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Feuer und Eis
Fantasy Kurzroman
von Bernd Illichmann


Endlich hatten sie die Ebene erreicht. Und nun befand er sich direkt vor ihnen. Er erschien genau so, wie ihn Gwydion beschrieben hatte, schroff, wild, zerklüftet, von schier unvorstellbarer Steilheit, mächtig und so fremdartig, als stamme er aus einer anderen Welt. Es war der Cleddiff Nuadai, jener sagenhafte Berg, den Batór nur aus den alten Legenden kannte und dessen wirkliche Existenz er bis zu diesem Augenblick insgeheim bezweifelt hatte. Es war ein einsamer Felsbrocken von gewaltiger Größe und schien direkt aus der Ebene zu wachsen wie ein riesiger Monolith, der von einem urzeitlichen Riesen aus einem lange im Wind und Regen der Jahrtausende vergangenen Gebirge gehauen worden war. Die Abendsonne durchstieß für einen Augenblick die dichten Wolken und ließ den Berg rot aufleuchten, als wäre er aus dem ewig glühenden Erz in der Tiefe der Welt gemacht. Dann wurde es plötzlich dunkel. Wolken, von einer Schwärze, wie man sie nicht einmal in den dunkelsten Nächten zu sehen bekam, zogen nördlich von ihnen über den Horizont herauf. Böen fegten über die trockene Ebene, trieb den beiden Reisenden Staub in die Augen.
“Verflucht, das hat uns gerade noch gefehlt!“ schrie Batór gegen den Sturm an, in der Hoffnung, sein Gefährte möge ihn hören, „ausgerechnet jetzt muss auch noch ein Unwetter aufziehen!“   
Doch Gwydion schwieg. Er stand regungslos da und starrte den Berg an, kümmerte sich nicht darum, dass der Wind an seinem Mantel zerrte und die ersten dicken, schweren Regentropfen auf seinem Kopf zerplatzten. Batór drehte sich um und sah seinen Gefährten an. Im Grunde wunderte er sich nicht über dessen Verhalten. Das war die Art der Elfen! Sie hielten nicht unbedingt viel vom Reden, aber man konnte sich sicher sein, dass sie kein einziges Wort, das man an sie richtete, jemals vergaßen.  
Nach einer langen Pause wandte sich der Elf Batór zu.  
„Das ist kein Zufall“, sagte er mit dieser sanften, melodischen Stimme, die allen Mitgliedern seines Volkes zueigen war und deutete in die Richtung des Berges, der inzwischen in diesem Gebirge von dunklen, schwarzen Wolken zu versinken schien, „irgendjemand - oder irgendwas - versucht, zu verhindern, dass wir den Cleddiff Nuadai betreten.“  
Batór lachte auf.  
"Wer dies auch immer sein mag“, rief er, „er muss uns mehr schicken als eine kräftige Brise und ein bisschen Regen, um uns aufzuhalten!“  
Er zog sich die Kapuze seines Mantels tief ins Gesicht und marschierte - weit nach vorne gebeugt gegen die Böen ankämpfend - los. Zögernd folgte ihm der Elf.  
  
Der Weg wurde zunehmend beschwerlich. Es war nicht nur dieser Wind, der ihnen Mühe machte, mittlerweile regnete es so heftig, als würde sich ein wahres Meer direkt über ihren Köpfen entleeren wollen. Innerhalb kürzester Zeit hatte sich der sandige Boden der Ebene in einen einzigen Morast verwandelt. Batórs Stiefel sanken bei jedem Schritt bis zu den Knöcheln in den dicken, rotbraunen Schlamm ein und machten das Vorwärtskommen zu einer beschwerlichen Arbeit. Nicht so bei Gwydion. Aufgrund irgendeines geheimnisvollen Elfenzaubers war dieser in der Lage, auf dem matschigen Boden zu laufen, als sei dieser so flach und eben wie die mit blauem Marmor gefliesten Straßen in den verlassenen, namenlosen Elfenstädten in der Wüste der ruhelosen Geister. Batór wunderte sich nicht darüber. Er kannte seinen Gefährten nun schon lange genug und war mittlerweile sehr vertraut mit der Magie, die dieser häufig anwandte, oft genug, ohne sich selbst in diesem Augenblick darüber bewusst zu sein.  
Batór selbst kam dieser Marsch durch die Ebene von Nuadai vor wie eine Ewigkeit. Immer wieder löste er ein Bein mit lautem Schmatzen aus dem Morast, nur, um es erneut wieder in diesen breiigen Untergrund setzen zu müssen. Gleichzeitig saugte sich sein Mantel voll mit Wasser, welches immer noch in regelrechten Sturzbächen vom Himmel fiel. Seine ganze Kleidung hing an ihm mittlerweile wie ein bleierner Sack.
Doch irgendwann drangen sie in jenen Teil dieser fremdartigen Landschaft vor, in dem der sandige Untergrund der Ebene überging in die ersten felsigen Ausläufer des Cleddiff Nuadai. Zwischen rissigen, von den seit Urzeiten über diese Ebene wehenden Winden zernarbten Felsenplatten standen mächtige Felsbrocken, gedrungene Monolithen, groß wie zwei oder sogar drei ausgewachsene Männer. Von dem rauen Wetter zu kantigen, nach oben hin spitz zulaufenden Klötzen abgeschliffen, sahen sie aus wie die versteinerten Zähne eines gewaltigen, urzeitlichen Krokodils. Aber Batór kannte auch die anderen Geschichten, die man sich über diese Monolithen erzählte, abends, an den Lagerfeuern der Waldläufer, mit leiser und zumeist ehrfurchtsvoller Stimme. Es waren Erinnerungen an uralte Sagen, Überlieferungen aus jenen lange vergangenen Tagen, als die Menschheit jung war und die Elfen diesen Teil der Welt unangefochten beherrschten. Es war die Zeit, als alle Länder, ja, sogar die Meere und die Lüfte bevölkert waren von geheimnisvollen Wesen voller Urwüchsigkeit und Magie, von unglaublicher Macht und von bezaubernder Schönheit. Man erzählte sich, dass es damals ein Volk gab, ein Geschlecht von riesigen Wesen, die von urtümlicher Wildheit waren und schier unbezähmbarer Kraft, Kreaturen, die aus hartem, von einer merkwürdigen Magie mit Leben beseeltem Stein bestanden. Ihre Körper – so wurde berichtet - waren aus Granit, ihre Augen funkelnde Obsidiane und ihre Herzen bestanden aus gewaltigen, leuchtend roten Rubinen. Diese steinernen Wesen oder Trolle, wie man sie gelegentlich auch nannte, waren ein Volk, das den Kampf über alles liebte. Sie schlugen viele Schlachten, hauptsächlich gegen die mächtigen Bergriesen, von denen es zu jener Zeit noch unzählige gab oder sie zogen gegen das Baumvolk der Dryaden und gegen riesige Armeen furchtloser Wichtel, legten sich mit dem Zwergenvolk an und scheuten nicht einmal davor zurück, die mächtigen Werwölfe zu attackieren. Die meisten ihrer Kriege gewannen sie, doch dieses Volk war von einem unersättlichen Kampfeswillen und immer auf der Suche nach neuen, noch mächtigeren Feinden, denn für sie galt es als umso ehrenvoller, je unbezwingbarer ein Gegner erschien. Doch dann begingen sie einen gewaltigen Fehler! Sie beschlossen in ihrer unersättlichen Ruhmsucht, die heiligsten aller Wesen anzugreifen: Die Drachen! Und damit begingen sie das größte Verbrechen, das je ein Wesen auf der Welt verüben konnte.
Es war – so sagte man, obwohl es natürlich kein lebendes Wesen gab, welches dies glaubhaft bezeugen konnte – ein regelrechtes Gemetzel.
Noch in dieser Zeit kannte man die Drachenbeinebene, eine Landschaft voller bizarrer Felsformationen inmitten der Wüste Báis. Dies soll der Sage nach der Ort jener gewaltigen Schlacht zwischen Trollen und Drachen gewesen sein, einstmals ein Flusstal in einem grünen, üppig von lichten Wäldern und bunten Wiesen bewachsenen Land. Als der Kampf allerdings nach einem Tag und einer Nacht sein Ende gefunden hatte, war nichts mehr übrig von den ausgedehnten Wasserläufen, den schattenspendenden Buchen und dem saftigen Gras. Es gab nur noch Fels und Stein, verbrannte, schwarze Erde, bedeckt von Staub, Asche und den Knochen der getöteten Drachen. Und das blieb bis in die heutige Zeit so. Nur wenige Menschen gelangten je nach Báis, in dieses unwirtliche, tote Land, und jene, die dort gewesen waren, berichten von merkwürdigen Visionen und unheimlichen Träumen, welche sie an diesem grauenhaften Ort heimsuchten und von einer bedrückenden, unheilbaren und tiefen Trauer, die alles, was dort war, in seinem Griff hatte und sich auf jeden Besucher legte wie der feine, graue Staub der Wüste. Batór hatte seine Zweifel, ob er diesen Geschichten Glauben schenken sollte. Er war selbst schon oft genug in der Wüste gewandert und wusste, was die Hitze in Verbindung mit einem Mangel an Wasser mit dem Geist eines Menschen anstellen konnte.
In dieser einen, gewaltigen Schlacht aber – so sagte man - töteten die Trolle fast alle Mitglieder des Goldenen Volkes. Nur ein Einziger soll überlebt haben, Anzu, der König der Drachen. In jenen vergangenen Tagen aber herrschten die Winterelfen, die mächtigen Vorfahren der Hohen Elfen, über die Welt. Es hieß, dass sie einst auf den Gipfeln der höchsten Berge in riesigen Palästen aus Silber und Eis lebten und von dort aus das Geschehen in allen Ländern beobachteten. Und so entging ihnen auch nicht der Frevel der Trolle. Sie bestraften das Steinerne Volk auf angemessene Weise, indem sie alle Trolle in Felsen verwandelten, die für immer auf ein und dem selben Platz stehen mussten, den Zeiten, dem Wind und den Regen ausgesetzt, bis irgendwann nichts von ihnen übrig sein würde als der feine Sand auf dem Boden der Ozeane. Und in vielen dieser Geschichten war davon die Rede, dass die Monolithen in der Ebene von Nuadai – jene Felsformationen also, die Batór nur vor sich sah – die Überreste jenes einst so stolzen Volkes waren.  
Batór kämpfte sich bis zum Windschatten eines besonders großen und breiten Exemplars vor. Dort setzte er sich hin. Er brauchte einfach eine Pause. Seine mit Regenwasser voll gesogenen Kleider zogen ihn nach unten, seine Beine schmerzten, seine Haut brannte von den Regentropfen, die vom böigen Wind wie Nadeln aus Eis in sein Gesicht gepeitscht wurden. Er lehnte sich an den Felsen, der eine angenehme Wärme ausstrahlte.  
Gwydion blieb neben ihm stehen. Ihm war keine Erschöpfung anzumerken, sogar seine Gesichtsfarbe hatte trotz allem die typische zarte Blässe seines Volkes behalten. Er sah sich den Monolith genau an. Dann streckte er die Hand aus und legte sie auf die rissige Oberfläche des Steines. Es schien Batór fast, als wolle der Waldelf den Puls des harten Gesteins erfühlen.  
„Wir sollten hier nicht zu lange rasten“, sagte Gwydion nach einigen Augenblicken, die Hand immer noch an der rissigen Oberfläche des Felsens.  
Batór grinste.  
„Du hast doch nicht etwa Angst, dass sich dieser Klotz plötzlich in einen gewaltigen Troll verwandelt?“  
Der Elf sah seinen Gefährten mit ernstem Blick an. Er antwortete nicht.
Das Grinsen verschwand sofort aus Batórs Gesicht.  
„Du meinst ...?“
Er kannte Gwydion mittlerweile lange genug. Wie alle Elfen redete er kaum einmal ein Wort zuviel. Und er machte – ebenfalls eine Eigenschaft, die allen Angehörigen seines Volkes zueigen war – nie Scherze. Batór sprang auf die Beine und griff in einer reflexartigen Bewegung an das Heft seines Schwertes.  
„Keine Sorge“, beruhigte ihn sein Gefährte, „er kann sich nicht bewegen. Noch nicht!“  
Batór starrte den Felsen an. Der Monolith schien sich immer noch nicht von jedem anderen beliebigen Findling zu unterscheiden. Aber als Batór genau hinsah, hatte er plötzlich den Eindruck, Umrisse zu erkennen, die ihm zuvor offenbar entgangen waren. Auf einmal war dieser Klotz mehr als nur ein verwitterter, alter Stein. Er besaß so etwas wie einen Kopf – es war nicht mehr als ein klobiger, runder Brocken am oberen Ende – und auch der Rest wirkte wie der sehr grobe, kantige Entwurf eines schlechten Bildhauers für einen zu groß und zu breit geratenen Menschen.  
„Wir sollten uns beeilen!“ rief Gwydion und deutete auf den Cleddiff Nuadai, der in einer Entfernung von nur einigen hundert Schritten vor ihnen in die Höhe ragte. Im gleichen Augenblick wurde Batór bewusst, dass der Wind abflaute und der gerade noch strömende Regen in ein leichtes Nieseln übergegangen war.  
Gwydion lief voran. Batór bemühte sich, ihm zu folgen, aber er war ein Mensch und hatte als solcher nicht die Fähigkeit eines Elfen, über dieses unebene Gelände zu schweben, ganz so, als würden die Gesetze der Natur für ihn nur eine Möglichkeit unter mehreren sein. Er ließ den großen Monolithen hinter sich, aber gleich darauf musste er den nächsten passieren. Dieser war kleiner, aber Batór konnte deutlich erkennen, dass er nicht nur – wie der vorhergehende – einen plumpen Kopf, sondern auch zwei Beine hatte. Er beschleunigte seinen Schritt, lief auch an diesem Felsenwesen vorbei. Im Weitereilen drehte er sich kurz um. Die dicken Regenwolken schienen sich auf merkwürdige Weise ganz aufgelöst zu haben, die flach stehende Abendsonne brach durch und überströmte die ganze Ebene bis hin zum Fluss mit ihrem warmen Licht. Was er sah, ließ ihn für einen Moment die Luft anhalten! In der klaren, durch den Regen von Staub und Dunst gereinigten Luft konnte er hunderte, möglicherweise sogar tausende von Monolithen erkennen. Sie standen gleichmäßig verteilt um den Berg herum wie eine Armee von Felsbrocken um die Standarte ihres Heerführers. Und alle diese Monolithen schienen in einer Art Verwandlung begriffen zu sein. Ohne dass sich wirklich etwas erkennbar an ihrer Form zu ändern schien, wirkten sie zunehmend weniger wie toter Stein und schienen sich zunehmend in etwas zu verwandeln, was der Vorstellung von richtigen Lebewesen immer mehr gleich kam. Batór glaubte, in diesen groben, runden Köpfen, die er vor wenigen Augenblicken als solche noch gar nicht wahrgenommen hatte, nun sogar so etwas wie Gesichtszüge erkennen zu können. Und er bemerkte riesige, fast bis zum Boden reichende Arme sowie im Verhältnis zu diesen massigen Körpern recht kurze, aber sehr stämmige Beine.  
„Du musst dich beeilen!“  
Die Stimme Gwydions ertönte direkt in seinem Kopf, ohne den Umweg über seine Ohren nehmen zu müssen, ein elfischer Zauber, den Batór immer schon besonders gehasst hatte. Aber er drehte sich zu dem Berg um. Der Elf war ungefähr zweihundert Schritte entfernt, hatte bereits den Fuß des Cleddiff Nuadai erreicht. Doch zwischen ihnen stand noch ein gutes Dutzend dieser Felsen – irgendetwas in Batór wehrte sich immer noch dagegen, sie als etwas anderes zu betrachten. Er begann, auf Gwydion zuzugehen. Dazu musste er einen weiteren dieser Monolithen passieren. Er betrachtete ihn genau. Die dem Norden zugewandte Seite war von einem grünlichen Film aus Moos und Flechten überwuchert. Er bemerkte die größtenteils raue, rissige, an der dem stetigen Wind zugewandten Seite glatte Oberfläche, die nur ein Stein haben konnte, der über Jahrtausende regungslos dem Wind und Wetter eines stürmischen Landes ausgesetzt war. Aber er konnte auch eindeutig einen Kopf erkennen. Einen schiefen Kopf zwar mit Beulen und abgebrochenen Ecken, aber auch mit einem Gesicht, in dem ein ernster breiter Mund zu erkennen war und eine grobe, einfache Nase und zwei tief in ihren Höhlen liegenden Augen. Die, wie Batór jetzt im Sonnenschein erkennen konnte, tatsächlich aus Splittern von Obsidianen zu bestehen schienen. Sie wirkten wie kleine, aber abgrundtiefe Tümpel aus reinem, schwarzen Glas, wie Spiegelaugen, die ihn – wie ihm nun mit Schaudern klar wurde – sehr genau zu fixieren schienen. Batór beschleunigte seinen Schritt. Der leuchtende Blick des Monolithen, nein, des Trolls folgte ihm.
Und dann bewegte dieses Felsenwesen seinen Kopf!
Fast unmerklich zwar, aber doch so weit, dass Batór nun endgültig ausschließen konnte, von nichts weiter als ein paar merkwürdig geformten, unbeweglichen Felsklötzen umgeben zu sein. Er begann zu laufen, hastete an dem Troll vorbei. Aus dem Augenwinkel konnte er beobachten, wie sich diese Kreatur bemühte, ihren Kopf zu drehen, um ihn im Blick dieser merkwürdig kalten Augen zu behalten. Batór ließ dieses abscheuliche Wesen hinter sich, nur um auf zwei andere Exemplare dieser merkwürdigen Spezies zuzulaufen. Zwischen diesen Beiden schien der einzige Weg zu dem Berg hin zu verlaufen, denn diese Felsenwesen schienen auf merkwürdige Weise zusammen gerückt zu sein wie eine unüberwindliche Kampflinie aus purem Granit. In jenem Moment wurde Batór klar, was für ein Schrecken eine ganze Armee dieser Trolle einst für ihre Widersacher gewesen sein musste, wenn sie während eines Angriffs die zerstörerische Kraft einer Lawine mit der unerbittlichen Beharrlichkeit von Gletschern in sich vereinte. Jene beiden Felsenwesen, zwischen denen sich nun die einzig gangbare Passage von nur einigen Schritten Breite befand, waren breit und massig und ließen nun auch absolut keinen Zweifel mehr daran, dass sie wirkliche, lebendige Wesen waren. Sie hatten Batór genau im Blick, es schien sogar, als könne er sein Spiegelbild in den Obsidiansplittern erkennen. Sie standen ruhig da, die Beine, dick wie Baumstämme, leicht gespreizt, und jeder von ihnen hatte einen dieser überlangen Arme über den Kopf erhoben wie eine Keule aus Granit. Batór blieb kurz stehen. Er spürte ein Vibrieren unter seinen Füssen wie von einem leichten Erdbeben. Dazu kam ein Grollen wie von einem fernen Gewitter, dass allerdings immer mehr anschwoll.
Er drehte sich nochmals kurz um.
Und spürte, wie ihn das blanke Entsetzen packte! Alle Monolithen hatten sich nun verwandelt, waren zu schrecklichen steinernen Kriegern geworden und sie alle marschierten mit den langsamen und vorsichtigen Schritten von Kreaturen, die sich nach jahrtausendelangem Schlaf wieder erinnern mussten, wie man ein Bein vor das andere setzte, in ein und dieselbe Richtung. Und es war eindeutig, was ihr Ziel war. Die Trolle waren ein Volk von Kriegern, der Kampf war ihr Leben und es waren mittlerweile Jahrtausende vergangen, seit ein Troll das letzte Mal einen Feind getötet hatte. Und ein einfacher Mensch aus weichem Fleisch und Blut war gut genug, um die Mordlust dieser Wesen fürs Erste zu stillen. Tausende von Tonnen Leben gewordenes Gestein hielt nun unbeirrbar auf diesen einen vermeintlichen Gegner zu!  
Gleichzeitig schwoll das Grollen an, steigerte sich zu einem ohrenbetäubenden Lärm. Erst jetzt wurde Batór klar, dass dieses unglaubliche Getöse direkt aus den mittlerweile deutlich erkennbaren breiten Mündern der Trolle kam. Es handelte sich vermutlich um nichts anderes als um die primitive Sprache dieser urtümlichen Wesen, möglicherweise so etwas wie ein Schlachtruf. Batór führte zwar nicht das Leben eines Krieger, dennoch hatte er so manche Erfahrungen machen müssen mit den düsteren Todesgesängen, die Zwerge am Beginn einer Gefechtes anstimmten, dem furchtbaren und markerschütternden Geschrei, das nur eine einzige Einheit angreifender Wichtelkämpfer hervorzubringen imstande war oder dem grimmigen Geheul eines wütenden Waldschrates. Aber nichts von all dem war zu vergleichen mit diesem Poltern, diesem Donnern und Dröhnen, das einem das Gefühl gab, sich inmitten des beginnenden Weltuntergangs aufzuhalten. Batór war klar, dass er nicht mehr viel Zeit hatte. Er drehte sich wieder um zu jenen beiden Trollen, die ihm den Weg zum Fuß des Cleddiff Nuadai versperrten. Sie hatten sich nicht bewegt, hielten ihre Keulenarme nach wie vor erhoben und zum Schlag bereit. Dahinter, in einer Entfernung von gut hundert Schritten konnte er Gwydion erkennen. Der Berg stieg dort sehr abrupt steil in die Höhe und der Elf war bereits gut fünf bis sechs Mannslängen nach oben geklettert. Vermutlich war er dort vor den Trollen in Sicherheit. Batór dagegen wurde klar, dass er kaum noch eine Möglichkeit hatte, dort hin zu gelangen. Die beiden Trolle vor ihm bewegten sich nicht, nicht, weil sie es nicht konnten oder wollten, sondern weil sie warteten. Batór bemerkte, wie sich allmählich düstere Schatten um ihn herum ausbreiteten. Diese Armee aus Steinwesen begann ihn zu umkreisen. Von allen Seiten her näherten sie sich, mit schweren, ungelenken Schritten, die regungslosen, schrundigen Gesichter ihm zugewandt. Unzählige Augenpaare aus schimmernden, schwarzen Obsidian starrten ihn an, schiefe, lippenlose Münder geöffnet zu dem entsetzlichen Schlachtruf der Trolle. Dann blieben sie stehen, bildeten einen Ring um ihn herum, der wie eine lebende und tödliche Version jener Steinkreise wirkte, wie sie Batór von seinen Reisen zu den Regeninseln im Westen kannte.
Sie wollten sich Zeit lassen! Sie spielten mit ihm, kosteten seine Angst, seine Verzweiflung aus wie eine jahrtausendelang vermisste Droge. Batór war klar, dass er verloren war. Er zog sein Schwert, kam sich ein wenig lächerlich dabei vor, aber auch er war einstmals zum Krieger erzogen worden und wollte mit seiner Waffe in der Hand sterben. Der Kreis der Steinwesen zog sich immer enger um ihn ... düstere Schatten umgaben ihn ...  
„Achte auf den, der rechts vor dir steht“, sagte eine Stimme in seinem Kopf.  
Es war natürlich Gwydion, sein elfischer Gefährte, der zu ihm sprach. Allerdings hatte Batór keine Ahnung, was er mit diesem Hinweis anfangen sollte.  
Dann bemerkte er es! Ein mannshoher, fast runder Felsbrocken flog mit erstaunlicher Geschwindigkeit auf den Rücken des erwähnten Trolls zu. Mit einem lauten Krachen schlug er im Bereich des Hinterkopfes des Steinwesens ein. Batór wusste nicht, ob es nur das Ergebnis der Kräfte war, die dieser mit rasender Geschwindigkeit aufprallende Stein verursacht hatte oder ob dieses Wesen aus Granit durch den Felsbrocken verletzt oder sogar getötet worden war, auf jeden Fall kippte der Troll mit einem schrecklichen, einem nahen Donnergrollen ähnelnden Schrei zu Boden. Batór war klar, dass er jetzt schnell handeln musste. Mit zwei Sätzen war er auf den liegenden Kopf des Steinriesen gesprungen, dann lief er über den Körper, wobei er unbewusst wahrnahm, dass dieser sich leicht und rhythmisch bewegte, als ob ein gewaltiges Herz im Inneren dieses Wesens schlüge. Dann sah er im Augenwinkel, wie der Arm des anderen Trolls auf ihn zuraste. Er zielte genau auf Batórs Kopf. Es waren mehrere Zentner harter Granit, die da angeflogen kamen. Batór war klar, dass ein Mensch, ein Wesen aus weichem Fleisch und zerbrechlichen Knochen, einen solchen Schlag nicht überleben würde. Er warf sich flach hin, landete auf dem Rücken des gefällten und zum Glück immer noch bewegungslosen Trolls. Ein Windhauch, der über ihn hinweg fuhr, machte ihm klar, dass er gerade noch rechtzeitig reagiert hatte. Der Troll hatte ihn – wenn auch nur äußerst knapp – verfehlt. Im selben Moment wurde Batór bewusst, dass er zumindest einen kleinen Vorteil gegenüber diesen steinernen Kriegern hatte: Seine Gewandtheit. Er sprang sofort wieder auf. Jetzt war der Weg zum Berg frei. Er konnte zwar auch vor sich noch zwei oder drei dieser monolithischen Kreaturen erkennen, aber diese behinderten nicht seinen direkten Weg zu der Stelle, an der sich Gwydion befand. Batór lief los. Rannte, wie er noch nie in seinem Leben gerannt war. Es waren noch hundert Schritte, dann noch neunzig ... er spürte, wie beim Laufen der Felsenboden unter seinen Füssen bebte. Die Trolle verfolgten ihn! Die Erschütterungen, die sie dabei verursachten, ließen ihn einige Male taumeln. Jetzt nicht hinfallen! Der Untergrund war hart, uneben, kleine und größere Steine lagen dazwischen, Tiefe Sprünge durchzogen die Felsplatten unter seinen Füssen. Einige Male kam er ins Straucheln, wenn lockere Steine unter seine Stiefel gerieten. Gut achtzig Schritte noch ...
Dann geschah es!
Er geriet mit seinem rechten Fuß in eine kleine Spalte zwischen zwei Felsenplatten, schlug gerade hin, knallte mit seinem Kinn auf den harten Boden. Ein kurzer, heftiger Schmerz zog sich durch seinen ganzen Schädel, ein kurzes Schwindelgefühl überkam ihn. Einen schrecklichen Augenblick lang hatte er Angst, er könnte das Bewusstsein verlieren. Doch der Schwindel ging, während der Schmerz blieb und ihn auf unangenehme Weise daran erinnerte, dass er immer noch im Vollbesitz seiner Fähigkeit, zu empfinden und zu leiden, war. Er sah sich noch im Liegen um. Zum Glück hatte er sich einen kleinen Vorsprung erarbeitet. Der Erste der Trolle – ein etwas kleinerer und offenbar auch flinkerer Vertreter seiner Gattung – war noch gut acht Schritte von ihm entfernt. Noch hatte Batór die Chance, den steinernen Pranken zu entkommen. Er sprang wieder auf. Sofort schoss ein stechender Schmerz in seinen rechten Fußknöchel. Ihm war sofort klar, dass er sich bei dem Sturz den Fuß verstaucht, möglicherweise sogar gebrochen hatte. Er setzte ihn nochmals probehalber auf. Es war unbeschreiblich schmerzhaft, Batór schrie so laut auf, dass er sogar das dröhnende Kampfgeschrei seiner Widersacher übertönte. Aber der Fuß knickte nicht weg, offenbar war noch ausreichend Knochen heil geblieben. Batór ging weiter, humpelnd, mit zusammengebissenen Zähnen. Noch siebzig Schritte, noch sechzig ... er warf einen Blick über seine Schulter. Er hatte seinen Abstand zu der Steinarmee nicht verringern können, dieser war aber auch nicht größer geworden. Mit einer Ausnahme allerdings: Jener etwas kleinere Troll kam ihm näher. Gegen einen gesunden Batór hätte auch dieser in einem Wettlauf vermutlich kaum die Spur einer Chance gehabt, aber gegen einen Menschen, der sich mit gebrochenen Knöchel und Schmerzen, die ihn der Ohnmacht nahe brachten, über die felsige Ebene schleppte, konnte er sich behaupten. Batór kämpfte sich weiter voran, warf seinen schweren Mantel ab, eine Geste der Verzweiflung. Der kleine Troll kam immer näher.  
„Duck dich“, rief eine Stimme in seinem Kopf.  
Batór gehorchte.  
Mit einem Zischen schoss ein weiterer Felsen, vom Berg her kommend, vorbei. Hinter ihm ertönte das Krachen eines harten Aufpralls. Batór verschwendete keine Zeit damit, sich umzusehen. Er humpelte weiter auf den Berg zu, erreichte nach weiteren, sich schier unendlich in die Länge dehnenden, schmerzerfüllten Sekunden endlich den Fuß des Cleddiff Nuadai. Vor ihm war eine steile Wand, aber er sah kleine Risse, Vorsprünge, schmale Absätze. Er schob sein Schwert, dass er - wie er selbst mit einigem Erstaunen bemerkte - immer noch fest in der Hand hielt, in die Scheide und begann, zu klettern. Es war nur ein kurzes Stück zu dem schmalen Plateau, auf dem sein Gefährte Gwydion auf ihn wartete, aber für Batór war es die längste Kletterpartie seines Lebens. Er besaß kaum noch Kraft, um sich festzuhalten und er war ein ums andere Mal gezwungen, das Gewicht seines ganzen Körpers auf seinen verletzten rechten Fuß zu verlagern, was ihm Schmerzen bereitete, wie er sie noch nie zuvor in seinem Leben verspürt hatte. Einige Male kam ihm der Gedanke, dass er es nicht schaffen würde, dass er schon weit über seine körperlichen Grenzen hinaus war, aber dann war etwas in ihm, dass ihm gut zuredete, ihm Kraft und Zuversicht gab. Er fragte sich, ob diese innere Stimme der Hoffnung seine eigene war oder die seines elfischen Freundes, aber sie erweckte in ihm tatsächlich diese Reserven an Energie und Willen, die es ihm ermöglichten, auch den letzten Teil bis zu dem Plateau zu überwinden. Als ihn die kräftigen Arme Gwydions zuletzt nach oben zogen, hatte Batór das Gefühl, soeben gestorben und gleich darauf wieder auferstanden zu sein.  
  
Sie saßen im Windschatten eines großen Felsüberhangs. Vor ihnen brannte ein Elfenfeuer, klein, nicht sehr hell, dafür außerordentlich warm, mit Flammen von der blassen, bläulichen Farbe des Mondes in einer klaren Winternacht. Ein kleiner Topf stand auf zwei Steinen, die inmitten des Feuers lagen, ein würziger Geruch lag in der Luft, hervorgerufen von den geheimnisvollen Kräutern, die in den schier unzugänglichen Wäldern, in denen die Waldelfen lebten, wuchsen.  
Batór zog Gwydions Mantel ein wenig enger um seine Schultern. Trotz des wärmenden Feuers fror er, die Nächte am Cleddiff Nuadai waren kalt. Er konnte froh sein, dass ihm sein elfischer Gefährte seinen Mantel überlassen hatte, sein stolzer Widerstand dagegen hielt sich allerdings in Grenzen. War doch allgemein bekannt, dass der Ursprung aller Elfen in jenem gewaltigen Gebirge lag, dass die Menschen die Säulen der Welt nannten und in dem sogar die Täler erheblich höher lagen als die höchsten Berge in der Welt der Menschen. Und einige ihrer berühmten Elfenschlösser hatten diese Wesen sogar direkt in die Felsen der vom ewigen Schnee bedeckten Gipfel dieses Gebirges gehauen. Ein Elf - soviel stand fest - fror nicht so schnell.  
Batór griff an seinen Fußknöchel. Der Schmerz war fast völlig abgeklungen. Wenn er nachdachte, kam ihm alles ein wenig wie ein übler Traum vor: Das Erwachen der Trolle, ihr Angriff auf ihn, seine Flucht mit gebrochenem Knöchel über die felsige Ebene und die steile Wand des Cleddiff Nuadai. Vage konnte er sich noch erinnern, wie ihn sein Gefährte über einen schmalen, zu seinem Rande hin steil abfallenden Pfad geschleppt hatte bis zu diesem Ort, wo der Elf ihn flach auf dem Boden gelegt hatte. Dann hatte er ihm zu Trinken gegeben aus seiner Feldflasche und Batór konnte sich noch an diesen merkwürdigen, erdigen Geschmack erinnern, den das Wasser hatte. Die nächsten Erinnerungen waren unklarer, unzusammenhängender, so, als wäre Batór längere Zeit in jener unwirklichen Welt zwischen Wachsein und Schlaf gewandelt. Er wusste ganz sicher, dass er die Hand des Elfen auf seinem verletzten Fuß gespürt hatte, dass er das merkwürdige Gefühl hatte, irgendetwas Warmes, gleichzeitig Leichtes floss von den Händen Gwydions direkt in seinen eigenen Körper hinein. Und er hatte gehört, wie sein Freund Sätze murmelte in einer fremdartigen Sprache, die sich gleichzeitig so einfach und doch so klar und eindeutig anhörte, so als sei sie die Mutter aller Sprachen und so alt wie die Welt selbst.  
Für die Zeit danach waren Batórs Erinnerungen noch unklarer, lückenhafter und verworrener. Immer wieder war er in tiefen, dunklen Schlaf gefallen, dazwischen erlebte er aber auch merkwürdig heftige Träume, die ihm so lebhaft und wirklich erschienen, ja, fast sogar wirklicher noch als das wahre Leben selbst, doch jedes Mal, wenn er kurz erwachte, beeindruckt von diesen verwirrenden Bildern und unbeschreiblichen Gefühlen, verschwanden diese, lösten sich auf in Nichts, hinterließen nur das Gefühl, merkwürdige Erfahrungen von einer Tiefe und Kraft gemacht zu haben, wie sie sie einem einfachen Menschen eigentlich nicht zugestanden hätten. Irgendwann war er wieder – und dieses Mal endgültig – erwacht, geweckt von dem anregenden Geruch des Kräutersuds, und stellte fest, dass er, bedeckt mit dem Mantel des Elfen, an einem Felsen gelehnt an dem warmen Feuer saß.    
„Du hattest Recht“, sagte Batór nach einer Weile, in der er in das Feuer gestarrt hatte, „Irgendjemand scheint nicht zu wollen, dass wir unsere Arbeit zu Ende bringen.“   
„Unsere Arbeit? Du glaubst nach wie vor, dass wir hier einen unserer üblichen kleinen Dienste erledigen? Ein paar Diebstähle, ein bisschen Kundschafterdienst für einen dieser unzähligen wichtigtuerischen Kleinadeligen, das Ganze für eine handvoll Goldstücke? Nein, das hier ist etwas ganz Anderes! Bedenke, wer unsere Auftraggeberin ist.“   
  
Ja, Batór erinnerte sich ganz genau an jenen Tag, als er sie traf. Nie hätte er gedacht, in seinem ganzen Leben jemals einem Wesen wie ihr zu begegnen. Für ihn war es so, als hätte er für einen Augenblick direkt in das Auge der Schöpfung geblickt, als wäre die öde Welt zwischen den Grauen Wäldern und den Marschen von Koruta, die die seine war seit seiner Geburt, für diesen einen Moment zu etwas gewachsen, dass die mächtigen Elfenberge, die geheimnisvollen Inseln der Unsterblichen und andere mystische Orte der Sagen und des Glaubens in sich aufnehmen könnte.   
Es begann im „Gebogenen Pfeil“, einer Gaststätte von sehr zweifelhaftem Ruf, die sich in Zwergenstein befand, einem kleinen Ort an der Kreuzung zweier eher unbedeutender Handelsstrassen. Zwergenstein bestand aus einer schlammigen Hauptstrasse, einigen winzigen windschiefen Hütten, einer kaum größeren Herberge für die wenigen Reisenden, die sich in diese armselige Gegend verirrten und eben jener Kaschemme, die von einem ehemaligen Schmuggler betrieben wurde, der nebenher noch das Gewerbe des Diebes betrieben hatte, bis man ihn in einer der großen Städte jenseits der Grauen Berge auf sehr rigorose Weise das unehrliche Handwerk legte. Von der sehr eindrücklichen Art der Bestrafung für Diebe in dieser Stadt zeugte der eine Spanne unterhalb der rechten Ellenbeuge in einen unansehnlichen Stumpf endende Arm des Mannes. Nichtsdestotrotz unterhielt er seine Gäste immer gerne mit der Geschichte seiner Amputation, so wie anderswo Männer gerne Anekdoten von ihren Heldentaten in den zweifelhaften, zu regelrechten Kriegen ausartenden Fehden der streitenden Herzogtümer berichteten. Aber Zwergenstein war eben eher ein Platz, der solchen Leuten, deren Köpfe andernorts an das Stadttor gespießt die Bürger daran gemahnte, die Gesetze der Stadt nicht zu übertreten, eine unbedrängte Zuflucht bot. Leuten wie Batór und Gwydion.    
Es war früher Nachmittag. Außer den Beiden saßen in der Kaschemme nur einige jener bedauernswerten Gestalten, die sich in ihrem Leben dem übermäßigen Genuss des kräftigen Bieres und des Branntweins, der hier ebenfalls ausgeschenkt wurde, schon einige Male zu oft ergeben hatten. Batór und Gwydion hatten einen Tisch in direkter Nähe des offenen Kamins genommen und waren gerade damit beschäftigt, die Entlohnung ihres letzten Auftrages in Speis und Trank umzusetzen, was bedeutete, dass Batór geschmortes Fleisch vom Wild aß und dazu einen Humpen des berühmten dickflüssigen Zwergenbieres, das hier ausgeschenkt wurde, trank, während Gwydion gelegentlich an einem Becher mit heißem Honigwasser nippte. Batór hatte noch nie erlebt, dass sein Partner je in einem Gasthof etwas gegessen oder etwas anderes als gesüßtes Wasser getrunken hätte. Kaschemmen wie der „Gebogene Pfeil“ waren auch ganz sicher nicht geeignet, die sehr eigenartigen Bedürfnisse von Waldelfen zu befriedigen. Die meisten Menschen hatten ohnehin keine Ahnung, womit sich die Angehörigen dieses Volkes ernährten, es ging sogar das Gerücht, dass sie wie die Bäume und Blumen nur von Wasser und dem Licht der Sonne lebten. Batór wusste zwar, dass Gwydion hin und wieder etwas aß, im Allgemeinen Dinge, die er am Wegesrand fand wie Beeren oder Kräuter, aber die Bedürfnisse des Waldelfen, was seine Nahrung bedarf, schienen tatsächlich nur sehr gering ausgeprägt zu sein.   
Als sie da so saßen in der düsteren Kaschemme und Batór die Erzeugnisse der geheimen, altehrwürdigen Braukunst der Zwerge genoss, öffnete sich die Eingangstür und ließ für einen Augenblick das grelle Licht eines sonnigen Nachmittages hinein. Das Merkwürdige war, dass Batór den Eindruck hatte, etwas von diesem Licht würde in der Düsternis der Gaststätte verweilen wollen, auch, nachdem die Tür wieder geschlossen war. Es dauerte einige Augenblicke, bis er begriff, dass da jemand eingetreten war, eine Person, die gehüllt war in einem schweren bodenlangen Mantel aus einem feinen, ihm unbekannten Gewebe und von der Farbe der Nacht, mit einer großen Kapuze, die nicht nur den Kopf, sondern auch das Gesicht dieser Erscheinung vollständig verbarg, welche aber ohne Zweifel die Quelle dieses ungewöhnlichen Leuchtens war. Batór war auf der Stelle klar, welcher Art diese Person war, die den „Gebogenen Pfeil“ betreten hatte. Sogar einige der einsamen Trinker an den anderen Tischen hoben erstaunt ihre schweren Köpfe. Das fremde Wesen hielt direkt auf den Tisch zu, an dem Batór und sein elfischer Gefährte saßen. Für einen kurzen Moment hatte er das unbestimmte Gefühl, jemand Vertrautes, eine Person, die er schon lange kannte, so dass sie ihm fast vorkam wie eine nahe Verwandte, wäre hereingekommen, um ihn zu besuchen. Doch er wusste genau, dass er diesem ungewöhnlichen Kneipengast noch nie in seinem Leben begegnet war. Ihm war klar, welcher Natur dieses Wesen war und dass er - wie die meisten Menschen - noch nie zuvor einem Vertreter dieses scheuen Volkes begegnet war.
Gwydion dagegen offensichtlich schon!
Batór spürte die körperliche Anspannung des direkt neben ihm sitzenden Waldelfen, beobachtete aus dem Augenwinkel, wie dessen Hand mit einer geschmeidigen, unauffälligen Bewegung an den Griff seines Elfendolches glitt.    
„Ich suche nicht den Kampf, Gwydion vom Stamme der Schwarzeichen,“ sagte eine Stimme, eindeutig weiblich, dabei hell und klar wie eine sprudelnde Bergquelle.   
Die Hand des Waldelfen löste sich nur zögernd vom Griff seiner Waffe.   
„Gwydion, Verstoßener des Stammes der Schwarzeichen“, korrigierte er.   
Die fremde Person trat an den Tisch heran. Ohne von einer Hand berührt zu werden, schob sich ein Stuhl direkt hinter sie.    
Natürlich, schoss Batór durch den Kopf, dies war Elfenmagie!    
Die Fremde setzte sich.   
„Ich muss mich Euch vorstellen“, sagte sie, „ ich bin Arkana.“   
Dieser eine Name reichte, es bedurfte keiner weiteren Erläuterungen! Arkana, die Fürstin der Hohen Elfen! Jeder kannte den Namen und kein anderer in allen Ländern diesseits und jenseits der Grauen Wälder wagte es, ihn zu tragen.    
„Ich bin erfreut, die Bekanntschaft einer so erlauchten Persönlichkeit zu machen. Mein Name ist ...“, begann Batór, wurde aber von der sanften Stimme der Elfe unterbrochen.   
„Ich weiß, wer Ihr seid. Hier in diesen Ländern nennt man Euch Batór, den Flinken, Abenteurer und Meister mit der schnellen Hand, in anderen Gegenden der Menschenwelt dagegen hat man Namen für Euch, die einen weitaus weniger schmeichelhaften Klang haben. Das ist auch der Grund, warum ich von den Hohen Bergen herabgestiegen und in dieses Dorf gekommen bin. Ich wollte Euch treffen. Euch und Euren Partner.“   
Gwydion sah die Elfenfürstin mit misstrauischem Blick an.    
„Eine Hohe Elfin, ihre Fürstin gar, will mit Gwydion sprechen, Verstoßener aus einem Volk von Verstoßenen? Dies verspricht, ein wahrlich ungewöhnlicher Tag zu werden.“   
Batór wusste nur grob von den Auseinandersetzungen zwischen den Hohen Elfen auf den Bergen und ihren Vettern aus den Wäldern. Es hieß, dass alle Elfen vor langer Zeit ein einziges Volk gewesen waren, das in Eintracht auf den Säulen der Welt lebte. Ein Ereignis, von dem Menschen keine Kenntnis hatten, führte dazu, dass eine kleine Gruppe dieses Volkes von der Fürstin verstoßen wurde und in die dichten Wälder von Zamar zog. Batór wusste nicht, ob dies eine Entscheidung von ein und derselben Elfenfürstin war, die jetzt im „Gebogenen Pfeil“ vor ihm saß, jene Ereignisse mochten schon viele Generationen menschlichen Lebens zurück liegen, aber für die Elfen hatte Zeit eine andere Bedeutung. Keinem Mensch war bekannt, ob Elfen wirklich unsterblich waren, wie so manche behaupteten, aber ihr Lebensalter übertraf das der Menschen auf jeden Fall um ein Vielfaches.   
„Was ich brauche, sind Eure speziellen Talente“, fuhr Arkana, ohne auf die Bemerkung Gwydions einzugehen, fort, „Ihr kennt die die Ebene Cymryg, die die Menschen die Ebene von Grausand, die Waldelfen dagegen die Ebene von Nuadai nennen?“   
„Ich war nie dort, aber der Name ist mir natürlich ein Begriff. Viele Sagen und Geschichten ranken sich um diesen Ort. Menschen meiden ihn für gewöhnlich.“   
„Genau jenen Ort meine ich! In der Mitte dieser Ebene befindet sich ein Felsen, schmal und steil wächst er inmitten des Flachlandes heraus, weswegen er in der Sprache der Elfen auch seit jeher den Namen Cleddiff Nuadai hat, was „Schwert der Göttin Nuadai“ bedeutet. Ich möchte Euch bitten, dass Ihr genau diesen Berg aufsucht. Es ist nicht schwer, ihn zu besteigen, uralte Pfade führen bis zu seinem Gipfel. Dieser ist auf einem Durchmesser von zwanzig Schritten abgeflacht. Dort werdet Ihr etwas finden, einen Stein, rund, von der ungefähren Größe eines Kinderkopfes. Diesen sollt Ihr mir bringen.“   
Sie griff in eine Tasche ihres Mantels. Batór spürte, wie sein Gefährte erneut kurz zuckte. Und obwohl das Gesicht der Elfenfürstin weiterhin im Schatten der großen Kapuze lag, glaubte er, erkennen zu können, wie sich ein besänftigendes Lächeln in ihren Zügen ausbreitete.   
„Keine Sorge, Gwydion, Verstoßener vom Stamme der Schwarzeichen,“ sagte sie. Dann legte sie einen Beutel aus hellem Leder auf den Wirtshaustisch und schob ihn zu Batór hinüber. Dieser erkannte, dass die Elfin schwarze Samthandschuhe an ihren Händen trug   
Kein lebender Mensch hat je in das Antlitz einer Fürstin der Hohen Elfen geblickt.
Batór erinnerte sich daran, was man über die geheimnisvollen Anführerin dieses Volkes sagte. Offenbar besaß dieser Ausspruch nicht nur für das Gesicht, sondern auch für die Hände dieser Wesen Gültigkeit.   
Er griff nach dem Beutel und öffnete ihn. In seinem Inneren glitzerte es. Batór war lange genug in einem Geschäft tätig, in dem er es auch immer wieder mit Edelsteinen aller Art zu tun bekam, um nicht sofort zu erkennen, was da das trübe Licht dieser Kaschemme in dieser ungewöhnlichen Reinheit zurückwarf.    
Die sagenhaften Diamanten der Hohen Elfen! Hergestellt – so sagte man – von den Mächtigsten dieser Geschöpfe aus in reinstem Eis gefangenen Sonnenstrahlen, unzerstörbar und so ziemlich das Wertvollste, was ein einfacher Dieb wie Batór je in seine Hände bekommen würde. Er entdeckte in dem Beutel gut zwanzig Stücke dieser Steine, jeder so groß wie eine Träne. Er wusste, in diesem Augenblick könne er zum reichsten Mann diesseits der Grauen Berge werden. Nie mehr Nächte auf flohverseuchten Strohsäcken in zugigen Herbergen, nie mehr endlose Fußmärsche in alten Stiefeln voller Löcher, die munter das Wasser der Pfützen zum Einsickern einluden, nie mehr Hunger, nie mehr Durst, keine Angst mehr vor den Häschern der Reichen oder den Bütteln der Städte.   
„Dies soll Euer Lohn sein, Batór, den man den Flinken nennt.“    
Ein leises Rascheln unter der Kapuze ließ erahnen, dass sie sich nun an den Waldelfen wandte.   
„Und der Eure, werter Gwydion, wird mein Wort sein. Das Wort einer Fürstin der Hohen Elfen, das trotz allem, was geschehen ist, auch im Volk der Waldelfen von großem Gewicht ist. Ich verspreche Euch, dass, solltet Ihr diesen Auftrag annehmen und ausführen, Eure Verbannung aufgehoben werden wird.“   
Gwydion sah sie voller Argwohn an. Doch er schien der Macht von Arkana zu trauen, denn nach einigen Augenblicken des Nachdenkens deutete er mit einem wortlosen Nicken des Kopfes sein Einverständnis an.   
„Was für ein Stein soll das sein, den wir Euch bringen sollen?“ fragte Batór, „auf Bergen liegen für gewöhnlich viele Steine herum.“   
„Nicht auf diesem! Ich habe Euch gesagt, dass die Spitze des Cleddiff Nuadai von einem Plateau gebildet wird. Ich vermute, dass sich dieser Stein genau in der Mitte befindet. Es wird keine anderen Steine geben und darüber hinaus: Ich bin überzeugt, dass ihr, sobald ihr den Stein seht, wissen werdet, dass es der Richtige ist.“   
  
An diese Worte erinnerte sich Batór, als er – eingewickelt in Gwydions Mantel – am blauen Elfenfeuer seines Gefährten saß. Ein einfacher Stein, von der Mitte eines Berggipfels geklaubt, das war es, was er der Elfenfürstin bringen sollte. Er verstand nach wie vor nicht den eigentlichen Sinn, der hinter diesem Auftrag steckte. Aber Batór war kein Mann, der allzu viele Fragen stellte, vor allem, da er, eingenäht im Inneren seines Hosenbundes, deutlich die harten Rundungen der tränenförmigen Lichtdiamanten an seiner Taille spürte. Aber Arkana hatte nichts von den Gefahren erwähnt, keine Worte der Warnung ausgesprochen, die plötzlich auftretende Stürme oder erwachende Trolle betrafen. Andererseits konnte Batór auch nicht erwarten, ein solches Vermögen mit einem gemütlichen Spaziergang zu verdienen.   
Er nickte – erschöpft von den Anstrengungen und Aufregungen des Tages – nochmals ein. Als er erwachte, schwirrten ihm für einige Augenblicke noch die Bilder eines merkwürdigen Traumes in seinem Kopf herum, eines Traumes, den er, wie ihm im Moment des Erwachens klar wurde, schon oft gehabt hatte, doch noch bevor er diese Bilder festhalten konnte, verschwammen die Erinnerungen an sie. Was blieb, war das vage Gefühl, beobachtet worden zu sein. Er öffnete die Augen und war kurz geblendet von der Sonne, die bereits über den fernen, unbekannten Hügeln jenseits von Grausand aufgegangen war. Von der westlichen Ebene her drang das dunkle Grollen zu ihnen hoch, jene Geräusche, von denen Batór noch vor wenigen Stunden befürchtet hatte, dass es das letzte wäre, was er in seinem Leben hören würde. Die Trolle waren wach. Sie redeten miteinander auf ihre urtümliche Art. Batór fragte sich, was sie wohl vorhatten. Würden sie in der Ebene verweilen, weil ein uralter Zauber sie an diesem Ort band oder würden sie sich anschicken, ihre vor Jahrtausenden jäh unterbrochenen Kriegszüge wieder aufnehmen? Batór dachte mit Schaudern daran, was diese steinernen Riesen mit den Menschen anzustellen imstande waren. Kein Schwert, kein Pfeil könnte sie aufhalten, einzig Magie wäre dazu in der Lage! Das Geschlecht der Menschen war der Magie nicht mächtig und die Elfenvölker hatten bisher immer wenig Anteilnahme gezeigt an den Geschicken des Volkes der Elohim, wie diese Batórs Volk zu nennen pflegten. Es war äußerst zweifelhaft, ob das Lichtvolk den Menschen gegen die Trolle beistehen würde.   
Ich habe sie erweckt! Die Menschheit wird viel Leid erdulden müssen und das nur wegen meiner Gier!   
Plötzlich fühlten sich die kleinen Diamanten in seinem Hosenbund so schwer an wie Mühlsteine.   
Er stand auf und machte die zwei Schritte zum Rand des kleinen Plateaus. Er blickte hinab in die Ebene. Dort hatte sich dichter Nebel gebildet, vermutlich eine Folge der Regenfälle in der vergangenen Nacht. Das Grollen der Steinwesen erklang inmitten des dichten, grauen Dunstes, ganz so, als würde sich ein Gewitter zusammenbrauen und zwar in völliger Verkehrung der Natur direkt unter ihm auf dem Erdboden.   
„Du machst dir Gedanken über die Trolle?“ fragte Gwydion. Er war neben Batór an den Rand des Plateaus getreten.   
„Was werden diese Wesen jetzt tun?“   
„Was sie schon immer getan haben. Kämpfen. Kriege führen.“   
Der Waldelf blickte seinen Freund mit seinen blassen Augen an.   
„Es waren nicht wir, die diese Wesen erweckt haben“, sagte er, „und wir sind auch nicht dafür verantwortlich, was geschehen wird.“   
„Aber wenn wir nicht hier erschienen wären? Es kann doch kein Zufall sein, dass die Trolle in dem Augenblick erwachen, in dem wir mit dem Vorhaben auftauchen, auf diesen verfluchten Berg zu steigen und einen Stein von dort mitzunehmen?“   
„Es ist sicher kein Zufall“, antwortete der Waldelf, „aber unser Erscheinen und das Erwachen der Trolle könnte jeweils die Folge von ein und derselben Ursache sein.“   
„Ich verstehe nicht“, sagte Batór.   
„Ich auch nicht. Noch nicht.“   
Gwydion drehte sich ab und begann, Vorbereitungen für den Aufbruch zu treffen. Batór kannte seinen Gefährten gut genug, um zu wissen, dass es keinen Sinn hatte, ihn näher über seine zuletzt gesprochenen Worte zu befragen.    
Sie machten sich an den weiteren Aufstieg. Mit vorsichtigen Schritten folgten sie jenem schmalen, uralten Pfad, der sich steil dem Gipfel zu wand. Die Sonne wanderte langsam nach oben und ihre Wärme sorgte dafür, dass ihre Kleidung, die an diesem Morgen immer noch klamm und feucht war von dem Gewittersturm des vergangenen Abends, trocknete. Batór spürte ein leichtes Taubheitsgefühl im Bereich seines Knöchels, das einzige, was von seiner Verletzung und der anschließenden Heilung durch Elfenmagie dort noch zu verspüren war. Es behinderte ihn aber keinesfalls beim Aufstieg. Sie marschierten einige Stunden in gleichmäßigem Tempo, ließen die dunstige Ebene weit unter sich. Keine Luft regte sich hier oben, nirgends war auch nur die kleinste Pflanze oder ein Tier - und sei es nur eine Fliege - zu sehen. Batór hatte den Eindruck, in eine Welt vorzudringen, wie sie es vor der Erschaffung alles Lebens, alles Seins gegeben haben muss. Einzig die Sonne, die ihren Lauf unverändert fortsetzte, bewies ihm, dass dieser Ort zumindest den Lauf der Zeit kannte. Sie stieg unbeirrbar weiter in die Höhe, bis sie fast senkrecht über ihren Köpfen stand und trotz der Höhe, die sie mittlerweile erreicht hatten, die unbewegte Luft so aufheizte, dass Batór die Kleidung erneut, diesmal allerdings aufgrund des Schweißes, am Leibe klebte. Dennoch marschierten sie ohne Rast weiter, Batór war lange Fußmärsche gewohnt und Gwydion ... nun, Gwydion war ein Elf und konnte, wenn es sein musste, tagelang ununterbrochen laufen. Man sagte, dass Elfen nicht einmal Schlaf benötigten oder zumindest nicht, um ihren Körper zu erholen, sondern nur, um zu träumen. Denn wenn es Elfen nach Erkenntnissen, nach Antworten auf große Fragen verlangte, suchten sie die rätselhafte Welt der Träume auf, die für sie ebenso wahrhaftig war wie jede andere der Welten, in denen dieses Volk noch leben mochte. Batór wusste wie alle Menschen wenig über diese Traumreisen, es galt als eines dieser gut gehüteten Elfengeheimnisse, über die Gwydion nie mit jemanden reden würde, der nicht von seinem Geschlecht war.   
Es war bereits später Nachmittag, als sie sich dem letzten Teil ihrer Reise, dem Gipfel des Cleddiff Nuadai, näherten. Auf den letzten Schritten wand sich der Pfad in einer gleichmäßigen Spirale um den Berg. Batór entdeckte, dass hier riesige Reliefs in den Fels gehauen worden waren, die wie ein mannshohes, riesiges Band den schmalen Weg begleiteten. Es waren merkwürdige Bilder, primitiv, urwüchsig und doch kunstvoll, von einer außergewöhnlichen Ausdruckskraft. Batór erkannte mächtige Drachen und schlanke Lindwürmer, hässliche Bergriesen, vermischt mit einfachen Darstellungen von Gestalten, die eine grobe Ähnlichkeit mit Elfen hatten, dazwischen Zeichnungen von unbekannten hirschartigen Tieren mit gewaltigen Geweihen, dämonischen Gestalten mit grauenerregenden Fratzen und noch fremdartigeren und geheimnisvolleren Kreaturen, deren Gestalt so bizarr waren, dass sie aus den schrecklichsten Alpträumen der geheimnisvollen Schöpfer dieses Reliefs zu stammen schienen. All diese Zeichnungen waren miteinander verwoben, gingen ineinander über, so als wäre das ganze Bildnis die Darstellung eines einzigen ausufernden Organismus voller urtümlicher Kraft und drallen Lebens. Nirgends in diesem riesigen Relief war etwas zu erkennen, was man als die Darstellung eines Menschen hätte deuten können. Batór war klar, das diese Zeichnungen alt, sehr alt sein mussten, entstanden möglicherweise in jenen lange vergangenen und sagenumwobenen Zeitaltern der Dämonenkönige, viele Jahrtausende, bevor der erste Mensch die Bühne der Welt betrat.   
Batór legte seine flache Hand auf den Felsen. Der Stein war glatt zwischen den Ritzungen und strahlte eine Wärme aus, wie sie sich nicht alleine nur durch die Kraft der Sonne erklären ließ. Es war fast so, als würde eine Art von urtümlicher Lebendigkeit in diesem gewaltigen Felsenbild stecken, so, als wäre nicht nur die Abbilder der Wesen in diesem Stein festgehalten worden, sondern damit auch ein Teil ihrer eigenen Lebensenergie. Merkwürdige traumartige Bilder erschienen in Batórs Kopf, von bleichen, elfenähnlichen Wesen, die nackt auf eisigen Berggipfeln saßen und wohlwollend auf eine Welt voller Ungeheuer, voller Dämonen und voller noch ungewöhnlicherer Wesen waren, von denen Batór nicht sagen konnte, ob sie Tier, Pflanze oder gar selbst elfischen Ursprungs waren. Gleichzeitig spürte er in sich eine fremde Präsenz, fühlte eine merkwürdige einfache und doch gleichzeitig machtvolle Art des Denkens und des Fühlens, die ihm in einer primitiven Sprache vermittelt wurde, einer Sprache, die zwar einerseits mehr den Lauten von Tieren als den Worten der Menschen ähnelte, gleichzeitig aber von so großer Reinheit und Klarheit war, dass sie mehr Wahrheit auszudrücken in der Lage zu sein schien als jede andere Sprache auf dieser Welt.  
Erschreckt von der Fülle der Bilder und Eindrücke, die auf ihn einströmten, zuckte seine Hand zurück. Die Visionen verschwanden im selben Augenblick aus seinem Geist.  
Er sah den Waldelf an. Dieser hatte ebenfalls seine Hand auf der Oberfläche des Reliefs liegen. Sein Blick war starr, die Augen schienen zu leuchten in dem Blau eines mittäglichen Ozeans, dessen unruhige Wasseroberfläche das Licht der Sonne in einem tausendfachen Glitzern zurückwarf, seine Mimik, die sonst, wie bei allen Elfen, für Menschen so undurchschaubar war, verriet innere Anspannung und Erregung.   
Dann löste auch er die Hand vom Felsen. Er entspannte sich und blasse Ruhe kehrte in seinen Augen zurück. Batór war klar, dass das, was er selbst soeben erlebt hatte, machtvolle Visionen gewesen sein mussten, hervorgerufen von der schöpferischen Magie der Wesen, die dieses ungewöhnliche Bild einst geschaffen hatten. Aber selbst wenn sogar er, als einfacher Mensch ohne jegliche magische Fähigkeiten, diese Macht, die von dem Relief ausging, so intensiv wahrgenommen hatte, was musste dann erst ein Elf spüren, welche Bilder musste er gesehen haben.  
„Von wem stammen diese Bilder?“, fragte Batór seinen Freund.  
„Ich weiß es nicht genau“, gab dieser zurück, „sie sind sehr alt.“  
„Sie sehen nicht so aus. Ich erkenne kein Zeichen von Verwitterung, all diese Figuren erscheinen so deutlich, als seien sie erst gestern in den Felsen geschlagen worden.“  
„Es ist der Ort. Die Sonne zieht zwar jeden Tag - wie überall auf der Welt - ihre Kreise, aber ansonsten scheint hier die Zeit ohne Bedeutung zu sein.“  
Batór erinnerte sich daran, wie er beim Aufstieg das Gefühl gehabt hatte, auf einem kargen Felsen zu wandern, der so verlassen und so leblos war, das selbst der Wind ihn zu meiden schien. Hier schien tatsächlich die Zeit stillzustehen. Und das Leben selbst, das ohne Zeit nicht existieren konnte, hatte hier keine Chance.  
„Diese Bilder“, fuhr Gwydion fort, „müssen in jenen Tagen entstanden sein, als es noch keine Elfen gab.“  
„Ich dachte, Elfen hätte es schon immer gegeben, von Anbeginn aller Zeiten an!“  
Gwydion lächelte sanft und Batór wurde im selben Augenblick klar, dass er soeben hinter eines dieser Elfengeheimnisse geblickt hatte. Die Menschen – so sagte man – waren ein junges Volk, sie hatten nicht die Gelehrtheit der Elfen, sie beherrschten nicht deren Magie, starben jung und ohne Weisheit erlangt zu haben, aber Batór las in dem Lächeln seines Freundes, dass auch die Elfen kein Volk waren, das schon immer existiert hatte, das, wie sie die Menschen gerne Glauben machen wollten, sogar an der Schöpfung der Welt selbst beteiligt gewesen war.  
„Aber ich spüre, dass Magie steckt in diesem Bildnis“, fuhr der Waldelf fort, „es berichtet von einem lange vergangenen Volk, das mächtiger war als selbst die Winterelfen, es erzählt Geschichten, die so alt sind, dass vermutlich selbst die Weisen der Hohen Elfen keine Kenntnis mehr davon haben.“  
Er blickte Batór an. Jene undurchdringliche Mimik, mit der alle Mitglieder seines so ernsten Volkes den Menschen begegneten, war wieder in sein Gesicht zurückgekehrt.  
„Ich hatte von Anfang an ein schlechtes Gefühl bei dieser Sache. Ich habe Arkana noch nie getraut! Und dieser Ort trägt nicht gerade zu meiner Beruhigung bei.“  
„Und dennoch werden wir ihren Auftrag, diesen Stein zu holen, erledigen“, sagte Batór, „denn es ist sicher nicht sehr ratsam, einen Kontrakt, den man mit einer Fürstin der Hohen Elfen geschlossen hat, nicht zu erfüllen.“  
Sie setzten ihren Weg fort. Nach wenigen Schritten endete der schmale Pfad und sie erreichten sie das Plateau. Ganz so, wie es die Elfenfürstin beschrieben hatte, war es sehr flach, so als hätte einst jener urzeitliche Riese, der den ganzen Berg hier in die Ebene verpflanzt hatte, anschließend auch noch seine Spitze mit einer gewaltigen Waffe glatt abgetrennt. Das Plateau hatte einen ungefähren Durchmesser von vielleicht zwanzig Schritten und war fast kreisrund. Die Oberfläche war vollständig bedeckt von dunklem Staub. Sehr fein und von schwärzlich-grauer Farbe, überzog er das ganze Plateau wie eine dicke Schicht aus dunklem, pulverigem Schnee. Und im selben Augenblick, als Batór dieses Stoffes gewahr wurde, spürte er auch den merkwürdigen Geruch, der von dieser Substanz auszugehen schien. Es war eine Mischung aus dem beißenden Gestank von Verwesung und dem trockenem Geruch kalter Asche, dazwischen nahm er aber auch andere, sehr fremdartige Aromen wahr. Dennoch war ihm als erfahrenen Waldläufer eines sofort klar: Diese Hochfläche war ein Ort des Todes, irgendjemand oder irgendetwas hatte hier sein Leben beendet und dieser dunkle Staub war das, was von diesem Wesen übrig war. Er zog instinktiv sein Schwert.  
Doch auch hier herrschte die gleiche, merkwürdige Ruhe vor, wie er sie während des ganzen Aufstieges verspürt hatte. Er betrat – die Waffe immer noch in der Hand – das Plateau. Seine Füße sanken leicht ein in dieser pulverigen Masse. Schritt für Schritt, breite Fußspuren hinterlassend, ging er auf die Mitte der Hochfläche zu. Dort befand sich – ganz wie es die Elfenfürstin vorausgesagt hatte – ein Stein. Er wirkte unauffällig, wie normales Geröll, das man auf allen Bergen dieser Welt fand. Seine Farbe war vielleicht ein wenig zu schwarz für etwas, von dem man annehmen mochte, dass es die Gewalten der Natur in einem über viele Jahrtausende hinweg andauernden Prozess hervorgebracht hatten, die Oberfläche eine Spur zu glatt, der ganze Stein zu rund, ohne Ecken oder Kanten, ganz so, als hätte sich ein merkwürdiger, ein wenig zu groß geratener Flusskiesel hier auf den Cleddiff Nuadai verirrt. Und er lag auf der Staubschicht! Was es auch immer war, was die Ursache für dieses aschenartige, stinkende Pulver war, der Stein gelangte erst danach auf diesen Berggipfel.  
Batór trat näher an den Stein heran.  
„Das hätten wir ja dann“, sagte er.  
Er steckte sein Schwert ein und bückte sich, um nach dem Felsbrocken greifen zu können.  
„Sei vorsichtig!“ zischte Gwydion.  
Batór grinste.  
„Was hast du? Wir schnappen uns den Stein und sehen zu, dass wir von hier verschwinden. Am besten auf eine Weise, die etwas weniger die Aufmerksamkeit der Trolle erweckt. Wir bringen dieses Ding Arkana und anschließend lasse ich mich in einer dieser großen Städte jenseits der Grauen Wälder nieder und du kannst zurückkehren zu deinem Volk. Ich weiß, dass das all die Jahre dein sehnlichster Wunsch gewesen war, auch wenn du nicht mit mir darüber geredet hast.“  
„Kommt es dir nicht eigenartig vor?“ fragte Gwydion, „Arkana, die mächtigste der Elfen und ohne Zweifel auch die Weiseste und ganz sicher die Person mit der größten Zauberkraft, beauftragt einen einfachen Menschen und den Ausgestoßenen der Ausgestoßenen, um ihr einen scheinbar völlig belanglosen Stein zu bringen?“  
Batór erhob sich, ohne den Felsbrocken angetastet zu haben.  
„Du spürst irgend etwas, ist es nicht so? Irgendeiner deiner elfischen Sinne sagt dir etwas!“  
„Ich denke, sogar du kannst es spüren“, gab Gwydion zurück, „es ist in dieser Luft.“  
Batór dachte über den merkwürdigen Geruch nach, den er im selben Augenblick bemerkt hatte, als sie den Gipfel des Cleddiff Nuadai ansichtig geworden waren. Ein Geruch, der eindeutig von dem dunklen Staub unter seinen Stiefeln herrührte.  
„Was ich spüre“, fuhr der Waldelf fort, „ist die Anwesenheit des Todes!“  
„Des Todes?“ Natürlich war dies auch dem Waldelf nicht entgangen.  
„Hör mir zu, mein menschlicher Freund! Es muss einen Grund geben, warum Arkana gerade uns geschickt hat. Das Handeln dieser Elfin war noch nie von Zufällen bestimmt gewesen. Irgendetwas hat hier auf dem Gipfel des Berges den Tod gefunden. Irgendetwas sehr Altes und Mächtiges. Ich habe es in der vergangenen Nacht gespürt, habe wahrgenommen, wie hier auf dem Gipfel der Tod Einzug gehalten hatte, während du im Heilschlaf lagst. Die Trolle, die von ihrem Bann erlöst wurden in dem Augenblick, als wir durch sie hindurch marschierten, waren ein Hinweis.“  
„Sie wurden von uns erweckt. Irgendein Zauber, der dazu diente, den Berg zu beschützen, wurde durch unser Erscheinen auf der Ebene von Nuadai ausgelöst.“  
„Diese Trolle standen schon seit vielen Jahrtausenden da, regungslos und eingesperrt in massiven Felsbrocken. Denkst du nicht, dass nicht zuvor schon einmal irgendjemand in dieser langen Zeit die Ebene betreten hat? Ich kenne diese unglaubliche Neugierde der Menschen. Sie haben den merkwürdigen Drang, sich Dinge aus der Nähe ansehen zu wollen, sie benötigen dazu im Allgemeinen keinen anderen Antrieb als ihre eigene Wissbegier. Warum wurden die Trolle also nicht schon vor langer Zeit geweckt? Nein, dies geschah nicht, weil wir einen entsprechenden Zauber auslösten. Sie erwachten, weil sie befreit wurden. Befreit durch den Tod!“  
Batór sah sich um. Er spürte einen leichten Windhauch. Einige Körnchen des dunklen Staubes wurden aufgewirbelt, drehten sich wie eine winzige Windhose spiralig nach oben, bevor sie über den Rand des Plateaus hinweg in die Weite der Ebene getragen wurden.  
„Wessen Tod?“ fragte er.  
„Ich weiß nicht, wie weit du bewanderst bist, was die alten Sagen angeht. Aber ich kann mir nur ein Wesen vorstellen, an dessen Leben das Schicksal der Trolle gebunden ist.“  
„Anzu!“ rief Batór in einem plötzlichen Moment der Erkenntnis aus, „der König der Drachen!“  
Der Waldelf lächelte.  
„Du weißt mehr, als ich gedacht hätte. Es stimmt, die alten Geschichten besagen, dass das Volk der Trolle bestraft wurde, weil es die Drachen mit einem vernichtenden Krieg überzogen hatte. Sie wurden gebannt in den Monolithen auf der Ebene von Nuadai. Und dass der Zauber gebunden war am Leben des letzten der Drachen, erscheint mir nur folgerichtig.“  
 „Und sein Tod löste diesen Zauber. Das hieße, dieser Staub ist der Überrest von Anzu?“  
„Man sagt, dass der Körper eines Drachen aus reiner Magie besteht. Und stirbt er, zerfällt dieser zu Staub. Und nichts bleibt übrig. Nichts, außer dem Herz des Drachens.“  
„Das Herz?“  
Batór starrte auf den schwarzen, glatten Stein zu seinen Füßen. Staub wirbelte in der aufkommenden Brise um den Brocken herum, begann ihn mit einem grauen Überzug zu bedecken.  
„Das bedeutet, dass Arkana uns den Auftrag gegeben hat, ihr das Herz des Drachenkönigs zu bringen?“  
 „Und das“, gab der Waldelf mit leiser Stimme zurück, „gibt mir zu denken. Dieser Stein ist – wenn ich Recht habe – ein Gegenstand von großer Bedeutung und zwar nicht nur für Arkana und ihr Volk, sondern für die ganze Welt. Warum beauftragt die Elfenfürstin ein paar kleine, unbedeutende Diebe, wie wir es sind, damit, ihn zu beschaffen? Es wäre für sie oder auch jedem anderen Hohen Elfen ein leichtes, hierher zu kommen. Sie könnten auf ihren geflügelten Pferden reisen, die so schnell sind wie der Falke, wenn er auf seine Beute hinab stürzt, oder sie könnten über die verschlungenen Pfade der Welt auf der anderen Seite der Spiegel zu diesem Berg gelangen. Sie könnten – mit Hilfe ihrer Magie – problemlos der Gefahr einer Auseinandersetzung mit rauflustigen Trollen aus dem Weg gehen. Warum also ausgerechnet wir?“  
„Das kann ich dir sagen, Waldelf!“  
Die dröhnende Stimme ertönte direkt über ihren Köpfen. Batór blickte nach oben, während seine Hand er in einer reflexartigen Bewegung an den Griff seines Schwert ging. Doch dann verharrte er, erschreckt und verwirrt von dem, was seine Augen sahen. Diese Worte waren von einem Wesen gekommen, das schräg über ihnen in der Luft zu hängen schien. Es verdeckte die nachmittägliche Sonne, so, dass sein Körper nur als schattenhafter Umriss zu erkennen war. Dennoch konnte Batór erahnen, welche Ausmaße dieses Geschöpf hatte. Sein Körperbau war in ungefähr der eines Menschen, die Figur schlank und grazil wie die einer jungen Frau, gleichzeitig aber war diese Kreatur so gewaltig, so riesig, dass sie den größten Mann um mehr als das doppelte überragen würde. Das Erstaunlichste aber waren die Flügel, die, den Schwingen eines Adlers ähnlich aus den Schultern dieses Wesens wachsend, dieses in der Luft zu halten schien wie einen Raubvogel, der, vom Luftstrom getragen, über seiner Beute schwebte und darauf wartete, herabzustoßen. In der Hand hielt dieses fremdartige Geschöpf einen kurzen Speer, dessen breites Blatt silbern in der Sonne glitzerte. Ansonsten hatte es nichts bei sich, nicht einmal Kleider konnte Batór an dem riesigen Körper erkennen.  
„Maa-Kial!“ rief Gwydion aus. Auch er hatte sein schlankes Elfenmesser gezogen.
Ein Lachen erklang, dumpf grollend und so laut, dass Batór den Eindruck hatte, dass sogar der Boden unter seinen Füssen erzitterte.  
„Maa-Kial!“ echote die Stimme der Kreatur mit verächtlichem Ton, „der Name, den mir die Elfen gegeben haben. Das Volk der Menschen nannte mich einst Eosfor oder Morgenröte. Doch die Winterelfen sorgten dafür, dass sie mich und meinen Namen vergaßen!“  
Langsam sank das Wesen herab und landete am Rande der Plattform. Die Flügel aber hielt es nach wie vor ausgebreitet, sie erstreckten sich fast über die gesamte Breite des Plateaus. Jetzt, nachdem es den Schatten der Sonne verlassen hatte, konnte Batór dieses Geschöpf besser erkennen. Tatsächlich trug es keine Kleidung, aber nichts an dem riesigen Körper ließ erkennen, ob es männlichen oder weiblichen Geschlechts war. Es hatte eine glatte, glänzende Haut von rötlichem Schimmer und auch die schulterlangen, gelockten Haare leuchteten in der Farbe des Morgenrots. Das Gesicht war glatt, ebenmäßig geschnitten, von einer ungewöhnlichen Schönheit. Ein wenig erinnerte ihn dieses Wesen an die Skulpturen von Göttern, wie sie Batór in den Städten jenseits der Grauen Berge gesehen hatte. Doch trotz der schlanken Figur schien eine urtümliche Kraft in diesem gewaltigen Körper zu ruhen, die es Batór ratsam erscheinen ließ, keine unbedachten Bewegungen mit seinem Schwertarm zu machen. Zumal diese Kreatur darüber hinaus eine Wärme ausstrahlte, die weit über die Körpertemperatur eines jeden Wesens, dem Batór je begegnet war, hinauszugehen schien. Er hatte fast den Eindruck, er könne verbrennen, würde er sich diesem Maa-Kial zu sehr nähern.  
Die Augen des Wesens waren im Gegensatz zu dem leuchtenden Rot des gesamten Körpers einschließlich der Federn seiner Flügel von dem dunklen Schwarz eines Teiches aus reinem Teer. Sie waren auf Batór gerichtet, musterten ihn von oben bis unten.  
„Du bist ein Mensch“, stellte Maa-Kial fest, „ich habe schon lange keinen Menschen mehr gesehen.“  
Ein Lächeln umspielte das rote Gesicht. Das Wesen wandte sich an Gwydion.  
„Ein prächtiges Exemplar. Ich muss zugeben, ich bin immer noch stolz auf dieses Volk.“  
 „Was soll das bedeuten?“, fragte Batór seinen Gefährten.  
 Gwydion schwieg. Mit angespannter Miene beobachtete er das fremde Geschöpf.  
„Er wird es dir nicht sagen, Mensch!“  
„Ich dachte, man hat Euch besiegt“, sagte Gwydion, den Blick immer noch starr auf Maa-Kial geheftet.  
Batór spürte, dass da etwas war zwischen diesem Wesen und dem Elfen, ein abgrundtiefer Hass, eine Feindschaft, die so alt war, dass sie schon bestanden haben musste, lange bevor er selbst oder möglicherweise sogar Gwydion das Licht der Welt erblickt hatten.  
„Ihr habt uns nicht alle niedergezwungen“, sagte Maa-Kial und hob seinen Speer in die Höhe, „und du allein wirst mich nicht besiegen können. Oh, es ist viele Jahrtausende her seit unseren Schlachten mit den Winterelfen. Ich habe viele von ihnen getötet und im Gegensatz zu diesen bist du ein schwaches Wesen, deine Magie hat nur ein Bruchteil der Kraft, die auch nur der Geringste deiner Vorfahren aufbringen konnte. Oh, ja. was ich sehe, ist nur ein trauriger Abklatsch dessen, was sich in früheren Tagen Elf nennen durfte.“  
Maa- Kial lachte dröhnend.  
„Ich habe es schon immer gewusst: Auch das Zeitalter der Elfen wird irgendwann enden. Und das offensichtlich auch ohne mein Zutun.“  
Batór stand immer noch in der Mitte des Plateaus, mit dem Stein zu seinen Füssen und der Hand am Griff seines Schwertes.  
„Gwydion“, zischte er seinen Freund an, „was ist hier los?“  
„Von ihm wirst du keine Antwort erhalten“, sagte Maa-Kial, „Elfen haben schon immer sehr viel Wert darauf gelegt, ihre Geheimnisse zu hüten. Und dieses Geheimnis würden sie ganz sicher keinem Menschen anvertrauen.“  
 Er deutete eine Verbeugung an, was bei diesem gewaltigen Wesen ein wenig sonderbar wirkte.  
„Ich bin ein Elohim.“  
„Elohim“, murmelte Batór, „dieses Wort kenne ich. Die Elfen nennen die Menschen Kinder der Elohim.“ 
„So? Und weißt du auch, wieso?“ fragte Maa-Kial nach.  
„Nein, das ist ...“  
„... ein Elfengeheimnis?“  
„Ja.“  
Erneut lachte das Wesen.  
„Dann höre die Wahrheit, Mensch! Natürlich nur, wenn es dein elfischer Freund zulässt.“  
Gwydion stand nach wie vor am dem Fremdling gegenüber liegenden Rand des Plateaus. Er hielt sein glänzendes Elfenmesser vor sich ausgestreckt. Obwohl kein sterblicher Mensch es wagen würde, auch nur in die Nähe einer solchen Klinge zu geraten, wirkte es dennoch lächerlich klein und harmlos im Vergleich zu der Macht und der Kraft, die der Elohim ausstrahlte. Nach einigen langen und wortlosen Augenblicken, während denen die feindselige Stimmung geradezu in der Luft zu hängen schien wie zuvor der Geruch des Todes, entspannte sich der Waldelf und steckte seine Waffe zurück in die Scheide.  
„Was gehen mich diese alten Geschichten alt“, murmelte er, „ich bin ein Verstoßener. Im Grunde bin ich ohnehin schon mehr Mensch als Elf.“  
Solche Worte hatte Batór noch nie aus dem Munde seines Freundes gehört. Aber ihm war klar, dass eine gewisse Wahrheit in ihnen ruhte. Seit Jahren zogen sie beide durch die Welt der Menschen. Anderen Elfen waren sie nie begegnet, da diese die Kinder der Elohim, wie sie Batórs Volk zu bezeichnen pflegten, mieden. Nun, einmal allerdings waren sie natürlich einen Elfen begegnet, es war an jenem Nachmittag in einem heruntergekommenen Dorf mit dem Namen Zwergenstein in einer dunklen Taverne, die von einem einarmigen Halunken geleitet wurde. Aber Gwydion war, auch wenn sein Aufeinandertreffen mit den Menschen noch häufig eher von Argwohn und Furcht als von Freundschaft und Herzlichkeit begleitet waren, immer mehr zu einem Teil der Welt Batórs geworden, Teil der Welt der Kinder der Elohim. Und nie hatte er in all den Jahren auch nur ein Wort verloren über sein eigenes Volk, den versteckt lebenden Waldelfen.  
Maa-Kial wertete die Geste Gwydions offenbar als Einverständnis, das Geheimnis der Elfen einem Menschen anzuvertrauen.  
„Höre, Sterblicher“, sagte er, „Die Elohim sind, nein, sie waren Schöpfer. Es ist uns, meinen Geschwistern und mir, zu verdanken, dass die Welt so ist, wie sie ist. Wenn ihr Menschen noch von uns wüsstet, würdet ihr uns Götter nennen, ihr würdet uns anbeten in Tempeln und an heiligen Hainen. Aber die Elfen haben alles dafür getan, um eure Erinnerung an uns zu löschen. Wir waren einst vier Geschwister, geschlüpft aus einem Ei. Unsere Namen waren Gib-Rial, Ra-Hal, Urial und Maa-Kial. Wir kamen in eure Welt, jung und ohne Weisheit, so wie alle Lebewesen am Tage ihrer Geburt. Die Welt war damals eine andere, sie war bedeckt von Eis und Schnee, riesige Gletscher durchzogen das Land und die Meere waren zugefroren. Es gab nur wenige Lebewesen in dieser Ödnis, die Herrscher dieser Welt aber waren das Volk der Winterelfen. Zunächst nahm sie sich unser an, ließen uns an ihrer Weisheit teilhaben, zeigten uns ihre Magie des Eises. Aber nach kurzer Zeit – es waren einige Jahrtausende, für Menschen somit eher eine halbe Ewigkeit – erkannten meine Brüder und ich unsere eigenen Fähigkeiten, die weit über die der Winterelfen hinausging. Und wir entdeckten unsere Bestimmung. Wir waren geboren und auf diese Welt gesandt worden, um zu schaffen! Um aus einem kargen Felsen voller Eis und Schnee eine neue Welt zu formen, eine Welt, die angefüllt war von Leben aller Art, von riesigen Bäumen, von endlosen Wiesen, von dem kleinstem Getier bis hin zu gewaltigen Meeresfischen und nicht zuletzt von Wesen, die in der Lage waren, zu denken und zu fühlen ...“  
„... und Euch anzubeten!“, ergänzte Gwydion und wandte sich an Batór, „denn eine ihrer Eigenschaften, die sie den Winterelfen voraus hatten, war ihre grenzenlose Eitelkeit. Du kennst diese fragwürdige Tugend, denn sie haben auch den Menschen ein ganzes Stück davon mitgegeben.“  
„Oh, ja. Eitelkeit und das Verlangen nach Schönheit, Dinge, mit denen Elfen noch nie viel anzufangen wussten. Weswegen sie sich auch damit zufrieden gaben, über eine leblose Welt ohne Farben, ohne Freuden und ohne Wärme zu herrschen.“  
„Für einen Elfen ist eine solche Welt das Höchstmaß an Schönheit, rein und klar und ohne die Verunreinigungen des wuchernden Lebens, das Ihr erschaffen habt!“  
„Ich bin nicht zurückgekehrt, um mich mit dem Abkömmling der Winterelfen in Disputen über den Begriff von Schönheit zu ergehen!“ donnerte Maa-kial.  
Dann wandte er sich wieder an Batór.  
„Wir trennten uns von den Winterelfen. Wir zogen in jene einsamen Gegenden, die nicht von ihnen besiedelt waren. Und dann begannen wir unser Schöpfungswerk. Gib-Rial, der so, wie ich die Farbe Rot trage, an seinem ganzen Körper von blauem Schimmer war, verwandelte Gletscher in Seen und schmolz das Eis der Meere, um die Tiere des Wassers zu schaffen. Sein Volk war das der Nixen oder Nöcks, wie es in den alten Sprachen genannt wurde. Ra-Hals Farbe dagegen war Grün, er war der Schöpfer alle Pflanzen und viele Tiere des Waldes und er schuf das Baumvolk, das in der Sprache der Elfen als Dryaden bezeichnet wurde. Urials Farbe war Silber, er war der Schöpfer der Lüfte und der Bergwelten, sein Volk war das der Trolle. Er war im Übrigen der erste von uns, der sich eine eigene Rasse erschuf. Ich muss zugeben, dass das Ergebnis nicht gerade sehr zufriedenstellend war, diese Geschöpfe waren dann doch etwas grob in der Ausführung, außerordentlich primitiv im Denken und Sehnen und in ihrem ganzen Aussehen ganz sicher kein vorteilhafter Anblick für jemanden, der Schönheit schätzt. Ihr habt sein Volk ja kennen gelernt. Nun, Urial hatte möglicherweise einen etwas anderen Begriff von Ästhetik als ich, er liebte die raue und derbe Welt der Berge und die Reinheit der hohen Lüfte mehr als die Lebendigkeit in den Niederungen. Nun ja, ein wenig hatte er etwas von einem Elfen ...“
Maa-Kial lachte kurz auf.  
„Meine Schöpfung hingegen“, fuhr er fort, „war die der Menschen, ich formte sie und lehrte sie den Umgang mit dem Feuer, weswegen sie mich Eosfor nannten, was "Der Bringer des Lichts" bedeutete. Ich brachte ihnen auch bei, wie man Erze schmolz, um Waffen und Werkzeuge zu schaffen, zeigte ihnen, wie man jagte, aber auch, wie man liebte und hasste, wie man begehrte und wie man dieses Begehren stillte und Zufriedenheit erlangte. Vor allem die letzteren waren Dinge, die den Winterelfen weitgehend unbekannt waren.“  
Er lächelte und sah Gwydion an. Dieser schwieg.   
„Als die Winterelfen aber sahen, was wir taten, bemerkten sie, dass die Welt, welche die Elohim schufen, nicht mehr die ihre war. Und sie forderten von uns, all unsere Schöpfungen rückgängig zu machen. Natürlich taten wir das nicht. Und so kam es unweigerlich zum Kampf. Es war ein gewaltiger Krieg, von dem ihr euch kaum eine Vorstellung machen könnt, die Völker der Trolle, der Menschen und Dryaden marschierten vereint gegen die Winterelfen, während die Nixen unterhalb der zugefrorenen Meere und Flüsse schwimmend direkt in die Eisfestungen der Elfen zu gelangen versuchten, um diese von innen her zu bekämpfen. In manchen Schlachten wurde soviel Magie freigesetzt, dass die ganze Welt drohte, auseinander zu brechen. Lange sah es unentschieden aus, der Blutzoll allerdings war hoch, fast die gesamte Rasse der Dryaden wurde ausgerottet, es gibt auch heute nur noch wenige dieses Volkes in sehr abgelegenen uralten Wäldern und auch das Volk der Menschen nahm an Zahl deutlich ab. Dennoch waren wir trotz der Kämpfe weiter damit beschäftigt, die Welt zu formen. Und während die Winterelfen auf den Schlachtfeldern erfolgreich waren, wurde ihre Welt des Eises und des Schnees immer kleiner und machte Platz für die Wälder und Steppen Ra-Hals, für die eisfreien Meere und Flüsse Gib-Rials und die Wärme der Sonne, für die ich zuständig war. Die Winterelfen begriffen. Sie begannen nun damit, uns, die Elohim selbst anzugreifen, anstatt sich mit unseren Völkern herumzuschlagen. Urial war der erste, den ihre Zauberfürsten bezwangen, später traf es Gib-Rial. Ra-Hal und ich begriffen, dass wir uns aus den Kämpfen heraushalten mussten, denn waren erst wir besiegt, dann war auch unsere gesamte Schöpfung zum Untergang verurteilt. Und so trafen wir einen folgenschweren Entschluss. Schon lange hatten wir bemerkt, dass es auf der Welt auch eine Zeit vor dem Winter gegeben hatte. Es gab Überreste, alte Knochen oder geheimnisvolle Aufzeichnungen wie jene Bilder hier auf diesem Berg. Und es gab eine Rasse urzeitlicher Geschöpfe, die sich, als der lange Winter kam, dazu entschlossen hatten, in die tiefsten Höhlen unter der Erde zu kriechen und dort zu schlafen, bis es jemanden in den Sinn kam, sie zu wecken.“  
Der Elohim senkte seine Lanze und deutete mit der Spitze des Blattes auf den dunklen Stein.  
„Dies ist so ein Wesen. Man sagt, es sei nur sein Herz, aber in Wirklichkeit besteht es aus diesem Kern. Dieser ist im Grunde in der Lage, einen Körper ganz nach seinem Wunsch um sich herum zu erschaffen, aber diese Wesen wählten zu allen Zeiten immer die Form des Drachen. Mein Bruder und ich, wir wussten von diesen Geschöpfen. Und wir sahen unsere letzte Hoffnung in ihnen. Wir stiegen hinab in jene Höhlen, wo diese Wesen ruhten. Es war ein weiter Weg, der uns bis nahe an den glühenden Kern der Welt führte. Dort bündelten wir all unsere schöpferischen Kräfte, unsere Magie und unsere Macht und übertrugen sie auf die schlafenden Drachen. Und wir erweckten sie. Dann suchte jeder von uns ein Versteck, um uns zu verkriechen für eine sehr lange Zeit. Ra-Hal wurde auf dem Weg in die Berge Gibelar von einem elfischen Krieger gestellt. Er konnte sich, seiner Magie beraubt, kaum zur Wehr setzen und wurde getötet. Ich hingegen überlebte. Ich fand Unterschlupf in einer Höhle in den Grauen Bergen. Und dort wartete ich. Ich wartete viele Jahrtausende. Ich habe gewartet bis zu dem heutigen Tag!“  
„Und der Krieg?“, fragte Batór, „wer siegte, nachdem die Elohim tot oder ihrer Macht beraubt waren?“
Maa-Kial sah den Menschen aus seinen dunklen Augen an und für einen Augenblick hatte Batór den Eindruck, als würde dahinter etwas glühen, ganz so, als wären diese Augen wie zwei Stücke Kohle in den Resten eines Feuers, die man durch ein kurzes Anblasen für einen Moment zum Glimmen brachte. 
„Nachdem die Winterelfen Ra-Hal getötet hatten, glaubten sie, sie hätten uns geschlagen. Sie spürten meine Anwesenheit nicht mehr. Und die Drachen, die plötzlich aus ihren Höhlen hervor krochen, sahen sie nicht als Feinde an, da auch sie von deren Existenz unter der Erde Kenntnis hatten und sie genau wussten, dass diese keine Geschöpfe der Elohim waren. Andererseits bemerkten sie, dass sie wohl trotz aller magischer Macht nicht in der Lage sein würden, unsere Schöpfung rückgängig zu machen. Mit Sicherheit ahnten sie, dass die Elohim vielleicht besiegt, ihre Kraft auf der Welt aber immer noch existent war. Also machten sie Frieden mit den Völkern der Elohim und zogen sich zurück in ihre kleiner gewordene Welt des Eises.“  
„Aber was hat das alles mit uns zu tun?“, rief Batór.  
„Nun, ein Drachen konnte zwar uralt werden, älter als jedes andere Geschöpf auf der Welt, Elfen eingeschlossen. Aber sie sind nicht unsterblich. Und wenn der letzte der Drachen sein Leben beenden würde, dann würde die Macht der Elohim, die in seinem Herzen ruhte, frei werden und auf den übergehen, der ihn berührte. Vorausgesetzt, dieser wäre ein Wesen mit magischen Fähigkeiten. Meine Geschwister und ich, wir hatten aus den uralten Aufzeichnungen hier auf dem Felsen erfahren, dass sich der letzte der Drachen dereinst, wenn sich sein Leben dem Ende neigte, hier auf diesen Berg zum Sterben zurückziehen würde. Also hatten wir, bevor wir in die Höhlen herabgestiegen sind, einen Zauber bewirkt, so dass jeder, der von der Magie berührt ist, den Tod finden würde, wenn er versuchte, den Stein von hier oben zu entfernen.“ 
„Jeder, der von Magie berührt ist?“, murmelte Gwydion, „also ist kein Elf in der Lage, Anzus Herz zu berühren.“  
„Höchstens, wenn ihr noch ein paar Jahrtausende warten würdet bis zu jenen Tagen, an denen die Elfen endgültig von der Magie verlassen sein werden. Aber ich habe die Befürchtung, dass diese Tage auch das unwiderrufliche Ende deines Volkes bedeuten werden. Ohne Magie werdet ihr den Menschen nichts entgegen zu setzen haben.“  
„Der einzige, der im Augenblick diesen Stein berühren kann, bin also ich?“, fragte Batór.  
„Oh, ja.“, bestätigte Maa-kial, „dieser Zauber ist so mächtig, dass er sogar mich selbst bezwingen würde. Es war die einzige Möglichkeit, um dieses Relikt vor den Winterelfen zu schützen. Nur ein Mensch, eines meiner Geschöpfe, war in der Lage, diesen Berg zu besteigen und ihn mit dem Stein wieder zu verlassen. Ein Troll kann den schmalen Pfad nicht bezwingen, ein Nöck würde in dieser trockenen Einöde außerhalb seiner natürlichen Umgebung der Flüsse, Seen und Meere nur wenige Stunden überleben und ein Dryade entfernt sich nie weiter als eine Tagesreise von dem Baum, mit dem er in enger Symbiose verbunden ist. Und erst wenn sich dieser Stein, das Herz des letzten Drachen, nicht mehr an dem heiligen Ort des Cleddiff Nuadai befindet, kann ich ihn an mich nehmen und mir die Macht der Elohim zurück holen.“
„So hast also du dafür gesorgt, dass ich hierher komme, um den Stein zu nehmen?“, fragte Batór nach.
„Das wäre ein geschickter Plan gewesen. Aber dennoch habe ich mit Eurer Anwesenheit hier nichts zu tun. Irgendjemand anderes hat euch hierher gesandt. Und ich denke, dass dies ein sehr mächtiger Elf war, denn niemand sonst würde es nicht nur schaffen, hinter das Geheimnis von Maa-Kial zu kommen, sondern auch noch voraussagen können, wann Anzu sein Leben beenden würde. Allerdings hat er nicht damit gerechnet, dass es mich noch gibt.“  
„Du irrst dich, Letzter der Elohim!“  
Die Stimme schien aus dem Nichts zu kommen. Doch im nächsten Augenblick veränderte sich etwas in dem Bereich des Himmels, der sich hinter Maa-Kial und etwas oberhalb von ihm befand. Es ähnelte zunächst dem Flirren in der Luft an einem heißen Sommertag, begann dann aber, Gestalt anzunehmen, es schien, als würde sich die Realität selbst an dieser einen Stelle verändern, als würde sie verdreht und verschoben werden, um dann Platz zu machen für eine Art Tor, kreisrund, mit flimmernden Rändern. Die Öffnung, die sich innerhalb dieses Tores bildete, bot einen ungewöhnlichen Blick auf eine völlig andere Welt, eine Art langgestreckte Höhle, grün schimmernd ausgeleuchtet von einer unsichtbaren Lichtquelle und gesäumt von hellen Gebilden, die aussahen wie die versteinerten Knochen urzeitlicher Riesenwesen und jenes Höhlenlicht in einem merkwürdig kalten Cyanblau zurückwarfen. Und durch diese Höhle hindurch, mit einer fast wahnwitzig anmutenden Geschwindigkeit, auf einem prächtigen geflügelten weißen Pferd reitend, mit leuchtend weißer Rüstung und wehenden schneeweißen, im Sonnenlicht bläulich schimmernden Haaren unter einem Rundhelm aus reinstem Eis, kam Arkana geflogen. Batór wusste sofort, dass sie es war, auch ohne den bodenlangen Mantel mit der Kapuze.  
Der Pegasus schoss durch die Öffnung dieser absonderlichen Höhle mitten in der Luft hindurch. Dieser Zugang schloss sich hinter ihm und verschwand auf der Stelle, als habe er aus nichts anderem bestanden als Luft. Das Reittier glitt über die Plattform hinweg, zog aber gleich darauf einen engen Kreis, wobei es sich so weit auf die Seite legte, dass sich für einen Moment Pegasus und Reiterin auf der gleichen Höhe befanden. Nach diesem halsbrecherischen Manöver hatte die Elfenfürstin ihre Flugrichtung so geändert, dass sie jetzt, nun deutlich langsamer, aus der entgegen gesetzten Richtung als der, aus der sie ursprünglich durch das Tor gekommen war, auf das Plateau zuflog. Kurz bevor sie diese erreichten, verharrte das geflügelte Pferd mitten in der Luft mit weit ausgebreiteten Schwingen wie ein Raubvogel über einer vielversprechenden Beute.  
Jetzt hatte Batór die Gelegenheit, in das Gesicht der Elfenfürstin zu blicken. Und wie bereits schon einmal, als er Arkana an jenem Nachmittag im "Gebogenen Pfeil" das erste Mal begegnet war, hatte er das merkwürdige Gefühl, das ihm diese Elfin so vertraut war wie eine liebende Patentante. Es war wie einer jener seltsamen Augenblicke, in denen man sich plötzlich aus unerklärlichen Gründen sicher war, alles, was in diesem Moment geschah, schon einmal durchlebt zu haben.  
Unter dem Eishelm war das zarte, schmale, aber doch stolze, fast überhebliche Gesicht einer Elfin zu erkennen, mit schmalen Lippen und einem energischen Kinn, die Haut allerdings noch schimmernder und glatter und die Augen noch strahlender, als er es von Gwydion, dem Waldelfen, kannte, dem einzigen Vertretern dieser Rasse, dem er je zuvor begegnet war.  
Wie bereits an jenem Tag in der Taverne schien ihre kühle Macht direkt aus ihr heraus zu strahlen, während sie gleichzeitig von einer so perfekten, atemberaubenden Schönheit war, dass Batór das Gefühl hatte, sein Herz wollte jeden Moment platzen.
Arkana sah den Elohim mit einem scharfen Blick an. Dann entspannte sich ihre Miene und sie zeigte ein Lächeln, so kalt war wie die Welt, aus der sie stammte. 
„Du bist also Maa-Kial“, sagte sie, „ich habe viel von dir gehört und gelesen. Ich habe auch Abbildungen gesehen, uralte, halbverwitterte Skulpturen oder Flachreliefs. Es ist wie so häufig: Die Realität enttäuscht die Erwartungen unserer Fantasie. Auf den meisten dieser Bilder bist du so groß wie eine ausgewachsene Tanne, hast Stierhörner, Bocksbeine und bist unentwegt damit beschäftigt, die Leiber von noch lebenden Elfen in dein riesiges Maul zu stopfen.“  
„Es gab Zeiten, in denen diese Bilder der Wahrheit durchaus recht nahe gekommen wären“, erwiderte Maa-Kial grinsend.  
„Ich werde dafür sorgen, dass diese Zeiten nie wieder kommen werden“, gab die Elfenfürstin grimmig zurück, „du magst jenen Menschen hier mit deiner Größe und deinem glänzenden Speer beeindrucken, aber ich weiß, wie schwach du bist. All deine Kraft ruht in jenem Stein und weder du noch sonst jemand ist in der Lage, diese zu nutzen. Ich selbst habe Batór, dem Flinken, vom Volk der Menschen dazu erwählt, mir und nur mir das Herz des Drachen zu bringen.“  
Die Elfenfürstin sah den Menschen an, bestimmend, mit der überheblichen Autorität einer Herrscherin über ein mächtigen Volk, gleichzeitig aber auch mit jener gütigen Freundlichkeit, wie sie eine Mutter gegenüber ihrem Kind aufbrachte. Ihre Augen schienen aus reinem Licht zu bestehen und als Batór tief hinein blickte, hatte er den Eindruck, darin verloren gehen zu können, ganz so, als würde er in das Eis eines einsamen, zugefrorenen Bergsees einbrechen. In diesem Augenblick wurde ihm klar, dass ihn Arkana töten konnte, einfach so, nur mit ihrem Blick. Aber er sah auch wieder jenes seltsame, für ihn unerklärlich Vertraute in den Augen der Elfin, jene undeutlichen Erinnerungen, die er mit ihrer Erscheinung verband.
Es herrschte Stille hier auf diesem Plateau. Und mit einem Mal wurde Batór klar, dass ihn sowohl die Elfenfürstin als auch der Elohim anstarrten. Erwartungsvoll. Und gespannt.
Und mit einem Mal wurde ihm bewusst, was er in ihren Augen war: Der Komparse in einem uralten Stück, das schon lange vor seiner Geburt geschrieben worden war von Geschöpfen, deren Macht sich weit über sein eigenes Wissen erhoben. Seine Rolle war zwar nicht ganz unwichtig, aber eben doch nicht mehr als der kurze, unbedeutende Statistenauftritt in einem Werk, das nichts Geringeres als die Geschichte der Welt zum Inhalt hatte.
Arkana lächelte ihn an.  
„Ich sehe dir an, Batór der Flinke, wie dir unzählige Fragen durch den Kopf rasen. Du hast das Gefühl, mich zu kennen, und zwar schon sehr lange. Aber dennoch bist du dir sicher, mir vor unserer Begegnung in Zwergenstein noch nie begegnet zu sein. Nun, zum Teil stimmt das auch. Ich habe dich besucht, sehr oft sogar und zwar seit vielen Jahren. Ich war das erste Mal bei dir an jenem Tag, an dem ich dich dazu erwählt habe, das Herz des Drachen zu bergen. Dennoch kannst du dich nicht an mich erinnern, denn ich habe dich immer nur in den Nächten besucht, und zwar ausschließlich nur in deinen Träumen. Und ich habe dafür gesorgt, dass du unsere Begegnung sofort nach dem Erwachen vergisst. Dazu war nur ein bisschen Elfenzauber nötig.“  
Plötzlich wurde Batór alles klar! Die Erinnerungen an diese merkwürdigen Träume, die er seit frühester Jugend hatte und die er regelmäßig nach jedem Aufwachen vergaß, kamen nun mit einem Schlag alle wieder. Es war, als wäre er sein ganzes Leben lang in einem kleinen, fensterlosen Zimmer eingeschlossen gewesen und urplötzlich würde sich eine bisher verschlossene Tür vor ihm auftun und den Blick freigeben auf die ganze Welt, die sich außerhalb dieses Raumes befand.  
„Du warst in meinen Träumen?“  
Es war mehr eine Feststellung als eine Frage. Er wusste nun ganz genau, woher er diese Augen kannte. Er hatte sie gesehen, in vielen Nächten, er hatte bemerkt, wie sie ihn beobachteten, neugierig und doch wissend, lauernd, aber auch fürsorglich wie eine Mutter.  
„Das ist die Art der Elfen“, sagte Maa-Kial in einem abschätzigen Tonfall, „sie kennen viele Methoden, um andere unter ihre Macht und ihren Einfluss zu zwingen. Und Menschen waren für sie noch nie etwas anderes als Ungeziefer, dass ihre zuvor so reine Welt verschmutzte und gerade gut genug war, um sie für ihre Zwecke zu manipulieren.“   
„Du kennst die Elfen schlecht“, antwortete Arkana, „du hast uns noch nie verstanden. Macht bedeutet uns nichts! Ich habe nur das eine Ziel und das ist, dich zu vernichten und damit einen Jahrtausende alten Krieg zu beenden, wie es schon vor sehr langer Zeit hätte geschehen müssen. In all der Zeit, während du dich verkrochen hast wie ein verwunderter Wolf, haben sich Menschen, Nixen, Dryaden und Elfen friedlich die Welt geteilt. Die Völker waren zwar nicht in Freundschaft verbunden, aber sie führten auch keine Kriege gegeneinander. Nur die Trolle waren etwas anders geartet, aber auch für sie hatten wir eine Lösung gefunden. Wenn du deine Macht zurückerhalten würdest, wäre es mit dem Frieden, in dem diese Welt lebt, zu Ende. Und deswegen werde, nein, muss ich dich jetzt töten!“  
Sie zog ihr Langschwert. Die Klinge war so kristallklar und durchscheinend wie die Lichtdiamanten, die Batór bei sich trug. Sie glänzte in der Sonne wie ein geschliffener Eiszapfen. Für einen kurzen Augenblick überschlug Batór, was diese Waffe wohl wert sein mochte bei den Liebhabern der Elfenkunst in den Städten jenseits der Grauen Berge. Arkana streckte die Klinge so vor sich, dass sie auf die Brust des Elohim zielte. Die Spitze der Waffe war ruhig, keinerlei Zittern war zu erkennen.  
Maa-Kial grinste breit und entblößte dabei ein Reihe großer, furchterregend spitzer, feuerroter Zähne. Batór fiel ein, was die Elfenfürstin zuvor über die Bildnisse des elfenverschlingenden Elohim gesagt hatte. Dann erklang die Stimme Maa-Kials, laut, dröhnend, gleichzeitig spöttisch und doch wütend.  
"Du bist nicht die erste Elfin, die glaubt, Maa-Kial, Eosfor, den Lichtbringer, die Morgenröte der Menschen töten zu können! Und ich bin mir sicher, du wirst nicht die letzte sein!"  
Für einen kurzen Moment schien Arkana tatsächlich etwas verunsichert zu sein. Doch dann zog ein dünnes Lächeln über ihr Gesicht.  
"Du bist wie ein kleiner Hund, der viel zu laut bellt. Wir alle wissen, dass all deine göttliche Kraft in dem Herz des Anzu ruht. Du bist mir nicht mehr gewachsen als jener schwache Mensch."  
Sie deutete mit der freien Hand auf Batór.  
Doch Maa-Kial machte nicht den Eindruck, sich in sein unveränderliches Schicksal fügen zu wollen. Er holte mit seinem mächtigen Arm aus und schleuderte den Kurzspeer direkt auf die Elfenfürstin. Der Elohim mochte ohne magische Macht sein, aber seine körperliche Kraft war dennoch gewaltig. Mit unglaublicher Geschwindigkeit schoss der Speer auf Arkana zu. Diese hob blitzschnell die Hand, mit der sie eben noch auf Batór gedeutet hatte und machte damit eine kleine, fast unscheinbare Geste. Für einen kurzen Moment sah es so aus, als wäre die Elfin überzogen von einer Schicht aus blauem, schimmernden Eis, so, als wäre sie selbst und ihr Reittier eingeschlossen in einem einzigen Eisblock wie eine Fliege in Bernstein. Der Speer prallte, nur eine Handbreit entfernt von ihrem Herzen, auf das Maa-Kial gezielt hatte, von diesem Eis ab und fiel, all seiner Energie beraubt, Gwydion vor die Füsse, wo er in den staubigen Überresten des Drachenkönigs stecken blieb. Im nächsten Augenblick war dieser Eisblock um die Elfenfürstin verschwunden, so dass sich Batór fragte, ob er diesen ungewöhnlichen Panzer tatsächlich gesehen hatte oder ob ihm seine Augen nur einen Streich gespielt hatten. Aber schließlich war Arkana eine Fürstin ihres Volkes, eine mächtige Zauberin und Eis war das bevorzugte Element der Hohen Elfen.   
„Du hast Mut, Elohim“, sagte Arkana, „aber mir scheint, es ist der Mut der Verzweiflung. Es wird nun Zeit, den Kampf zwischen den Elohim und den Elfen ein für alle Mal zu Ende zu bringen.“  
„Und was geschieht dann?“  
Batór war selbst von seinem plötzlichen Ausruf überrascht. Er war zwar ein erfahrener Waldläufer und geschickter Dieb, aber er war nicht der Mann, der lautstark aufbegehrte, wenn göttergleiche Wesen gerade damit beschäftigt waren, um die Herrschaft der Welt zu kämpfen. In der rauen Welt diesseits der Grauen Berge hat man nur geringe Überlebenschancen, wenn man seine eigene Bedeutung überschätzte. Aber schließlich war er - wenn Maa-Kial die Wahrheit gesagt hatte - der einzige hier, der diesen vermaledeiten Stein berühren konnte.  
Das wusste auch Arkana. Sie sah Batór mit einem Lächeln an.  
„Nichts wird geschehen. Die Sonne wird weiter ihre Kreise ziehen, die Sterne am Nachthimmel funkeln, der Wind sein Spiel mit dem Wasser der Meere treiben. Die Elfen werden auf den höchsten Bergen leben und auf jenen Inseln des Eises weit im Norden und die Menschen werden in ihren Städten und Dörfern ihr so kurzes Leben führen. Es wird Friede herrschen zwischen den Völkern, so, wie es schon all die Jahre gewesen war. Und das Herz des Drachenkönigs wird vernichtet werden und mit ihm die Macht der Elohim. Und somit werden die letzten Erinnerungen an Maa-Kial und seine Brüder von immer von dieser Welt verschwinden!“  
Ihre Stimme war während dieser Worte immer lauter geworden, so als wollte die Elfenzauberin dem ganzen Tal, möglicherweise der ganzen Welt kundtun, was die Fürstin der Hohen Elfen entschieden hatte.  
„Und nun“, rief sie aus und starrte Maa-Kial mit ihren klaren, grausamen Augen an, "Stirb, Elohim!"  
Was nun geschah, dauerte nur wenige Augenblicke. Aber jedesmal, wenn sich Batór irgendwann in seinem späteren Leben daran erinnerte - und er erinnerte sich häufig, allzu häufig daran - , dehnten sich die Ereignisse in die Länge wie einer jener merkwürdigen Träume, in denen die Zeit selbst sich fast bis zum Stillstand zu verlangsamen schien.  
Mit einer unscheinbaren Bewegung ihrer Füße fügte Arkana sanften Druck auf den geflügelten Schimmel aus. Dieser streckte seine gewaltigen Schwingen aus. Von einem einzigen, mächtigen Flügelschlag angetrieben, schoss die Elfenfürstin blitzschnell nach vorne, direkt auf Maa-Kial zu, trotz dieser unglaublichen Beschleunigung  immer noch ruhig auf dem Reittier sitzend und die Spitze des Schwertes auf die Brust des Elohim gerichtet. Batór sah das Flattern ihres Schneehaares im Fahrtwind, erhaschte für einen kurzen Moment einen Blick in diese entschlossenen Elfenaugen. Maa-Kial stand unverändert am Rande des Plateaus, nach wie vor breit grinsend und dabei seine raubtierartigen Zähne entblößend. Er machte keine Bewegung, um den Angriff der Elfin abzuwehren, möglicherweise war er dazu auch überhaupt nicht in der Lage, denn der Angriff erfolgte so plötzlich, dass niemand, der nicht die Macht und die Kraft von Elfen besaß, fähig gewesen wäre, in dieser Zeit auch nur eine Hand zu seiner Verteidigung zu erheben. Dennoch war keine Spur von Furcht im Gesicht des Elohim zu erkennen. Sein Grinsen wurde sogar noch breiter, alles an ihm strahlte Selbstbewusstsein und Überheblichkeit aus.  
Im nächsten Moment geschahen zwei Dinge gleichzeitig. Die Elfenklinge fuhr in die Brust von Maa-Kial wie ein Blitz in den Gewitterhimmel, der selbstsichere Ausdruck im Gesicht des Elohim erstarb auf der Stelle und verwandelte sich in ungläubiges und fassungsloses Erstaunen. Im gleichen Augenblick erkannte Batór, dass der Schaft eines Speeres aus dem Rücken der Elfenfürstin ragte. Mit einem gewaltigen Schrei, der sich mehrfach an den Felsen des Cleddiff Nuadai brach, ließ Arkana das Heft des Schwertes, das sie tief in den Körper Maa-Kials gestoßen hatte, los. Ihr Körper erschlaffte. Ihr Pegasus, von der Kraft des einen Flügelschlages angetrieben, schoss über den Rand der Plattform hinaus in den tiefblauen Himmel über der Ebene von Nuadai, wo die Elfenfürstin langsam aus dem Sattel rutschte. Dann stürzte sie in die Tiefe! Die Strömung des Fallwindes zerrte an ihrem leblosen Körper, ließ sie herabtrudeln wie eine Schneeflocke. Batór, der nach wie vor in der Mitte der Plattform stand, sah, wie der Körper der fallenden Elfin aus seinem Blickfeld geriet, wusste aber von seinem Aufstieg her, wie schrecklich lange dieser Sturz noch dauern würde. Einige sehr lange anmutende Augenblicke später drangen aus der Tiefe die Geräusche des Aufschlages nach oben, das dumpfe Aufklatschen eines Körpers auf den Felsen, begleitet von dem Klirren zersplitternden Eises und dem Poltern der durch den Aufprall losgelösten Steine. Dann folgte ein Moment der völligen Stille, bevor urplötzlich wieder jener dröhnende Gesang der Trolle zu hören war. Batór fragte sich, was diese Steinkrieger wohl mit dem toten Körper einer mächtigen Elfin anstellen würden. Der Pegasus dagegen, nun von seiner Reiterin und womöglich auch Beherrscherin befreit, flog, mit seinen riesigen Schwingen sanft auf der stetigen Brise reitend, nach Süden, dorthin, wo, den Sagen nach, auf einer fernen Insel die Heimat dieser Geschöpfe lag.  
Dann wandte Batór den Blick Maa-Kial zu, der direkt vor ihm stand. Arkana hatte ihr Schwert so tief in die Brust des Elohim gestoßen, dass dieses noch gut eine Elle lang aus seinem Rücken ragte. Der Riese schwankte, während Blut, dass von so dunklem Rot war, dass es fast so schwarz wie seine Augen zu sein schien, aus der Wunde sprudelte. Dennoch deutete sein Blick weniger auf Schmerzen oder gar die Angst vor dem nahenden Ende hin als auf die unendliche Verwunderung über die Tatsache, dass die Eisklinge der Elfenfürstin nun seinen Körper durchbohrte.  
Und dieser Blick des Erstaunens galt eindeutig ... Gwydion!  
Und erst jetzt wurde Batór klar, woher jener Speer gekommen sein musste, der im selben Augenblick, als das Schwert Arkanas ihr Ziel fand, in den ungeschützten Rücken der Elfin geschleudert wurde. Es war eben jene furchterregende Waffe Maa-Kials, die zuvor noch an der Magie der Elfenfürstin gescheitert und dem Waldelfen vor die Füße gefallen war.  
Gwydion, sein Freund und Gefährte war es gewesen, der diese mächtige Zauberin getötet hatte!  
"Du hast ... es zugelassen", sagte Maa-Kial an den Waldelf gewandt, „du hast zugelassen, dass sie mich tötet!“   
 Seine Stimme war schwach, flüsternd, seine Augen schienen zu flattern, aber er hielt sich nach wie vor aufrecht. Batór, der dem menschlichen Tod schon oft, zu oft, begegnet war, erkannte sofort, dass dies die Stimme und der Blick eines Sterbenden war. Konnte dieses mächtige, uralte Wesen den Tod finden, hier, auf diesem einsamen Felsbrocken inmitten dieser kargen, leblosen Ebene? Es war merkwürdig, dass eine göttliche Gestalt wie der Elohim sterben würde wie ein Mensch, mit der gleichen Verzweiflung in den Augen und mit denselben hoffnungslosen Versuchen, gegen das Unausweichliche anzukämpfen wie die Vertreter jenes Volkes, das er selbst erschaffen hatte.  
"Das war nicht ... unsere Abmachung," fuhr Maa-Kial fort. Er sprach die Worte kraftlos aus, mit zitternder Stimme.  
"Das war nicht unsere Abmachung, richtig", sagte Gwydion, "du hast mich beauftragt, Arkana zu töten, bevor sie die Möglichkeit haben würde, dich zu töten. Arkana dagegen hat mich beauftragt, Batór zu beschützen und sie selbst notfalls dabei zu unterstützen, dich zu töten. Ihr beide spieltet Euer Götterspiel und habt mich und den Menschen zu Euren Spielfiguren auserkoren."  
Langsam ging er auf den Elohim zu. Maa-Kial sackte auf seine Knie, versuchte aber immer noch in dem verzweifelten Bemühen, der Würde eines Wesens von göttlicher Natur gerecht zu werden und seinen gewaltigen Oberkörper aufrecht zu halten. Selbst jetzt überragte er Batór immer noch um mehr als eine Manneslänge.   
Gwydion trat an Maa-Kial heran.   
„Ihr fühltet Euch so mächtig, so überlegen, dass Ihr nie auch nur auf den Gedanken gekommen wärt, dass Eure Figuren in der Lage sein könnten, ihr eigenes Spiel zu spielen.“   
Ein breites Lächeln zog durch das von Schmerzen gequälte Gesicht des Elohim. Blut, so dick wie Schlamm, quoll zwischen den spitzen Zähnen hindurch.   
„Ihr wollt teilnehmen an einem Spiel für Götter?“, sagte Maa-Kial, der trotz seiner Schmerzen in der Lage war, seinen Worten einen höhnischen Unterton zu geben, „ihr, ein Volk, dass alle anderen Völker meidet und sich verkriecht in den tiefsten und unzugänglichsten Wäldern?“   
„Wo wir dich schließlich auch gefunden haben, wo du dich versteckt hieltest seit Tausenden von Jahren, regungslos in einer Felsspalte unter der Wurzel einer Eiche kauernd, auf den Tod des Drachenkönigs wartend und darauf hoffend, dass dich kein Winterelf finden würde.“   
Maa-Kial sackte immer mehr in sich zusammen. Aber nach wie vor war er bemüht, zumindest seinen Kopf aufrecht zu halten. Gwydion war jetzt ganz nah an den Elohim herangetreten. Nach wie vor verriet ein leichtes Flimmern in der Luft, dass Maa-Kial eine Hitze ausstrahlte, die für einen Menschen, wäre er diesem Schöpferwesen so nahe gekommen wie in diesem Augenblick der Waldelf, absolut tödlich gewesen wäre. Aber Gwydion schwitzte nicht einmal. Andererseits schwitzten Elfen ohnehin nie, so wie sie auch nie froren. Ohne dass der völlig kraftlose Elohim in der Lage wäre, auch nur einen Finger zu rühren, um irgendetwas dagegen zu tun, griff Gwydion nach dem Heft des Schwertes. Dort, wo die Klinge in den Körper des Riesen eingedrungen war, stieg eine kleine Dampfwolke hoch.   
„Feuer und Eis“ murmelte er, „der alte Kampf. Ich vermute, dieser Krieg dauert schon seit ewigen Zeiten, vermutlich viel länger, als wir es uns überhaupt vorstellen können.“   
Mit einem plötzlichen Ruck zog er die Waffe aus der Brust des Elohim. Sofort quoll dickes, dunkles Blut aus der Wunde, ganz so, als habe die Elfenklinge es zurückgehalten wie ein Stauwehr einen wilden Bergfluss. Der Kopf Maa-Kials sank herab, wenige Augenblicke lang besah er mit staunenden Augen, wie mit seinem Blut, dass an diesem Tag das erste Mal überhaupt vergossen wurde, auch sein Leben verrann. Dann sank er langsam nach hinten, stürzte über den Rand der Plattform und folgte Arkana auf den Weg in die Tiefe.   
Währenddessen stand Gwydion nur ruhig da und betrachtete das Schwert. Kein Tropfen Blut haftete an der Klinge, die immer noch von den dunstigen Schwaden schmelzenden Eises umweht wurde.  
„Das könnte das endgültige Ende dieses Krieges sein“, sinnierte der Waldelf, „vermutlich ist es aber nur der Beginn einer neuen Phase.“ 
In einer heftigen Bewegung warf er Arkanas Schwert vor sich auf den Boden. Jene Mischung aus Staub und Asche, die die Überreste des Drachenkörpers bildeten, wirbelte an der Stelle auf. Doch nachdem sich die kleine Wolke gesenkt hatte, lag die Waffe da, kristallen glänzend, von keinem noch so kleinen Staubkörnchen berührt, so als würde sich selbst der Schmutz auf dem Boden weigern, in Berührung mit der mächtigen Magie der Fürstin der Hohen Elfen zu kommen. Weiterhin stiegen schmale Schwaden von verdunstendem Eis von der Klinge auf. Batór bemerkte, dass sich das Schwert verändert hatte, seit es von Arkana gezogen worden war, vor nur wenigen Augenblicken, aber vor einer Zeit, die ihm mittlerweile vorkam wie eine halbe Ewigkeit. Es war deutlich schmaler geworden, flacher, die ganze innere Struktur der Klinge schien zu brechen, der Glanz des kostbaren elfischen Diamanteneises verblasste und machte Platz für das zahllos gebrochene Funkeln frisch gefallenen Schnees. Die ganze Waffe schmolz dahin, sie war nur zu dem einen Zweck von zauberischen Elfenschmieden, vermutlich sogar von der Fürstin selbst, geschaffen worden: Um Maa-Kial, den Feuerbringer, die Morgenröte der Menschheit, zu töten! 
Gwydion sah seinen Gefährten mit ernster Miene an. Er deutete auf den Stein, das Herz des Anzu. 
„Die Entscheidung liegt nun bei dir“, sagte er. 
„Ich verstehe das alles nicht“, gab Batór zurück, „und ich lasse mich ungern auf Dinge ein, die ich nicht verstehe.“ 
„Du hast schon oft Dinge getan, von denen du nicht einmal den Ansatz einer Ahnung hattest, warum du sie tatest.“ 
Batór grinste. 
„Ja, aber da hatte ich Auftraggeber, Leute, die mich dafür bezahlten, das zu tun, was ich dann tat und mir zumeist noch einen Extrabonus dafür gaben, dass ich keinerlei Fragen stellte über das Warum. Aber du hast meinen jetzigen Auftraggeber mit einer Lanze in den Rücken in die Tiefe geschickt.“ 
„Dann bin ich dir wohl einige Erklärungen schuldig“, sagte Gwydion. 
„Also höre: Es waren die Waldelfen, die Maa-Kial fanden, damals, in jenen Tagen, als sie sich eine neue Heimat suchten in den dunklen Forsten des Nordens, weit weg von den Hohen Elfen, aber auch von dem unentwegten Lärm der Menschen. Und obwohl der letzte der Elohim seit Urzeiten Bestandteil in den Überlieferung aller Elfen war und es in den alten Liedern hieß, dass die Welt erst ihre Reinheit zurückgewinnen würde, wenn der Feuerbringer gefunden und für immer vernichtet sein würde, entschlossen wir uns, Maa-Kial nicht zu töten. Wir waren nur noch ferne Nachfahren der Winterelfen, ihre Kämpfe waren schon lange nicht mehr die unseren und ihre Feinde waren nur noch bedeutungslose Namen in alten Sagen. Das Volk der Waldelfen lebte in einer völlig anderen Welt als ihre Vorfahren aus den Eisländern und vermutlich würde es in jenem lange vergangenen Zeitalter der Reinheit, das in den alten Hymnen besungen wurde, für sie ebenso wenig einen Platz geben wie für jene armselige, unter einer Wurzel kauernde Gestalt des letzten der Elohim. Als dieser aber bemerkte, dass wir sein Leben verschonen würden, versuchte er sogleich, mein Volk in seine Pläne einzubeziehen und uns für seine Bedürfnisse auszunutzen.“  
Gwydion ging zum Rand des Plateaus und starrte in die Tiefe. Nach wie vor ertönten die grollenden Gesänge der Trolle vom Fuße des Berges. Nichts mehr dort unten deutete noch auf die Überreste des zerschmetterten Körpers der Elfenfürstin oder die Überreste des gottgleichen Maa-Kial hin. 
„Er war nicht sehr schwierig für dieses Wesen, das schon mehr als einmal in seinem Leben dem Todesstoß durch eine Elfenklinge durch sein Geschick, andere zu manipulieren, entkommen war. Elfen sind nicht wie Menschen. Wir sind Euch zwar an Wissen, Lebensdauer, magischer und körperlicher Kraft überlegen, auf der anderen Seite sind wir aber auch - im Gegensatz zu Euch - Wesen von fast unvorstellbarer Naivität. Die Fähigkeiten, andere zu beeinflussen, Gerüchte zu lancieren, Intrigen zu spinnen, sind bei den meisten Elfen nur gering ausgeprägt. Arkana war natürlich eine Ausnahme, weshalb sie auch in der Lage war, bei den Hohen Elfen eine solch große Macht zu erlangen. Und Maa-Kial war ein wahrer Meister darin. Er schürte unseren Hass gegen die Hohen Elfen, das Volk, das uns verstoßen hatte. Und er machte uns somit zu seinen Verbündeten. Wir begannen, für ihn zu spionieren, schickten unsere Freunde, die Krähen des Tiefen Waldes, aus, schlaue Geschöpfe, die niemand, nicht einmal Arkana selbst, in Verdacht hatte, dass sie mehr waren als dumme, krächzende, Aas fressende Vögel. So erhielten wir Kenntnis davon, dass Arkana nachforschte über die Elohim und über Anzu, dem Drachenkönig. Die Elfenfürstin hatte sich immer für sehr klug gehalten, aber Diskretion war nicht gerade eine ihrer Stärken. Sie liebte einfach viel zu sehr den großen Auftritt. Auch als sie uns beide in ihrer merkwürdigen Verkleidung traf, tat sie das nicht irgendwo während unserer Reisen in einem einsamen Wald, sondern suchte uns in einer gut besuchten Kaschemme auf. Und keinem, der an diesem Tag anwesend war, und auch wenn er noch so betrunken war, konnte entgangen sein, dass da ein sehr außergewöhnliches Wesen plötzlich mitten unter ihnen war. So war es nicht sehr schwer, herauszufinden, in welche Richtung sich die Nachforschungen der Fürstin bewegten. Alles lief auf diesen Tag zu, auf diese Stunde.“ 
„Aber das erklärt nicht, warum du sie getötet hast. Beide!“ 
„Ihr Menschen habt nur ein sehr begrenztes Lebensalter. Die Lebensspanne eines Elfen, zumal wenn er sehr zaubermächtig ist, umfasst viele Jahrhunderte, wenn nicht gar Jahrtausende. Auch Arkana war sehr alt, auch wenn man es ihr nicht ansah. Manche sagen sogar, sie sei tatsächlich die letzte der Winterelfen und hat die Elohimkriege selbst noch als Kind miterlebt. Sie war bereits Fürstin der Hohen Elfen, als deren Oberster Rat unter ihrem Vorsitz beschloss, mein Volk zu verbannen. Es würde zu weit führen, dir erklären zu wollen, warum das geschah. Es ist viele Jahrhunderte her, aber sie war damals schon sehr mächtig. Und ihre Macht ist seit jenen Tagen noch weiter gestiegen. Das Volk der Elfen ist normalerweise friedlich. Unser Interesse gilt zumeist ganz anderen Dingen wie dem Erlernen der Sprache der Tiere oder dem Lauschen der Musik der Gesteine, jene Spiele der Macht waren unserer Natur eigentlich immer fremd. Arkana war schon immer anders und es fiel ihr nicht schwer, ihr Volk mit Magie und mit ihrer Willenskraft zu beherrschen. Und es war ihr Wille gewesen, uns zu verbannen. Ihr Tod war die Rache für mein Volk, die Rache der Waldelfen.“ 
„Für dein Volk? Ich dachte, du bist ein Verstoßener!“ 
„Das bin ich auch. Und werde es für alle Tage bleiben. Ich bin es geworden in jenem Augenblick, als die Räte der Weisen meines Volkes beschlossen, dass ich derjenige sein würde, der Arkana ermordet. Denn es gilt bei allen Elfen als ein schändliches Verbrechen, andere aus so niedrigen Beweggründen wie dem Wunsch nach Vergeltung zu töten. Aber dennoch war das Ende der Fürstin der Hohen Elfen etwas, was sich mein Volk seit Jahrhunderten erhofft hatte. Und ich weiß, dass - auch wenn mich die uralten und gerechten Gesetze verurteilen - die Herzen der Waldelfen immer mit mir sein werden.“ 
„Und Maa-Kial?“ 
„Wir brauchten ihn, um an Arkana heran zu kommen. Wir wussten, dass sein Speer die einzige Waffe auf der Welt war, die mächtig genug sein würde, um der Elfenfürstin den Tod zu bringen. Und das auch nur, wenn man sie einsetzte, während Arkana selbst abgelenkt war. Und so geschah es schließlich auch! Maa-Kial hatte die ganze Zeit geglaubt, dass er uns benutzte, um an das Herz des Drachen zu kommen. Aber wir benutzten ihn, um unsere Rache an der Fürstin der Hohen Elfen verüben zu können.“ 
„Aber du hättest seinen Tod verhindern können!“ 
„Wozu? Arkana hatte nicht Unrecht! Er hätte die Welt erneut mit Krieg überzogen! Wir Elfen kennen die Elohimkriege noch auch den alten Liedern, die wir über viele Jahrhunderte von Generation zu Generation weitergegeben haben. Es war eine schreckliche Zeit gewesen! Maa-Kial und seine Geschwister führten die ihnen im unbedingten Gehorsam untergebenen Heere der Menschen und Trolle gegen die Winterelfen an, es gab gewaltige Schlachten mit unzähligen Toten, wobei die Zahl der Verluste auf der Seite der schwachen Menschen ein vielfaches höher war als auf der der Elfen. Aber Maa-Kial hat euch mit einem ohnehin kurzen Leben, mit hoher Fruchtbarkeit und mit einer kurzen Jugend geschaffen. So konnte er immer wieder neue Heere aufstellen, die – unter dem Einfluss seines Willens und seiner Macht – in den sicheren Tod marschierten. Es war eine Zeit, in der die Aaskrähen fett wurden, in der der Tod so alltäglich war, dass jeder, ob Mensch oder Elf, an jedem neuen Morgen dankbar und mitunter auch erstaunt darüber war, noch zu den Lebenden zu gehören. Weit im Norden, dort, wo die Welt nur für wenige Wochen frei von Eis und Schnee war, gibt es Ebenen, aus denen hohe Hügel, fast Berge, herausragen, geschaffen aus den Gebeinen der Toten von nur einer Schlacht. Nein, so etwas darf nie wieder geschehen! Ma-Kial musste ebenso wie Arkana sterben.“
Der Waldelf schwieg. Für einen kurzen Moment herrschte völlige Ruhe auf dem Plateau des Cleddiff Nuadai. Es war, als würde die Welt, ja, das ganze Universum den Atem anhalten.
„Was wird nun geschehen?“, fragte Batór.
„Das“, antwortete Gwydion, „das entscheidest alleine du.“
Er deutete auf das Herz des Drachen, das vor seinem menschlichen Gefährten im Staub lag.
„Niemand weiß, welche Macht darin ruht! Dieser Stein birgt nicht nur das Geheimnis der Elohim in sich. Er ist auch der Kern dessen, was einst einen gewaltigen Drachen ausgemacht hat.“
„Das entscheide alleine ich?“, ein Lächeln durchzog Batórs Gesicht, „erstaunlich, nachdem ich offensichtlich mein ganzes Leben lang nichts mehr als der Spielball von Elfen und Halbgöttern gewesen war. Und auch der von dir, Gwydion, mein Freund.“
Er bückte sich und berührte die Oberfläche des Steines. Er fühlte sich glatt an, war aber gleichzeitig narbig und durchfurcht, so, als sei er seit Urzeiten dem Einfluss von Wind und Wetter und nicht dem der Magie gewaltiger Wesenheiten ausgesetzt gewesen. Er hatte geglaubt, dass er irgendetwas von dieser Kraft spüren könnte, dass die Macht der Elohim und die der Drachen sich bemerkbar machen würde, wenn er diesen Stein anfasste. Aber er fühlte nichts anderes als die warme Oberfläche eines alten, halbverwitterten Felsbrockens in der Mittagssonne.
Er erhob sich. Langsam ging er zum Rand des Bergplateaus. Der Nebel in der Ebene hatte sich mittlerweile aufgelöst. Nur noch wenige, vereinzelte Pfützen wiesen auf das Unwetter des Vortages hin. Drachen - so hieß es in den alten Sprüchen - waren die Boten des Regens. Vermutlich war dieser Sturm Künder des Todeskampfes des letzten und mächtigsten dieser Rasse gewesen. War noch irgendetwas von Anzu in diesem Stein? Und von Maa-Kial und seinen Geschwistern?
Er sah zu, wie die Trolle westwärts marschierten. Von hier oben sah es aus, als bewegte sich ein Lawine aus Felsen und Findlingen waagerecht über die Ebene, langsam zwar und fast gemächlich, aber dennoch bereit, alles zu zermalmen, was sich ihr in den Weg stellte, wie es eben die Art dieser Naturgewalt war. Diese mächtigen Steinwesen werden vermutlich die ganze Welt mit Krieg überziehen. Könnte ihm der Stein dabei irgendwie von nutzen sein? Er wusste, dass es keinen Sinn hatte, Gwydion danach zu fragen. Er würde keine Antwort erhalten.
Er drehte sich um. Zu seinen Füssen entdeckte er das Eisschwert der Elfenfürstin. Noch immer sonderte es dünne Schwaden kalten Dampfes ab, die wie dünne Streifen aus schneeweißer Seide im sanften Wind nach oben tanzten. Er bückte sich, griff nach dem Heft der Waffe und hob sie hoch. Sie fühlte sich merkwürdig leicht an, so, als bestünde die Schneide nur aus der Luft, in die sie sich nun allmählich aufzulösen schien. Aber er spürte noch etwas Anderes, Fremdartiges und ihm wurde klar, dass da noch ein Teil der Macht und der Persönlichkeit Arkanas in diesem Schwert verborgen war. Er hatte davon gehört: Die Elfen besaßen magische Waffen, geschmiedet mit Zaubersprüchen und gehärtet in ihrem eigenen Blut. Sie waren fast so etwas wie ein Teil ihres Körpers. Und gleichzeitig mit der seltsamen Präsenz der Elfenfürstin, die von dem Schwert auszustrahlen schien, kamen die Erinnerungen wieder, Erinnerungen von merkwürdigen Bildern, von Worten, Gedanken und den Gefühlen, der er in lange vergessen geglaubten Träumen erlebt hatte und die nun in kleinen, unzusammenhängenden Fetzen vorüber wehten wie sich im Wind auflösender Rauch. Und das einzige, das er festhalten konnte, das hinter diesen Fragmenten von Erinnerungen so allgegenwärtig war wie der eigene Herzschlag, war die große, stolze Gestalt von Arkana. Und obwohl er erst seit dieser Stunde überhaupt davon wusste, dass ihn die Elfenzauberin in seinen Träumen besucht, beobachtet, überwacht hatte, wusste er tief in seinem Inneren, dass er dies all die Jahre gespürt und auf gewisse Weise auch gewusst hatte. Und in diesem Augenblick wurde Batór klar, dass er nun frei war! So frei, wie er noch nie in seinem Leben gewesen war und so frei, wie er es wohl nie wieder sein würde.
Er sah Gwydion an, blickte in dessen helle Augen und in eine Mimik, die wie immer so verschlossen, so undurchdringlich und undurchschaubar war wie das Gesicht eines Höhlenbären.
Dann ging sein Blick die allmählich schmaler werdende, aber immer noch scharfe Schneide des Elfenschwertes in seiner Hand entlang. Ihm war klar, dass diese Waffe verging, seiner Besitzerin in den Tod folgte. Aber noch war die Macht einer Elfenfürstin in ihr.
„Damit könnte ich vermutlich den Stein zerstören?“, fragte er.
„Ja“, gab Gwydion zurück, „ich vermute, dass das Arkanas Vorhaben gewesen war: Mit diesem magischen Schwert Maa-Kial zu töten und das Herz des Anzu zu zerschmettern.“
Batór lächelte.
„Ich  könnte es tun. Ich könnte den Stein und damit alles, was von den Drachen und von den Elohim noch auf Erden existiert, für immer vernichten.“
Er hob die Waffe in die Höhe. Sie war leicht, lag gut in seiner Hand.
„Ich könnte den Stein aber auch mit mir nehmen“, sagte er.
Er blickte in den blauen Himmel. Eine leichte Windbö blies warme, feuchte Luft in sein Gesicht. Ansonsten herrschte völlige Stille.
„Ich kann machen, was ich will“, flüsterte er in den Wind, „denn ich bin frei!“ 

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Tag der Veröffentlichung: 12.11.2010

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