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Prolog

Hey Amelie.

 

Ich kann das nicht mehr. Ich will nicht mehr in dieser gefühllosen Welt leben. Vielleicht ist es im Paradies besser. Wenn es das gibt. Ich werde es herausfinden. Ich will nicht mehr leben. Nicht in dieser grauen Welt, wo jeder nur an Geld, Macht und sich selbst denkt. Es ist der einzige Ausweg, den ich sehe. Ich habe doch sowieso niemandem viel bedeutet. Sogar meine Eltern wären glücklicher ohne mich. Du bist die einzige, die sich vielleicht ein bisschen für mich interessiert. Für mich und meine Probleme. Und die Probleme, die ich anderen Leuten durch meine pure Anwesenheit mache. Du bist die einzige, die das hier lesen wird. Vielleicht ist es schon zu spät, vielleicht werde ich schon gesprungen sein. Du wirst auch ohne mich weiter leben können. Ich war dir ja sowieso nur ein Klotz am Bein, deine Freundinnen hassen mich allesamt, ich hab mich sogar schon gewundert, warum du dich mit mir abgibst, wenn du doch sie haben kannst. Es tut mir so Leid, Amy. Aber ich sehe nur diesen einen Weg. Alle sind ohne mich besser dran, auch du, glaub mir. Und bitte wein nicht. Ich bin es nicht wert.

 

Jannis

I.

Verzweifelt rannte ich die Treppen bis zum Dach des Hochhauses hoch, in der Hoffnung, dass er noch nicht gesprungen war. Mein bester Freund wollte sich tatsächlich umbringen. Ich wüsste nicht, was ich ohne ihn machen sollte, deshalb musste ich ihn unbedingt davon abhalten.

Als ich außer Atem auf dem Dach ankam, stand er schon gefährlich nahe am Rand und schaute nach unten. Er wollte wirklich springen.

„Jannis!“, rief ich.

Langsam drehte er sich zu mir um und sah mich mit seinen tiefblauen Augen verwirrt an. Seine schwarzen Haare, die ihm oft bis in die Augen hingen, wurden von der leichten Brise durcheinander geweht.

„Was machst du hier?“, schrie er zurück. Ich trat langsam an ihn heran und antwortete leise:„Meinem besten Freund das Leben retten.“

Ich durfte keinen Fehler machen. Das Risiko, dass er dann sprang war zu groß.

„Wieso?“, seine Stimme war auch leise geworden.

„Weil ich dir sonst hinterher springen würde.“

Er antwortete nicht. Stattdessen klammerte er sich an mich und murmelte in meine langen, blonden Haare: „Das würde ich mir nie verzeihen, Amy!“

Langsam rannen Tränen über mein Gesicht. Hatte ich es geschafft? Würde er nicht mehr springen?

Jannis strich mir beruhigend über den Kopf, aber vermutlich eher um sich zu beruhigen, denn ich war für meine Verhältnisse noch ziemlich ruhig. Ich rannte zumindest noch nicht hysterisch im Kreis wie immer, wenn ich Angst vor einer Klassenarbeit hatte.

„Danke…“, murmelte er, „irgendwie habe ich schon gehofft, dass du kommst!“

Er musterte mich von oben bis unten und ein Lächeln erschien auf seinem Gesicht. Ich hatte mir nicht mal die Zeit genommen, etwas Vernünftiges anzuziehen, bevor ich in ein Taxi gesprungen war und mich zu dem verlassenen Hochhaus hatte fahren lassen. Ich stand also in Jogginghose und einer schnell übergestreiften Fleece-Jacke vor ihm. Aber auch das war nicht wirklich warm, wenn man bedachte, dass es fast null Grad waren.

„Lass uns jetzt lieber gehen, sonst fallen wir vielleicht ausversehen noch runter.“, meinte ich. Das „oder ich friere mir was ab“ ließ ich lieber unausgesprochen. Sein Lächeln wurde zu einem Lachen. Er lachte dieses Lachen, was mir in den letzten Monaten gefehlt hatte.

„Du bist süß, Amelie!“

Ich guckte ihn böse an. Ich konnte meinen Namen nicht ausstehen und nannte mich deshalb schon seit der dritten Klasse Amy. Nur meine Oma benutzte noch meinen richtigen Namen. Und Jannis manchmal.

Entschuldigend sah er mich an.

„Amelie klingt einfach besser!“

Das brachte ihm noch einen bösen Blick ein. Meiner Meinung nach war Amelie ein Name, der ins letzte Jahrhundert gehörte, genauso wie Penelope.

Sein Blick war jetzt nicht mehr entschuldigend sondern todernst, kurz sah er so aus als wollte er doch die Treppen wieder hochlaufen und springen.

„Ich finde deinen Namen wirklich wunderschön, Amelie. Das sag ich nicht nur so.“

Langsam fand ich wieder Gefallen an meinem Namen. Es hörte sich toll an, wie er ihn so todernst und doch liebevoll aussprach.

 

Inzwischen standen wir unten vor dem Hochhaus und Jannis winkte uns eins der wenigen Taxis heran, die in dieser Gegend fuhren. Alle hatten Angst vor den vielen Raubüberfällen in diesem Teil von Harlem. Meistens fuhren hier nur die Taxifahrer-Neulinge oder die, die irgendwem etwas beweisen wollten. Und in den seltensten Fällen verirrten sich Privatautos hier her. Deshalb war hier vermutlich der einzige Ort in ganz New York City, wo man mit Taxi schneller vorankam als ohne.

Innerhalb von zehn Minuten waren wir an unserem Ziel angekommen – persönlicher Rekord. Das hatte aber vermutlich am Taxifahrer gelegen, der wie ein Verrückter gefahren war –eindeutig ein Neuling.

Wir betraten das nostalgisch anmutende Café und setzten uns an unseren Stammplatz. Unser kleines Stückchen Nostalgie im technisierten und hochmodernen New York. Es war mir schleierhaft, wie sich das Geschäft so lange hatte halten können. Die unmöglichen Öffnungszeiten, es war immerhin erst halb acht an einem Sonntagmorgen, hatten bestimmt nicht unwesentlich dazu beigetragen.

Die Bedienung kannte uns schon, deshalb mussten wir nicht bestellen und saßen schon wenige Minuten später vor zwei dampfenden Kaffeetassen und einem Stück warmem Zuckerkuchen.

 

„Amelie…“

Obwohl Jannis meinen Namen jetzt schon zum wiederholten Mal innerhalb weniger Minuten benutzte, störte es mich nicht.

„Darf ich…“, er zögerte kurz und wischte mir eine Haarsträhne aus dem Gesicht.

„Darf ich dich was fragen?“

„Natürlich!“

Seine Hand griff vorsichtig nach meiner.

„Magst du mich wirklich?“

Die Frage hatte er mir schon oft gestellt. Vermutlich öfter, als normale Leute es tun würden. Aber Jannis fasste nur schwer Vertrauen, nachdem er schon von so vielen Leuten enttäuscht worden war. Bisher hatte ich die Frage immer mit einem schlichten „Ja!“, beantwortet, aber heute hörte sich seine Stimme so ernst an, das ich erst überlegen musste, bevor ich ihm antwortete. Ich wusste, dass ich ihn nicht nur mochte, ich wusste, dass ich mehr für ihn empfand als ich sollte. In dieser Welt, wo von niemandem Gefühle gezeigt wurden war sogar Freundschaft eigentlich schon zu viel. Meine Oma hatte mir von diesem Gefühl erzählt, was sich seit einiger Zeit beim Anblick von Jannis in mir ausbreitete. Liebe hatte sie es genannt und gesagt, dass es früher ganz natürlich gewesen war. Ich räusperte mich und setzte dann zu einer Antwort an.

„Versprichst du mir, dass du mir zuhörst bis ich fertig bin mit reden?“

Jannis nickte zögerlich und umschloss meine Hand noch ein bisschen fester.

„Nein.“, sagte ich. Meine Stimme zitterte. Was ich jetzt tat, war ein ungeschriebenes Verbot.

„Ich mag dich nicht. Ich glaube, das, was ich für dich empfinde nennt man Liebe, Jannis.“

Jetzt war es raus. Jetzt konnte er mich entweder entsetzt angucken oder lächeln.

Er lächelte und mir fiel ein Stein vom Herzen. Der Stein unter dem die Schmetterlinge begraben gewesen waren, die jetzt in Scharen durch meinen Bauch flatterten.

Jannis ließ meine Hand wieder los und legte seine an meine Wange.

„Ich liebe dich auch. Ich habe eines der Tagebücher von meinem Großvater gelesen, da war genau das Gefühl beschrieben, was ich für dich empfinde. Liebe.“

Seine Stimme war schon wieder nicht mehr als ein Flüstern. Das war auch nötig, denn inzwischen war das Café rappelvoll und die Privatsphäre fast dahin.

Vorsichtig strich er noch über meine Wange und widmete dann dem Kaffee wieder seine ganze Aufmerksamkeit.

Wenn man Gefühle in der Öffentlichkeit zeigte, konnte man sich sicher sein, dass früher oder später die Sittenpolizei vor einem stehen würde. Entweder in Form der Eltern oder irgendwelcher Personen, die sich gerade verantwortlich fühlten. Gefühle durfte man, wenn überhaupt, nur versteckt haben.

 

Schweigend brachten wir den Rest des kleinen Frühstücks hinter uns und schlenderten dann zwischen den renovierungsbedürftigen Hochhäusern von Harlem auf der Suche nach etwas Privatsphäre herum

Das Appartement meiner Familie war das kleinste im ganzen Haus und außerdem waren meine Eltern so gut wie immer da, was wohl oder übel bedeutete, dass wir hier mit Privatsphäre nicht gut bedient waren. Wir gingen also weiter zu dem Haus, in dem meine Oma ein Appartement besaß. Es nahm eine ganze Etage ein und war damit viel zu groß für eine Person, aber auch wie gemacht für uns. Außerdem war sie gerade für sechs Wochen in Florida und ich hatte ihre Zweitschlüssel, um ihre über alles geliebten Blumen gießen zu können. Es war also keine Menschenseele in der Nähe, die uns erwischen könnte.

II.

Leise zog ich die Tür hinter uns zu. Die beste Freundin meiner Oma wohnte ein Stockwerk tiefer und wenn sie die Tür hören würde, wären wir unsere Privatsphäre innerhalb weniger Sekunden wieder los. Es war faszinierend, wie schnell sich die alte Frau noch bewegen konnte.

Ohne einen Laut zu machen schlichen wir durch den kleinen Flur und die Küche, um schließlich zum Schlafzimmer zu kommen. Das war in allen Appartements doppelt gedämmt, damit andere Bewohner nicht durch eventuelles Schnarchen gestört wurden.

Es war nicht das erste Mal, das dieser Umstand für mich Gold wert war. Ich hatte mich schon so oft in den Schlaf geweint und meine Eltern hatten es nie bemerkt. Ungefähr genauso oft hatte ich mit Jannis noch bis weit nach Mitternacht telefoniert.

Ab jetzt würde sich also auch mein Liebesleben hinter den dicken Wänden des Schlafzimmers verstecken. Damit bloß niemand etwas mitbekam.

 

Jannis war der einzige, der mich wirklich kannte. Der einzige, der wusste wie ich war, wenn ich mal für kurze Zeit meine gefühllose Maske abnahm.

Er wusste alles. Er wusste, dass ich auf einem Blue Moon-Konzert gewesen war, obwohl ich meinen Eltern gesagt hatte, dass ich bei Freunden übernachten würde.  Er wusste auch, dass ich nichts mehr verabscheute als Himbeereis und mich nichts besser beruhigte als fünf Minuten absolute Stille.

Jannis war in den letzten Jahren zu meiner Familie geworden. Ich hatte in ihm meinen Seelenverwandten gefunden, der mich immer verstand, wenn niemand anders es tat. Auch ganz ohne Worte.

So auch jetzt. Wir saßen auf dem Bett meiner Oma und ich ließ meinen Blick von seinen Augen runter zu seinen Lippen wandern. Jannis nickte vorsichtig und unsere Lippen näherten sich langsam einander. Als sie aufeinander trafen, schien ein Feuerwerk in mir zu explodieren. Ein Feuerwerk voll von Gefühlen.

Ganz anders als bei jedem meiner Ex-Freunde. Es fühlte sich richtig an, Jannis warme, weiche Lippen auf meinen zu spüren, als wären sie dafür geschaffen worden.

Für Jannis anscheinend nicht. Dabei hatte er doch gerade noch gemeint, dass er mich lieben würde. Hatte er sich doch geirrt oder wollte er nur sehen wie ich reagieren würde?

„Habe ich gerade wirklich meine beste Freundin geküsst?“, fragte er nach dem Kuss verwirrt.

„Ja… und ich würde mich freuen, wenn du es gleich noch mal machen würdest.“

Seine Gesichtszüge wurden weich und sein Mund verzog sich wieder zu einem Lächeln.

„Aber nur, wenn ich dich ab jetzt Amelie nennen darf, ohne dass du mir am liebsten den Kopf abreißen würdest.“

Ich nickte nur und zog seinen Kopf dann vorsichtig zu meinem runter. Ich war das glücklichste Mädchen der Welt.

 

Bisher war ich immer vorsichtig gewesen, hatte meine Gefühle hinter einer dicken Mauer versteckt gehalten. Jannis war vor einigen Jahren der erste gewesen, der versucht hatte das Mädchen hinter dieser Mauer zu sehen. Der einzige, vor dem ich meine wahren Gefühle zeigen konnte. Anders als alle anderen hatte er sich für Amelie interessiert, nicht für die perfekte Amy, die ich vorgab zu sein.

Er würde auch weiterhin der einzige sein, der mich als Amelie kannte.

In New York posaunte man seine Gefühle nicht laut heraus. New York an sich war wie ein Heavy-Metal-Konzert, aber die Gefühle durften nicht mehr sein als eine private A-cappella-Session. Sogar die Stars waren abgestumpft, heirateten ihren Plattenboss, um nicht rausgeschmissen zu werden und all so was.

Selbst früher, als jeder noch seine Gefühle zeigen konnte, war das Gefühlsleben der Stars laut meiner Oma etwas Besonderes gewesen. Jeder Seitensprung war in der Presse breitgetreten, jede Hochzeit in höchsten Tönen gelobt worden. Das hatte sich geändert. Die Berichte dümpelten nur noch an der Oberfläche, es ging nur noch um Verkaufszahlen. Die Menschen hinter diesen perfekten Masken interessierten niemanden. Und waren sie mal nicht perfekt, waren sie ganz schnell Schnee von gestern.

Man zeigte seine Zuneigung (oder eher die Wichtigkeit der Ehe für die persönlichen Interessen) nicht durch Zärtlichkeiten sondern indem man möglichst teure Dinge verschenkte oder geschenkt bekam.

Ich hatte meine Eltern noch nie dabei beobachtet, wie sie sich geküsst hatten. Vielleicht machten sie es auch nur versteckt hinter den Türen ihres Schlafzimmers, aber wahrscheinlicher war, dass sie es gar nicht machten. Sie waren vollkommen abgestumpft.

Aber Jannis und ich rebellierten gegen diese Gefühllosigkeit. Wir zeigten Gefühle, wenn auch bisher nur hinter verschlossenen Türen.

 

Jannis strich vorsichtig über meine Haare.

„An was denkst du?“, fragte er.

„Daran, wie gefühllos die Welt geworden ist und daran, wie wir genau in diesem Moment dagegen rebellieren. Wie wir eigentlich schon die ganze Zeit, seit wir uns kennen, dagegen rebellieren.“

„Warum habe ich mir das gedacht?“

„Weil du mich so gut kennst?“, man konnte das Fragezeichen förmlich hören. Ich war verwirrt. Worauf wollte Jannis hinaus?

„Nicht nur das.“, antwortete er und trug damit noch mehr zu meiner Verwirrung bei.

„Ich habe gerade genau das gleiche gedacht, Auch für mich war das neu, dass das Küssen mit Gefühlen verbunden ist.“

Ich grinste. Es war vollkommen verrückt. Wir saßen im Schlafzimmer meiner Oma und redeten über Gefühle.

Aber es schloss auch einen Kreis. Meine Oma hatte mir als erste und einzige von Gefühlen erzählt. Von zwischenmenschlichen Beziehungen.

Damals, hatte sie erzählt, war es fast noch eine Bedingung gewesen, dass man sich liebte, wenn man heiraten wollte. Den anderen mit seinen Fehlern zu akzeptieren und in Notsituationen zu helfen, war selbstverständlich gewesen.

Heutzutage war Heiraten nur noch zweckmäßig. Man heiratete jemanden, weil er viel Geld hatte oder gute Kontakte nach ganz oben in der Karriereleiter. Man suchte Freund oder Feind nach dem Nutzen aus, nicht nach Sympathie. Die Großen, Starken, Mächtigen waren die Gewinner. Und waren sie nicht mehr so toll, ließ man sich eben scheiden. Scheidungsrichter hatten in diesen Tagen ein wirklich angenehmes Leben.

Auch meine Mutter, so hatte es meine Oma erzählt, hatte meinen Vater nur wegen des Geldes geheiratet. Nebenbei hatten beide Dutzende Affären. Von Eifersucht war aber keine Spur. Sie wussten vermutlich noch nicht mal, wie es sich anfühlte. Weder Liebe noch Eifersucht. Wie auch, wenn sie sich nicht liebten?

Aber ich liebte Jannis, das spürte ich. Ich wollte nicht wegen dem Geld seiner Eltern mit ihm zusammen sein oder weil er gut aussah. Was er durchaus tat.

Ich wollte mit ihm zusammen sein, weil er mich verstand, weil er wusste, wann ich nicht reden wollte sondern er einfach nur da sein musste.

 

„Ich liebe dich, egal wie viele Fehler du hast!“, flüsterte ich und ließ meinen Kopf gegen seine Schulter sinken. Ich hatte das schon oft gemacht, weil ich es in so vielen alten Filmen gesehen hatte, aber jetzt fühlte es sich zum ersten Mal echt und richtig an.

Jannis legte den Arm um mich und verlieh mir dadurch unglaubliches Selbstvertrauen. Ich fühlte mich so groß wie noch nie.

Dort, wo sein Arm auf meiner Haut lag, kribbelte es angenehm.

Mein Herz klopfte mir bis zum Hals. So fühlte sich also Liebe an, das verbotene Gefühl, von dem mir meine Oma erzählt hatte. Es war ein wunderschönes Gefühl und ich wollte, dass es nie wieder aufhörte.

„Bleiben wir hier?“, fragte ich in die angenehme Stille hinein.

Ich spürte, wie Jannis nickte. Dann zog er mich auf seinen Schoß und sah mir tief in die Augen.

„Ich möchte, dass du mir zuhörst, es ist wichtig, Amelie.“

„Wieso sollte ich dir nicht zuhören? Ich hab dir doch bis jetzt immer zugehört, wenn du mir irgendwas erzählt hast.“

„Keine Angst, es ist nichts Schlimmes. Ich will dir nur etwas beichten und du sollst mich dabei nicht unterbrechen.“

Jannis stockte, atmete dann aber tief durch und begann zu sprechen. Seine Stimme war so wunderschön weich und doch so ernst, dass es mir kleine Schauer über den Rücken jagte und ich Gänsehaut bekam.

„Ich liebe dich, Amelie, das weißt du. Ich habe schon so lange gehofft, dass du Nein sagst, wenn ich dich frage, ob du mich magst. Aber für dich war es nie mehr als Freundschaft. Deshalb wollte ich springen. Weil ich Angst hatte, dass du meine Gefühle nicht erwiderst. Aber dann warst du da, auf dem Dach und ich habe neue Hoffnung geschöpft, dass ich für dich doch mehr bin als dein bester Freund. Dass du anders bist als deine Eltern und nicht nur das Geld siehst. Als du da oben standst, wusste ich, dass du mich als Mensch magst. Deshalb habe ich dich im Café noch mal gefragt. Hättest du wieder Ja gesagt, wie all die anderen Male, wäre ich doch noch gesprungen.“

Während Jannis erzählt hatte, hatten sich Tränen in meinen Augen gebildet. Wie hatte ich nur so blind sein und es nicht sehen können, wo es sich doch direkt vor meinen Augen abgespielt hatte? Wieso hatte ich nicht bemerkt, dass Jannis mehr für mich empfand als nur Freundschaft? Weil ich es nicht sehen wollte. Das war die ernüchternde Antwort. Jannis hatte Recht, ich hatte nur Freundschaft gewollt, weil ich es nicht anders gekannt hatte. Die Antwort gefiel mir nicht und doch war sie wahr. Wahrer als der ganze Rest meines Lebens. Eine einzige Lüge hatte ich gelebt in dieser gefühllosen Welt. Bis heute. Heute spürte ich zum ersten Mal die Wahrheit, wenn meine Hände über Jannis Haut strichen, schmeckte sie, wenn sich unsere Lippen zum Kuss trafen, roch sie jedes Mal, wenn ich seinen Geruch einsog wie eine Droge, hörte sie in jedem einzelnen Wort, dass er sagte und sah sie in seinen blauen Augen. Ich erlebte zum ersten Mal Wahrheit und empfand echte Gefühle. Und ich fühlte mich großartig.

Wie konnte unsere Gesellschaft nur so am Profit orientiert sein, dass sie keine Gefühle mehr empfand außer der Befriedigung beim Steigen der Aktienkurse?

Ich wusste es nicht und wenn ich ehrlich war, wollte ich es auch gar nicht wissen.

Wir waren anders. Unsere Eltern würden es darauf schieben, dass wir jung waren und es damals angeblich bei ihnen genauso gewesen war. Aber ich wusste, dass es nicht so gewesen war. Meine Oma hatte es mir erzählt. Sie waren schon immer so oberflächlich gewesen. Und genau das hatten sie auch uns einbläuen wollen. Aber wir hatten rebelliert. Wir wollten anders sein als unsere Eltern. Vielleicht eine Rebellion anzetteln. Eine Rebellion gegen diese gefühllose Welt. Aber dafür mussten wir Gleichgesinnte finden und auf die Straße gehen. Und das würde unseren Tod bedeuten. Weil wir Türen aufstoßen würden, die alle mit aller Kraft verschlossen halten wollten. Wir würden zwar als Märtyrer sterben, aber wäre es das wirklich wert?

„Erzählen wir jemandem davon?“, fragte ich Jannis vorsichtig, „Von uns und unseren… Gefühlen?“

Es war noch immer komisch, das Wort in den Mund zu nehmen.

„Höchstens deiner Großmutter.“, antwortete er so ruhig wie immer, „Sie ist die einzige, die uns verstehen würde. Natürlich nur, wenn du es willst.“

Ich lächelte. So kannte ich Jannis. Er überließ mir die Entscheidungen, wenn auch nur indirekt.

„Ich hatte immer Angst, dass meine Gefühle unsere Freundschaft zerstören.“, murmelte er, „Immer, wenn ich dir in die Augen gesehen habe, war ich in einer anderen Welt, so völlig anders als die, in der wir leben. Ich habe sie in deinen Augen gesehen und jetzt ist sie Wirklichkeit geworden. Wenn ich dich Amelie genannt habe, wollte ich dich damit nicht ärgern, es war einfach unbewusst.“

Er hielt sich die Augen zu und senkte reuig den Kopf.

„Danke!“

„Was?“, mit meiner Antwort hatte er überhaupt nicht gerechnet.

„Immer wenn  du mich Amelie genannt hast, habe ich gemerkt, dass ich mir etwas vorspiele. Dass ich dir und der Welt etwas vorspiele. Es hat mir gezeigt, dass ich nicht Amy bin sondern nur eine Lüge lebe. Eine Lüge, die mir die Gesellschaft aufgedrückt hat. Jedes Mal, wenn du mich Amelie genannt hast, habe ich angefangen nachzudenken. Aber ich bin nie auf den Gedanken gekommen, dass du in mich verliebt sein könntest.“

Jannis starrte mich entgeistert an.

„Du wusstest es nicht? War es nicht so offensichtlich, wie ich immer dachte?“

„Wir sind in einer Welt ohne Gefühle aufgewachsen, wie soll ich da Gefühle bei anderen erkennen? Ich habe sie ja bei mir kaum erkannt.“

„Ich weiß es nicht…“, gab er zu, „Aber du hast sie schließlich erkannt, Ist es nicht das, was zählt?“

Wie eine Zustimmung legte ich meine Lippen wieder auf seine. So könnte es bleiben. Ein Moment zum Einfrieren. Es fühlte sich an als würde die Welt stehenbleiben, nahezu unmöglich in dieser schnellen, gefühllosen Welt.

Wir waren so mit uns selbst beschäftigt, dass wir nicht hörten, wie sich ein Schlüssel im Schloss drehte. Wir bemerkten erst, dass jemand im Appartement war, als es an der Schlafzimmertür klopfte.

Ich stand schnell von Jannis Schoß auf und sagte dann schüchtern: „Herein!“

Meine gut gelaunte Oma steckte den Kopf durch die Tür. Ihre faltige Haut war brauner geworden seit ich sie das letzte Mal gesehen hatte.

„Was macht ihr denn hier?“, fragte sie überrascht.

„Ich… wir…“, stotterte ich, „Es tut mir Leid, ich weiß, ich sollte nur deine Blumen gießen, aber hier war der einzige Ort mit ein bisschen Privatsphäre…“

Meine Oma hob eine Hand und bedeutete mir so, dass meine Zunge schon wieder schneller war als mein Gehirn.

„Ich mache dir doch gar keinen Vorwurf, Amelie! Ich hatte mir schon gedacht, dass es irgendwann darauf hinausläuft.“

Sie lächelte uns mit ihrem liebenswerten Oma-Lächeln an. Jetzt war ich erst Recht sprachlos. Sie hatte es gewusst? Sie hatte gesehen, dass Jannis in mich verliebt war und ich in ihn?

„Ich weiß, was ihr jetzt denkt. Wie ich es sehen konnte, wo ihr es doch selbst nicht gesehen habt. Aber ihr vergesst, dass ich aus einer Zeit komme, wo Gefühle noch normal und erwünscht waren. Das, was ihr fühlt, ist völlig normal, auch wenn die heutige Gesellschaft das nicht wahrhaben will.“

Ich schloss meine Oma glücklich in die Arme. Glücklich darüber, dass sie die Gefühle, die ich für Jannis empfand, als normal ansah und akzeptierte.

Jannis stand etwas peinlich berührt daneben. Meine Oma merkte es und winkte ihn zu uns heran.

„Hier muss keiner alleine in der Ecke stehen, Jannis. Hat Amelie dir nicht gesagt, dass du mich so behandeln kannst wie deine eigene Oma?“

Ich tippte meiner Oma auf die Schulter.

„Jannis Großeltern sind schon lange tot. Er kannte sie nicht mal.“

Das veranlasste meine Oma noch mehr dazu, ihn in die Arme zu schließen. Ihn schien es aber nicht zu stören. So standen wir zu dritt im Schlafzimmer meiner Oma und zeigten einfach unsere Gefühle. Es tat gut, sich nicht verstellen zu müssen.

 

„So, Kinder. Ich mache uns erstmal Essen. Wollt ihr euch nicht ins Wohnzimmer setzen?“, fragte meine Oma nach einiger Zeit.

„Hier ist es schon okay, Oma!“, meinte ich und wurde dann von Jannis auf das große Bett geschmissen.

Seine Augen strahlten wie die Lichterketten des Rockefeller-Weihnachtsbaums – er sah glücklich aus. Vollkommen anders als noch vor wenigen Stunden.

Ich sah wieder Hoffnung in seinen Augen, die Trauer war wie weggewischt.

 

Die Sonne, die eben noch ununterbrochen geschienen hatte, wurde jetzt von Wolken verdeckt. Es wurde dunkel im Schlafzimmer und irgendwann konnte ich nur noch Jannis Umrisse erkennen. Und doch konnte ich mehr sehen als bei Tageslicht. Jannis legte langsam seine Maske ab, die ihm die Gesellschaft aufgezwungen hatte und suchte mit seinem Mund wieder meinen. Seine Lippen strichen über meinen Hals. Vorsichtig legte ich meine Hände an seine Wangen und führte seine Lippen zu meinen. Zärtlich küssten wir uns.

Den Rest der Zeit, die wir aufs Essen warteten, lagen wir nebeneinander auf dem Bett und guckten an die Decke. Ich versuchte die vielen Informationen, die ich heute bekommen hatte, zu verarbeiten. Das war eindeutig zu viel für einen einzigen Tag. Jannis liebte mich tatsächlich. Es war zu schön, um es einfach so glauben zu können.

 

Der Geruch von fertigem Essen holte mich wieder aus meinen Gedanken und ich machte mit Jannis einen kleinen Wettlauf in die Küche, wo das Essen schon auf dem Tisch stand. Obwohl meine Oma seit Jahren alleine wohnte, hatte sie einen riesigen Tisch, an den an Weihnachten die ganze Familie passte.

Meine Oma war in Deutschland aufgewachsen und dementsprechend kochte sie auch. Das, was heute auf dem Tisch stand, nannte sie Eisbein mit Sauerkraut. Gekochter Weißkohlsalat vom Griechen mit gekochtem Schweinefleisch. wenn ich das mal kurz übersetzen darf.

Ich aß als Teilzeit-Vegetarierin nicht viel von dem Fleisch, dafür aber umso mehr von dem Sauerkraut.

 

Nach dem Essen bediente ich mich an meinem Schrank, den ich bei meiner Oma hatte, falls ich mal bei ihr Übernachten sollte. Ich zog mir einen dicken Pullover und eine Jeans an, denn so, wie ich im Moment aussah konnte ich unmöglich wieder zurück in die Kälte gehen.

Dann verabschiedeten wir uns von meiner Oma und gingen dann ein paar Blocks nach Süden, wo die Wolkenkratzer höher wurden und wir irgendwann Downtown landeten.

Es war ein krankes Hobby von uns, dass wir einmal in der Woche nach Downtown in die Fifth Avenue gingen und guckten, was wir uns nicht leisten konnten, denn obwohl Jannis Eltern reich waren, bekam er von diesem Reichtum nicht viel mit. Die gesamte Straße war voll mit Taxis und auch auf den Bürgersteigen kam man kaum voran. Kein Wunder, denn in wenigen Tagen war Weihnachten und jeder wollte jedem das teuerste Geschenk machen.

Irgendwann zog mich Jannis in einen Juwelier. Mit Sicherheit war das der teuerste im Umkreis von mehreren Kilometern.

„Was wollen wir hier?“, fragte ich verdutzt.

„Da war gerade unsere Geschichtslehrerin, reine Vorsichtsmaßnahme!“

Ich konnte mir ein Kichern nicht verkneifen. Jannis war zwar nicht gut auf unsere Geschichtslehrerin zu sprechen, aber dass er sich sogar vor ihr versteckte, war auch mir neu.

„Findest du nicht, dass du etwas übertreibst?“

„Nein… nein, nicht wirklich!“, antwortete Jannis, während er vorgab sich brennend für Diamantohrringe in einer der Vitrinen zu interessieren.

„Ist es nicht komisch, dass meine Eltern von allem nur das Beste akzeptieren und Geld im Überfluss haben und ich im Gegensatz dazu kaum Taschengeld bekomme und mich auch mit drittklassigen Sachen zufriedengebe?“, fragte er dann, während er die neuste Swarovski-Kollektion betrachtete.

„Da siehst du doch, wie wichtig ihnen ihr Geld ist. Sie wollen es auf keinen Fall an dich verschwenden. Nicht, dass ich dir unterstellen würde, dass du verschwenderisch wärst, aber ich glaube deine Eltern denken das. Es ist meiner Meinung nach nur verwunderlich, dass sie dich nicht jeden Morgen in einen Anzug stecken und so zur Schule gehen lassen.“

Jannis guckte betreten auf den Boden.

„Das haben sie tatsächlich mal gemacht. Der Anzug aus der neusten Armani-Kollektion. Maßgeschneidert. Der lag dann wenige Minuten später im Gebüsch. Deshalb glauben sie wahrscheinlich, dass ich verschwenderisch bin und halten ihren Reichtum vor mir verschlossen.“

Ich zog ihn wieder auf die Straße, damit unser Gespräch nur eins von vielen war und nicht das einzige im ganzen Geschäft. Denn was ich jetzt sagen wollte, würde der Gesellschaft nicht gefallen.

 

„Sie bemerken einfach nicht, dass du dir nichts aus Geld machst, dass dir andere Dinge wichtiger sind. Gefühle zum Beispiel. Gefühle, die man nicht durch Geld aufwiegen kann. Du hast etwas viel wertvolleres gefunden als Geld und sie beharren auf ihrer Meinung, dass sie mit Geld alles kaufen können. Gefühle kann man aber nicht kaufen. Und deshalb verhalten sie sich so als würden sie nicht existieren.“

Jannis grinste. So lange Reden war er von mir nicht gewöhnt. Meine Antworten waren bis jetzt immer einsilbig gewesen, sonst könnte man ja meinen, dass es mich wirklich interessiert. Und Interesse wollte die Gesellschaft nicht zeigen. Alltagsprobleme? Die waren den Aufwand nicht wert. Dabei würde es uns so viel besser gehen, wenn wir uns mal für etwas einsetzen würden, was nicht nur das Geld betrifft. Ehrenamtliche Nebenjobs waren längst ausgestorben, für alles wollten die Leute Geld haben. Selbst für den Central Park, den wir jetzt ansteuerten, mussten wir Eintritt bezahlen.

Wir stellten uns unter einen Baum und warteten. Warteten darauf, dass wir jemandem auffallen würden. Wir wussten zwar, dass sich niemand nur im Geringsten für uns interessieren würde, aber vielleicht kam ja jemand aus unserer Klasse vorbei, der uns grüßen würde.

Nach zehn Minuten kam tatsächlich Kate auf uns zu. Nach meinen Infos war sie gerade mit Ryan „pseudo“-zusammen, aber das konnte sich innerhalb eines Augenblicks ändern.

„Was macht ihr denn hier?“, fragte sie und versuchte interessiert zu klingen. Was ihr aber kläglich misslang.

„Löcher in die Luft starren.“, antwortete Jannis lässig und vollkommen gefühllos.

„Wie auch immer. Ich muss weiter, arbeiten. Seh ich euch mal wieder im Central Park-Café?“

„Eher nicht.“, behauptete ich, „Da ist es uns zu voll.“

Winkend verschwand sie um die nächste Ecke und ließ uns wieder alleine.

Das größte Problem beim Central Park-Café war nicht unbedingt, dass es voll war. Sondern dass es voller Touristen war. Und entsprechend überhöht waren die Preise und das obwohl der Kaffee nur nach Wasser mit ein bisschen Koffein und Zucker schmeckte.

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 17.03.2013

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Das Buch ist für all die, die mich für komplett verrückt halten, weil ich das hier veröffentliche. Lydia, Katha und Kati.

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