Es war spät. Viel zu spät eigentlich. Es musste bereits Stunden her sein, dass er die Außenbeleuchtung abgeschaltet und die Vordertür für heute geschlossen hatte.
Im Gegensatz zu anderen Tagen kam ihm heute jedoch das Wort „Feierabend“ gar nicht in den Sinn. Der Grund dafür stand auf der Tatami im hinteren Teil des großen Übungsraumes und arbeitete konzentriert die Reihe der Kata ab.
Am späten Nachmittag war sie im Dojo erschienen. Das Angebot, sich dem Training der anderen Schüler anzuschließen, hatte sie kurzerhand abgelehnt und auf ihren Meistergrad verwiesen. Sie hatte nichts weiter gewollt, als einen Platz, um in Ruhe ihre eigenen Übungen zu absolvieren.
Meistergrad? Den hatte er Ihr beim besten Willen nicht zugetraut. Die Kleine sah mit Müh und Not wie achtzehn aus. Mit sehr viel gutem Willen konnte man ihr möglicherweise auch die 20 abkaufen. Autofahren, okay. Aber in einer Bar einen Drink bestellen? Nicht ohne Rückfragen, Erklärungen und Ausweiskontrolle, überlegte er.
Den Gi, ihren weißen Kampfanzug, hatte sie offensichtlich gerade erst gekauft. An den Hosenbeinen waren noch die typischen Knitterfalten zu sehen, die die Originalverpackung hinterlassen hatte. Auf den farbigen Gürtel, der ihrem Rang entsprochen hätte, hatte sie verzichtet.
Ganz in weiß stand sie nun seit Stunden auf der Matte und führte in selbstvergessener Konzentration ihre Übungen aus.
Eigentlich wäre es längst Zeit gewesen, hinüber zu gehen und sie auf den Ladenschluss aufmerksam zu machen. Aber wozu? Zuhause erwartete ihn lediglich ein stupides Fernsehprogramm, während ihm hier nach langer Zeit einmal wieder Kampfkunst in höchster Vollendung geboten wurde.
Oh ja, diese junge Frau war ein Meister, das hatte er schon nach wenigen Minuten bemerkt. Er selbst hatte es bisher zum zehnten Dan im Shotokan Karate gebracht, beherrschte darüber hinaus das Katana und das Kyudo, die Kunst des Bogenschießens.
Zudem war er einer von ganz wenigen Nicht-Japanern, die in die Geheimnisse der Ninja eingeweiht waren. Shinobi, „Unsichtbare“, wie sie sich selbst nannten, waren für manchen feudalen Feldherren im alten Japan die ultima ratio gewesen.
Er war wahrlich kein Neuling in der Kunst des Krieges. Doch hier und jetzt kam er sich definitiv wie einer vor. Viele der Übungen, die die Kämpferin auf der Tatami zeigte, hatte er noch nie gesehen. Seit Stunden kämpfte sie gegen eine schier unendliche Schar von imaginären Gegnern. Gleichbleibend kraftvoll, schnell, präzise. Ohne sich zu wiederholen, ohne ins Schwitzen zu geraten, ruhig, gelassen, selbstvergessen.
Nein, er würde sie nicht stören, auf keinen Fall.
Nachdem er die Vordertür abgeschlossen hatte, war er einfach stehen geblieben, wo er war, am Rand der vorderen Tatami.
Er setzte sich auf die Matte, versenkte sich in eine leichte Trance, um seinen Geist aufnahmefähiger zu machen, und sah ihr zu. Er studierte ihre Bewegungen, merkte sich so viel wie möglich und ließ die Zeit vergehen.
Einen flüchtigen Augenblick lang fragte er sich, wie es möglich war, dass ein so junger Mensch ein solches Maß an Perfektion erreichen konnte. Doch dieser Moment ging schnell vorüber.
Ebenso der Moment, den er brauchte, um die Schönheit seines späten Gastes zu würdigen. Die war ihm schon aufgefallen, als sie im Dojo aufgekreuzt war in ihrem kurzen, geblümten Sommerkleid, der abgewetzten Lederjacke und einem Paar Boots an den Füßen, die zu der zierlichen Figur gar nicht recht passen wollten.
Aber das galt auch für die harten Schläge und Tritte, die sie seit Stunden an imaginäre Gegner verteilte – und das scheinbar, ohne zu ermüden.
Er bewunderte die schlichte Effektivität ihrer Bewegungen. Nichts davon war Show, es gab nur Deckung, Angriff und wieder Deckung. Bei ihr war nichts „gekampfkünstelt“. Diese Frau war eindeutig gefährlich. In mehr als einer Hinsicht.
Längst war ihm klar, er würde niemals ernsthaft gegen sie kämpfen wollen. Schon aus Gründen des Selbstschutzes.
Sicher, er hatte in seinem Leben eine Menge Gegner bezwungen. Mit und ohne Waffen. Und einige davon wären ihm unter anderen Umständen sicherlich überlegen gewesen.
Glück, Zufall und seine Fähigkeit, mit dem nächtlichen Schatten zu verschmelzen, waren ihm oft zugute gekommen.
Zumindest eines hatte ihm seine langjährige Kampferfahrung eingebracht: Er erkannte Überlegenheit, wenn er sie sah. Und das war hier eindeutig der Fall. Mochte sie auch noch so irritierend jung sein.
Ihr feuerrotes Haar trug sie beim Üben in einem Zopf, der ihr bis zur Hüfte reichte – und durchaus als Waffe in ihre Kampfübungen einbezogen wurde.
Als sie hereingekommen war, hatte sie es noch ungebändigt offen getragen. Wie eine Flamme hatte es sie umweht.
Ihre Augen waren halb geschlossen. Sie musste nicht sehen, was ihre Arme und Beine taten. Das war etwas für Anfänger.
Sie kämpfte.
Die entfesselte Kraft eines Taifun, gepaart mit der Präzision eines Laserstrahls.
Er sah zu und lernte.
Die Stunden vergingen.
Irgendwann beendete sie ihre Übungen und ließ sich in der Mitte ihrer Tatami nieder, um in der Stille der Meditation das Training ausklingen zu lassen.
Das konnte er spüren, dazu hätte es keines Blickes bedurft. Eine tiefe Ruhe breitete sich aus und schien für einen Moment jenen stetigen Kraftstrom zu überlagern, der alles Lebende umgab.
Diese Kraft war ihm vertraut. Er hatte sie häufig genutzt. Vor langer Zeit. In einem anderen Leben.
Er erinnerte sich an damals, als er – ein junger Lieutenant, geradewegs aus Quantico gekommen – in Japan eingesetzt wurde.
Ein Mann in Zivil hatte ihn eines Tages in der Ausbildungseinheit aufgesucht und beiseite genommen. Er hatte ihm mitgeteilt, dass er aufgrund seiner Ausbildungsergebnisse für eine neu aufzustellende geheime Kommandotruppe in Fernost in Frage komme.
Und der Junge, der er gewesen war, hatte angesichts dieser Chance, fürs Vaterland zu sterben, sofort freudig zugesagt. Ohne Zögern.
In Japan wurden er und die Fünf, die aus verschiedenen Truppenteilen alle für den selben Zweck rekrutiert worden waren, in ein winziges Dorf verfrachtet, irgendwo weit weg von allem anderen.
Eigentlich bestand das Dorf nur aus einem einzigen Anwesen. Rings umher gab es nichts als Berge und Wald. Dort, mitten im Nirgendwo, wurden die sechs Frischlinge einem Mann vorgestellt, der von nun an ihr Ausbilder sein sollte.
Ausbildungsdauer: unbekannt.
Ziel der Ausbildung: das Erlernen der Kampfkunst der japanischen Ninja.
Prognose: 50 Prozent Fluktuation.
Mindestens drei von ihnen würden die Ausbildung nicht schaffen, das war von vornherein klar gewesen. Am Ende war er als einziger übrig geblieben.
Die übrigen Fünf waren wohl einfach zu sehr Menschen des 20. Jahrhunderts gewesen, hatten sich zu sehr auf ihre Augen und Ohren verlassen.
Mit dieser Sichtweise hatten sie zwar die vordergründigen Kampftechniken erlernen können, alles tiefer Gehende war ihnen jedoch verschlossen geblieben.
Bei ihm war das anders.
Er hatte schon als kleines Kind am Zeltfeuer seiner Großmutter Unchidah die alten Geschichten aus den Tagen der Vorväter seines Stammes in sich aufgenommen.
Er hatte den Geistern der Prärie gelauscht und war im Wind mit ihnen um die Wette geritten.
Großmutter Unchidah war eine berühmte Frau gewesen unter seinem Volk.
Eine der allzu Wenigen, die das Wissen und die Kultur der Vorfahren bewahrt hatten. So waren schließlich die Worte des Ninja-Sensei im fernen Japan bei ihm auf fruchtbaren Boden gefallen.
Als der Meister ihn in das seit Generationen gehütete Wissen des Kuji-Kiri einführte, war ihm vieles davon bereits vertraut, er nahm das Erlernte gleichsam als eine Erweiterung dessen, was er über sich und seine Welt schon gewusst – und bisher vor Kameraden und Vorgesetzten sorgfältig geheim gehalten hatte.
Natürlich war ihnen seine Herkunft nicht verborgen geblieben. Und natürlich hatte sich immer wieder mal einer gefunden, der noch einen längst veralteten Rothaut-Witz auf Lager hatte – und war damit an ihm abgeprallt.
Wer ihm hatte gegenübertreten wollen, musste angesichts der stahlharten Kälte, die er ausstrahlen konnte, schon eine besonders zähe Pointe bringen, um die Lacher auf seiner Seite zu haben.
Während seiner Offiziersausbildung schließlich, schon im Rang eines Ensign, hatte er diese Witzbolde ein für alle mal ruhig gestellt.
So ein blonder Knilch aus dem Mittelwesten hatte in der Messe irgendwas von Angst um seinen Skalp gefaselt, da war er hinübergegangen und hatte sich vor ihm aufgebaut.
„Weiß Du, wie meine Jungs da drüben mich nennen?“, hatte er gefragt.
„Ja.“
„Und?“
„Papa Bear.“
„Richtig. Und jetzt frag Dich doch mal, Goldlöckchen“, damit hatte er sich zu ihm herunter gebeugt und ihm in die Augen geschaut. „Hast Du wirklich die Absicht, von meinem Tellerchen zu essen?“
Zutiefst verunsichert, hatte der Blonde sich ohne ein weiteres Wort seinem Teller zugewandt.
Und hatte keinen Bissen herunter bringen können.
Niemand hatte je wieder solche Witze gemacht.
Schon früh hatte er gemerkt, dass er diese merkwürdige Kraft besaß.
Dass er andere beeinflussen konnte, wenn er ihnen in die Augen sah.
Seiner Großmutter war das ebenso wenig entgangen, wie später dem Ninja-Sensei.
Beide hatten an diesem Punkt angesetzt und ihn vieles gelehrt.
Die Augen waren ihm übergegangen, als er erkannt hatte, dass diese Kraft auch passiv genutzt werden konnte, dass sie nicht nur in ihm, sondern in alle lebenden Wesen vorhanden war.
So hatte Großmutter Unchidah ihn gelehrt, das Leben um sich her in Gänze wahrzunehmen – jenseits dessen, was seine dreidimensionalen Sinne wie Gehör und Sehsinn ihm übermittelten.
Der Shinobi schließlich hatte ihm gezeigt, wie er dieses atmende Gespinst, den Schatten, wie er es genannt hatte, tatsächlich betreten konnte.
Die Möglichkeiten, die sich daraus ergaben, hatten sich schon oft als hilfreich erwiesen. So konnte er nun die Anwesenheit der jungen Frau auf der anderen Seite des Raumes geradezu plastisch spüren.
Er nahm die Ruhe wahr, die sich wie ein leichtes Fließen von ihr her kommend, durch den Raum ausbreitete. Und dahinter: ihre Kraft – ein pulsierender Kern.
Hart, zäh, scheinbar unüberwindlich.
Sein Gegenüber war nun aufgestanden.
Leichten Schrittes kam sie zu ihm herüber. Sie blieb vor ihm stehen und sah ihn an. „Danke“, sagte sie nur. Sie meinte den mehr als überzogenen Ladenschluss. Er hielt den Blick auf sie gerichtet und verbeugte sich. Im Sitzen, die Rechte vor sich auf den Boden legend: „Ich fühle mich geehrt.“
Die rituelle Verbeugung schien ihm die natürlichste Art, Dank zu sagen für die Möglichkeit, ihr zuzusehen, von ihr zu lernen.
Ihre Augen hätten eigentlich kalt erscheinen müssen durch das ungewöhnlich helle Blau ihrer Iris. Doch das Gegenteil war der Fall; einzelne goldene Einsprengsel verliehen ihnen einen warmen Schimmer. Desto mehr, als jetzt ein Lächeln darin aufflammte.
Es galt ihm und er erwiderte es.
Mit einem leichten Kopfnicken wandte sie sich ab und bewegte sich in Richtung der Dusch- und Umkleideräume. Er nutzte die Zeit, um die Vordertür wieder aufzuschließen.
Er würde sie hinaus lassen müssen, wenn sie fertig war.
Nur wenig später stand sie wieder vor ihm.
In dem leichten Kleid und den schweren Lederstiefeln, an die er sich vom Nachmittag erinnerte.
„Nochmals danke“, sagte sie.
Er lächelte: „Ich habe zu danken. Ich habe heute Abend viel gelernt. Solche Gelegenheiten sind rar geworden in den letzten Jahren.“
„Das gehört wohl zum Job, wenn man vom Schüler zum Lehrer wird, hm?“
Was war das? Wieso war ihr Fuß gerade dabei, einen Schritt zu ihm hin zu tun?
Hoffentlich hatte er nichts gemerkt.
„Darf ich etwas fragen?“
Puh, seine Augen waren ganz auf ihre fixiert.
„Natürlich“, entgegnete sie.
„Ich hatte nicht den Eindruck, als wäre das heute wirklich ein Training für sie gewesen. Ich hatte eher das Gefühl, einer Zeremonie beizuwohnen. Darf ich nach dem Anlass fragen?“
Sie schluckte. Sollte sie ihm sagen, dass sie ihn hatte sehen wollen? Dass sie allein seinetwegen seit Tagen ihren eigenen Empfindungen nicht mehr traute?
Tage zuvor war er ihr aufgefallen, als sie gegenüber im Café gesessen hatte. Sie hatte ihn angestarrt wie eine Erscheinung. Sollte sie ihn fragen, was sie so durcheinander brachte? Kurz wog sie ab, was sich daraus an Folgen ergeben mochte. Sie seufzte.
Nein, zu gefährlich.
Dann schon lieber die andere Wahrheit: „Es war, um meinen alten Lehrer zu ehren. Jedes Jahr an seinem Todestag suche ich mir einen geeigneten Platz und exerziere alles durch, was ich gelernt habe.“
Er neigte den Kopf und ließ einen Moment vergehen: „Darf ich fragen, wer er war?“
„S'ean Angus MacDonald war königlicher Waffenmeister. Er hat mich den Umgang mit dem Claymore und dem schottischen Breitschwert gelehrt. Er hat sozusagen den Grundstein für meine Kampfausbildung gelegt.“
„Ich bin beeindruckt.“
Was war nur mit ihr los? Wenn das so weiterging, würde sie ihm bald auch die Dinge erzählen, die nun wirklich besser unerwähnt blieben.
Und woher um alles in der Welt kam dieser merkwürdige Drang, ihn anzufassen?
„Werden Sie wiederkommen?“
Das Leuchten ihrer Augen wurde stumpf, als sich ein Schleier aus Bedauern darüber legte: „Wenn das allein in meiner Hand läge, würde die Antwort sicher ‚ja‘ lauten. Aber so – wer weiß das schon?“
„Nun, wenn Sie wieder mal einen Platz zum Üben brauchen, wissen Sie ja nun, wo Sie den finden können. Ich würde mich wirklich freuen, Sie wieder zu sehen. Und sei es auch erst im nächsten Jahr.“ Da war es wieder, das Leuchten, das ihre Augen so einzigartig machte.
Die zierliche Kriegerin legte ihm sacht eine Hand auf den Arm und hauchte ihm einen Kuss auf die Wange, bevor sie an ihm vorbei in die Nacht hinaus wehte; ein fröhlicher Farbfleck, umgeben von nächtlichen Schatten.
Als sie um die Ecke bog und aus seinem Blickfeld verschwand, ging er hinein und verschloss die Tür des Dojo für heute.
Nachdem er in dem großen Übungsraum alle Lichter gelöscht hatte, wollte er sich eigentlich nur noch umziehen und nach Hause. Doch daraus wurde nichts.
Kampfgeräusche.
Draußen in der Gasse vor dem großen Fenster.
Nicht übermäßig laut, aber unverkennbar.
Das Splittern von Autofenstern, das Rumpeln umgeworfener Müllcontainer und das charakteristische Klatschen von Schlägen, die in schneller Folge fielen.
Ein rascher Blick aus dem Fenster zeigte ihm die fremde Kriegerin, die er eben noch vor der Tür seines Dojo verabschiedet hatte.
Und sie steckte in Schwierigkeiten.
Soeben erhob sie sich aus einem Schutthaufen, der vor kurzem noch ein Auto gewesen war. Und ging wieder zum Angriff über.
Ihre Chancen standen bestenfalls ungünstig. Sie blutete bereits aus zahlreichen Wunden und stand erkennbar wacklig auf den Beinen.
Ohne weiter nachzudenken, streckte er seine Hände nach der Seite aus, wo sein Daisho, das Paar aus langem und kurzem Schwert, auf einem Ständer ruhte und riss die Klingen aus ihren Saya.
Die Bewegung war so schnell und kraftvoll, dass die Bänder der Versiegelung sofort nachgaben.
Die Saya, die Schwertscheiden, blieben dagegen unbewegt an Ort und Stelle.
Ihm war klar, dass er ein uraltes Gelübde brach, indem er diese Waffen blank zog. Vor Jahrhunderten war das Daisho versiegelt worden, um den bösen Kami zu bannen, der darin wohnte.
Als er diese Schwerter einst entgegen genommen hatte, war damit vor allem die Verpflichtung, das Siegel zu hüten, auf ihn übergegangen.
Und nun war er selbst derjenige, der es brach.
Für einen Sekundenbruchteil meinte er das Lachen des Kami zu vernehmen.
Vorfreude auf den Geschmack von Blut.
Er sprang.
Mit einer kleinen Bewegung, im Flug aus dem Handgelenk ausgeführt, zerschmetterten die Klingen die Fensterscheibe vor ihm.
Noch während er den einsetzenden Wirbel aus Glassplittern passierte, betrat er den Schatten.
Und verschwand.
Verflucht, was war das?
Beinahe hätte der Angreifer den gelungenen Treffer doch noch verpatzt, als sich über ihm eine Fensterscheibe ohne erkennbaren Grund in eine Fontäne aus gläsernen Splittern verwandelte, die sich über ihn ergoss.
Er konnte jetzt keine Ablenkung gebrauchen. Seine Gegnerin war nicht zu unterschätzen.
Allerdings würde der letzte Treffer sie wohl für einen Moment außer Gefecht setzen. Er hatte gespürt, wie seine Klauenhand durch ihre Bauchdecke gedrungen war, wie die Wucht des Schlages sie einige Meter entfernt in eine Ecke geschleudert hatte, in der sie noch lag.
Er konnte es also durchaus riskieren, sich einen Wimpernschlag lang diesem merkwürdigen Fenster zuzuwenden. Da die Splitter nach außen geflogen waren, hätte ihnen eigentlich irgend etwas folgen müssen, die Ursache für das gebrochene Glas.
Aber nichts.
Auch im Inneren des dunklen Loches, das eben noch ein Fenster gewesen war, konnte er nichts als die Leere des Gebäudes wahrnehmen.
Dass der Schatten sich neben ihm kaum merklich verdichtete, erkannte er zu spät.
Die Nervenverbindungen seines Armes hatten den Angriffsbefehl des Gehirns noch nicht vollständig übermittelt, da sah er aus der Tiefe des Nichts zwei Linien von gleißender Helligkeit auf einander zu rasen.
Als sie einander passierten, war sein Körper genau dazwischen. Einen kurzen Augenblick lang stand er noch da, die Augen ungläubig geweitet, bevor er zu Boden fiel, in drei gleich große Teile zerschnitten. Und dann erkannten seine brechenden Augen, wer da, den Klingen folgend, aus dem Schatten trat.
Er, der Alte und Mächtige, zur Strecke gebracht von einem Sterblichen?
Er hätte sich wohl auch noch gefragt, wie es möglich war, dass ein Sterblicher zum Schatten werden konnte, doch da war von ihm bereits nur noch Staub übrig, den der Wind davon wehte.
Unter schmerzlichem Stöhnen öffnete sie die Augen.
Er war sofort bei ihr.
Mit einem Blick erfasste er die Schwere ihrer Verletzung.
Solche Wunden hatte er schon gesehen.
In der Schlacht.
Verursacht durch Granaten oder Minen.
Ihr Bauch war unterhalb des Brustbeins großflächig aufgerissen.
Zweifellos waren innere Organe verletzt.
Dass keine Darmschlingen aus der Wunde getreten waren, war reiner Zufall.
Er selbst konnte angesichts dieser Verletzung nichts für Sie tun, als sie mit der rasch abgestreiften Jacke seines Gi abzudecken.
Jetzt musste schnellstens ein Notarzt her.
„Hör zu“, sprach er sie an, „Du brauchst einen Arzt. Oben im Dojo liegt mein Funktelefon. Ich hole es und bin sofort wieder da. Bitte halt so lange durch, ja?“
„Nein“, entgegnete sie mit Bestimmtheit, ihn am Handgelenk festhaltend. „Kein Arzt. Der würde nur merken, was ich bin und dann wäre der Ärger erst richtig groß.“
Er hatte nur die Hälfte verstanden, so leise hatte sie gesprochen.
„Also, ich glaub, ich komme gerade nicht mehr so ganz mit. Du wirst sterben, wenn Du keine Hilfe bekommst, ist Dir das klar?“
„Ein Arzt könnte mir nicht helfen, glaub mir.“
Ihre Stimme war kaum mehr zu hören. „Und im übrigen habe ich lange genug gelebt, da kannst Du beruhigt sein. Abgesehen davon gibt es für mich im Moment nur noch eine Chance. Und diese Chance bist Du.“
Er? Wie das? Er hatte zwar eine fundierte Sanitätsausbildung genossen, dennoch hätte er ihre Wunde allenfalls verbinden können.
Und beten – auf diese oder jene Weise.
„Was mir jetzt noch helfen könnte“, erklärte sie leise, „das wäre Dein Blut. Allerdings bin ich im Moment kaum in der Lage, mir zu holen, was ich brauche. Ich bin ganz auf Dich angewiesen – und dass es gefährlich sein könnte, ahnst Du wohl schon, oder?“
Seine Reaktion überraschte sie.
Da war keine Angst in seinen Augen, keine Abscheu, wie sie wohl zu erwarten gewesen wären.
Er sagte kein Wort.
Er langte nach dem Shoto, dem Kurzschwert, das er nach dem Kampf neben sich abgelegt hatte, und setzte die scharfe Klinge an sein Handgelenk.
„Nicht“, unterbrach sie ihn und legte ihre Hand auf seine. „Komm einfach etwas näher.“
Sie wollte die Arme heben, um ihn in die richtige Position zu dirigieren, doch das war ihr mit der schweren Bauchverletzung im Moment unmöglich.
Immerhin schaffte sie es, ihn mit den Fingerspitzen an den Seiten seines Oberkörpers sanft zu sich zu ziehen, so dass sie schließlich ihr Gesicht in seiner Halsbeuge bergen konnte.
Sie hielt einen Moment inne, während er ihr den Arm um die Schultern legte, um sie zu stützen.
Dass er nebenbei mit der freien Hand den allzu weit hochgerutschten Saum ihres kurzen Kleides wieder nach unten zog, entlockte ihr ein leises Lächeln.
Noch einen Augenblick blieb sie an ihn gelehnt, sammelte ihre verbliebene Kraft und ließ den Duft seiner Haut auf sich wirken.
Langsam stiegen die Erinnerungen in ihrem Geist auf.
Es war lange her, dass sie zum letzten Mal menschliches Blut getrunken hatte.
Sie konzentrierte sich so gut ihr das im Moment noch möglich war.
Sie war entschlossen, trotz der augenblicklichen Dringlichkeit ihres Bedürfnisses nach dem roten Pulsieren unter seiner Haut so sacht wie möglich vorzugehen.
Unter keinen Umständen würde sie ihm über die Entnahme seines Blutes hinaus Schmerzen zufügen.
Schließlich biss sie zu.
Er spürte einen kurzen, scharfen Schmerz, der sich fast sofort in ein kribbelndes Ziehen verwandelte, das immer stärker wurde und schließlich von seinem ganzen Körper Besitz ergriff.
Das unerwartet intensive Gefühl entlockte ihm nicht nur ein überraschtes Keuchen. Es führte auch zu einer spürbaren Verhärtung in seinen Lenden.
Doppelt peinlich: Unter der weiten Hose seines Gi war die Erektion bestimmt gut zu sehen.
Sie war schwer verletzt, kämpfte um ihr Leben und er hockte hier neben ihr mit einem Steifen.
Doch das Entsetzen über sich selbst wich aus seinem Geist, als seine Gedanken langsam verschwammen.
Als sie schließlich ihre Zähne aus seinem Fleisch löste, hatte sich eine wohlige Müdigkeit seiner bemächtigt.
Bereits selig schlummernd, sank er über ihr zusammen, während sie schwer atmend unter ihm lag.
Der Heilungsprozess hatte sofort eingesetzt und würde in wenigen Augenblicken abgeschlossen sein.
Mit zwei leichten Küssen schloss sie die Wunden, die ihre Fangzähne am Hals des Mannes über ihr verursacht hatten.
„Danke“, flüsterte sie.
Er rührte sich nicht.
Er war bewusstlos?
Mit angstvoll geweiteten Augen schreckte sie hoch.
Als sie sich energisch aufsetzte, rollte er herum, wie ein nasser Sack.
Nun war sie es, die ihn in ihren Armen hielt und stützte.
Sie schüttelte ihn, versetzte ihm zuerst leichte Ohrfeigen, dann Stärkere, und redete auf ihn ein: „Wach auf. Komm zu Dir. Bitte komm zu mir zurück. Verdammt, Du kannst mir doch nicht erst das Leben retten und dann einfach wegsterben.“
Als seine Lider leicht zitterten, hielt sie inne. Als er benommen die Augen öffnete, atmete sie hörbar aus.
„Kannst Du mich hören?“
Sein Nicken blieb auf seine trüb blickenden Augen beschränkt.
„Hör zu. Ich habe einen schrecklichen Fehler gemacht. Ich bin einfach nicht gut darin. Ich habe Dir zu viel abgenommen. Dieses Zuviel musst Du sofort wieder bekommen, sonst stirbst Du.“
Aufmerksam sah sie in seine Augen. Wieder fehlten die erwarteten Anzeichen von Angst oder Abscheu. Ganz ruhig lag er in ihrem Arm und sah sie an.
„Bereit?“ Die Antwort war das gleiche kaum wahrnehmbare Nicken wie vorhin.
Doch wie nun weiter?
Selbst wenn er in seiner augenblicklichen Position ihren Hals hätte erreichen können, so würde ihm ein Biss ohne Fangzähne nichts genützt haben.
Das war zum Glück auch nicht nötig.
Da er nur eine kleine Menge Blut von ihr brauchte, war es nicht erforderlich, eine Arterie zu öffnen.
Eine Vene würde vollauf genügen.
Es musste nicht einmal eine Große sein.
Sie gab ihm einfach den Teil ihres Körpers, der seinem Kopf im Moment am nächsten lag.
Mit der freien linken Hand streifte sie den Träger des zerfetzten Kleides von ihrer Schulter und fügte sich mit dem Daumennagel einen Schnitt an ihrer Brust zu, die sie ihm mit einer leichten Bewegung in den Mund schob.
So hielt sie ihn, als würde sie ein Kind stillen.
Doch nichts in ihrem vielhundertjährigen Leben hatte sie vorbereiten können auf die Empfindungen, die über ihr zusammenschlugen, als er seine Lippen um ihre Brust schloss und zu saugen begann.
Niemals zuvor in all den Jahrhunderten hatte ein männliches Wesen sie auf diese Weise berührt.
Etliche hatten es versucht.
Und hatten verloren.
Von Gesicht und Ego bis zu einer langen Reihe von Körperteilen reichte die Palette der Verluste.
Doch dies hier war völlig anders.
Dieser Mann lag nicht an ihrer Brust, um sich an ihr zu vergnügen.
Sie spürte seine Zunge auf ihrer empfindlichen Haut, weil sein Leben davon abhing.
Es lag buchstäblich in ihrer Hand.
Dies und das unbedingte Vertrauen, das aus seinen Augen sprach, steigerte das bislang unbekannte Gefühl in ihr ins Unermessliche.
Zunächst breitete sich das kribbelnde Ziehen, das von den saugenden Lippen des Mannes ausgelöst wurde, von der Spitze ihrer Brust auf die andere Seite ihres Körper aus, wo der Zwilling ihrer zarten Wölbung noch unerweckt unter dem Stoff ihres Kleides schlummerte.
Und dann, als das Schlagen ihres Herzens den Rhythmus der Saugbewegungen der fremden Lippen angenommen hatte, nahm jenes zitternde Glühen in ihr den Weg ihre Wirbelsäule entlang.
Zähflüssige Hitze, träge, einem Lavastrom gleich, hüllte sie ein.
Ihr unterdrücktes Stöhnen verwandelte sich in einen atemlosen Aufschrei, als das Ziehen hinter ihrem Nabel übermächtig wurde, als es die fremde Glut nun nach oben in ihren Kopf trieb, wo sie explodierte.
Die wenigen Geräusche der nächtlichen Stadt um sie her verdichteten sich zu einem tosenden Rauschen in ihren Ohren, das alles andere übertönte.
Vor ihren aufgerissenen Augen tanzten Millionen von Sternen.
Blind und taub, war ihre Wahrnehmung für einen Moment fast komplett ausgeschaltet.
Einzig das Bewusstsein, den trinkenden Mann im Arm zu halten, wurde zu ihrem Anker, der verhinderte, dass sie einfach davon flog.
So hielt nicht nur ihn, zugleich hielt sie sich auch an ihm fest.
Die Wunde an ihrer Brust hatte sich längst geschlossen.
Zögerlich und wie bedauernd löste der Mann schließlich seine Lippen von ihr.
Er richtete sich auf und sah sie an.
Langsam hob er eine Hand und strich ihr mit den Fingerspitzen eine Haarlocke aus der Stirn.
Seine Finger wanderten weiter von ihrer Braue zur Schläfe und verweilten schließlich am Kiefer unterhalb ihres Ohres, während sein Daumen sacht ihre Unterlippe entlang strich.
Jenes Gefühl in ihr erwachte erneut, wenngleich viel leiser als eben noch.
Niemals in all den Jahrhunderten hatte sie etwas nur annähernd Vergleichbares erlebt. Nie hatte sich etwas derart beängstigend und zugleich so unglaublich gut angefühlt.
Und dann sagte er etwas, das eigentlich völlig unmöglich war. Das die Welt in der sie gelebt hatte, auf den Kopf stellte.
„Ich kann immer noch Dein Herz schlagen hören.“
Ihre Augen wurden groß.
„Was hast Du?“, fragte er, als sie nach langen Minuten immer noch schwieg.
„Ich bin mir nicht sicher. Etwas ist anders als vorher.“
„Und es fühlt sich unglaublich gut an.“
Ihre Augen leuchteten. „Ja, das tut es. Und zugleich macht es mir schreckliche Angst.“
„Vielleicht ändert sich das, wenn wir herausfinden, was genau eigentlich passiert ist.“
„Ja, aber nicht jetzt und hier. Für den Moment sollten wir so schnell wie möglich von hier verschwinden. Nur für den Fall ...“
„... dass der Staubhaufen Verstärkung mitgebracht hat“, brachte er ihren Satz zu Ende.
Sie sah ihn mit großen Augen an und schwieg.
Er richtete sich auf, hob seine Schwerter vom Boden auf und reichte ihr die Hand, um ihr ebenfalls aufzuhelfen.
Beider Blicke gingen nach oben zu dem zerbrochenen Fenster.
„Deine Sachen ...“, sagte sie nur, dann sprang sie ansatzlos durch die Öffnung in der Scheibe, um das Fenster nun von innen zu öffnen und ihm die Hand nach draußen zu reichen.
Lächelnd ergriff er sie und ließ sich von ihr hinaufziehen.
Da sie den provisorischen Verband nicht mehr brauchte, den er ihr aus seiner Jacke gemacht hatte, benutzte er das Tuch, um die Klingen zu reinigen, die er anschließend in ihren Saya verstaute.
Er bückte sich, um seine Schlüssel aufzuheben, die neben dem Schwertständer zu Boden gefallen waren.
In seinem Büro fand er ein Paar leichte Sandalen, in die er schlüpfte.
Die Zeit, um sich vollständig umzuziehen, nahm er sich auch diesmal nicht.
„Besser nichts Blutiges zurücklassen. Die Polizei wird schon wegen des Fensters genug Fragen haben.“
„Besser sie nicht noch auf Ideen bringen“, entgegnete sie und erstarrte: Er hatte die Worte nicht laut ausgesprochen. Sie hatte auf seine Gedanken geantwortet.
Sein gleichbleibendes Lächeln beruhigte sie etwas.
Er wickelte seine Schwerter in die blutige Jacke.
„Komm“, sagte er und hielt ihr seine Hand hin.
Sie ließ einen Moment verstreichen, ehe sie sie ergriff.
Seit sie vor endlos langer Zeit ein kleines Mädchen gewesen war, hatte sie niemand mehr an der Hand geführt.
Es fühlte sich auf beunruhigende Weise richtig an.
Auf der anderen Seite des Gebäudes ging kleine Tür auf eine Seitenstraße hinaus. Davor stand ein Wagen, dessen Beifahrertür er nun für sie aufhielt.
Die Fahrt endete nach wenigen Minuten vor einem alten Haus in einer anderen Seitenstraße.
Das Gebäude hatte zweifellos schon bessere Tage gesehen, genau wie der ganze Straßenzug. Zu ebener Erde tat eine verrauchte Kneipe ihr Bestes, um als „Irish Pub“ durchzugehen. Offensichtlich mit Erfolg: Die Bude war gerammelt voll, eine dreiköpfige Band sorgte von einem kleinen Podium aus für Stimmung.
Es sah entschieden nicht danach aus, als wolle hier bald jemand nach Hause gehen.
Er hatte ihren Blick bemerkt. „Ich mag den Laden. Das Guinness ist lecker und die Musik ist handgemacht. Was anderes als das handelsübliche Plastikgeplärre aus der Retorte. Und da meine Wohnung direkt darüber liegt, krieg ich die meisten Konzerte gratis.“
Er hatte sie zu sich nach Hause gebracht.
Wieder meldete sich das flatternde Glühen in ihrem Inneren.
In der
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Tag der Veröffentlichung: 27.04.2010
ISBN: 978-3-7309-9522-8
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