Es war 7:00h morgens, gleich würde die Tür aufgehen und er würde kommen.
Endlich gab es etwas, für dass sich dieses bisschen Leben wieder lohnte.
Er war zart zu Greta, streichelte zur Begrüßung ihre Wange und flüsterte ein: Guten Morgen, meine Liebe, haben sie gut geschlafen?
Sie wollte ihm antworten, mit den Lidern flattern, einen Finger heben.
Doch nichts geschah. Ihr Körper blieb eine reglose Masse.
Schwester Michaela, dieser Grobian, riss ihr morgens die Bettdecke vom Körper. Zur Begrüßung bekam sie immer die gleichen Worte zu hören: „Na du Klumpen Fleisch, immer noch keine Regung?“ Dann klatschte sie Greta einen nassen, kalten Waschlappen ins Gesicht und fluchte dabei. „Scheiß Arbeit. Ich hab die Schnauze so voll von diesen sabbernden, sich in die Hose scheißenden Patienten. Verflucht, wenn wenigstens die Bezahlung stimmen würde. Der Kredit frisst mich auf und der Alte zahlt nicht für die Kinder. Ich muss raus aus diesem Job, ich kann das nicht mehr."
Oft bekam sie nach solch einem Ausbruch ein schlechtes Gewissen und das Abtrocknen fiel nicht ganz so ruppig aus. Irgendwie tat sie Greta leid.
Schwester Michaela war gefangen auf eine andere Weise. Greta hätte ihr gerne gesagt, dass sie sich dieses Leben so nicht ausgesucht hatte. Sie beide würden nie Zugang zueinander finden, dafür war die Schwester viel zu sehr mit ihrem eigenen Leid beschäftigt.
Doch heute war Montag und Johannes Schicht begann.
Sie horchte, hörte seine Schritte auf dem Flur. Die Tür öffnete sich leise und Greta nahm seinen Geruch wahr. Leicht nach Bergamotte und Limone, ein Hauch von Sandelholz. Der Duft erinnerte ein wenig an Eau Sauvage von Christian Dior.
Erinnerungen wurden wach an längst vergangene Tage. Damals, 1979, ihre erste große Liebe. Er hieß Robert und noch Jahre danach zog es sie in den Parfümerien der Stadt immer wieder in die Herrenabteilung. Nur einmal schnuppern, den Duft einsaugen, in Erinnerungen schwelgen.
Ihre Augen müßten sich mit Tränen füllen, doch sie wußte es besser.
Nach 20 Jahren im Koma war es ihr unmöglich, Tränenflüssigkeit zu bilden.
Sanft strich die Hand des Mannes über ihre Wangen. „Guten Morgen, meine Liebe, haben sie gut geschlafen. Ich denke, heute lassen wir uns Zeit. Haben sie Lust auf ein Vollbad?
Ja, meine Liebe, mit Lavendel."
Das hatte Oskar ihm verraten. Oskar, ach wie lange war das her.
Sie erinnerte sich an das Jahr 1982, den Autounfall. La Nucia, die Serpentinen, die Schafe und den LKW.
Kannst du mich hören, siehst du mich? Schau mich an, schau mir in die Augen.
Was siehst du? Nichts? Nein, nichts siehst du!
Sie konnte es nicht begreifen. Was geschah mit ihr.
Langsam, langsam stieg das Wasser in Mund und Nase, füllte ihre Lungen mit Seifenschaum.
Johannes, was tust du? Lass mich nicht los, bitte nicht... flehte sie.
Seine Finger legten sich auf ihren Mund, ihre Augen.
„Liebes, es muss sein. Das ist doch kein Leben mehr. Ich mach einen Engel aus dir."
Texte: © 2011 sissi kallinger
Tag der Veröffentlichung: 13.07.2011
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Sieger der 32. Runde :
BookRix Wortspiel - Thema:
"Man sieht in den Augen der Menschen das, was sie sehen werden, und nicht das, was sie gesehen haben." (Alessandro Baricco)