„Ich bin gleich durch.“
Udo warf einen kurzen Blick auf Wolfgang, der sich zum wiederholten Male den Schweiß von der Stirn wischte. Dann setzte er den Schneidbrenner wieder an. Minuten verstrichen.
„Mach schon,“ sagte Wolfgang nervös.
Udo grunzte.
„Sie hat nach Deinen Berechnungen ungefähr dreihundert Jahre geschlafen. Dann machen ein paar Minuten mehr oder weniger auch nichts mehr aus.“
Wolfgang hielt lieber den Mund. Er hatte sowieso schon Ärger mit Udo gehabt, weil der gedacht hatte, sie würden einen Tresor knacken. Statt dessen standen sie jetzt in dem Verließ einer Ruine und schnitten eine Stahltür auf. Udo seufzte triumphierend.
„Ich bin durch.“
Auch Wolfgang atmete auf. Jetzt war er dem Ziel seiner Wünsche endlich ganz nahe. Während seines ganzen Studiums hatte er sich den Märchen gewidmet. Und dafür Spott und Hohn seiner Kommilitonen geerntet. Aber mit dem heutigen Tage würde er sie alle verblüffen.
Wolfgang nahm ein paar Gegenstände aus seinem Rucksack. Die rituelle Handlung musste vor der Tür ausgeführt werden. Er stimmte einen uralten Singsang an und entzündete eine Kerze.
„Echt, Kumpel. Jetzt spinnst Du ja völlig ab.“
Udo starrte Wolfgang an. Der hatte sich einen langen Umhang angelegt und hielt die Kerze hoch, während er in einer merkwürdigen Sprache Beschwörungsformeln murmelte. Udo überlegte, ob er nicht lieber verschwinden sollte. Aber irgendwie war er auch neugierig, was ihn hinter der Tür erwartete.
Wolfgang hörte endlich mit dem Gemurmel auf und malte mit Kreide ein Zeichen auf die Tür. Dann hinkte er auf einem Fuß einmal im Kreis.
„So,“ machte er und wischte sich die Finger an seiner Hose ab.
„Jetzt geht’s los.“
Aha. Udo hielt die Luft an. Wolfgang warf die Kreide und den anderen Kram in seine Tasche. Dann holte er eine Pappkrone hervor und setzte sie auf. Mit einem Gummiband befestigte er das Ding unter seinem Kinn. Udo atmete aus. Sonst wäre er erstickt.
„Sag mal, das ist jetzt aber wirklich zu strong. Wird das hier ein Kindergeburtstag?“
Wolfgang lächelte geheimnisvoll.
„Nein, das ist ein Teil der Magie. Du wirst schon sehen.“
Mit diesen Worten griff er nach seiner Tasche und schob langsam die Tür auf. Sie quietschte leise in ihren Angeln. Udo hielt die Luft an.
Und riss erstaunt die Augen auf. Hinter der Tür war – ein riesiger Wald, der unmöglich in diesen Keller passen konnte. Er sah aus wie in den Märchenbüchern, die er als Kind so gern betrachtet hatte. Udo atmete aus.
„Das gibt’s nicht,“ erklärte er nüchtern.
Wolfgang nickte und schritt in den Wald hinein. Schon bald war er zwischen den Bäumen verschwunden. Moment. Udo überlegte kurz und rannte dann seinem Kumpel hinterher. Wenn das hier nicht wirklich war, dann war es ein Traum. Aber er wollte auf jeden Fall dabei sein.
„Warte,“ Udo keuchte und hielt Wolfgang am Arm fest, „was suchen wir hier?“
„Den gläsernen Sarg.“
Uh! Klar! Ein gläserner Sarg musste natürlich hier irgendwo rumstehen. Udo sah sich um und trottete dann Wolfgang nach, der einer inneren Stimme zu folgen schien. Sie gingen eine Weile und erreichten eine Lichtung. Die Sonne warf einen Strahl auf einen – gläsernen Sarg. Udo hielt die Luft an. Atmete dann aber lieber weiter. Er wollte hier nicht sterben.
„Wow.“
Wolfgang rückte seine Pappkrone zurecht und schritt auf den Sarg zu. Darin lag – eine wunderschöne Frau. Ihr ebenholzschwarzes Haar floss über das Kopfkissen. Ihre roten Lippen waren leicht geöffnete, als erwarte sie einen Kuss. Udo beugte sich vor und beäugte die Lippen.
„Jade Nummer sechs,“ murmelte er.
„Hä,“ machte Wolfgang.
„Ich kenn die Farbe. Benutzt meine Freundin auch.“
„Spinner,“ murmelte Wolfgang, „Jade Nummer sechs gab es nicht vor dreihundert Jahren.“
Stimmt. Udo nickte und schämte sich für seine Vermutung.
„Hilf mir mal,“ Wolfgang schob den gläsernen Deckel hoch.
Udo packte mit an und sie öffneten den Deckel, der mit einem leisen Quietschen nachgab.
„Ist ja wie bei nem Ferrari,“ erklärte Udo sachkundig.
„Hä,“ machte Wolfgang und zog an seiner Pappkrone.
„Na, der Deckel. Wie beim Ferrari. Da klappt man die Tür auch so hoch.“
„Ach so. Klar. Super Sache,“ Wolfgang beugte sich vor und starrte die Frau an. Erst mal die Lebenszeichen prüfen. Er griff nach seiner Tasche und holte ein Stethoskop heraus. Fachmännisch schob er das Ding in seine Ohren und horchte Schneewittchens Brust ab.
„Sie atmet,“ verkündete er erleichtert.
So. Jetzt der Kuss. Hm. Mit Zunge oder ohne? Wie küsste denn ein Prinz? Sicher mit gespitzten Lippen. Keusch und unschuldig. Wolfgang beugte sich vor..
„He, was machst Du da?“
Udo schubste Wolfgang weg.
„Ich muss sie küssen. Dann wacht sie auf.“
Udo grinste.
„Dann lass mich küssen. Ich kann das besser.“
Wolfgang schnaubte.
„Da hab ich aber ganz andere Sachen gehört.“
„Ach. Von wem denn?“
„Von Deiner Freundin.“
„So. Seit wann redest Du mit meiner Freundin über Küssen?“
Verlegen sah Wolfgang zu Boden.
„Na ja. Neulich warst Du nicht da. Und da haben wir eine bisschen geredet. Und dann – also, ich kann wirklich nichts dafür.“
Udo sah rot.
„Wofür kannst Du nichts?“
Wolfgang schluckte.
„Wir haben – geküsst.“
„Ach?“
„Ganz harmlos. Nur geküsst.“
„Harmlos nennst Du das?“
Wolfgang nickte.
„Gut. Dann empfang mal meine harmlose Faust.“
Udo versetzte Wolfgang einen gekonnten Kinnhaken. Der taumelte und rieb sich über das Gesicht.
„Na warte. Das kann ich auch.“
Wolfgang hob die Faust und hieb Udo in den Magen. Dabei rutschte ihm die Pappkrone vom Kopf.
Britta erwachte aus tiefem Schlaf. Laute Kampfgeräusche hatten sie geweckt. Sie starrte die zwei kämpfenden Kerle an und überlegte, ob sie immer noch träumte. Der eine sah ja – normal aus. Aber der andere trug einen merkwürdigen Umhang und hatte eine Krone aus Pappe am Hals hängen. Sie überlegte nicht lang. Britta öffnete den Mund und schrie aus vollem Halse.
„So,“ sagte der Wärter und grinste durch die Klappe in der Tür, „hier könnt ihr weiter spielen.“
Wolfgang setzte sich auf und sah sich in der Zelle um. Seit die Kerle in den weißen Kitteln ihn und Udo ergriffen und in einen schwarzen Van geworfen hatten, fehlte ihm ein Stück Erinnerung.
„Udo,“ flüsterte er und tastete nach seinem Kumpel.
Britta lächelte sanft. Sie sah sich in ihrem Märchenwald um und seufzte tief, bevor sie sich wieder auf ihr breites Bett legte. Ihre schwarzen Haare flossen über das Kopfkissen. Moment. Britta setzte sich auf und griff nach ihrem Spiegel, kontrollierte ihren Lippenstift. Perfekt. Zufrieden legte sie sich zurück und schloss die Augen. Irgendwann musste ihr Märchenprinz ja kommen. Aber diesmal der Richtige, bitte.
Texte: Sissi Kaiserlos
Bildmaterialien: fotocommunity
Tag der Veröffentlichung: 03.04.2012
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