm. Die Haustür flog gegen die Wand, als mein Mann sie öffnete. Mit voller Wucht drückte der Wind in den Flur, wir bekamen die Tür kaum hinter uns zu. Dann machten wir uns auf den Weg zum Strand.
Der Wind war so stark, dass wir uns mit aller Kraft dagegen stemmen mussten. Es war sehr beschwerlich, den kurzen Weg zu den Dünen zurückzulegen, die uns wohl nur noch vom Wasser trennten. Dort angekommen bekam ich Angst, folgte meinem Gatten dann aber doch die sandige Anhöhe hinauf. Was ich dann sah, werde ich nie vergessen.
Dort, wo sich sonst kilometerweit der Strand erstreckte, tobte die aufgewühlte Nordsee. Wir standen auf dem Dünenkamm, vor uns nichts als kabbelige Wellen. Sie knabberten an dem Sand, schienen nur darauf zu warten, mit dem nächsten Orkanstoß über die Kante zu springen. In diesem Moment, angesichts dieser Naturgewalt, fühlte ich mich klein und unwichtig. Gegen diese Kraft konnte ich nichts ausrichten, sie würde mich verschlingen und meinen Leichnam irgendwo in ein paar Tagen an den Strand spülen. Trotzdem hatte die Unendlichkeit von grauen Wellen vor mir eine eigenartige Faszination. Zwei winzige Menschen und Wasser, nichts anderes. Die bösen Fische, an die dachte ich in diesem Moment nicht. Die See ängstigte mich allein, so wie sie sich vor mir erstreckte, endlos und wild. Der Gedanke, dass der Pegel noch wenige Zentimeter steigen und alles verschlingen würde, war unglaublich bedrohlich. Neben mir lachte mein Gatte. Er liebte das Meer und genoss den Augenblick.

So lange wir es aushielten, starrten wir auf das Naturschauspiel. Immer wieder drohte der Sturm uns von der Düne zu schubsen, mussten wir unser Gleichgewicht neu suchen.
Ich war die Erste, die langsam den Abhang rückwärts hinunterging. Mein Mann folgte mir, strahlte mich an und schrie: „Toll, nicht?“
Ich nickte automatisch.

Wir verbarrikadierten uns in unserem Haus und tranken Tee mit Rum. Irgendwann nachts nahm der Sturm ab, bis am nächsten Morgen nur noch die gewohnte Brise wehte. Die Dünen hatten das Wasser zurückgehalten, trotzdem war ich froh, als ich die Insel nach fünf Jahren hinter mir ließ und nach Hamburg zurückkehrte.

Impressum

Texte: Sissi Kaiserlos
Bildmaterialien: google and Sissi
Tag der Veröffentlichung: 10.08.2012

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