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1.

Ich wurde wach. Viel zu früh, wenn Ihr mich fragt. Das Geräusch, das mich geweckt hatte, entpuppte sich als das Rauschen der Dusche, unter der meine Eltern ihre morgendlichen Spielchen trieben.

Konnten die nicht einmal kurz die Finger von einander lassen? Wenigstens, so lange ich nebenan war? Sie wussten doch genau um mein feines Gehör.

Ich zog mir die Decke über die Ohren. Reine Zeitverschwendung. Wie jeden Morgen. Verdrießlich stand ich auf und tappte hinüber in mein eigenes

Badezimmer.

So lange ich klein gewesen war, hatte die Wohnung nur aus dem riesigen Wohnzimmer plus Bad und Ankleidezimmer bestanden. Was natürlich bedeutete, dass ich oft im selben Raum gewesen sein musste, wenn meine Eltern wieder mal übereinander herfielen. Ich glaube, ich habe eine Idee, warum die meisten Menschen nichts mehr über ihre frühe Kindheit wissen.

Verdrängung kann ein Segen sein.

Bis ich etwa vier war, hatten meine Eltern die beiden frei gewordenen Nachbarwohnungen zur Linken und zur Rechten hinzu gekauft, so dass wir nun die ganze Etage bewohnten. Die Räume links gehörten ihnen, rechts war mein Reich. Kochen, essen, bei einander sitzen, musizieren, spielen, lesen und was uns noch so einfiel, geschah in dem riesigen Raum in der Mitte, den meine Mutter manchmal unser „Tipi“ nannte – Dads Bärenfell und die Krallenkette, welche die einzige Wand zierten, die dafür Platz bot, schienen das zu bestätigen. Sonst war jeder Meter Wand vollgestellt mit überquellenden Bücherregalen – allein dies machte den Raum zu einem meiner Lieblingsplätze auf Erden. Dass ich auch noch hier wohnte, besser hätte ich es nicht treffen können.

Zugegeben, der Vergleich mit dem Tipi hinkte ein wenig. Um ein Zelt in dieser Größe zu errichten, hätte schon eine ganze Herde Büffel dran glauben müssen.

Aber es war gut, meine eigenen Räume zu haben. So konnte ich meinen Eltern hin und wieder aus dem Weg gehen. Wie heute morgen.

Als ich die Dusche abstellte, waren sie drüben immer noch zugange. Auch das noch.

Ich selbst war zwar seit meinem zwölften Lebensjahr sexuell aktiv, aber von den Jungs, die ich so abschleppte, hatte noch keiner so lange durchgehalten.

Schade eigentlich. Desto früher war es gewöhnlich an der Zeit, ihnen begreiflich zu machen, dass es – nein, wirklich – wohl doch nicht die große Liebe war. Also Tschüss, wirst mir fehlen, bye, bye.

Was guckt Ihr so? Sollte ich etwa abwarten, bis sie das Gleiche mit mir taten? Nein, herzlichen Dank. Oder mich emotional an jemanden binden, der im Normalfall etwa die Gefühls- und Geistestiefe eines Teebeutels aufwies? Nichts da: Drei Minuten heiß ziehen lassen und dann weg damit.

Ach, die Zahl zwölf ist es, die Euch stört? Dann fragt mal jemanden, der befugt ist, die Pille zu verschreiben. Er wird Euch bestätigen, dass das ein völlig normales Durchschnittsalter ist für die ersten sexuellen Erfahrungen. Also kommt mal wieder runter.

Aber danke für das Stichwort. Ich hatte schon am Schrank gestanden, ein frisches Höschen in der Hand. Rasch sprang ich zurück ins Bad und nahm eine der kleinen, runden Tabletten aus der Packung. Ein Schluck Wasser hinterher, fertig. Bis jetzt hatte ich die Pille noch nie vergessen. Ich wollte heute nicht damit anfangen.

Ach ja: Falls Ihr Euch Sorgen macht, ich könnte mich bei irgendwem mit irgendwas anstecken, vergesst es. Bakterien, Viren oder Gifte haben in meinem Körper keine Chance. Mein Immunsystem ist härter als die Bullen beim Anblick eines illegalen jugendlichen Immigranten. Was nicht dazu gehört, verschwindet. So einfach ist das.

Das hatte ich von meiner Mutter. Nachdem ich in der dritten Klasse an einer Routineimpfung teilgenommen hatte, die durch die Schule organisiert worden war, hatte sie lange mit mir darüber geredet. Zuvor allerdings musste sie alles stehen und liegen lassen, um in die Schule zu kommen und mich abzuholen.

Bei dem Versuch, mir die Injektionsnadel rein zu jagen, war diese einfach abgebrochen. Als die fünfte Nadel das gleiche Schicksal ereilt hatte und die Schwester sich immer noch nicht bereit zeigte, die Sinnlosigkeit ihres Tuns einzusehen, meine Einwände stur ignorierte und entschlossen die sechste Kanüle aufsetzte, hatte ich zugegriffen und ihr das Handgelenk gebrochen.

Ja, gut, ich war eben stärker als Andere. Was konnte ich dafür? Als meine Mom erschien und der Lehrer sie zur Rede stellen wollte, war sie fuchsteufelswild geworden. „Sie wissen verdammt genau“, hatte sie die Schwester angefahren, „dass jeder medizinische Eingriff den Tatbestand der Körperverletzung erfüllt und dies allein durch die Einwilligung des Patienten aufgehoben wird. Ab dem ersten ‚Nein‘ meiner Tochter haben Sie sich strafbar gemacht. Seien Sie froh, dass sie verletzt sind. Sonst würde ich Ihnen jetzt noch was ganz Anderes brechen.“

Miene und Tonfall meiner Mutter hatten nicht den geringsten Zweifel gelassen, dass sie das Gesagte völlig ernst meinte.

„Und was Sie betrifft“, hatte sie sich an den Lehrer gewandt, „wollen wir uns jetzt über Ihre Vernachlässigung der Aufsichtspflicht unterhalten? Oder wollen wir Beihilfe und womöglich Anstiftung gleich mit hinzu nehmen? Mein Anwalt wird es lieben.“

Als wir das Gebäude verließen, hielt sie mir keine Standpauke. Stattdessen ging sie mit mir ein Eis essen und erklärte mir in aller Ruhe die Sache mit dem Immunsystem. Und als Krönung des Ganzen entschuldigte sie sich noch bei mir, dass ihr der Termin für die Impfung entfallen war, sonst hätte sie mich heute gar nicht erst in die Schule gehen lassen.

Schließlich hatten wir schon länger gewusst, dass meine Haut etwas widerstandsfähiger war, als die anderer Menschen, ganz zu schweigen von meiner Kraft.

Für meine Geduld, die Versuche der Schwester immerhin fünf mal über mich ergehen zu lassen, kriegte ich ein extra großes Eis. Meine Mom war schon was Besonderes.

Sie sah mir beim Essen zu, während ich spüren konnte, wie sie litt. Dad war nicht hier.

Natürlich habe ich mich mit dem Eis beeilt.

Ich wählte einen kurzen Faltenrock in den Farben unseres Clans. Ich mochte den Modern Dress der Macrae. Ein großes Schwarz-Weiß-Grau-Karo, das erst auf den zweiten Blick auch dünne Striche in Blau und Rot enthielt. Nach kurzem Suchen entschied ich mich für eine schlichte weiße Hemdbluse, deren Ärmel ich aufkrempelte. Meine Haare ließ ich einfach, wie sie waren.

Ich war nicht die Einzige, der meine langen, schwarzen Haare gefielen. Die Farbe hatte ich von meinem Dad, die Locken jedoch von meiner Mutter. Obwohl ich nicht exakt ihre Korkenzieherlocken geerbt hatte. Meine fielen in etwas weiteren Kreisen und Wellen. Ihre Länge dagegen verdankte ich ausschließlich meiner eigenen Geduld. Würden sie sich nicht immer wieder aufringeln, würden sie fast bis zur Mitte meiner Oberschenkel reichen.

Makeup schenkte ich mir. Erstens war es noch zu früh am Tage dafür und zweitens hatten sich meine dunklen Augen auch so schon oft als anziehend genug erwiesen.

Ich ging hinüber ins Wohnzimmer und aktivierte den CD-Spieler. Deep Purple. Nicht ganz meine Generation, aber wenigstens würde die Musik laut genug sein, um den Lärm zu kaschieren, den meine Eltern immer noch machten.

Ich schenkte mir eine Tasse Tee ein und wollte mich gerade auf den Balkon setzen, als es an der Wohnungstür klingelte.

Davor stand ein leicht krummbeiniger Mann von etwa dreißig Jahren, dessen kräftige Hände ein langes Paket hielten. Die kurzen Finger, die fast im Sekundentakt den Griff wechselten, als wollten sie ertasten, ob im Inneren des Pakets noch alles in Ordnung war, sagten mir, dass es sich wohl um etwas Wichtiges handelte.

Das „Hello“ war ihm wohl im Halse stecken geblieben. Mit leicht offen stehendem Mund ließ er seine Augen einen Moment lang über meinen Körper wandern. Als sie schließlich bei meinem Gesicht eintrafen, besann er sich und das Anzügliche verschwand aus seinem Ausdruck, um schlichter Freundlichkeit Platz zu machen.

Er stellte sich als Ernest Mac Kinsey vor, während sein Akzent mich dazu brachte, übergangslos ins Englische zu verfallen.

„Macrae of Kintail?“, fragte er zurück, nachdem ich meinen vollen Namen genannt hatte.

Ich lächelte: „Das kann ich beim besten Willen nicht beantworten; unsere Familie ist schon viel zu lange aus Schottland weg.“

Er nickte verstehend. In den 200 Jahren nach der Schlacht von Culloden 1746 waren infolge des darauf erlassenen „Act of Proscription“ – der das Tragen von Waffen sowie Besitz und Verwendung der überlieferten Tartanstoffe unter Strafe stellte, oder kurz: den Schotten fortan verbot, Schotten zu sein – gut zwei Drittel der Highlanders teils freiwillig emigriert, teils als Strafe für einen Verstoß gegen eben dieses Gesetz in die Kolonien verschleppt worden.

Bis heute war weltweit auf englischsprachig geführten Schiffen das gälische „Aye, aye, Sir“ als Bestätigung eines empfangenen Befehls üblich, in der US-Navy war es sogar Pflicht.

Während ich dem Gast – mit dem Verweis auf meine momentan beschäftigten Eltern – einen Platz auf unserem Balkon anbot, zusammen mit einer Tasse Tee, hörte ich die Stimme meiner Mutter in meinem Kopf.

Jetzt schaut nicht so erstaunt. Wir hatten eine geistige Direktverbindung. Immer schon. Meine Mom hat mir sogar erklärt, dass diese Verbindung bereits bestanden habe, als sie noch mit mir schwanger gewesen sei.

Dad und ich dagegen hatten die Unsere nach meiner Geburt erst aufbauen müssen. Wobei das nur halb richtig ist. „Aufbauen“ trifft es nicht so ganz.

Eine meiner frühesten Kindheitserinnerungen zeigt mir die Augen meines Vaters, der sich über mich gebeugt hatte. Vermutlich hielt er mich gerade zum ersten Mal auf dem Arm.

Ich bin mir sicher, dass dies der Moment war, in dem unsere Verbindung entstand. Es war, als würde die Wärme, die aus seinen Augen leuchtete, in meinem Inneren eine Tür öffnen. Ich weiß noch, als wäre es gerade erst passiert, dass er meinen Namen aussprach. Leise, nahezu ungläubig.

„Winonah.“

Das bedeutet „Die erstgeborene Tochter“ in der Sprache meines Vaters.

Und in diesem Augenblick kam all die Liebe, die er für mich empfand, zusammen mit seiner unbändigen Freude über meinen Anblick in einem gewaltigen Strom zu mir herüber und hüllte uns beide ein.

Noch heute habe ich dieses Gefühl manchmal, wenn er mich in den Arm nimmt.

Seitdem verstanden mein Dad und ich uns ohne Worte. Ihr werdet sicher keine Zweifel haben, wenn ich behaupte, ich sei immer eher ein Papakind gewesen. Das wäre ja auch völlig normal – schließlich geht es vielen Mädchen nicht anders.

Es stimmt aber trotzdem nicht. Mamakind war ich genauso.

Es handelte sich bei unserer Verbindung nicht um Telepathie oder dergleichen. Sonst wäre es einem von uns sicher möglich gewesen, auch jemand anderen auf diesem Wege zu erreichen oder zu empfangen. Das war jedoch nicht der Fall. Und versucht hatten wir es oft genug. Es war eher so, als sei ich ein Teil von ihnen und sie von mir.

Mom fragte mich nach dem Gast. Wer er war und was er wollte.

Ich übermittelte ihr einfach ein Bild von Mac Kinsey, wie er mit seinem Paket auf unserem Balkon saß und den ostfriesischen Tee nippte – woraufhin beide in ihr Ankleidezimmer huschten und sich ein paar Sachen überwarfen.

Der Gast staunte nicht schlecht, als meine Eltern erschienen. Und wenn ich ehrlich sein soll, konnte ich ihm das kaum verdenken.

Nicht nur, dass meine Mutter aus jeder Pore so viel Liebreiz und Zartheit ausschwitzte, dass man sie am ehesten für eine Fee halten würde. Auch nicht genug damit, dass mein Dad mit seinen stahlharten Muskeln und der halb indianischen Haartracht, die Mom für ihn kreiert hatte, aussah, als käme er geradewegs aus einer modernen „Lederstrumpf“-Geschichte.

Was Mac Kinsey am meisten verwirrt haben dürfte, war die Tatsache, dass meine Eltern offensichtlich kaum älter als drei oder höchstens fünf Jahre gewesen sein konnten, als ich zur Welt gekommen war.

Ich kann allerdings versichern, dass beide damals bereits erwachsen waren.

Gut gehalten? Tägliche Schönheitskuren und Liftings? Nichts davon. Sie alterten einfach nicht. Keine Ahnung, woran das lag.

Unser Gast fing sich schnell wieder. Es war ihm wohl eingefallen, wie unhöflich es war, die Leute einfach anzustarren.

„Was führt Sie zu uns?“, fragte mein Vater mit einem verbindlichen Lächeln.

„Ich bin heute gewissermaßen als mein eigener Bote unterwegs. Schließlich habe ich an diesem Schwert länger gearbeitet, als jemals zuvor an einem Anderen.“, erklärte Mac Kinsey. „Und da ich dieser Tage ohnehin in der Nähe zu Besuch bin, habe ich beschlossen, meine Arbeit persönlich abzuliefern.“

„Länger gearbeitet? Gab es Schwierigkeiten?“

„Das nicht. Aber ich hatte Sie so verstanden, dass diese Klingen nicht nur jedem Gefecht standhalten sollten, sie sollten darüber hinaus etwas Besonderes sein. Würdig, selbst das Ferrara-Signet zu tragen. Da war eine Damaszierung das Mindeste.“

Die Schwerter von Andrea Ferrara hatten im 18. Jahrhundert einen so guten Ruf unter den Highlandschotten besessen, dass viele von ihnen seine Signatur in ihre Klingen prägten, selbst wenn diese von jemand anderem gefertigt worden waren.

Eine Damaszierung dagegen, die beim Schmieden durch das Falten mehrerer Lagen verschiedener Stahlsorten entstand, war bei schottischen Breitschwertern eigentlich nicht üblich. Vor den berühmten Klingen aus Damaskus, denen das Verfahren seinen Namen verdankt, hatten lediglich die antiken Noricer, ein keltischer Stamm auf dem Gebiet des heutigen Österreich, ein Falt-Verfahren verwendet. So mancher römische Gladius hatte die typische Maserung besessen. Der Mix aus härten und weicheren Lagen machte die Klinge zugleich biegsamer und belastbarer.

Während der Erklärung des Schmiedes hatte mein Vater begonnen, mit bedächtigen Bewegungen das lange Paket aufzuschnüren.

Zum Vorschein kam ein Basket Hilted Broadsword, ein schottisches Breitschwert, zusammen mit einem Skean Dirk. Einen solchen „Dunklen Dolch“ pflegten die Hochländer einst, verdeckt durch das Plaid, unter der Achsel zu tragen, im Gegensatz zum „Schwarzen“ Skean Dubh, der relativ gut sichtbar im Strumpf steckte.

Beides diente bei Besuchen in befreundeten Häusern als Schutz – für den Fall, dass einer der Anwesenden dem Gast weniger freundlich gesonnen war. Während der offen getragene Dubh meist eher als Friedenszeichen diente, war der gut unterarmlange Dirk schon beinahe ein Kurzschwert. Im Kampf wurde er in der Linken gehalten, verdeckt durch den Rundschild.

„Ja“, nickte mein Dad, nachdem er die Waffen einer eingehenden Musterung unterzogen hatte, „diese Klingen sind einer ganz besonderen Kämpferin würdig.“

Jetzt hielt mein Vater mir die beiden Schwerter hin: „Alles Liebe zum Sechzehnten, Kleines.“

Ich schwöre, mir blieb einen Moment der Mund offen stehen.

2.

Kaum dass ich laufen konnte, hatte mein Vater mich die ersten Übungen gelehrt. Und dabei entdeckt, dass sowohl mein Körper wie auch mein Gehirn offensichtlich anders funktionierten als bei den meisten Menschen.

Hatte ich einmal etwas begriffen, beherrschte ich es fortan. Das galt sowohl für Fakten und Zusammenhänge, die ich aufnahm, wie ein Schwamm, als auch für physische Übungen und Bewegungsabläufe. Einmal Gelerntes vergaß ich niemals wieder.

Die Folge war, dass Lernen mir zwar Spaß machte, jedoch meist ein kurzes Vergnügen blieb.

Den Schulstoff – meine Eltern hatten sämtliche Schulbücher, die ich bis zum Abitur benötigen würde, en bloc eingekauft – hatte ich mit Ende der vierten Klasse komplett durchgearbeitet. Einschließlich aller sonstigen lehrplanrelevanten Bücher.

Der Rest war gähnende Langeweile. Mit den meisten Lehrern bestand inzwischen ein unausgesprochenes Abkommen, demzufolge sie mich nicht mit Fragen behelligten, wenn ich denn mal zum Unterricht erschien, und lediglich darauf achteten, dass ich die Termine jeweils anstehender Tests erfuhr. Als ob das nötig gewesen wäre.

Bei solchen Gelegenheiten kassierte ich dann meine übliche volle Punktzahl und saß den Rest der Zeit in meiner Ecke, hatte das Notebook vor mir, schrieb Kurzgeschichten oder Längere, las und surfte im Internet.

Das Karate-Training hatte ich mit acht abgeschlossen. Was bedeutete, dass mein Vater mich aus diesem Kurs heraus nahm.

„Warum lehre ich Dich zu kämpfen?“, hatte er mich gefragt.

„Damit ich mich im Zweifel meiner Haut wehren kann?“

„Richtig. Und dafür finde ich Karate doch nur sehr bedingt geeignet.“

Aus meinen eigenen Recherchen, die ich inzwischen gewohnheitsmäßig über alles und jeden anstellte, der mir begegnete, wusste ich bereits von der Meiji-Restauration von 1882. Kaiser Meiji Tenno hatte die japanische Samurai-Kaste aufgelöst und das Tragen der Schwerter in der Öffentlichkeit verboten.

In der Folge hatte sich auch das Bushido gewandelt. Der „Weg des Kriegers“ war zwar dem Namen nach erhalten geblieben, doch statt der Kunst des Krieges hatte sich das Kanryudo etabliert – die „Kunst der Schreibstube“ hatte die einstigen Kämpfer zu pflichtbesessenen Sachbearbeitern mit Ärmelschonern gemacht.

Aus den früheren Kampfübungen waren rein Sportliche geworden.

„Ich bin mir zwar sicher, dass Du bei Wettkämpfen gigantische Mengen von Goldmedaillen anhäufen würdest“, hatte Dad erklärt, „aber findest Du nicht, dass das angesichts Deiner Stärke den anderen Kämpfern gegenüber unfair wäre?

Mir persönlich ist es viel wichtiger, dass Du möglichst jeden Gegner ausschalten kannst, der versucht, Dich zu töten. Und da Solche auch mit unfairen Mitteln arbeiten, wäre es mir lieb, Dich darauf vorbereitet zu wissen.“

Das mochte ich an ihm schon immer ganz besonders. Er beschloss nicht einfach über mich, er setzte sich mit mir hin und besprach die Dinge mit mir, wie mit einem Gleichgestellten. Da fiel es auch nicht sehr ins Gewicht, dass am Ende doch meist alles so geschah, wie er es wollte.

Sich geeinigt zu haben, war eben etwas ganz anderes, als eine Anweisung erteilt zu bekommen. Ich war schon ziemlich privilegiert, was meine Eltern anging.

Zugegeben, möglicherweise hatte auch Dads Gewohnheit etwas damit zu tun, mich bei solchen Gesprächen in den Arm zu nehmen und sanft meinen Rücken zu streicheln, während er sprach.

Ich fürchte, es gab nicht viel, wovon mich mein Vater nicht hätte überzeugen können.

„Mich töten?“, fragte ich. „Wieso das denn?“

Darauf hatte er nur geseufzt und entgegnet: „Zum einen wirst Du feststellen, dass es immer wieder Männer gibt, denen es schwerfällt, die Grenze zu ziehen zwischen dem, was sie wollen und dem, was sie dürfen. Und dass der Anblick eines wirklich hübschen Mädchens wie Dir diese Grenze nicht sicherer macht.“

Ich musste an Mirko denken. Ein Junge aus meiner Klasse. Ein paar Wochen zuvor beim Schulfest hatte er sich mir von hinten genähert und mir eine Hand auf die Schulter gelegt.

Eigentlich wäre ich ja nicht abgeneigt gewesen, doch er hatte erst geschätzte zwanzig Liter Bier in sich hineinschütten müssen, um die nötige Courage zusammenzukratzen.

Nicht nur, dass jemand, der das nötig hatte, dann ebenso gut gleich weiter trinken konnte – für etwas anderes wäre er ohnehin nicht mehr zu gebrauchen – es führte auch zu einer gewaltigen Fahne, die er mir in seinem Versuch, Süßholz zu raspeln, förmlich um die Ohren haute.

Als er mein „Nein“ jedoch nicht akzeptierte, sondern stattdessen seine Hand von meiner Schulter in Richtung Ausschnitt schoss, um dort mehr als roh zuzugreifen, fuhr meine Ferse rückwärts nach oben und traf ihn an einer ziemlich empfindlichen Stelle.

Zugleich hatte ich seinen Arm gepackt. Eine schnelle Bewegung von mir ließ Mirko abheben und hart gegen die Wand krachen, wo er nach Luft schnappend liegen blieb.

Weder mein Kleid noch ich hatten Schaden genommen, seine Kinder jedoch würde er voraussichtlich adoptieren müssen.

„Deine Mom und ich“, fuhr Dad fort, „haben uns bei einigen Leuten mehr als unbeliebt gemacht. Und die sind durchaus gefährlich. Es täte mir wirklich leid, wenn Du das eines Tages ausbaden müsstest.“

So begann ich, Ninjutsu zu trainieren. Zugleich führte mein Dad mich in die Niten-Ichiryu ein, die Kunst des Kampfes mit zwei Schwertern, so wie sie von Miyamoto Musashi überliefert worden war. Da meine Eltern normalerweise keinen einzigen Schritt ohne einander taten, schloss Mom sich dem Training an und bereicherte es um das schottische Breitschwert plus Parierdolch. Die Waffen meiner Vorfahren.

Ich gehörte nämlich gleich zwei kriegerischen Stämmen an: Ich war Hochlandschottin vom Clan Macrae durch meine Mutter und Lakota-Sioux durch meinen Vater. Die einen hatten einst die Köpfe ihrer Feinde an die Mähnen ihrer Pferde gebunden, während die anderen dutzendweise Skalplocken an Pfählen vor dem Eingang ihrer Zelte ausstellten. Pazifisten sind rar gesät unter meinen Ahnen.

Dass ich, abgesehen von meinen Eltern, weder von den Einen noch von den Anderen je jemanden kennen gelernt hatte, tat dabei gar nichts zur Sache.

Das Ninja-Training bot nicht nur tausend Wege, einen Gegner zu töten, sondern vor allem, unerkannt zu verschwinden. Das schloss von Atemtechniken bis zu bestimmten Körperhaltungen ein komplettes Verhaltensprogramm ein, mit dem man sich in der Öffentlichkeit nahezu unsichtbar machen konnte.

„Wer Dich nicht wahrnimmt, kann Dich nicht angreifen.“ Dies war meinem Vater besonders wichtig. Wäre es mir wohl auch, wenn es um meine Tochter ginge.

Beim Schwert-Training arbeiteten wir mit hölzernen Bokuto. Auf meinen kindlichen Wunsch nach einem richtigen Schwert reagierte Dad mit dem Hinweis, Musashi selbst hätte die meisten seiner zahlreichen Kämpfe mit solchen Holzschwertern bestritten, die er eigenhändig zu schnitzen pflegte.

Das war mir bekannt. Blank gezogen hatte der Kensei eigentlich nur, wenn es gegen mehrere Gegner ging. Hinzu kam, dass ich durch das Ninjutsu bereits wusste, dass bei Bedarf jeder noch so harmlose Gegenstand als Waffe dienen konnte. Vom Teelöffel bis zum Kugelschreiber.

Wenn Euch also mal jemand mit einer Büroklammer bedroht: Lacht nicht. Lauft.

Ich hatte vor wenigen Tagen den letzten Meistergrad erworben, ohne die Frage nach einem Schwert je wieder gestellt zu haben.

Und jetzt stand ich hier und – hielt diese beiden Schwerter in der Hand. Immer noch sprachlos sah ich meine Eltern an.

„Ich habe Dir zwar mal gesagt, Du brauchst keine Schwerter“, brach mein Dad schließlich das Schweigen, „aber Tatsache ist, dass ich mich viel besser fühle, wenn Du sie hast. Allerdings muss ich darauf hinweisen, dass selbst die besten Klingen dazu neigen, zufällig gerade nicht zur Hand zu sein, wenn man sie wirklich mal braucht.“

Er selbst besaß eine Schiavona, die auf den ersten Blick genauso aussah, wie ein Breitschwert, jedoch venezianischer Herkunft war. Diese Waffe hatte er von Mom. Sie hatte einst ihrer Mutter gehört, hatten sie mir erklärt.

Mom dagegen hatte ihr Breitschwert von ihrem ersten Kampflehrer geerbt.

Schweigend umarmte ich meine beiden Altvorderen.

3.

Am Nachmittag waren wir mit Tina und Alex, den besten Freunden meiner Eltern, die zugleich Dads Partner im Dojo waren, zum Picknick verabredet. Und mit ihrem Sohn Paco, der wiederum mein bester Freund war, seit wir gemeinsam in den Windeln gelegen hatten. Kindergarten, den ersten Schultag, alles hatten wir gemeinsam überstanden.

Und vier Jahre zuvor war Paco derjenige gewesen, der mir bei der Entdeckung der körperlichen Freuden assistiert hatte.

Wir waren baden gewesen am Grunewaldsee. Das Gebüsch am Ufer ist voll von kleinen Nischen mit jeweils ein paar Metern Strand. Vormittags an Wochentagen hat man hier gute Chancen, ungestört zu sein. Auch wenn wir es eigentlich nicht direkt darauf angelegt hatten.

Wir lagen in der Sonne, alberten herum und gingen schließlich ins Wasser – wo mir auffiel, dass Paco mich mit einem Blick musterte, der mir an ihm neu war.

Ich hatte zum Schwimmen mein T-Shirt ausgezogen und trug nun nur noch das Bikini-Höschen. Paco, der ja immerhin ein Paar funktionierende Augen besaß, hatte bemerkt, dass meine Brüste zu wachsen begonnen hatten. Als er fragte, ob er sie mal anfassen dürfe, fiel mir nichts ein, was dagegen gesprochen hätte.

Sein bewunderndes Staunen gefiel mir und meinen Hügelchen ebenso wie sein sanftes Streicheln. Bald stellte sich heraus, dass es noch andere Stellen gab, die gern von ihm berührt wurden und als ich mich genießend gegen ihn lehnte, bemerkte ich eine böse Schwellung in seiner Badehose.

Als der Tag vorüber war, hatten wir beide einen neuen Lieblingszeitvertreib entdeckt, den wir seither mit Hingabe gepflegt haben – miteinander wie auch mit Anderen.

Als ich meiner Mutter davon erzählte, ging sie mit mir zu einem Gynäkologen, um mir die Pille verschreiben zu lassen, während mein armer Vater ergeben im Wartezimmer ausharrte, geduldig die Blicke der anderen Patientinnen ertragend.

Nur um das klarzustellen: Ich hasse Frauenärzte. Ihre offensichtlich eisgekühlten Werkzeuge ebenso, wie die rohe Gefühllosigkeit, mit der sie sie benutzen. Aber was nimmt frau nicht alles auf sich, nur damit die Ypsilon-Chromosomenträger ihren Daseinszweck erfüllen können?

Nachdem ich inzwischen mehrere Mitglieder der gynäkologischen Zunft ausprobiert habe, neige ich dazu, ihre weiblichen Vertreter zu bevorzugen. Nicht allein, dass Männer noch mehr rohe Kraft in den Fingern haben. Ich fühle mich schlicht beleidigt, wenn ein Mann mich mit dieser kühlen Professionalität ansieht – ohne zu bemerken, dass ich eine Frau bin. Und würde er es bemerken, ginge ich erst recht nicht mehr hin.

Ein Dilemma – aber zum Glück nicht meines.

Paco und seine Eltern waren gut eine Woche zuvor von einem langen Urlaub in Südafrika zurückgekommen. Sie würden in der Hasenheide zu uns stoßen.

Auch wenn ihre endlosen Urlaubsberichte von Tafelbergen, Elefanten und schrecklich faszinierenden Safaris nicht ganz meiner Vorstellung von einem lustigen Nachmittag entsprachen, freute ich mich doch, die Drei wieder zu sehen. Immerhin bestand eine gewisse Chance, dass es irgendwann wieder möglich sein würde, auch noch über andere Dinge mit ihnen zu sprechen.

Als Tina und Alex schließlich auftauchten, war Paco nicht dabei. Auf meine Nachfrage grinste Tina bloß und meinte, er werde wohl gleich kommen: „Dein Geburtstagsgeschenk macht ein paar Schwierigkeiten.“

Bevor ich weitere Fragen stellen konnte, hörte ich hinter mir meinen Namen. Paco rief nach mir. Ich drehte mich um, doch er war nirgends zu sehen.

Langsam ging ich um das Gebüsch herum, neben dem wir uns niedergelassen hatten, und da war er – mit dem Rücken zu mir. Als ich ihn an der Schulter berührte, drehte er sich um und drückte mir ein warmes, weiches Etwas in den Arm.

„Oh“, sagte ich nur.

Paco würde zwar immer einen Platz in meinem Herzen haben, aber eben nicht mehr als diesen. Im Gegensatz dazu brauchte der kleine Kerl, den ich nun überrascht im Arm hielt, nur einen einzigen Blick, um mich auf der Stelle vollständig und für alle Zeit zu erobern.

Dem Vernehmen nach sollte es ja Menschen geben, die an den Augen eines Hundekindes achtlos vorübergehen konnen. Aber wozu waren die überhaupt auf der Welt?

Ich werde Euch meine weiteren Gesprächsbeiträge dieses Nachmittags ersparen, weil sie in geschriebener Form nicht viel Sinn ergeben würden. Aber ich schwöre, der Kleine verstand jeden einzelnen Laut, den ich von mir gab.

Dass die Zweibeiner in der Runde mich dann und wann etwas schief ansahen, störte ihn so wenig wie mich. „Aminifu“ war sein Name. „Ah“, sagte ich, „‚mini‘ ist ja klar, aber ‚Fu‘?“

Paco grinste mich an: „Es bedeutet ‚treu‘ auf kiSwahili.“

Um ganz genau zu sein, neigte der kleine Mini-Fu im Moment eindeutig dazu, einfach jeden treuherzig anzuschauen, der irgend etwas Essbares in der Hand hielt.

Kurzerhand griff ich mir den kleinen Schlawiner und beschäftigte seine Kauwerkzeuge mit den Erträgen einer raschen Kollekte unter den anwesenden Tellern.

„Mini“ würde der Kleine jedenfalls nicht lange bleiben. „Nach seinen Eltern zu urteilen“, berichtete Paco mir, „wird der Zwerg hoch genug, um jedem anderen Hund auf den Kopf zu spucken,

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Tag der Veröffentlichung: 26.07.2010
ISBN: 978-3-7309-9561-7

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