Und so kam es, dass sich der Tiger auf der Couch der Psychologin wiederfand.
Er hatte ein lange, spitze Nagelfeile in den Klauen, mit denen er immer abwechselnd, mal die Krallen der linken, mal die Krallen der rechten Pfote zuspitzte. Er sah der Psychologin nie direkt in die Augen, vielmehr schweifte sein Blick immer wieder mal aus dem Fenster, so, als ob er jemanden oder etwas da draußen beobachtete. Manchmal zog er auch seinen Nacken ein, fixierte mit seinen Augen einen bestimmten Punkt außerhalb des Raumes und ließ sein Riechorgan schnell an und –abschwellen. Diese Momente dauerten aber immer nur Sekunden, gleich darauf bearbeitete er wieder seine Pfoten.
Aus seinem Maul roch die Raubkatze ganz fürchterlich. Es stank in der Praxis durchdringend nach verfaultem Fleisch und verdorbenen Eiern.
Hilflos hielt sich die Psychologin den Handrücken vor die Nase, um diese Gerüche nicht andauernd einatmen zu müssen. Es half nichts. Der Tiger hatte einen Termin bei ihr und offensichtlich ein Problem mit sich. Sonst wäre er ja nicht hier auf ihrer Couch.
„Sie sind also hier, weil sie sich einsam fühlen?“, brachte die Psychologin nur stockend heraus.
„Haben Sie es denn schon einmal mit einer Tigerdame längere Zeit zusammen gelebt?“ fragte die Psychologin neugierig. „Wissen Sie, den Traumpartner zu finden, ist oft eine langwierige Angelegenheit, oft stellt sich nach einer kurzen Verliebtheit heraus, dass man doch nicht so gut zusammen passt, wie man am Anfang geglaubt hat.“
„Da gab es mal eine Tigerdame“, fing der Tiger langsam an zu erzählen. „Wir lebten damals im gleichen Urwald und sind uns manchmal nachts beim Jagen begegnet. Erst dachte ich mir nicht viel bei unseren nächtlichen Streifzügen aber nach und nach fing ich an, mich an sie zu gewöhnen und als Paar jagt es sich viel leichter.“ Als der Tiger das erzählte bekam sein Tigergesicht einen ganz verträumten Blick, er rollte ein wenig die Augen, in denen sich ein kleines Bächlein gebildet hatte. „Wissen Sie“, fuhr der Tiger fort, „das Jagen mit Ihr hat einfach Spaß gemacht. Und auch das gemeinsame Fressen danach war einfach unglaublich schön, ich war nicht mehr allein mit meinen Gedanken, wir hatten uns viel zu erzählen und auch viel zu lachen. Wir haben auch gern zusammen geschnurrt ; geschlafen habe wir aber getrennt, weil ich von Ihrem lauten Schnurren einfach nicht einschlafen konnte. Sie müssen wissen, Sie konnte noch tausendmal lauter Schnurren als ich und das heißt schon was bei einer Tigerin! Diese gemeinsam verbrachte Zeit ist aber irgendwann zur Gewohnheit geworden und das war vor allem meine Schuld. Ich wollte einfach nicht mehr jeden Abend Reden und Lachen, ich wollte manchmal einfach meine Ruhe haben. Aber die Tigerdame wollte mich jeden Tag sehen, jeden Tag mit mir was unternehmen. Ich hatte einfach das Gefühl nicht mehr das zu tun, was ich eigentlich wollte und im Grunde meines Herzens wollte ich einfach frei sein und nicht immer für jemand anderen da sein müssen. Mir war das alles zu viel, es war wie eine Pflicht, mit ihr Jagen zu gehen, gemeinsam zu Fressen. Jeder Tag war wie der nächste und er Übernächste usw. Ich bin dann immer öfter zu meinem Freund, dem Krokodil am Fluss gegangen. Da habe ich oft stundenlang gesessen und wir haben eigentlich gar nicht viel miteinander geredet, aber ich habe mich verstanden gefühlt und war richtig glücklich und frei...hab ich wenigstens gedacht. Hab mir meistens noch ein Spielzeug, eine kleine Maus oder Ratte gekrallt, mit der ich nebenbei gespielt habe, um meine Krallen zu schärfen. Das Nicht-Reden-Müssen hat mir damals einfach besser gefallen. Oft hatte ich am nächsten Morgen einen ganz benebelten Kopf oder Schmerzen in den Pfoten vor lauter Spielen, aber das war mir egal. Die Tigerdame meinte irgendwann auch, ich wäre ihr gleichgültig. Eines Tages war sie dann verschwunden und seitdem habe ich sie nicht mehr gesehen. Seit dieser Zeit bin ich viel umhergesteift, war unruhig und fühlte, dass ich allein war. Ähh allein bin,“ kam es traurig aus dem Tiger heraus.
Immer wieder machte er ganz seltsame Kratzgeräusche mit seiner Feile, und auch eine kleine Träne kullerte über sein Tigergesicht und am Ende über seine Schnurrhaare auf den Boden.
Was dann geschah war allerdings einigermaßen merkwürdig...
Die kleine Träne, die soeben auf den Boden gefallen war wuchs zu einer in allen Regenbogenfarben strahlenden Kristallkugel heran, in deren Inneren zwar klein, aber deutlich sichtbar der Tiger selbst saß. Er war deutlich älter geworden, das konnte man allein schon an den Schnurrhaaren erkennen, die nun alle weiß waren, auch um die Augen herum waren die Haare weiß geworden. Der Tiger in der Kristallkugel wirkte glücklich, im Gegensatz zu dem Tiger, der bei der Psychologin in der Praxis saß. Die Kugel fing plötzlich an hin und her zu hüpfen, mal sprang sie in die eine, mal in die andere Ecke, wie ein Gummiball und gab dabei merkwürdige Stimmen und Töne von sich.
Das Allermerkwürdigste aber war, dass der kleine, alte Tiger in der Kugel plötzlich richtig zu sprechen anfing: „Du Alter Ego, jetzt hör mir mal zu“, klang es silbrig aus der Kugel. Alter Ego ist ein Begriff für ein anderes Ich. So nannte der kleine Tiger in der Kristallkugel den großen Tiger, der bei der Psychologin saß. Die wiederum war ganz versteinert von der Szenerie, die sich da bei ihr abspielte. Sie hatte ihre Augen ganz weit aufgerissen und starrte wie magnetisiert auf die hüpfende Kristallkugel. Ab und zu blitzte ihr Blick auf den echten Tiger, sprang dann aber sofort wieder auf die Kristallkugel zurück. Den Gestank in ihrer Praxis nahm sie gar nicht mehr wahr, so beeindruckt war sie von dem Geschehen.
„Wenn du so weitermachst, wirst du noch als armer, einsamer Tiger enden, der an nichts mehr glaubt, den keiner mehr kennt, mit dem niemand mehr sprechen möchte“! klang es vorwurfsvoll aus der Kugel. „Es gibt einfach Regeln für das tigerliche Zusammensein und an die solltest auch du dich halten“! Dabei sprang die Kugel mit einem Satz, so wie der Tiger beim Jagen seine Beute anspringt mitten auf den Kopf des Raubtieres, so dass der von dem Aufschlag völlig verdutzt war und gar nicht mehr wusste, wie ihm geschah. „
„Klar, es ist wichtig, so zu leben, dass du dich gut und frei dabei fühlst, du darfst dich für niemanden verbiegen und Dinge tun, die du eigentlich gar nicht willst. Aber denk mal an die Tigerdame! Du hättest doch ab und zu mit ihr reden können, da hättest du dir doch kein Bein abgebrochen! Und bestimmt wäre sie dann mit dir zufrieden gewesen und hätte nicht das Gefühl gehabt, dass sie dir egal ist!“
Die Kugel lauerte schon wieder unter dem Schreibtisch, um den Tiger erneut anzuspringen. Aber diesmal fauchte er und legt seine Ohren ganz weit zurück.
„Du kannst mir doch nicht vorschreiben, wie ich zu leben habe,“ knirschte es zwischen seinen Zähnen, du Witz von einem Gummiball!“
„Nein, vorschreiben kann ich dir nichts, aber ich rate dir dazu, dich nach deiner Tigerdame zu erkundigen und dich bei ihr zu entschuldigen. Denn dann hast du auch die Chance, nicht als einsamer Tiger enden zu müssen, sondern eine Partnerin zu haben, mit der du alt werden kannst, so wie ich es jetzt bin. Und glaube mir, mit einer Partnerin an deiner Seite lebt es sich viel leichter!“
Damit verschwand die Kugel und löste sich wie in Luft auf. Der Tiger auf der Psychologencouch ging wie betäubt aus der Praxis und wusste, dass der alte Tiger Recht hatte.
Tag der Veröffentlichung: 10.08.2012
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