Es war einer dieser Mädels Abende, die in Sinja den dringenden Wunsch nach männlicher Begleitung weckten. Sowohl Anna als auch Emma ließen kein gutes Haar an ihren zuhause gebliebenen besseren Hälften. Ob es nun der nicht getätigte Abwasch oder der nicht rausgebrachte Müll, die dreckigen Socken unter dem Bett oder das heimlich Bohren in der Nase war, egal. Die Kerle schienen rundherum faul, dreckig und unmöglich zu sein. Sinja seufzte leise und wünschte sich, sie könnte auch etwas beitragen.
Aber dafür brauchte es einen faulen, dreckigen Kerl, und den hatte sie nicht. Eigentlich hatte sie gar keinen Mann, und das schon seit – mal überlegen – seit Großtante Elviras achtzigstem Geburtstag. Also seit zwei Jahren. Genau diesen Geburtstag hatte sich nämlich Martin ausgesucht, um sie zu verlassen, für eine Jüngere. Sinja schnaubte leise. Dabei war sie erst gerade mal dreißig geworden.
„Sinja?“ Anna wedelte vor ihrem Gesicht mit der Hand herum. „Erde an Sinja, willst du noch was trinken?“
Der freundliche Kellner mit den Schlitzaugen lächelte und wartete geduldig, bis Sinja ihre Bestellung aufgegeben hatte. Reisschnaps. Am besten ganz viel und ganz schnell, damit sie ihr Elend vergaß.
„Du kannst so froh sein, dass du Single bist“, meinte Emma und sah Sinja neidisch an. „Wie schön muss es sein, nach Hause zu kommen und nicht als erstes über die Schuhe des Hausherrn zu stolpern, der sie natürlich an Ort und Stelle liegengelassen hat, damit seine Frau sie ordentlich wegräumen kann.“
„Hmpf“, machte Sinja und griff nach dem Reisschnaps.
Mit einem Zug schluckte sie das Zeug runter und fühlte sich schon leichter. Es war inzwischen der dritte Schnaps und das zeigte endlich Wirkung. Sinja nahm sich einen Glückskeks aus der Schale, die der Kellner zusammen mit der Rechnung auf den Tisch gestellt hatte. Das ungenießbare Gebäck zerbröselte sie und nahm den Zettel heraus.
„Ha“, meinte sie und sah ihre Freundinnen an, „nun hört euch das an: Lade einen Gast in dein Haus und bewirte ihn. Es wird dein Schaden nicht sein. Sehr witzig. In meinem Kühlschrank befindet sich ein Glas saure Gurken und ein abgelaufener Joghurt. Als wenn ich damit jemanden bewirten könnte.“
Emma kicherte und las ihren Zettel vor: „Verzeih die kleinen Sünden. Es könnte schlimmer kommen.“
„Hm“, machte Anna, “Das kann ja nur bedeuten, dass dein Kerl dich vielleicht auch noch betrügt. Aber nun hört mal das hier: Sei deines eigenen Glückes Schmied. Nur du kennst den Schlüssel.“
Anna zerknüllte den Zettel und warf ihn auf den Tisch, während Sinja wieder auf ihren Spruch starrte. Drei Reisschnäpse weiter verließ sie mit ihren Freundinnen das Restaurant. In angenehmer Betrunkenheit saß Sinja dann in der Bahn und formulierte in Gedanken die Einladung. Lieber Fremder, der du saure Gurken liebst, sei mein Gast. Ich lade dich ein. Sinja kicherte leise vor sich hin, während sie von der Bahnstation nach Hause wankte.
Als sie ihre Wohnung betrat, quietschte es laut unter ihrem Fuß auf. Erschrocken machte Sinja das Licht an und entdeckte erleichtert den Plüschdrachen, auf den sie versehentlich getreten war. Er musste von der Kommode gefallen sein. Sinja hob ihn auf und setzte ihn zu seinen Artgenossen auf den Schrank. Dann schleuderte sie müde die Schuhe von den Füssen, warf ihre Tasche und Jacke in eine Ecke. Zeit fürs Bett.
Es war ungefähr drei Uhr morgens, als stechender Durst und das Gelüst auf eine saure Gurke Sinja aus dem Bett trieb. Ihr Kopf war immer noch benebelt von dem Reisschnaps, während sie im Halbschlaf in die Küche taumelte und den Kühlschrank öffnete. Sinja nahm dem Drachen das Glas mit den sauren Gurken aus den Pfoten und schloss die Tür. Verdammt, sie musste das Ding dringend mal saubermachen. Aus dem Joghurt war ja wirklich eine neue Lebensform… Äh, wo war denn der Deckel von dem Glas? Es klopfte und jemand rief gedämpft: „Hallo.“ Oder so ähnlich.
Verwirrt sah Sinja von dem Glas zum Kühlschrank und zurück. Wieder dieses Klopfen. Ihre Finger begannen zu zittern. Schnell stellte sie die sauren Gurken auf die Arbeitsplatte und wischte sich die Handflächen an ihrem Pyjama ab. Ihrem Lieblingspyjama mit den süßen Drachenmotiven.
Wie in Zeitlupe öffnete sie erneut den Kühlschrank. Der Drache blinzelte und versuchte zu lächeln, was bei seiner Gattung eher wie ein Zähnefletschen wirkte.
„Hallo“, lispelte er und hob eine Pfote zum Gruß,“if bin Folfgang von Hengftenberg.“
Sinja schluckte und warf die Tür wieder zu. Zuviel Reisschnaps, klarer Fall von Halluzinationen. Sie trat einen Schritt zurück und atmete erst mal tief durch. Wieder erklang das Klopfen, diesmal energischer.
„He, du da draufen. If habe Hunger“, ertönte es gedämpft.
Sinja riss die Kühlschranktür auf und starrte den Drachen an. Es war eines von diesen schuppigen Modellen, mit nur einem Kopf und ungefähr fünfzig Zentimeter lang. Er glänzte grün-gelb und hatte einen langen Schwanz, den er aufgrund der Enge seiner Behausung zusammengerollt unter dem Arm trug. Mit seinen großen, schwarzen Augen sah er Sinja treuherzig an und zeigte zu den Gurken.
„Darf if die da haben?“
Wie in Trance reichte sie dem Drachen das Glas, der es ihr aus der Hand riss und sich gierig eine Gurke nach der anderen ins Maul schob. Als es leer war rülpste er, wobei kleine Rauchwölkchen aus seinen Nasenlöchern aufstiegen.
„Daf hat gut getan“, erklärte er und beäugte misstrauisch den Joghurt, der nun das einzige Essbare im Kühlschrank war, sofern man Drachen nicht als Lebensmittel bezeichnen wollte.
„Waf ift damit?“ Voller Hoffnung nahm der Drache den Joghurt hoch und öffnete sein Maul, als Sinja beherzt den Arm ausstreckte und ihm den Becher aus der Pfote riss.
Sie wollte nicht, dass er – oder war es eine sie? - in ihrem Kühlschrank an einer Lebensmittelvergiftung starb. Schließlich standen Drachen unter Artenschutz, oder?
Enttäuscht seufzte der Drache und richtete seinen Blick nun interessiert auf Sinja.
„Und wie heift du?“
Jetzt war es aber genug, Es war schon spät, die Gurken aufgegessen und sie musste früh aufstehen. Nicht der richtige Zeitpunkt für eine höfliche Konversation mit einem Kühlschrankdrachen. Sie warf die Tür zu und wankte in ihr Bett. Der Reisschnaps schenkte ihr gnädigerweise sanftes Vergessen und sie schlief ein.
Der Wecker riss Sinja viel zu früh aus dem Schlaf. Das war wirklich ein verrückter Traum gewesen. Da sie morgens nie zuhause frühstückte, machte Sinja keinen Versuch, den Kühlschrank erneut zu öffnen. Nach der Arbeit musste sie unbedingt einkaufen, vor allem saure Gurken.
Irgendwie überstand sie den Tag, ohne sich allzu grobe Schnitzer an ihrem Arbeitsplatz zu leisten. In dem Supermarkt, der nur wenige Schritte von ihrer Wohnung entfernt war, kaufte Sinja einen riesigen Vorrat an Lebensmitteln. Nur für den Fall, dass sich auf ihre gedachte Einladung hin ein Gast einfinden würde. Sinja schleppte die Einkäufe in ihre Wohnung und stellte sie auf dem Küchentisch ab. Vorsichtig näherte sie sich dem Kühlschrank und machte die Tür langsam auf.
„Fön, daff du wieder da bift. Mir ift langweilig.“ Der Drache blinzelte Sinja zu und sprang mit einem Satz aus dem Kühlschrank, wobei er die kleinen Stummelchen auf seinem Rücken wie Flügel bewegte. Mit einem lauten Platsch landete er auf dem Küchenboden und jammerte. „Au, Au, mein Popo tut weh.“
Sinja starrte auf das arme Ding herunter und musste grinsen. „Kannst du etwa nicht fliegen?“
Der Drache machte ein empörtes Gesicht. „If fachfe noch. Flügel bekommt ein Drafe erft, wenn er flügge geworden ift.“
Ernsthaft nickte Sinja und überlegte, ob Reisschnaps wirklich so lange anhielt. „Okay, und wie alt bist du?“
Der Drache richtete sich stolz auf, wobei er sich immer noch den schmerzenden Popo rieb. Sah irgendwie – süß aus. „If bin fon fünfzig. Alfo fon fast flügge.“
Aha. Sinja betrachtete den kleinen Furz und unterdrückte ein irres Kichern. „Wann wird man denn flügge bei euch?“
Der Drache zuckte mit den Schultern. „Tja, mit fweihundert, fo um den Dreh. Feif auf nift fo genau.“
Ein Drache der Weisheit hatte sich da nicht gerade in ihren Kühlschrank verirrt. Sinja ließ sich auf einen Stuhl sinken und rieb sich die Stirn. Okay, es war kein Traum gewesen. Vor ihr stand ein geschupptes Exemplar der ausgestorbenen Art der Drachen, wenn es sie jemals wirklich gegeben haben sollte. Irgendwie musste sie wohl – damit fertig werden. Also, erst mal Freundschaft schließen.
„Ich heiße Sinja“, erklärte sie und streckte langsam ihre Hand aus, um den Drache nicht zu erschrecken.
„Folfgang von Hengftenberg“, erwiderte Wolfgang von Hengstenberg, ergriff Sinjas Hand und drückte sie so fest er konnte mit seinen kleinen Pfoten.
Sie zuckte erschrocken zusammen. Die Berührung mit dem Drachen fühlte sich an, als würde sie eine Echse anfassen. Schnell zog sie ihre Hand zurück.
„Äh, freut mit dich kennen zu lernen, Folfgang“, murmelte sie verlegen.
Was redete man denn mit einem Drachen eigentlich so?
„If freue mif auf, Finja. Aber if heife Folfgang, nift Folfgang.“
„Ach so“, sagte Sinja und verfiel dann in brütendes Schweigen.
Auch Wolfgang schien der Gesprächsstoff ausgegangen zu sein, denn er musterte interessiert die Krallen an seinen Pfoten.
„Äh“, meinte er schließlich“, Du haft nift fufällig faure Gurken beforgt?“
Ach ja, die Einkäufe. Endlich kam Leben in Sinja und sie sprang enthusiastisch auf. Schnell räumte sie die Tüten aus und stellte für Wolfgang ein Glas Gurken auf den Küchentisch.
„Hier, die sind für dich.“
Mit einem Laut, der fast wie ein Miauen klang, stürzte sich Wolfgang auf das Geschenk. Geschickt öffnete er mit seinen Krallen das Glas und schluckte eine Gurke nach der anderen herunter, während Sinja die übrigen Lebensmittel in den Kühlschrank räumte. Als sie sich wieder Wolfgang zuwandte rülpste dieser zufrieden, während er das leere Glas auf den Tisch stellte, und er schien gewachsen zu sein, aber das täuschte sicher. Sinja seufzte und überlegte, was sie und der Drache mit dem Rest des Abends anstellen sollten.
„Du fpielft nift fufällig Halma?“, fragte Wolfgang hoffnungsvoll.
Halma? Klar konnte Sinja Halma spielen, hatte es jedoch seit einer halben Ewigkeit nicht mehr getan.
„Ich muss mal gucken, was für Spiele ich überhaupt habe. Ich habe seit bestimmt hundert Jahren nicht gespielt.“ Sinja verschwand im Wohnzimmer.
„Hundert Jahre“, sinnierte Wolfgang und folgte ihr, „fo alt fieht Finja gar nift auf.“
Karton für Karton zauberte Sinja Spiele aus den Tiefen ihres Schrankes hervor. Neugierig beäugte der Drache den Stapel, der immer weiter wuchs, und griff schließlich nach einer Packung Spielkarten.
„Fkat“, rief er triumphierend und schwenkte seine Beute, „laff unf Fkat fpielen.“
Sinja zog sich aus dem Schrank zurück und starrte Wolfgang an. Skat? Warum nicht, das konnte sie immerhin ganz gut. Auch wenn der dritte Mann fehlte, aber dann musste eben Otto den Part übernehmen. Otto? Genau, einfach ein Stapel, von dem blind die Karten aufgedeckt wurden.
Tatsächlich verbrachten sie und der Drache den Abend damit, eine Runde Skat nach der anderen zu spielen. Wolfgang war ziemlich gut und freute sich wie ein Schneekönig über jede gewonnene Runde. Als Sinja nach einem Blick auf die Uhr die Spielkarten wegräumte, zog der Drache eine Flunsch.
„Manno“, murrte er und sah sie mit einem betrübten Blick an, „ef hat gerade angefangen Fpaff fu maffen.“
„Wenn es am schönsten ist, sollte man aufhören“, erklärte Sinja schulmeisterlich, „Außerdem ist es schon spät und du musst bestimmt nach Hause. Zu deinen Eltern, meine ich.“
„Naf haufe?“ Der Drache starrte Sinja entsetzt an.
Ja, wusste sie denn nicht, dass jetzt hier sein zuhause war? Bis er seine Aufgabe erfüllt hatte, was immer das auch sein mochte?
„If wohne hier. Bei dir. Daf ift mein Zuhaufe“, sagte er weinerlich.
Entschieden schüttelte Sinja den Kopf. „Nein, du kannst nicht in meinem Kühlschrank wohnen. Der ist jetzt voll mit Lebensmitteln, da passt du nicht mehr rein.“
„Faf ift mit der Badefanne?“, fragte Wolfgang hoffnungsvoll.
Oh Mann, das wurde jetzt aber echt anstrengend. Sinja runzelte die Stirn und schüttelte langsam den Kopf. Der Drache musste weg. Sie konnte kein Haustier gebrauchen. Schließlich war sie den ganzen Tag auf der Arbeit, Wolfgang würde sich nur langweilen und seine Eltern vermissten ihn bestimmt schon.
„Es geht nicht. Du musst wieder nach Hause“, erklärte sie streng und stand auf.
Ein lautes Heulen ließ sie zusammenzucken. Mit weit aufgerissenem Maul und heraushängender Zunge jaulte der Drache herzerweichend, während ihm Tränen fontänenartig aus den Augen spritzten.
„Duhu fillft mif nift“, heulte Wolfgang und verursachte bereits einen kleinen See auf dem Fußboden mit seiner Sintflut von Tränen. „Daf tut fo feh-feh.“
Mist! Das hatte Sinja nun auch nicht gewollt. Ohne nachzudenken ging sie vor dem jammernden Wolfgang auf die Knie und – tja, was tat man eigentlich mit heulenden Drachen? Zögernd streckte sie die Arme aus und legte sie um Wolfgang, der augenblicklich das Maul zuklappte und ihr hoffnungsvoll zublinzelte. „Küfft du mir jetft mein Aua weg?“
Sinja konnte nicht anders, sie musste kichern. Erst leise, dann immer lauter. Der Drache kicherte mit und schließlich lachten sie beide lauthals, bis ihnen die Tränen kamen.
„Daf – äh – das ist wirklich gut“, keuchte Sinja und rieb sich die Augen, „Aua wegküssen. Oh Mann. du bist wirklich süß, Wolfgang.“
„Füff?“ Der Drache schnurrte und drückte sich näher an Sinja. „If bin füff?“
„Ja, sehr süß. Du darfst in der Badewanne schlafen. Aber nur heute Nacht.“
Weil es sich so gut anfühlte, hob Sinja den Drachen hoch und trug ihn zu ihrer Badewanne, in der sie ihm aus Decken ein Bett bereitete. Eigentlich passte er doch ganz gut in ihre Wohnung, die ohnehin eine umfangreiche Sammlung von Drachen beherbergte. Drachen aus Ton, Porzellan, Holz, Stoff, Plastik und so weiter. Wolfgang kuschelte sich in seine Decken und blinzelte Sinja verliebt zu.
„Gibft du mir einen Gutenaftkuff? “ maunzte er hoffnungsvoll.
Nö, Wolfgangs Schnauze wollte sie nun wirklich nicht küssen. Angeekelt schüttelte sie den Kopf.
„Fade“, murmelte der Drache und schloss die Augen.
Gleich darauf verriet ein leises Schnarchen, dass er eingeschlafen war. Sinja seufzte und ging in ihr Schlafzimmer. Sicher war morgen alles anders und Wolfgang verschwunden. Irgendwann musste die Wirkung des Reisschnapses doch aufhören.
Irgendetwas schnuffelte an Sinjas Ohr, dann strich ihr etwas Schuppiges über die Wange. Mit einem entsetzten Schrei fuhr sie hoch und sah in die schwarzen Augen des Drachen.
„If hab Hunger“, murrte Wolfgang.
Er war auf das Bett gekrabbelt und musterte Sinja neugierig. Wieder trug sie ihren Lieblingspyjama mit den Drachenmotiven.
„Daf ift aber ein fönef Kleidungftück“, erklärte der Drache und betrachtete interessiert die kleinen Drachenbilder. „Krieg if auf fo einen?“
Schon wieder musste Sinja kichern, als sie an Wolfgang in ihrem Pyjama dachte. Das würde richtig süß aussehen. Sie schob ihn beiseite und schwang sich aus dem Bett, ging immer noch kichernd in die Küche und kochte sich erst mal einen Kaffee.
Der Drache trippelte ihr hinterher und kletterte hoffnungsvoll auf einen Stuhl. „Faure Gurken?“
Sinja seufzte und sah in den Kühlschrank. Tatsächlich, da war noch ein Glas. Sie stellte es vor Wolfgang auf den Tisch und setzte sich mit einem Becher Kaffee ihm gegenüber. Ein Blick auf die Uhr verriet Sinja, dass sie noch etwas Zeit hatte bis sie zur Arbeit musste. Zeit für ein ernstes Gespräch.
„Also, Wolfgang“, begann sie und sah den Drachen ernst an, der bereits das halbe Glas Gurken vernichtet hatte. „Ich kann dich nicht hier behalten. Ich muss den ganzen Tag arbeiten und habe keine Zeit, mich um dich zu kümmern. Außerdem sorgen sich doch sicher deine Eltern. Du musst wieder nach Hause.“
Wie ein Geschoss flog eine Gurke an Sinjas Ohr vorbei, als Wolfgang laut aufheulte und das Ding dabei ausspie.
„Du filft mif nift. Daf tut fo weh“, heulte der Drache los und Tränen spritzten springbrunnengleich aus seinen Augen.
Erschrocken sprang Sinja auf und kniete sich vor den kleinen Kerl, zog ihn in ihre Arme und – strich ihm über den schuppigen Kopf. Es fühlte sich – erstaunlich gut an. Wolfgang verstummte sofort und blinzelte. „If darf alfo bleiben?“
Oh Mann, Sinja konnte es einfach nicht. Also sollte Wolfgang bleiben bis er so verschwand, wie er gekommen war und das musste er doch einfach irgendwann. Oder? Schließlich gab es gar keine Drachen. Sinja ließ ihn los und setzte sich wieder auf ihren Stuhl. Gut. Das wäre also geklärt. Dann konnten sie jetzt mal ein paar andere wichtige Sachen mit ihrem – Haustier? Gast? – besprechen.
„Du kannst bleiben. Vorerst. Aber ich muss wissen, was du für Nahrung brauchst, damit du nicht verhungerst.“
„If effe Fpinnen und Fliegendreck“, murmelte Wolfgang und verschlang die letzten Gurken.
Oh Gott! Wo sollte sie das denn herbekommen? Entsetzt starrte Sinja den Drachen an. Der rülpste leise und schob das Glas von sich, zwinkerte ihr dann zu.
„Huah-huah“, machte er und hieb sich auf die Schenkel, „daf war ein Ferz. Nur ein Ferz. If effe faure Gurken. Und manfmal Piffa. Aber daf darf if nift fo oft, fonft werde if fu dick.“
Sinja blinzelte. Der kleine Kerl trieb seine Späße mit ihr, unglaublich, und er schien schon wieder größer geworden zu sein. Schnell trank sie ihren Kaffee aus und goss sich den Becher wieder voll. Vielleicht schärfte das ihre Sinne.
„Okay, saure Gurken also. Und – warum bist du hier? Ich meine – wie bist du in den Kühlschrank gekommen?“
Wolfgang sah Sinja an, als wäre sie bekloppt. Oder unterbelichtet. Oder beides.
„If taufe da auf, fo if gebrauft werde“, sagte er beleidigt.
Aha. Sinja nickte verstehend. Wäre ja noch schöner, wenn sie jetzt zugäbe, dass sie kein Wort verstanden hatte.
Der Drache nickte befriedigt. Also hatte wenigstens seine Gastgeberin verstanden, weshalb er hier war. Er hatte nämlich – ehrlich gesagt – keine Ahnung. Aber das machte nichts. Hauptsache, es gab saure Gurken – viele saure Gurken.
Sinja warf einen Blick auf die Uhr und erschrak. So spät schon. Jetzt musste sie sich wirklich beeilen. „Ich muss zur Arbeit. Bitte sei brav und mach keinen Mist, während ich weg bin.“
Oh Gott, sie redete ja wie mit einem Kind. Sinja sprang auf und lief in ihr Schlafzimmer, um sich anzuziehen. Der Drachenpyjama flog im hohen Bogen auf das Bett. Schnell schlüpfte sie in einen Slip und zog sich ein Hemd über den Kopf, als ein schmatzendes Geräusch von der Tür her erklang.
„Lecker-lecker“, sagte Wolfgang und leckte mit seiner langen, blauen Zunge über die Nasenlöcher.
Sinja quietschte erschrocken auf und warf dem Drachen die Tür ins Gesicht – äh, gegen die Schnauze.
„Aua“, erklang es gedämpft.
Befriedigt zog sich Sinja fertig an und öffnete die Tür wieder. Wolfgang lag auf dem Rücken und rieb sich die Schnauze.
„Daf hat fehgetan“, sagte er vorwurfsvoll.
„Daf follte ef auf“, gab Sinja zurück und stieg über ihn hinweg.
Sie musste sich beeilen um ihren Bus noch zu erreichen. Erleichtert ließ sie sich auf die hinterste Bank sinken und rang nach Atem, als ihr Nachbar sich räusperte.
„Äh, hallo Sinja.“
Oh nein! Verlegen fuhr sich Sinja durchs Haar und überlegte, ob sie mit ihrem puterroten Gesicht und ihrer derangierten Frisur es wagen konnte, ihren Nachbar anzusehen. Ihren Arbeitskollegen Tim, für den sie schon so lange schwärmte.
„Hallo Tim“, quetschte sie hervor und sah verlegen auf ihre Schuhe.
„Schönes Wetter heute“, murmelte Tim und blickte aus dem Fenster.
Mein Gott! Sinja war ja so hübsch. In ihrer Nähe fühlte er sich wie ein Schuljunge und wusste einfach nicht, was er sagen sollte. Tim zerrte an seinem Hemdkragen, der plötzlich viel zu eng war.
„Ja, wirklich schön heute. Und auch – so trocken“, erwiderte Sinja geistreich.
Ja, trocken war es wirklich. In ihrer Kehle zum Beispiel. Weniger trocken waren ihre Hände, die sie unauffällig an ihrer Jeans abrieb.
„Hm ja“, sagte Tim und war versucht sich zu räuspern.
Dieser verdammte Frosch im Hals machte ihm zu schaffen.
„Und“, fuhr Sinja in einem Anfall von Wahnsinn fort, „Ich bin so froh, dass ich endlich ein Haustier habe.“
„Aha“, krächzte Tim und erlitt einen Hustenanfall, als der Frosch sich quer stellte.
Ohne nachzudenken hob Sinja die Hand und klopfte ihm beherzt auf den Rücken. Tim keuchte und spuckte – einen Frosch aus. Er war winzig klein, aber eindeutig ein Frosch und hüpfte dann leider einfach davon.
Mit aufgerissenen Augen und offenem Mund starrte Tim seinem ehemaligen Mitbewohner hinterher.
„Da brat mir doch einer...“, sagte er erstaunlich klar.
„…einen Storch“, ergänzte Sinja und sah den Frosch gerade noch unter einem Sitz verschwinden.
So in ungläubigem Staunen erstarrt verpassten sie ihre Haltestelle. An der Endstation kamen sie zu sich.
„Äh“, machte Sinja und sah sich um.
„Tja“, erwiderte Tim geistreich und stand auf.
Als sie mit dem nächsten Bus ihre Arbeitsstelle endlich erreichten, war die Konversation immer noch nicht wieder in Gang gekommen. Steif gingen sie nebeneinander her zum Eingang und nahmen gemeinsam den Fahrstuhl bis in den dritten Stock.
„Also...“, sagte Tom.
„Ja“, meinte Sinja und rieb unauffällig die Handflächen an ihrer Hose.
„Wir könnten vielleicht…“, begann Tim erneut.
„Das ist eine gute Idee“, erwiderte Sinja.
„Tja, dann also, bis heute Mittag“, murmelte Tim und ließ Sinja stehen.
„Freu mich auch“, antwortete sie seinem Rücken.
Oh Mann, was für eine geniale Konversation. Sinja trat sich selbst mehrfach gedanklich in den Hintern, während sie zu ihrem Büro ging. Es wäre doch so einfach zu sagen: He Tim, du gefällst mir. Lass uns zusammen essen gehen.
Stattdessen stotterte sie wie eine Grundschülerin und wusste nun noch nicht einmal, was sie verabredet hatten. Hoffnungsvoll steuerte sie trotzdem gegen Mittag die Kantine an. Vielleicht war es ja das, was Tim gemeint hatte.
Als Sinja mit ihrem vollen Tablett durch die Tischreihen ging kam sie sich vor, wie bei einem Spießrutenlauf. Alle sahen sie an und dachten bestimmt, sie würde niemanden finden, zu dem sie sich setzen konnte. Als sie Tim erblickte, der ihr hoffnungsvoll entgegenschaute, hätte sie sich am liebsten triumphierend umgeblickt und allen Kollegen entgegengerufen: seht her, ich bin verabredet.
Erstaunlicherweise beachtete sie niemand, als sie sich Tim gegenüber niederließ.
„Hallo“, sagte Tim und lächelte geheimnisvoll.
Mein Gott! Er saß wirklich mit Sinja in der Kantine und bekam sein Gesicht nicht unter Kontrolle, das ein dümmliches Grinsen aufwies, so sehr freute er sich.
„Selber hallo“, erwiderte Sinja mit sinnlich rauer Stimme.
Mist! Jetzt hatte sie einen Frosch im Hals. Ob der wohl auch rausspringen würde, wenn Tim ihr auf den Rücken schlug?
„Du…“, Tim trank schnell einen Schluck Wasser, „Du hast etwas von einem Haustier erzählt. Heute Morgen. Im Bus. Was ist es denn?“
Als hätte jemand ihre Kehle mit Margarine eingeschmiert, konnte Sinja tatsächlich antworten.
„Es ist – eine Echsenart. Genau. Eine sehr große – Echse. Mit einem langen Schwanz. Und sehr – süß.“
„Süß?“
Sinja nickte heftig. Sie starrte auf ihr Tablett und spürte plötzlich unbändigen Appetit. Obwohl ihr Magen in Tims Gegenwart normalerweise rebellierte begann sie, die Nudeln in sich hineinzuschaufeln.
Auch Tim verspürte den plötzlichen Wunsch nach Nahrungsaufnahme. Er stopfte sich sein Wiener Schnitzel in Rekordzeit in den Mund und griff dann wieder nach dem Wasserglas. Entspannt – wieso entspannt? – lehnte er sich zurück und lächelte Sinja an.
„Dann erzähl doch mal von der süßen Echse.“
Sinja wischte sich den Mund ab und grinste. „Glaubst du mir, wenn ich dir sage, dass ich sie in meinem Kühlschrank gefunden habe?“
Gut gelaunt kam Sinja an diesem Tag nach Hause. Sie hatte ihre ganze Mittagspause mit Tim verbracht, entspannt plaudernd. Sie hatten sogar überzogen, weil es so schön gewesen war. Zum Schluss hatte Tim sie für den nächsten Tag wieder in die Kantine eingeladen. Oh Mann, das Leben konnte so schön sein.
Wolfgang war nicht in der Küche. Auch nicht im Wohnzimmer, wo ihre ganze DVD Sammlung wild verstreut auf dem Fußboden lag. Im Schlafzimmer war er auch nicht, zum Glück. Aber in der Badewanne und - nicht allein.
„Hallo Füffe“, sagte Wolfgang und rieb seine Füße – äh, Hinterpfoten - behaglich einem Batzen Margarine. „War ein langer Tag ohne dif.“
Sinjas Blick glitt über die Salatblätter, die Käsewürfel. Da klebte – Ketchup und Senf, Brotscheiben lagen unter Wolfgangs Kopf. Die Krönung waren allerdings die Salamischeiben, die seinen Bauch zierten.
„Waf – äh, was ist das?“ fragte Sinja vorsichtig.
Der Drache kicherte und rieb mit den Krallen über die Salami.
„Naf waf fieht ef denn auf?“ fragte er verschmitzt lächelnd.
An dieser Stelle möchte ich erwähnen, dass Drachen eigentlich nicht verschmitzt lächeln können, weil alles, was sie mit ihrem Mund an Grimassen anstellen, eher nach einem Zähnefletschen aussieht. Aber das sei nur der Ordnung halber erwähnt.
„Das sieht aus wie – ein Lebensmittelbad“, riet Sinja.
„Huah-huah“, amüsierte sich Wolfgang, griff nach einer Brotscheibe und rieb sich damit über das Haupt.
„Daf ift…“, raunte der Drache und grub die Krallen erneut in die Margarine, „…eine Föhnheitfmafke. Für Drafen, natürlif.“
Oha! Da hätte sie ja auch gleich drauf kommen können. Sinja verzog den Mund zu einem gezwungenen Lächeln und verließ rückwärts das Bad.
„Dann – lass dich nicht stören“, sagte sie und tastete sich in ihr Schlafzimmer.
Mein Gott! War doch nichts dabei, dass ein Drache in ihren Lebensmitteln mal kurz eine Schönheitskur durchführte. Es gab – Schlimmeres. Nämlich – äh… Sinja ließ sich auf das Bett fallen und sah an die Decke. Ein dümmliches Grinsen schlich sich auf ihr Gesicht, als sie an Tim dachte. Sie war verabredet. Zum Mittagessen. Mit Tim. In der Kantine. Morgen.
„Autf.“
Es polterte im Flur. Erschrocken sprang Sinja auf und fand Wolfgang auf dem Rücken liegend vor. An seinen Füssen klebte Margarine, wie auch auf dem Fußboden vom Bad bis zu ihrem Schlafzimmer.
„Ganf fön rutfig hier“, stöhnte der Drache und stemmte sich auf seine Ellbogen. „Du muft hier mal fauber mafen, daf ift eft gefährlif.“
Sinja nickte ernst. Da hatte Wolfgang wirklich recht. Das ging gar nicht.
Es kostete sie nur eine Stunde, das Geschmiere aufzuwischen und den Drachen von der Salami und dem übrigen Kram zu befreien. Am schlimmsten waren Wolfgangs Protestschreie, als sie ihn unter die Dusche schob und mit einer Bürste abrieb.
„Daf kitfelt“, kreischte der Drache und wand sich wie ein Aal.
Inzwischen ging er Sinja schon bis zur Hüfte. Mein Gott! Wenn er so weiter wuchs, würde er bald ihre Wohnung sprengen. Streng bestand Sinja darauf, dass er sich die Hinterpfoten gründlich wusch. Wolfgang schmollte und kam daraufhin fast zehn Minuten nicht aus dem Bad.
Als er sich endlich bequemte in der Küche zu erscheinen und auf einen Stuhl krabbelte, jammerte er: „Daf ift Krallenpflege. Total fiftig für Drafen.“
Sinja nickte grimmig und warf die Spielkarten auf den Tisch.
„Wer heute verliert, darf morgen kein Schönheitsbad mit Salami und Co. nehmen.“
Wolfgang grinste verschlagen.
„Laff unf Ftirppoker fpielen…“, sagte er und wickelte seinen Schwanz ab, bis er damit Sinja über die Wange streichen konnte „Darling...“
Verdammt! Dieser Drache entwickelte sich zu einer Verführungsmaschine. Ungläubig starrte Sinja Wolfgang an und schluckte. „Aber – du hast gar nichts zum Ausziehen.“
Wolfgang sah an sich herunter und zuckte zusammen.
„If bin – nackt“, keuchte er erschrocken und zog den Schwanz zwischen seinen Beinen hindurch, presste ihn gegen seine Brust. „Verdammt! If bin völlig nackt. Wiefo fagt mir daf niemand?“
Sinja verschränkte ihre Arme vor der Brust und lächelte grimmig ob dieses Schauspiels. „Wolfgang?“
Der Drache hob den Blick, immer noch die Blöße mit seinen Pfoten und Schwanz bedeckend. „Waf ift?“
„Laff daf!“
„Of menf! Nifts darf man“, maulte Wolfgang und ließ seinen Schwanz los.
Dann setzte er ein listiges Grinsen auf. „Fir fpielen um diefef föne Kleidungftück mit den Drafen drauf, okay?“
Sinja schluckte. Ihr Lieblingspyjama. „Meinetwegen. Aber ich leihe ihn dir nur. Wenn du mich wieder verlässt, musst du ihn hierlassen. Einverstanden?“
Der Drache nickte abwesend und mischte die Karten. Er war jetzt im vollen Skatmodus. Er musste diesen Pyjama einfach bekommen.
Sinja hatte keine Chance gegen den vor Erregung vibrierenden Superskatdrachen. Sie verlor haushoch und warf erschüttert ihre Karten auf den Tisch.
„Du bist ein Profi. Ich bin im Eimer“, erklärte sie.
Wolfgang nickte und bebte vor Erwartung des Gewinns. Dabei war es ihm auch echt egal, wieso Sinja in einen Eimer steigen wollte.
„Fo ift mein Gewinn?“, hechelte er gierig.
„Den muss ich erst waschen. Der riecht noch nach mir“, meinte Sinja und packte die Karten zusammen.
So schnell konnte sie gar nicht gucken, wie der Drache vom Stuhl sprang und in ihr Schlafzimmer rannte. Dort griff er nach dem Pyjama und krabbelte einfach hinein. Es sah zum Piepen aus, wie Wolfgang in dem viel zu großen Teil stolz vor dem Spiegel stand und an sich herumzupfte. Er schnupperte an dem Stoff und miaute genussvoll.
„Daf rieft naf dir. Fo lecker!“
Sinja, die ihm ins Schlafzimmer gefolgt war, errötete leicht. Hm, war vielleicht in Ordnung, wenn ein Drache ihren Geruch lecker fand. Hunde schoben Menschen ja auch ihre Nase zwischen die Beine.
„Schlafenszeit“, verkündete sie und schob den murrenden Wolfgang ins Badezimmer.
Als er es sich in der Badewanne so richtig gemütlich gemacht hatte, spitzte er hoffnungsvoll die Lippen. „Gutenaftkuff?“
Sinja schüttelte lächelnd den Kopf und machte das Licht aus.
„Fade“, erklang es aus der Dunkelheit.
Sinja traf sich nicht nur am nächsten Tag mit Tim in der Kantine, sondern auch am übernächsten und darauf folgenden. Sie traf sich jeden Tag mit ihm und bedauerte, dass sie sich abends um Wolfgang kümmern musste, der mit jedem Glas saurer Gurken zu wachsen schien. Nach einer Woche reichte er ihr inzwischen bis zum Kinn.
Vielleicht sollte sie ihm keine sauren Gurken mehr geben, überlegte Sinja, bevor er eines Tages ihre Wohnung sprengte. Aber er passte inzwischen recht gut in ihren Pyjama.
Am Wochenende stahl sich Sinja dann doch eine Verabredung mit Tim zum Essen. Wolfgang war nicht begeistert, nickte dann aber verständnisvoll.
„Du follft dif auf mit deinefgleifen treffen“, hatte er gesagt und dabei nur ganz leise geschnieft.
Sinja hatte ihm mit schlechtem Gewissen eine Pizza bestellt und seinen Lieblingsfilm, James Bond, ‚Sag niemals nie‘, aus der Videothek geholt.
„Ein Martini, gerührt, nift gefüttelt“, hatte Wolfgang gemurmelt und ihr zum Abschied hinterher gewunken.
Trotz Sinjas schlechtem Gewissen wurde der Abend ein voller Erfolg. Tim hielt nach dem Essen ihre Hand und brachte sie dann nach Hause.
„War ein schöner Abend“, sagte er und sah verlegen auf ihre immer noch verschlungenen Hände.
„Ja“, sagte Sinja wahrheitsgetreu.
„Vielleicht könnten wir...“, meinte Tim.
„Gerne“, antwortete Sinja und lehnte sich vor.
„Dann...“, murmelte Tim und lehnte sich auch vor.
Obwohl beide ihre Augen geschlossen hatten, trafen sich ihre Lippen wie durch ein Wunder zu einem zarten Kuss.
„Oh“, machte Sinja.
„Hm“, antwortete Tim.
„Das war...“, versuchte Sinja.
„…schön“, ergänzte Tim und lächelte schüchtern.
Dann ließ er ihre Hand los und hob die Schultern.
„Gute Nacht“, sagte er versuchsweise.
„Ja, gute Nacht“, erwiderte Sinja.
„Na dann…“, murmelte Tim und ging davon.
Enttäuscht schloss Sinja ihre Haustür auf und schlich die Treppe hinauf. Es war schon spät, sicher schliefen schon alle. In ihrer Wohnung war es dunkel. Ein leises Schnarchen erklang aus dem Bad. Sinja lächelte. Irgendwie fühlte es sich gut an, Wolfgang in ihrem Badezimmer zu wissen auch wenn sie jetzt viel lieber Tim hier hätte. Sie seufzte.
„Finja!“
Wolfgangs lauter Ruf weckte Sinja aus dem Schlaf und lockte sie noch müde in das Badezimmer. Der Anblick, der sich ihr bot, ließ sie schlagartig hellwach werden. Der Drache sah grau aus und irgendwie durchscheinend.
„Finja, if muff gehen“, flüsterte Wolfgang.
Darauf hatte sie eigentlich gewartet. Dennoch, das ging jetzt zu schnell und vor allem sollte der Drache nicht sterben, aber genau danach sah er aus. Ob die Pizza vielleicht…?
„Wolfgang, ist dir schlecht? Soll ich einen – äh, Tierarzt rufen? Oder einen Tee kochen?“
Leichte Panik machte sich in Sinja breit. Was tat man denn im Falle eines todkranken Drachen, verdammt?
Wolfgang seufzte theatralisch und legte beide Pfoten auf seine Brust.
„Du muft keine Angft haben, füffe Finja. Meine Aufgabe hier feint erfüllt fu fein. Alfo: mafs gut.“
War ja wieder typisch: Abgang mit großer Geste. Sinja kamen die Tränen. „Du sollst aber noch nicht gehen. Ich hab dich sehr gern bei mir.“
Der Drache seufzte noch theatralischer und sah Sinja mit seinen schwarzen Knopfaugen treuherzig an. „Du mufft mif gehen laffen. Aber dafür bedarf ef einef – Kuffef!“
Einen Kuff? Sie sollte Wolfgang – küssen? Sinja tippte sich an die Stirn und schnaubte entrüstet.
„Also ehrlich, Wolfgang. Jetzt spinnst du aber. Du bist doch kein verzauberter Prinz, und vor allem kein Froschkönig.“
Der Drache grinste und spitzte die Lippen – äh, das Maul.
„Verfuf maft klug“, sagte er geheimnisvoll und wurde noch durchsichtiger.
Oh Mann! Sinja unterdrückte ein Schaudern und riss sich zusammen. Vielleicht ging es nach einem klitzekleinen Küsschen dem Drachen besser, und sie konnte sich schließlich danach die Zähne putzen, Mund ausspülen und gurgeln. Also, was soll’s, und eigentlich sah Wolfgang richtig süß aus in ihrem Pyjama, der ihm inzwischen fast zu klein war.
Sinja beugte sich vor und spitzte die Lippen, berührte das Maul des Drachen, die Augen fest zugekniffen. Es machte nicht Puff oder Pling, es kam auch kein Nebel und ein Blitz blieb aus. Als Sinja vorsichtig die Augen öffnete, war eigentlich gar nichts passiert, wenn man davon absah, dass Tim in ihrem Pyjama steckte und sie verwirrt anblinzelte.
„Äh…“, machte Sinja und plumpste auf die Fliesen.
„Oh“, sagte Tim, setzte sich auf und sah an sich herunter. „Hübscher Pyjama. Deiner?“
Sinja nickte und blinzelte. Tim saß weiterhin in ihrer Badewanne, in ihrem Pyjama. Dieser verdammte Drache! Irgendwie hatte Wolfgang es geschafft, sich in Tim zu verwandeln, oder Tim hergezaubert.
Sinja erhob sich auf die Knie und streckte die Hand aus, kniff Tim in den Arm.
„Aua“, machte der und zuckte zusammen, „Was soll das?“
„Wollte nur gucken, ob du echt bist“, sagte Sinja und machte gleich weiter mit dem Nachgucken, wo sie schon einmal dabei war.
Also, die Arme waren echt, und das Gesicht auch. Hm, die Haare? Echt. Und – Sinja beugte sich vor und machte den Lippentest. Oh – sehr echt.
Tim entschied, dass er bei diesem Spiel mitmachen wollte, obwohl er keine Ahnung hatte, wie er von seinem Bett in Sinjas Badewanne gekommen war. Er prüfte also Sinja auch eingehend auf Echtheit und sie verlegten die Prüfung ins Bett. Wo sie nun schon beide im Pyjama waren, eigentlich logisch, obwohl diese Kleidungsstücke am Ende der Prüfung vor dem Bett lagen.
„Du bist echt – echt total süß“, erklärte Sinja nach einer langen, intensiven Prüfungsperiode.
„Hm“, murmelte Tim, „Du auch. Aber – wie bin ich in deine Badewanne gekommen?“
Sinja kicherte. Sie hatte da eine Theorie. Eine unbewiesene, unglaubliche und völlig abstruse Theorie. Die würde sie Tim erzählen, schließlich sprangen dem ja auch Frösche aus dem Hals, also würde er sie verstehen.
Irgendwo anders, auf dem gleichen Planeten, ging eine Frau schlaftrunken an ihren Kühlschrank. Sie hatte Durst und Lust auf eine saure Gurke. Als sie die Tür öffnete, lächelte ihr ein Drache verschämt entgegen.
„Hallo“, sagte Wolfgang und hielt das leere Glas hoch“,Gibt‘f nof mehr davon?“
Ich möchte ausdrücklich darauf hinweisen, dass diese Geschichte frei erfunden ist und keine Frau auf die Idee kommen sollte, saure Gurken in ihren Kühlschrank zu stellen, nur um mich dann hinterher zu verklagen, wenn KEIN Drache in ihrem Kühlschrank sitzt.
Texte: Sissi Kaiserlos
Bildmaterialien: Shutterstock by Lars Rogmann
Tag der Veröffentlichung: 15.03.2012
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