Gierig saugt sie die Luft ein. Es riecht nach brennendem Holz. Erinnerungen kommen hoch. Sommer. Lagerfeuer. Lachen.
Aber im Moment ist Winter, tiefster Winter. Der Geruch kommt wahrscheinlic von einem der vielen Schornsteine hier in der Reihenhaussiedlung, für ein Lagerfeuer ist es eindeutig zu kalt. Zumindest für die meisten Leute. Sie erinnert sich, dass sie mit Lukas auch mal mitten im Winter ein Lagerfeuer gemacht hat. Aber das ist Jahre her, Lukas ist weggezogen.
Der kühle Wind streicht durch ihr Haar und macht ihr noch mehr bewusst, dass sie alleine ist. Sie sitzt auf der Fensterbank und saugt immer und immer wieder gierig die kalte Nachtluft ein, die ihr das Gefühl gibt zu leben.
Wie wäre es wohl, von hier abzuhauen? Vielleicht mitten in der Nacht. Das Fenster wäre tief genug und ihre Eltern interessiert es auch nicht, was sie abends nach zehn macht.
Aber wo sollte sie hin? Lukas war weg und bei ihrer besten Freundin wäre es bald genauso schlimm wie zuhause, wenn nicht sogar noch schlimmer.
Dann würde das Abhauen wohl ein Traum bleiben - vielleicht für imer. Obwohl sie den Gedanken hasste, für immer bei ihren Eltern zu wohnen.
Wütend schlug Sophie die Tür hinter sich zu. Ich konnte mir ein Grinsen nicht verkneifen. Ich hatte sie schonmal wieder zum Kochen gebracht und dabei hatte ich nicht wirklich viel getan. Ich hatte sie nur darauf hingewiesen, dass ihr Ex-Freund inzwischen auch meine Handynummer hatte und mich alle halbe Stunde anflehte, dass sie ihm doch noch eine Chance geben sollte und sein Seitensprung einmalig gewesen sei.
Das hatte sie anscheinend so auf die Palme gebracht, dass sie jetzt entweder bei ihm anrief und ihm ihre Meinung geigte oder aber gleich zu ihm fuhr und ihm noch eine zweite Ohrfeige verpasste. Wie ich meine Schwester kannte, würde sie wohl die zweite Möglichkeit bevorzugen. Und siehe da, schon wenige Minuten später hörte ich die Tür ihres altersschwachen Fords zuknallen.
Mein Blick fiel auf die zerbrochene Vase, die bei einer anderen Auseinandersetzung mit Sophie zu Bruch gegangen war und die ich immer noch nicht weggeräumt hatte. Damals hatte sie mich angemotzt, dass ich angeblich zu wenig im Haushalt tun würde. Daraufhin hatte ich ihr nur den Vogel gezeigt und sie hatte die Vase runtergeworfen. Sie war wirklich sehr aufbrausend, das konnte man sagen.
Ich fragte mich noch immer, wie es ihr Freund zwei Jahre mit ihr ausgehalten hatte. Und der fragte sich vermutlich, wie ich bis jetzt überlebt hatte. Meine Taktik war einfach. Ich blieb immer total ruhig, der totale Gegenpol zu meiner Schwester. Und das brachte sie immer so auf die Palme, dass sie von alleine Leine zog.
Ich schlendere über den Schulhof, dann über den angrenzenden Basketballplatz. Niemand ist hier, aber direkt neben dem Korb liegt ein Ball. Sollte ich es vielleicht mal wieder versuchen? Komm, gib dir nen Ruck, sagt mir die vertraute innere Stimme, der ich im Moment mehr traue als mir selbst. Also gut, warum nicht. Ich hab ja mal im Verein gespielt, ich war sogar richtig gut, aber dann... Nein, ich will nicht daran denken, bisher ist es mir vortrefflich gelungen, es aus meinen Gedanken zu streichen. Sollte ich vielleicht doch nicht...? Die innere Stimme ist anderer Meinung. Flink lege ich meine Tasche auf den trockenen, dunklen Boden und hebe den Ball auf.
Das rauhe Gummi ist mir vertraut, das Gewicht in der Hand ist das gleiche wie damals. Da hat sich jemand sehr viel Mühe mit der richtigen Menge Luft gegeben. Probeweise lasse ich den Ball ein paar mal auf den Boden prellen. Er springt genau so, wie ich es in Erinnerung habe. Kontrollierbar.
Vielleicht die einzige Kontrolle, die ich im Moment haben kann, denn um mich herum scheint alles aus den Fugen zu fallen. Ich versuche, nicht weiter daran zu denken. Was jetzt zählt, ist nur der Ball. Der richtige Abwurfmoment, um den Korb zu treffen. Konzentriert suche ich mir einen Platz an der Dreipunkte-Linie, von der aus ich den Ball gut auf den Korb werfen kann. Jetzt zählt nur noch der Wurf. Jeder Muskel in meinem Körper spannt sich an und ich werfe den Ball - perfekt. Ohne den Rand des Korbes oder das Brett zu treffen, verschwindet der Ball im Netz. Ein breites Grinsen erscheint auf meinem Gesicht. Vielleicht sollte ich ja wirklich wieder anfangen, Basketball zu spielen.
Ich will gerade meine Tasche wieder aufheben, als ich sehe, wie ein Junge auf mich zukommt. Er muss meinen Wurf gesehen haben, denn er sieht nicht aus, als würde er nur zufällig auf mich zukommen und eigentlich ganz woanders hinwollen.
"Hey! Das war echt gut.", ruft er mir zu.
"Danke!", rufe ich zurück und merke, wie ich rot werde. Ich bin Komplimente nicht gewohnt, schon gar nicht von Jungen und schon gar nicht nach dieser Sache.
"Hast du Lust mal in den Pausen hierher zu kommen? Wir trainieren hier immer.", bietet er mir an.
Ich überlege. Warum eigentlich nicht. Ich hatte doch gerade selber den Gedanken, wieder anzufangen.
"Ja, gerne. Ich bin übrigens Tara.", stelle ich mich vor.
Er grinst mich an.
"Das ist ein ungewöhnlicher Name. Aber trotzdem schön. Ich bin Jan."
War das gerade schon wieder ein Kompliment? Es ist verrückt. Innerhalb der letzten fünf Minuten habe ich mehr Komplimente bekommen als in den letzten drei Monaten zusammen.
Und das, wo ich doch mal so beliebt war und mir jeder hinterher gepfiffen hat. Aber das war früher, bevor ich zum Psychologen musste, weil meine Oma gestorben war. Von da an haben mich alle für einen Psycho gehalten. Vielleicht haben sie damit auch gar nicht so falsch gelegen. Immerhin habe ich Selbstmord begehen wollen, weil ich mir die Schuld gab, dass sie im Koma gelegen hatte und schließlich gestorben war. Egal, was die anderen sagten. Auch heute gebe ich mir noch die Schuld.
"Hallo? Erde an Tara? Kommst du morgen?"
Jans Stimme holt mich wieder aus meinen Gedanken.
"Was? Ja klar... Ich war nur gerade ein bisschen in Gedanken."
"Na dann bis morgen, ich muss jetzt los.", verabschiedet er sich noch von mir und geht dann in Richtung Bahnhof davon. Halt. Muss ich nicht auch zum Bahnhof? Schließlich ist heute Freitag und ich werde dieses Wochenende bei meinem Vater verbringen. Meine Mutter hat sich nach meinem Selbstmordversuch von meinem Vater getrennt und jetzt verbringe ich jedes zweite Wochenende bei ihm.
Wochenenden, an denen ich ganz ich sein kann. Bei meiner Mutter muss ich immer höllisch aufpassen, was ich tue, denn selbst wenn ich mir ein Messer zum Brotschneiden hole, liest sie da gleich wieder Selbstmordgedanken rein.
Mein Vater ist der Meinung, dass ich darüber hinweg bin. Das stimmt zwar auch nicht, aber es ist um Weiten besser als bei jedem Schritt Angst haben zu müssen, wieder in die Psychatrie geschickt zu werden.
"Warte mal!", rufe ich Jan zu, der schon ein paar Meter entfernt ist. "Wir können zusammen gehen, ich muss auch zum Bahnhof."
Flugs schultere ich meine Tasche wieder und schließe in schnellen Schritten zu ihm auf. Dann passe ich mich seinem Gang an und wir schlendern zusammen zum Bahnhof.
Die Footballjacke schmiegt sich passgenau an seine muskulösen Schultern. Er sieht stark aus, so wie man es von einem Star-Quaterback erwartet. So als könne ihm niemand etwas tun. Die braunen, kurzen Haare sitzen wie immer perfekt.
Auf dem Weg zu seinem Klassenraum schmiegen sich zwei spargeldünne Cheerleaderinnen an seine Arme und blicken ihn bewundernd an. Beide haben sie gewelltes, blondes Haar. Ihre Namen hat er schon längst vergessen - oder nie gekannt. Er ist ihr Traum, der Traum aller Cheerleaderinnen, aber sie sind der Albtraum für ihn. Er will nur eins - sie möglichst schnell loswerden. Er verschnellert seinen Schritt, aber sie halten mühelos mit ihm mit.
Hoffentlich haben sie nicht mit mit Unterricht! denkt er sich und rennt jetzt schon fast, um die Klammeraffen endlich loszuwerden.
Rennt so wie auf dem Football-Feld, wo ihm sein Vater von der Tribüne aus stolz zuwinkt. Er macht die ganze Football-Sache nur für seinen Vater, um seinen Ansprüchen zu genügen. Darum, was er wollte, ging es nie. Er lebt den Traum seines Vaters. Es ist nicht sein Leben und sobald er eine Möglichkeit findet, will er dieses Leben beenden, egal, was sein Vater dazu sagt.
Aber damit würde er auch seine Mutter verletzen, die ebenfalls vollkommen hinter dem Star-Quaterback-Traum seines Vaters steht.
Wütend reißt er sich von beiden Barbiepuppen los und schmeißt seine Footballjacke auf den Boden. Er hat lange genug gewartet und getan, was sein Vater wollte. Jetzt würde er tun, was er will.
Der Footballspieler lässt den Raum, in dem er jetzt Unterricht hätte, hinter sich und geht zielstrebig auf dem Verwaltungsflur. Energisch klopft er am Büro des Football-Coaches.
Nach wenigen Sekunden wird er reingebeten. Das Büro des Coaches ist nur spärlich eingerichtet, einen Schreibtisch mit zwei Stühlen und drei Regale voll mit Pokalen, mehr gibt es in dem kleinen Raum nicht.
"Setzen Sie sich!", weist ihn der fast glatzköpfige Coach an.
Der Footballer setzt sich auf einen fast antiken Stuhl und stützt die Unterarme auf den Schreibtisch.
"Wo ist Ihre Jacke?", fragt der Coach. Die leichte Wut in seiner Stimme ist nicht zu überhören.
"Sie liegt auf dem Boden vor den Spinden.", antwortet der Quaterback ruhig. "Ich höre mit Football auf, sie können die Jacke gerne vom Boden klauben, wenn Sie sie brauchen."
"Aber...", die Halbglatze des Coaches verfärbt sich langsam rot. "So lasse ich nicht mit mir reden! Sie werden jetzt sofort Ihre Jacke wieder anziehen und dann wieder in den Unterricht gehen!"
"Nein!", erwidert der Quaterback und verlässt dann das Büro mit erhobenem Kopf wieder.
Endlich ist er frei!
Sie macht das Licht aus und drückt ihr Gesicht in das Kissen. Erste Tränen benetzen den Stoff, schnell werden es mehr. Sie scheinen direkt aus ihrem Herzen zu kommen, jede einzelne fühlt sich an als bestände sie aus Blut. Blut aus ihrem gebrochenen Herzen.
Sie ist vollkommen alleine. Niemand interessiert sich für sie und ihre Sorgen. Alle sehen immer nur das perfekte Mädchen, das sie nach außen hin zur Schau stellt. Niemand stellt diese Fassade je infrage, denn auch alle anderen tragen zufriedene Masken.
Sie hat das Gefühl, kaputt zu gehen an dieser Gleichgültigkeit. Aber gleichzeitig ist da die Angst, an der Felswand der Erwartungen zu zerschellen, die sie überallhin verfolgt. Sie muss perfekt sein. Zumindest nach außen, denn anders kann sie nicht überleben.
Das Abendrot färbt den Himmel rot. Langsam legt sich die Nacht über das kleine Dorf. Alles verschwindet unter einem dunklen Schleier, die Laternen und erleuchteten Fenster sind die einzige Lichtquelle. Und doch hat sie das Gefühl, dass sie in der Nacht mehr sieht. Mehr als bei Helligkeit. Die Menschen legen ihre Maske ab, die sie den ganzen Tag über getragen haben. Zeigen ihr wahres Gesicht. Plötzlich sind alle verletzlich. Die Nacht gibt ihnen den Schutz, den sie wollen. Sie beobachtet stumm ihren kleinen Bruder. Der einzige in ihrer Familie, der noch keine Maske aufsetzt. Den die Gesellschaft nicht fertig macht, weil er anders ist. Weil er ja noch so klein ist. Schon oft hat auch sie versucht, die Maske für einen Tag nicht aufzusetzen, aber sie hatte zu viel Angst davor, was ihre Freunde sagen würden, wenn sie sie selbst wäre.
Sie gucken nach oben. Sehen die Raketen explodieren. Viele kleine glühende Partikel. Irgendwo kreischt wieder irgendwer rum, weil er Angst hat vor dem ganzen Geballer - oder einfach stockbesoffen ist. Als nächstes kommen die Wunderkerzen - weil sie einfach dazugehören. Außerdem sind sie so ungefähr das einzige Feuerwerk, was man in der Hand behalten kann. Wegwerfen würde die weggetrunkenen Gehirnzellen überfordern. Und schön aussehen tun sie auch noch. Bumm! Na toll, die Jungs haben die China-Böller ausgepackt. Hoffentlich sind sie schnell alle. Alles andere sollte man ja nicht wünschen. Sie packen die Wunderkerzen ein und verziehen sich wieder nach Drinnen. Jetzt wird erstmal auf das neue Jahr angestoßen. Die Sektflasche wird einfach so lange geschüttelt bis sie von selber aufgeht. Entgegen aller Wahrscheinlichkeit trifft der Verschluss keine Lampe sondern füällt nur unspektakulär auf den Boden. Sie passt nicht auf, ist vollkommen auf den Verschluss konzentriert und schon läuft Sekt über ihre Hand. Sie spürt die kühle Flüssigkeit und gießt sie schnell in die drei Gläser. Möglichst gleichviel, was im betrunkenen Zustand alles andere als einfach ist. Sie heben die Gläser, rufen 'Cheers!' und fallen sich dann in die Arme. Das schönste Silvester ihres Lebens - bis jetzt. Vielleicht wird das nächste ja noch besser. Wenn sie sich überhaupt an diesen Abend erinnern können, um ihn dann mit anderen zu vergleichen.
Eine von ihnen dreht die Musik auf und sie tanzen so, wie es ihnen in den Sinn kommt - vollkommen betrunken. Die Jungs kommen auch wieder rein. Wenn möglich noch betrunkeneer als die drei Mädchen, die schon das Wohnzimmer in eine Tanzfläche verwandelt haben. Sie tanzen bis iu die Morgenstunden. Einer nach dem anderen verschwindet in den Nebenraum, wo die Betten stehen. Es war eine tolle Party. Vor allem besser als erwartet.
Wörter fließen aus meinem Herzen durch meinen Arm in meine Hand. Ich schreibe sie auf. Immer in der gleichen Schrift. Es sind viel zu viele und gleichzeitig sind es nicht genug, nicht die richtigen. Ich kann Dinge, die niemand versteht, nicht in Worte fassen, nicht in Formeln pressen.
Die Worte driften ab. Sind jetzt freie Vögel, nicht mehr eingeengt in die Gedichtform, in den Roman, einfach frei. Schweben durch den Raum und zeigen, dass der Sommer wieder da ist. Der Sommer der Wörter.
Sie ist überall und nirgendwo, eigentlich gar nicht da. Das Mädchen hinter dem Spiegel, muss immer perfekt sein, alles über sich ergehen lassen. Endlose Outfitanproben, kiloweise Haarspray in den Haaren, Make-up im Gesicht und alle erwarten immer, dass sie perfekt aussieht. Sieht sie nicht perfekt aus kommt halt noch ne Schicht Make-up drüber, vielleicht doch nochmal ein anderes Outfit. Sie kann sich nicht mal wehren. Hat keine Stimme, kann nur Bewegungen imitieren, vielmehr muss. Manchmal würde sie gerne mit dem Mädchen vor dem Spiegel tauschen, ihr zeigen wie schwer es ist, nur zugucken zu können, was andere machen, was andere an einem machen. Manchmal will sie auch den Spiegel einfach schwarz sprühen, damit niemand mehr sie sieht, niemand sie mehr perfekt machen kann. Aber dann würde sie in einem neuen Spiegel erscheinen. Immer wieder. Endlos verdammt zu diesem trostlosen Leben.
Die Leute hetzen durch die Straßen, sehen nichts und niemanden, wollen einfach nur schnell weg von hier. Das einzige Ziel ist das Überleben. Alle sind im Weihnachtsstress, wollen in letzter Minuter noch das perfekte Geschenk finden. Ich schlendere gelangweilt durch die aufgebrachte Menge, meine Geschenke liegen schon alle zuhause und warten nur noch darauf, eingepackt zu werden. Zum Glück. Mit diesem Stress käme ich nicht klar. Fasziniert bleibe ich an einigen Ständen des Weihnachtsmarkts stehen, will mir Dinge näher angucken, aber die Menge schiebt mich weiter. Weg von selbstgebundenen Büchern und selbstgemachten Bonbons, weg von süßen Schlafpuppen und hübschen Lederarmbändern. Schnell verlasse ich den Weihnachtsmarkt wieder und lasse mich in meinem Lieblinsladen mal wieder blicken. Der nostalgisch angehauchte Buchladen gleich um die Ecke, wo ich fast alle meine Bücher kaufe. Hier ist es verhältnismäßig leer, außer mir sitzen nur noch zwei andere Mädchen in den bequemen Sesseln und lesen einige Seiten der Bücher, die sie kaufen wollen. Ob für sich oder andere weiß ich nicht. Ich bin hier, um ein Buch für mich zu finden. Eins für die Abende vor dem Kamin, kurz vor Weihnachten, wenn alle anderen weg sind und letzte Vorbereitungen für was auch immer treffen. Im Hintergrund läuft dann immer Klaviermusik zu der ich einfach am besten entspanne. Ganz ohne Gesang, einfach nur die leichten Klänge des Klaviers, die mich früher oder später schläfrig machen und ins Bett geleiten. Am nächsten Morgen klingelt kein Wecker, es ist der erste Ferientag, endlich. Endlich keine nervigen Mitschüler mehr, keine Lehrer, die einem ewig viele Hausaufgaben aufdrücken, die mann nie im Leben innerhalb von zwei Tagen bewältigen kann. Einfach nur ich, meine Bücher und mein Tee. Einfach nur Weihnachten.
Vor dem Schlafengehen noch schnell ein Räucherstäbchen anmachen. Night Queen. Hilft bestimmt beim Wegdösen. Wenn nicht, zähle ich halt Schäfchen. Als ob das klappen würde, aber man kanns ja versuchen. Sonst könnte ich auch von 1000 rückwärts zählen oder mich wieder am Spanischen versuchen. Bis hundert. Wir wollen ja nicht übertreiben.
Jetzt das Radio aus. Warum kommen um so späte Stunde jede Menge Dance-Songs? Nicht gerade das, was man zum Einschlafen hören will, deshalb besser ganz aus. Aufs Bett legen, Augen zu und weg bin ich. IN einer Welt, die nach Night Queen duftet und mit den Geräuschen der vorbeifahrenden Autos vertont wurde. Vielleicht wird das Leben ja jetzt endlich gut.
Ich träume wirr. einmayl von einer Unterwasser-Geheimbasis, dann wieder von Luxus-Yachten. Wenn einer verrückt ist, dann ich. Keine Frage. Ich wache auf vom Geruch der frischen Brötchen und merke, dass alles noch das selbe ist. Nichts verändert sich über Nacht.
Ich sitze auf meinem Bett, in meine Decke gekuschelt. Schlürfe heißen Apfel-Zimt Tee. Das einzige Licht kommt von den Kerzen des Adventkranzes, den ich eigentlich erst Wochen später hätte anmachen dürfen. Alles ist besser als vorher. Aber irgendwie auch nicht. Irgendwas fehlt. Du fehlst. Dein Lachen, das an den Wänden hallt und dadurch unheimlich verzerrt wird. Deine Schritte, die mir so vertraut sind, deine Stimme, die sich anhört wie Honig. Ein komischer Vergleich. Aber der einzige, der passt. Die Teekanne ist schon wieder alle, das dritte Mal heute. Mal sehen, wie lange der Teevorrat noch durchhält. Wenn du da wärst, würde ich Kaffee trinken, Kekse essen. Aber hier sind nur ich und mein Tee. Ich versuche die Einsamkeit mit dem warmen Tee wegzutrinken, aber es ist unmöglich. Ich will von außen gewärmt werden, nicht nur von innen. Ich will nicht mein Kuscheltier in den Armen halten, wenn ich mich doch an dich kuscheln könnte. Ich bin so unendlich allein. Komm zurück, aber dann bleib.
Kein Ziel haben. Einfach loslaufen und nie ankommen. Das wollte ich immer. Niemand hätte mich gefunden, doch hätten mich alle gesucht. Ich wäre frei gewesen für kurze Zeit. Wäre zum Abendessen wieder da gewesen, als wäre nichts passiert. Niemand hätte ein Wort darüber verloren, weil alle es eigentlich machen wollten. Sie haben sich nicht getraut. Und dann tue ich es und sie sind beeindruckt. Weil sie es nicht erwartet hätten. Nicht von mir. Nicht von der schüchternen grauen Maus. Ich wäre einfach losgelaufen, der seichte Sommerwind hätte meine Haut gestreichelt, die Sonnenstrahlen meine Nase gekitzelt. Ich hätte gelebt. Hätte. Aber ich bin die schüchterne graue Maus. Ich bin nicht losgelaufen. Ich hab mich verkrochen. Und so wird das alles ein Traum bleiben.
Der ganze Schmerz, die Enttäuschung, ich stelle mir einfach vor das alles wäre nicht da. Nur eine Illusion, die mir mein Kopf vorspielt. Was es ja im Grunde auch ist. Aber mein Kopf will das nicht wahrhaben, er hält starr an der These fest, dass ich an allem Schuld bin, ich hätte ja etwas anders machen können. Was, sagt er mir nicht. Besonders kooperativ war er eben noch nie. Der Schmerz verfolgt mich bis in den Schlaf. Ich bekomme Alpträume, falle mitten in der Nacht aus dem Bett - und schlafe auf dem Boden weiter. Ich hab nicht die Kraft, wieder aufzustehen und mich wieder ins Bett zu legen. Nicht um zwei Uhr morgens. Um sechs Uhr klingelt mein Wecker. Die Kraft ist immer noch nicht wieder da. Schlapp liege ich auf dem Boden und warte darauf, dass mich jemand aus meinem Leben befreit, mich mit ins Wunderland nimmt. Aber der Prinz wird nicht kommen. Er existiert auch nur in meinem viel zu fantasievollen Kopf. Die Tatsache, dass ich jetzt aufstehen muss leider nicht. Langsam schleppe ich mich ins Bad, werfe dem Spiegel einen tödlichen Blick zu und taumele gleich rückwärts wieder raus. Dass ich so schlimm aussehe hätte ich nicht erwartet. Von dem Sturz habe ich eine Beule auf der Stirn und mein Gesicht ist vom Weinen aufgequollen. So bekommt mich niemand in die Schule. Nicht heute. Ich nehme das Telefon, verstelle meine Stimme und melde mich von der Schule ab. Das ist fast schon zur Routine geworden. Jetzt muss ich nur noch die Entschuldigung fälschen. Aber erstmal muss ich schlafen, alles andere hat Zeit. Im Traum vergesse ich für kurze Zeit die Schmerzen, aber doch ist es doch alles nur in meinem Kopf und es hat sich wieder nichts geändert. Vielleicht ist es sogar schlechter geworden.
Ich laufe über den Asphalt. Barfuß. Er ist noch warm von der Sonne, wärmer als die Luft. Ich trage fast nie Schuhe im Sommer, immer wenn es möglich ist, laufe ich barfuß umher. Im Winter hab ich auch selten Schuhe an - aber nur im Haus, draußen wärs dann doch etwas kalt. Der warme Asphalt tut meinen Füßen gut. er wärmt sie. Vielleicht war das Gras, als die Sonne dann weg war, doch etwas zu kalt. Ich setze mich hin, auf den warmen Asphalt und denke einfach mal an nichts. Nicht daran, dass ich mich schon wieder mit meiner besten Freundin zerstritten habe, nicht an die schlechte Mathe-Arbeit. Ich spüre den seichten Wind, wie er meine Wangen streichelt. Ich will ihn einfangen. Aber Luft kann man nicht fangen. Genausowenig, wie man Momente einfangen kann. Sie sind einfach irgendwann weg. So auch dieser Moment. Meine Mutter ruft mach mir und sie wirkt gar nicht erfreut.
"Hey!"
"Hey! Was läuft so?"
"Sag mal, kennen wir uns?"
Normalerweise war ich ja nicht so das Mädchen, dass von wildfremden Jungen angequatscht wurde.
"Nee, aber das können wir ja ändern."
Okay, flirten wollte er anscheinend auch noch.
"Sag mal, flirtest du mit mir?"
Sein selbstbewusstes Lächeln verschwand für einen Sekundenbruchteil.
"Ja, wieso nicht?"
"Schon mal daran gedacht, dass ich nen Freund haben könnte?"
Hatte ich zwar nicht, aber könnte ja klappen.
"Dir sieht man doch auf 200 m an, dass du Single bist.", behauptete er immer noch zimelich selbstbewusst.
"Und woran siehst du das?"
"Dass du an einem Sonntagmorgen mit deinem Hund ausgehst."
"Es könnte ja sein, dass mein Freund im Urlaub ist und ich deshalb mit seinem Hund ausgehe."
"Außerdem hast du dioch kein bisschen aufgestylt. Hättest du nen Freund würdest du für ihn gut aussehen wollen."
Er ließ anscheinend nicht locker.
"Vielleicht mag mein Freund es ja so."
"Du siehst ja auch wunderschön aus, da kann man das verstehen."
Okay, er flirtete wirklich übel mit mir.
"Na gut, ich bin Single, jetzt zufrieden?"
"Wenn du dich auf nen Kaffee einladen lässt, ja."
"Latte Macciato!", stellte ich meine Bedingung.
"Dann das. Was ist jetzt? Kommst du?"
"Ich muss noch schnell Melina nach Hause bringen. In zehn Minuten wieder hier."
"Darf ich vielleicht noch den Namen der Schönheit erfahren?"
"Bella. Eigentlich Isabella, aber nenn mich Bella."
"Ciao Bella, bis gleich!"
So ein Macho. Ob ich in zehn Minuten wieder da sein würde, musste ich mir nochmal gründlich überlegen.
Mit ihren großen, blauen Augen sieht sie aus wie ein scheues Reh. Oder ein Hundewelpe, der um Aufmerksamkeit bettelt. Aber diese Augen zeigen, was sie schon alles durchgemacht hat. Wenn man sie läner betrachtet, sieht man ihr das kaputte Elternhaus geradezu an. Kann schätzen wie oft sie aus dem Fenster gesprungen und abgehauen ist.
Die alte, abgewetzte Lederjacke ist vielzu groß für ihren dünnen Körper, wärmt sie kaum an diesem Frühlingsmorgen.
Die ersten Vögel setzen sich auf die Bäume und trällern vor sich hin, alles wirkt friedlich. Hier ist das perfekte Versteck, hier würde niemand ihre negative Vergangenheit erkennen, wen sie immer darauf achtet, Abstand zu halten. Niemand würde etwas hinterfragen. Hier ist sie vollkommen für sich. Nur die Lederjacke erinnert noch an ihr Leben auf der Straße. Aber sie wirft sie weg, sobald es warm genug ist. Dann ist sie endlich ein neuer Mensch, so wie sie immer sein wollte.
Die Sonne wärmt langsam den Stein, auf dem sie sitzt, ihre nackten Füße baumeln im Gras, an dem noch der Tau der Nacht zu sehen ist. Es dauert noch bis die ersten Jogger in den Park kommen, aber auch dann wird sie weiterhin Anonymität genießen. Denn hier kennt sie niemand. Sie kann nochmal ganz von vorne anfangen.
Erschöpft kommt sie im Wald an. Sie setzt sich auf den Boden und saugt die Luft ein, die mit Tannenduft durchzogen ist. Schnell entspannt sie sich. Der Wald übt eine Ruhe auf sie aus, die sie sonst nirgendwo findet.
Ihre Familie ist zerstritten, immer wird geschrien. Ihre Mutter schreit ihren Bruder an, weil er schon wieder eine 5 mit nach Hause gebracht hat. Ihr Vater schreit ihre Mutter an, weil sie sich ein neues Kleid gekauft, obwohl doch das Geld knapp ist. Und sie steht wie immer zwischen allen Fronten. Will ihren kleinen Bruder schützen. An ihr prallt scheinbar jede Kritik ab, aber auch sie zerbricht daran, wenn ihr Vater ihren Lebensstil und ihre Freunde kritisiert. Sie hat nur schon genug Erfahrung damit, ihre Schmerzen zu verstecken.
Hier im Wald kann sie sie selbst sein. IHre perfekte Maske ablegen, ihre Narben zeigen. Hier verurteilt sie niemand.
Langsam strömen die Tränenn aus ihren Augen und verwischen den perfekt aufgetragenen Mascara. Es stört sie nicht. Es ist befreiend, endlich weinen zu können.
Frei läuft sie den Waldweg entlang, ab und zu kreuzt ein Eichhörnchen ihren Weg. Irgendwann kommt sie zum Hexenhaus. Es ist wie immer verschlossen. Sehr oft war sie schon hier. Hat sich erinnert an alte Zeiten, an ihre besten Freunde, sie jetzt fast alle weggezogen sind. Nur Jonas nicht. Aber trotzdem ist er ihr hier am nächsten. Er ist tot. Bei einem Autounfall gestorben. Jedes Mal, wenn sie durch das Busfenster auf das Kreuz guckt, das am Straßenrand steht, kommen Erinnerungen hoch.
Texte: (c) Kris Garner
Tag der Veröffentlichung: 10.03.2013
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