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Wolfgang war schon richtig nervös, als er mit Udo das Gebäude durch die kleine Seitentür verließ. Der wöchentliche Tag in Freiheit sollte diesmal etwas ganz Besonderes werden. Wolfgang hatte da einen Plan, an dem er schon lange gearbeitet hatte. Aber er benötigte Udo, ohne dessen Hilfe er es niemals schaffen würde.
Wie immer trotten sie zur nächsten Bushaltestelle, um in die Innenstadt zu fahren. Der Bus kam nach wenigen Minuten, verschluckte die Beiden und brachte sie an ihr Ziel. Dort kam Wolfgang dann zur Sache.
„Du, Udo, ich muss dir was sagen.“
„Hm?“
„Wir befreien heute Dornröschen.“
„Oh Mann, Wolle. Mir reicht es noch von Schneewittchen. Meine Ohren habe sich bis heute nicht von ihrem schrillen Gekreische erholt.“
„Ach. Die hat nur gekreischt, weil ich sie nicht geküsst habe.“
„He“, zischte Udo, „fang nicht wieder damit an.“
Wolfgang hielt also den Mund. Kurz zumindest.
„Also: Dornröschen wohnt nicht weit von hier, ich habe schon alles ausgekundschaftet. Und überleg doch mal: ein ganzes Königreich gehört dann mir – äh, uns.“
Udo überlegte, wie Wolfgang ihm befohlen hatte. Und er kam zu dem Schluss, dass diese Sache der letzte Strohhalm war, an den er sich klammern konnte. Sein Leben war einfach zu trostlos, um solche Chance nicht zu ergreifen.
„Okay“, gab er nach, „ich mach mit.“
Froh leuchteten da Wolfgangs Augen auf. Er griff nach Udos Arm und zerrte ihn zurück zur Bushaltestelle, schubste ihn in den gerade ankommenden Bus und seufzte zufrieden. Mit Udos und Gottes Hilfe würde er heute endlich zu seinem Königreich kommen. Und zu der dazugehörigen Prinzessin.

Elvira quiekte leise, als sie sich an einem Dorn stach. Verflixt. Schnell fummelte sie ein Taschentuch aus ihrer Jeans und tupfte sich das Blut vom Finger. Aber es wollte einfach nicht aufhören zu bluten. Elvira erinnerte sich, dass auf dem Medikament irgendwas von gerinnungshemmender Wirkung gestanden hatte. Aber, wie immer, hatte sie den Beipackzettel nur überflogen. Und nun hatte sie den Salat. Zum Glück hatte sie aber auch einen Sessel in der Nähe, in den sie sich fallen ließ. Ihr wurde ganz – schwummerig.

Währenddessen stritten sich Udo und Wolfgang im Bus.
„Ich will sie diesmal küssen“, erklärte Udo.
„Pah, “ brummte Wolfgang, „ ich mach was viel Besseres: ich zeige ihr meinen Zauberstab.“
„Ha-ha, Zauberstab“, grölte Udo, „meinst du deine Schrumpfnudel?“
„Grmblfx“, machte Wolfgang und schmollte für den Rest der Fahrt.
An der Endhaltestelle stiegen Wolfgang und Udo aus. Wolfgang ging voran, Udo trottete ihm hinterher. Die Straßen wurden immer enger, die Häuser immer kleiner.
„Äh, wo soll denn dein Schloss stehen?“
„Oh Mann“, stöhnte Wolle, „das Schloss ist natürlich unterirdisch, du Dussel. Dornröschen schläft seit ungefähr fünfhundert Jahren, da sind schon ein paar Schichten Erde über das Schloss – äh, gewachsen.“
Udo nickte verständnisvoll. Ja, klar, Wolle hatte ja Recht. Was war er aber auch für ein Dummerchen. Endlich hielt Wolfgang vor einem kleinen Häuschen, das über und über mit Rosen bewachsen war.
„Zielobjekt erreicht“, verkündete er und nahm seinen Rucksack ab.
Udo griff zu, als Wolfgang ihm einen Schraubenschlüssel in die Hand drückte. Wolle selbst nahm eine Profi Rosenschere aus dem Rucksack.
„Äh“, machte Udo, „was soll ich mit dem Ding hier? Bedeutet das, bei mir ist eine Schraube locker? Soll ich meine innere Einstellung justieren?“
Verwirrt sah Wolfgang auf den Schraubenschlüssel und griff erneut in den Rucksack. Diesmal hielt er eine zweite Rosenschere in der Hand.
„Tschulligung“, murmelte er.
Erleichtert tauschte Udo die Werkzeuge und folgte Wolfgang zu dem Häuschen. Wolle begann sofort, die Rosenranken zu zerschneiden. Udo machte es ihm nach, wischte sich nach einer Weile den Schweiß von der Stirn.
„Du, Wolle“, fragte er, „warum machen wir das hier?“
„Oh Mann, das ist doch sonnenklar“, stöhnte Wolfgang, „wir befreien Dornröschen.“
„Hm“, machte Udo, „und warum benutzen wir dann nicht die Tür da?“
Verwirrt ließ Wolle seine Rosenschere sinken und ging auf die Tür zu, die Udo entdeckt hatte. Hm, sollte es so einfach sein? Wolfgang tippte mit dem Finger gegen die Tür, die sich mit einem leisen Knarren öffnete. Oh.
„Na mach schon, geh rein“, flüsterte Udo aufgeregt und schubste Wolle durch die Tür.
Sollte es in diesem Haus Fallen geben, so wie er es bei Indiana Jones gesehen hatte, würde es wenigstens Wolle erwischen und nicht ihn. Aber Wolle blieb unbehelligt.
„He, guck mal.“
Wolle war an einen Sessel getreten, in dem eine wunderschöne Frau schlief. Ihr langes, blondes Haar glänzte im Sonnenlicht und ihre kirschroten Lippen waren leicht geöffnet.
„Oh Mann“, sagte Wolle und beugte sich vor.
„Weg da“, zischte Udo und schob Wolle beiseite.
„Ich hab sie zuerst gesehen.“
„Na und? Jetzt bin ich dran.“
Es kam zu einem kleinen Handgemenge, in dessen Verlauf Elvira kurz das Bewusstsein wiedererlangte.
„Holt einen Krankenwagen“, sagte sie laut und deutlich.
Wolle erstarrte. Udo bewegte sich nicht mehr. Zwei Köpfe drehten sich und vier Augen starrten Elvira an, die das Bewusstsein wieder verloren hatte.
„Sie ist krank.“
„Drück auf deinen Pieper.“
Udo gehorchte. Schon bald hörten sie die Sirene, die sich schnell näherte. Bewegungslos blieben sie neben Elvira stehen, zu deren Füssen sich bereits eine riesige Blutlache gebildet hatte. Der Traum war geplatzt und ein weiterer Aufenthalt in der Gummizelle gewiss. Udo seufzte und Wolle versank in tiefes Brüten. Wie hatte sein Plan nur schon wieder schief gehen können?

Die Rettungssanitäter, die mit zwei durchgeknallten Patienten gerechnet hatten, fanden zwei lammfromme Irre vor, die sich um die Gesundheit der verblutenden Frau sorgten. Dank Udos und Wolles Reaktion konnte Elvira mit ein paar Transfusionen gerettet werden. Trotzdem bekamen die beiden Hausarrest für die nächsten vier Wochen.

An ihrem ersten Ausgangstag nach dem Arrest wartete hinter der Seitentür eine Limousine auf Udo und Wolfgang. Elvira ließ die Seitenscheibe heruntergleiten und winkte den beiden zu.
„Steigt ein, meine Lebensretter. Ich möchte euch was zeigen.“
„Hu-hu“, machte Wolle und blinzelte Udo zu, „vielleicht sollte ich ihr jetzt auch meinen Zauberstab...“
„Steig ein, du Spinner“, knurrte Udo.
Die Limousine hielt vor dem kleinen Häuschen. Elvira lächelte und hob eine Fernbedienung, drückte auf einen Knopf. Neben dem Haus wölbte sich die Erde, eine quadratische Grassode fuhr hoch. Vor Wolles und Udos Augen öffnete sich ein Schacht, in den der Chauffeur die Limousine jetzt lenkte. Dunkelheit umfing sie.
„Hu-hu“, machte Udo.
„Klappe“, brummte Wolle.
„Wow“, staunte Udo.
Die Limousine hatte den dunklen Schacht verlassen und hielt vor einem prächtigen Schloss. Elvira wandte sich ihren Lebensrettern zu.
„Das ist mein richtiges Zuhause. Und ihr seid hier auch willkommen. Wenn ihr wollt, könnt ihr bleiben.“
„Dornröschen“, flüsterte Wolle andächtig.
„Sch-sch“, machte Elvira, „manche behaupten, ich existiere gar nicht. Lassen wir sie in dem Glauben.“

Wolle und Udo waren glücklich bei Dornröschen. Und wenn sie nicht gestorben sind, dann sind sie es heute noch.

Impressum

Texte: sissi kaiserlos
Bildmaterialien: fotocommunity
Tag der Veröffentlichung: 16.05.2012

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
für Udo und Wolfgang

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