Sie Leben mitten unter uns.
Im Verborgenen.
Wir nennen sie die anderen.
Ihre Gaben offenbaren sich uns nur,
solange sie noch klein sind.
Doch wenn sie älter werden,
glauben sie selbst nicht mehr daran.
Sie verschenken ihre Gaben.
Doch ein kleiner Teil von ihnen,
ist zu mehr bestimmt.
Sie werden gefangen.
Getestet.
Behandelt als wären sie Tiere.
Und am Ende müssen sie sterben.
„Passen sie doch auf!“ keifte mich der Mann an, den ich ausversehen angerempelt hatte. Er hätte ja auch mal seine Augen aufmachen können. Aber die Menschen suchen die Fehler immer bei den anderen. Sie können sich nicht eingestehen, dass sie auch mal etwas falsch machen.
Ohne etwas zu erwidern gehe ich weiter. Soll er sich doch aufregen, mein Problem ist es nicht.
Ach ja, ich habe mich noch gar nicht vorgestellt. Mein Name ist Cassedy Callegra. Zumindest kennt mich die gesamte Welt unter diesem Namen, abgesehen von meiner Familie. Für sie werde ich für immer Lisa Mayer bleiben. Ein durchschnittliches, unauffälliges Mädchen. Blonde Haare, große grüne Augen, klein und zierlich. Ein wenig schüchtern und zurückhaltend. Keine große Kämpferin. Unauffällig eben.
Cassedy Callegra war das genaue Gegenteil. Zwar auch klein und zierlich, doch kein bisschen schüchtern und zurückhaltend. Eine wahre Kämpferin mit schwarzen langen Haaren und eiskalten blauen Augen.
Beides war ich. Das eine war meine Vergangenheit, das andere meine Zukunft. Es ist verwirrend, ich verstehe es selbst nicht. Doch ich bin anders. Etwas stimmt mit mir nicht. Alles begann vor 2 Jahren an meinem 18. Geburtstag. Als ich erwachte waren meine hellblonden Haare pechschwarz und meine Augen blau. Zuerst dachte ich, dass alles wäre ein raffinierter Streich, doch es war die bittere Realität. Lisa Mayer gab es nicht mehr. Seit diesem Tag musste ich kämpfen.
„Lisa?!“ geschockt sah Tobi mich an.
„Ja…“ ich war den Tränen nahe. Was war nur geschehen? Ein Mensch konnte sich über Nacht doch nicht so sehr verändern.
„Willst du mich verarschen?“ er sah an mir herab. Musterte mich wie eine Aussätzige.
„Tobi, bitte, ich kann es mir doch selbst nicht erklären!“ ich war den Tränen nahe. Schluckte sie nur mit viel Mühe hinunter. Ich durfte nicht weinen. Nur schwache Menschen weinten und jetzt musste ich stark sein. Denn niemand würde mir helfen. Noch nicht mal Tobi wollte mir glauben und der war seit 15 Jahren mein bester Freund. Auf ihn hatte ich mich immer verlassen können. Bis zum heutigen Tag. Doch dies war der Beginn einer neuen Zeit. Eines neuen Lebens.
„Lisa, hör auf mit dem Mist! Sowas ist echt nicht witzig!“ meinte er nur genervt. Meine Hand ballte sich zur Faust. Wut kochte in mir auf. 15 Jahre Freundschaft. 15 Jahre hatten wir uns blind vertraut, waren immer für einander dagewesen und nun das!
„Das ist kein Witz! Aber weißt du was Tobi?! Einen wie dich brauch ich nicht!“ Wütend drehte ich mich um. Während ich rannte hörte ich noch, wie die Haustür ins Schloss fiel.
Etwas stimmte mit mir nicht. Ich war anders.
Dieser Tag war das letzte Mal gewesen, dass ich Tobias Miller gesehen hatte. Eine Freundschaft, die so viele Höhen und Tiefen überstanden hatte, war an einem einzigen Problem zerbrochen. Aber seit diesem Tag brauchte ich ihn auch nicht mehr.
Nach diesem Ereignis war ich nach Hause gegangen, hatte schnell mein Geld genommen, ein paar Klamotten in eine Tasche gestopft und abgehauen. In den folgenden Wochen hatte sich mein Körper weiter verändert, zu den schwarzen Haaren waren blaue Strähnen gekommen und inzwischen war fast mein kompletter Körper von einem Tattoo überseht, dass aus schwarzen Ranken bestand. Nur auf meiner Stirn war etwas anderes. Ein Zeichen. Anfangs hatte ich es für eine Rune gehalten, überall danach gesucht und doch nichts gefunden.
Ich hatte auf der Straße gelebt, einfach nur vor mich hin vegetiert. Das Licht am Ende des Tunnels, ich hatte es nirgends sehen können. Alles um mich herum war kalt und leer gewesen. Ich hatte in meiner eigenen Welt gelebt. Einer Welt voller Schmerz und Trauer. Eine Welt, erschaffen aus Blut und Schweiß. Die Hoffnung hatte mich jeden Tag dazu gebracht wieder aufzustehen. Weiter zu machen. Niemals aufzugeben.
Irgendwann war ich aufgestanden und hatte mir mein Leben neu aufgebaut. Inzwischen war alles wieder recht normal. So normal wie es mit meiner Gabe eben sein konnte.
Das alles, diese ganze Veränderung war nur aus einem einzigen, simplen Grund geschehen. Weil ich wirklich anders war. Weil ich diese Gabe hatte. Eine Gabe, die mich von allen anderen Menschen unterschied. Die mich zu etwas besonderem machte. Sie war Fluch und Segen zugleich.
Während ich mich an den Beginn meines neuen Lebens zurück erinnerte, bekam ich auf einmal wieder dieses vertraute Schwindelgefühl. So schnell ich kannte eilte ich über den Gehweg und bog in eine dunkle Gasse ab. Dort sackte ich auf dem Boden zusammen.
Der Mann, den ich angerempelt hatte, saß in einem dunklen Wagen. Ein Porsche? Ich konnte es nicht genau erkennen, doch er fuhr immer schneller. 180. 200. 220. Mein Herz raste. Langsam versank die Sonne hinter dem Horizont. Während ich Ausschau nach einem Kalender oder etwas ähnlichem hielt gingen die Straßenlaternen an. Auch das Licht des Autos schaltete sich an. Gerade noch rechtzeitig sah ich auf um den näherkommenden silbernen Mercedes zu sehen. Er war ebenso schnell. Keine Zeit mehr zu bremsen. Der erschrockene Schrei des unbekannten Mannes hinter dem Lenkrad, das Quietschen von Reifen. Dann ein Krachen.
Keuchend schreckte ich hoch. Mein Herz raste. Mein Puls ging schneller. Wenn ich nur wüsste, was für ein Tag das war. Ich musste etwas unternehmen.
Genau das war nämlich meine Gabe. Ich hatte Visionen. Das Problem an diesen Visionen war nur, dass ich nicht bestimmen konnte wann und wo ich sie hatte. Und erst recht nicht, über wen. Manchmal war es ein Moment so wie der Zusammenstoß mit dem Mann vorhin, der sie auslöste. Manchmal kamen sie aber auch einfach. Nachts wenn ich aufwachte, oder gar in meinen Träumen. Mein ganzes Leben war durchzogen von der Zukunft fremder Menschen.
Mit diesen Visionen hing aber auch eine Aufgabe zusammen. Die Menschen die ich sah, musste ich vor dem beschützen, was in meinen Visionen mit ihnen geschah. Das war eigentlich noch schlimmer als die Visionen. Denn wie beschützte man jemanden, der gar nicht beschützt werden wollte?
Einmal tief ein und aus atmen. Ich musste ihn finden. Musste ihn vor dem Tod bewahren. Was passierte wenn ich es nicht schaffte? Genau sagen konnte man das nie. Als ich meine Gabe zu Beginn versucht hatte zu verdrängen hatten mich die noch auf unserer Erde ruhenden Seelen der Opfer verfolgt. Sie hatten mir das Leben zur Hölle gemacht. So hatte ich eigentlich keine andere Wahl gehabt, als den Menschen zu helfen. Das war mein Schicksal.
Das Schicksal von Cassedy Callegra.
Blindlings eilte ich zurück zur Hauptstraße. Immer auf der Suche nach dem Mann, den ich angerempelt hatte. Erfolglos. Er war weg. Verschwunden. Es war aussichtslos, hier waren so viele Menschen unterwegs, wie sollte ich ihn da jemals wieder finden?
Erschöpft betrat ich ein kleines Café und ließ mich dort in einer dunklen Ecke nieder. Ich musste nachdenken. Was genau hatte ich alles gesehen? Ich versuchte mich an jedes Detail zu erinnern. Es war wirklich viel was ich noch wusste, doch etwas schien zu fehlen. Ein kleines Teil, dass das Puzzle vollenden würde. Aber was? Was war es, das fehlte?
„Was kann ich ihnen bringen?“ die genervte Stimme der Bedienung drang durch das Netz meiner Gedanken, holte mich zurück in die Wirklichkeit.
„Ein Latte Macchiato“ erwiderte ich und sah zur Tür. Ein junger Mann betrat mit seinen Kumpels das Café, begleitet wurden die vier von jungen Frauen. Alle blond und knapp bekleidet. Der Mann drehte sich um und für eine Millisekunde sahen wir uns direkt in die Augen. Eiskaltes blau traf auf undefinierbares braun-schwarz. Ein Grinsen huschte über seine vollen Lippen.
Ich musterte ihn genau. Er war etwa 1,85 groß, hatte dunkelblondes Haar und war recht Muskulös. Alles in allem sah er ziemlich gut aus.
Die Schlampe neben ihm sagte etwas und er wandte sich ab. Die Bedienung brachte mir meinen Latte Macchiato und auch ich konzentrierte mich wieder auf den Grund, warum ich überhaupt hier saß.
„Brauchen sie diesen Stuhl?“ fragte eine warme Stimme. Ich sah auf und direkt in seine Augen.
„Nein!“ erwiderte ich kühl. Ich durfte gar nicht darüber nachdenken, wie gut er aussah. Für Männer war in meinem Leben kein Platz. Egal für was für welche. Menschen konnte man nicht trauen und Männer waren noch schlimmer als Frauen. Zumindest war das meine Ansicht, seit ich von Tobi so enttäuscht worden war. Ich hatte ihm damals vertraut und er hatte mich im Stich gelassen. So etwas sollte mir nie wieder passieren.
Aber kein Mensch kam mit uns Anderen klar. Vor etwa einem Jahr hatte ich eine Frau kennen gelernt, die ihr Aussehen hatte verändern können. Eine Gestaltenwandlerin. Sie hatte einem Mann vertraut, hatte ihm ihre Gabe offenbart und er hatte sie verraten. Damals war sie bei ihm zu besuch gewesen. Er hatte gemeint, er müsse mal kurz telefonieren und sei gleich wieder da. Ungefähr 30 Minuten später hatte man die Frau wegen angeblichen Diebstahles verhaftet.
Das war zumindest der offizielle Grund für die Verhaftung. Doch ich war überzeugt, dass man sie verhaftet hatte um sie zu untersuchen. Schon seit Anbeginn der Zeit war es so gewesen, dass die Menschen versucht hatten etwas über uns heraus zu finden. Sie wollten sein wie wir. Aus dem einfachen Grund, dass sie die Macht wollten. Sie hatten schon immer Angst gehabt, wir könnten angreifen und die Herrschaft übernehmen. Deswegen jagten sie uns, deswegen mussten wir uns verstecken.
Gedankenversunken starrte ich dem Mann hinterher, der den Stuhl davon trug. Ich schüttelte den Kopf und konzentrierte mich wieder auf die Vision dieses Idioten.
Das fehlende Teil wollte mir einfach nicht mehr einfallen und besonders gut konzentrieren konnte ich mich auch nicht mehr. Ständig sah ich ihn an, die Eifersucht auf das Flittchen, das neben ihm saß wurde immer größer. Ihr Lachen nervte mich so sehr, am liebsten hätte ich ihr das Maul gestopft. Warum wollten alle Typen solche unechten blonden Tussen?! Was fanden die an Silikon so toll?
Ich trank den letzten Schluck aus, bezahlte und verließ fluchtartig das kleine Café. Ein letzter Blick auf den jungen Mann, ein Biss auf die Lippen, eine Träne in den Augen, die es zu verbergen galt. Was war los mit mir? Warum war ich Eifersüchtig auf irgend so eine Fremde Tusse? Was an dem Unbekannten fand ich so anziehend, dass ich ihn nicht mehr aus meinem Kopf bekam?
Wirklich, egal was ich versuchte, ich konnte an nichts anderes mehr denken, als an ihn. Wenn ich die Augen schloss, sah ich ihn vor mir. Sah sein Lächeln, hörte seine Stimme. Mein Herz tat weh vor Schmerz. Er ein Unbekannter, den ich niemals wieder sehen würde. Er hatte mich in seinen Bann geschlagen. Gab es so etwas wie Liebe auf den 1. Blick? So konnte man das was geschehen war zumindest beschreiben. Doch Liebe auf den 1. Blick gab es nur in Büchern! Liebe…Liebe war überhaupt total überbewertet. Seit meiner Wandlung hatte ich die Menschen beobachtet. Sie sagten, sie würden sich lieben und betrogen sich dann. Sie sagten, sie würden füreinander sterben und beim ersten Problem flohen sie. Die meisten Menschen behaupteten zwar, einen anderen zu lieben, doch wirklich lieben taten sie nur sich selbst. Diejenigen, die es offen zugaben, nannten sie Narzissten. Sie verachteten sie. Denn Menschen hassten immer denjenigen am meisten, der ihnen am ähnlichsten war. Was das alles anging war ich wohl doch noch ein normaler Mensch. Jedes Mal, wenn ich mich über jemanden aufregte, sagte mir eine kleine leise Stimme in mir, dass ich doch genauso war. Mit meiner Verwandlung war ich zwar anders geworden, sowohl Charakterlich als auch vom Aussehen, doch meine Menschlichkeit hatte ich nicht verloren. Tief in meinem Herzen steckte eben immer noch Lisa Mayer. Tief in mir war ich nicht Cassedy Callegra. Lisa Mayer war nicht gestorben, sie versteckte sich nur tief in mir. Hinter einer Hülle, die sich Cassedy Callegra nannte.
Auch in meine Träume verfolgte mich der Unbekannte. Es war ein ziemlich skurriler Traum. Alles um uns herum war Schwarz, ich sah auf die Szenerie herab und stand ihm gleichzeitig gegenüber. Er trug einen schwarzen Anzug mit einem weißen Hemd, ich ein schwarzes kurzes Kleid. Doch das komische daran war, dass umso länger ich uns beide ansah, umso mehr verwandelte ich mich zurück in Lisa Mayer. Das blonde Haar und die grünen Augen kehrte zurück. Mit Schrecken erkannte ich, dass sein Hemd auf einmal von Blut durchdrängt war. Ich wollte schreien, auf ihn z rennen. Ihm helfen. Doch ich konnte nicht. Er schien auch nicht vorhaben etwas zu unternehmen, er stand einfach nur da und lächelte mich an. Sein Blick ruhte auf mir. Mein Mund war zu einem stummen Schrei geöffnet. Ich wollte um mich schlagen, die unsichtbaren Fesseln los werden und ihm helfen. Die Blutung stoppen. Inzwischen war sein Hemd wirklich überall Blutrot. Ich roch es, es fühlte sich so real sein. Gar nicht wie ein Traum. Das einzige, was sich nach wie vor an mir bewegte, waren die Tränen in meinen Augen. Sie glitzerten in dem Licht, dessen Quelle ich nicht kannte. Als er sie sah begann er laut und schallend zu lachen. Es klang so falsch. Plötzlich begann er zu husten, Blut kam aus seinem Mund, spritzte mich voll. Ich spürte wie warm es war
Texte: Zara Winter
Bildmaterialien: M. Winter
Tag der Veröffentlichung: 01.04.2013
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