Weihnachten kann kommen!
„Hallo, hallo“, flüstert ihr eine schemenhafte Gestalt im diffusen Licht der Abenddämmerung entgegen.
Sie kann nicht viel von der Gestalt erkennen, nur dass sie weiblich ist, das erkennt sie allein schon an der Stimme.
„Ich bin die, die du geworden wärst, wenn du nicht die geworden wärst, die du heute bist!“, vernimmt sie wie in Trance.
„Darf ich kurz zu dir reinkommen?“ fragt die zarte Stimme vehement.
Frida reagiert automatisch, aber fast wie gelähmt und weist der weiblichen Gestalt mit ihrer Hand den Weg in die Küche. Die Frau ist ungefähr so alt wie sie selbst und was sie verstört und zutiefst schockiert, ist der Eindruck, den sie auf sie macht.
Als Frieda dieser Person, die da vor ihr am Küchentisch sitzt, in die Augen blickt, wird es ihr mit einem Mal schreckhaft bewusst: Die blonden Haare, die Figur, die Art wie sie sich bewegt...
„Du bist ja ich!! „, schreit Frieda völlig unbeherrscht und entgeistert aus sich heraus.
Nur diese traurigen Augen, die wollen nicht in ihr Bild von sich passen.
„Warum hat diese Frau nur so traurige Augen?“, denkt Frieda still bei sich.
Frieda war sich ihrer ausdrucksstarken und lebensfrohen Augen immer bewusst und sie war sogar ein kleines Bisschen stolz auf sie.
Die Frau, die ihr gegenüber sitzt, ist sehr schick gekleidet. Sie trägt einen grauen Blazer mit Nadelstreifen, dazu eine passende Hose und eine rosé-farbene Bluse. Die Pumps sind schwarz und keck und runden das Profil einer Business-Frau perfekt ab. Sie macht einen rundum perfekt-gestylten Eindruck, wären da nicht diese zutiefst traurigen Augen.
„Ja, ich bin Du, das Du, das du gern sein wolltest. Ich bin heute gekommen, um dir zu zeigen, dass deine Ja’s im Leben genau richtig waren“, beteuert ihr das Gegenüber.
„Weißt du, als du damals vor fünf Jahren in dieses Haus, das Jan für dich und das Kind ausgesucht hat, eingezogen bist, da hast du alles verdammt richtig gemacht!“, haucht ihr die Frau entgegen.
„Ich kann dir das sogar beweisen“, erklärt sie und fischt aus ihrem beige-schwarzen, sündhaft-teuren Gucci-Täschchen eine Art Schneekugel hervor. Sie stellt sie mitten auf den Küchentisch und legt ihre Hände darauf.
Frieda vernimmt in diesem Augenblick nur das gleichmäßige Ticken der Küchenuhr.
Tick tack, tick, tack, tick , tack......
Als sie ihren Blick wieder auf die Schneekugel wirft, sieht sie sich genau in dem Moment wieder, als sie das erste Mal dieses Haus betritt.
Damals hatte sie sehr gemischte Gefühle, was das Zusammenziehen mit Jan betraf. Sie wollte doch so gerne erst ihr Studium der Germanistik zu Ende bringen. Ausgerechnet jetzt war sie schwanger! Die Magisterarbeit lag noch vor ihr und alle Gedanken kreisten darum, wie sie die Schwangerschaft und das Studium unter einen Hut bringen würde.
Dann geschieht etwas Merkwürdiges. In der Schneekugel erscheint wieder eine Frau, die genauso aussieht wie sie selbst. Sie sitzt in einer hübsch möblierten Wohnung, mit viel Raffinesse ausgestattet. Neben ihr auf dem Schreibtisch ein Laptop, auf dem sie gerade die Zusage für den Posten einer Chefredakteurin erhalten hat. Sie sitzt da, in einem teuren Kleid, der Sekt ist kühl gestellt und wartet darauf getrunken zu werden, auf ihren eigenen Erfolg will sie trinken. Sie ist auf dem Weg zu einer traumhaften Karriere, Freude huscht über ihr Gesicht aber auch eine stille Traurigkeit. Sie ist einsam. Niemand ist da, der den Erfolg mit ihr teilt und feiert. Niemand, dem sie ihre Gedanken und Gefühle mitteilen kann. Sie ist unendlich allein.
„Siehst du, das wärst du! Eine Frau, die zu niemandem Ja sagt, die nur an sich selbst glaubt und ihren Weg geht. Diese Frau wärst du geworden“, haucht ihre zweite Hälfte.
„Aber du wolltest nicht allein bleiben. Deshalb hättest du nach einem Mann Ausschau gehalten, mit dem du dein Glück teilen wolltest. Du hättest ihn auch gefunden. Schau....,“
fuhr ihr Gegenüber fort.
Wieder sieht sie sich in der Kugel, diesmal im Chefsessel eines renommierten Verlags. Die Auflagen der letzten Ausgabe des Magazins, für das sie verantwortlich ist, sind in astronomische Höhen geschnellt. Das kann man an der Kurve sehen, die auf dem Bildschirm daneben aufflackert. Auf dem Schreibtisch liegt das zerrissene Foto eines Mannes, den sie offenbar einmal sehr geliebt hat. Doch er hat sich einfach aus dem Staub gemacht, nachdem er eine wesentlich jüngere Frau kennen und- lieben gelernt hatte.
Sogar ein Kind hat er mit der Jüngeren gezeugt!
Versagen auf der ganzen Linie. Aber sie selbst im sitzt im Chefsessel. Traurig , wie sie dort aus dem Fenster des Hochhausgebäudes schaut, ausgelaugt und deprimiert. Genauso wie die Frau dir ihr jetzt gegenüber sitzt.
„Das alles wäre ich geworden, wenn ich nie zu etwas anderem ja gesagt hätte außer zu mir selbst“?, fragt Frieda verstört nach einer Weile ohne den Blick von der Kugel zu nehmen.
„JA, schau mich nur an! Das wäre aus dir geworden. Aber du hast zum Glück Ja gesagt zu Jan, ja zu deinen Kindern und zu deinem Leben mit deiner Familie hier in diesem Haus.
Auch wenn dich die Arbeit als Übersetzerin in Teilzeit manchmal nicht so sehr herausfordert -du hast viel, viel mehr gewonnen als du dir vorstellen kannst. All das Kinderlachen, all die kleinen Sorgen und Freuden, die dir eine Familie bietet und noch viel mehr. All die schönen Urlaube und die wundervollen Weihnachtsfeste.... Auch wenn du es mir nicht glaubst, du hast alles richtig gemacht!“
Diese Worte hallen noch lange in Frieda’s Kopf.
„Du hast alles richtig gemacht! Du hast alles richtig gemacht!“
Als sie wieder aufblickt, ist die Frau am Küchentisch nicht mehr da. Auch die Schneekugel ist wie von Geisterhand verschwunden.
Schon von Weitem hört sie das ausgelassene Lachen ihrer Kinder und die vertraute Stimme ihres geliebten Mannes. Endlich sind sie wieder da! Weihnachten kann kommen! Frieda freut sich wie ein kleines Kind auf das bevorstehende Weihnachtsfest. Sie freut sich darauf wie nie zuvor in ihrem Leben.
Tag der Veröffentlichung: 30.01.2016
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