Für meine geliebte Mutter
TRÄUME
Gedanken im Schlaf
Verzaubern die Nacht
Entführen dich in ihre Welt
Die Welt deiner Gefühle
Solange du schläfst
Weißt du alles
Erwachen heißt Vergessen
1. Alltag
„Alana!!! Mach nicht so einen Lärm! Dein Vater schläft noch!“
„Ja, Mama.“
Ich hasse diesen energischen aufbrausenden Ton in ihrer Stimme. Damit könnte sie Eis zum Schmelzen bringen.
„Und vergiss nicht abzuwaschen!“
„Ja, Mama.“
Ich könnte wetten, jetzt wünscht sie mir viel Spaß in der Schule mit einer sch…freundlichen Laune.
„Alana, Schatz, lass dich drücken. Viel Spaß, meine Süße. Ich gehe wieder ins Bett. Hab einen schönen Tag!“
„Ja, Mama.“
Und lächeln nicht vergessen! Oh Mann, ich hasse solche Tage, an denen man früh morgens schon genervt wird. Warum müssen Mum und Dad ausgerechnet jetzt Urlaub machen, wo ich doch sowieso bald Ferien habe? Und dann noch die Hausarbeit in der Schulzeit! Okay, mit der habe ich mich abgefunden. Ich tue einfach das, was meine Eltern mir sagen, ohne Widerspruch. Es herrscht schon ein Mechanismus in mir, ich fühle mich wie eine Maschine, gehorche aufs Wort. Doch Maschinen sind kalt, leblos, tot wie Stein. Ohne Gedanken und Gefühle.
Ich weiß, dass ich leben muss, denn manchmal spüre ich die Einsamkeit zu sehr. Dann will ich flüchten, doch ich weiß nicht wohin. Ich will einfach nur raus aus meinem Körper, frei sein, nichts um mich herum, einfach nur die Freiheit spüren, kein Dunkel sehen und umgeben sein von Licht und Farben.
Doch ist es nur ein Wunsch, ein Traum, der sicher niemals erfüllt würde. Denn dieser Erfüllung bedarf es mehr Vorstellungsvermögen, Fantasie und Kraft, als je ein Mensch besitzen könnte.
Mal sehen, was heute in der Zeitung steht:
"Die Zahl der ewig Schlafenden steigt"
Ich kann nicht genau sagen, was mich an diesem Artikel so magisch anzieht, aber ich muss ihn einfach lesen.
Die Zahl der ewig Schlafenden steigt
[Berlin] Seit letzter Woche ist der Anteil der im Schlaf liegenden Jugendlichen zwischen 12 und 18 Jahren dramatisch gestiegen. Allein in den vergangenen drei Tagen gab es sechs neue Fälle von plötzlichen Schlafanfällen bei jungen Menschen. Dabei werden die meisten Jugendlichen mit typischen Ohnmachts-Symptomen eingeliefert, wie Schwindel, Augenflimmern oder Schweißausbrüchen. Der einzige Unterschied besteht darin, dass die Patienten nicht mehr erwachen.
Einige Wissenschaftler, die sich ebenfalls mit diesem Thema befassen, glauben, dass sich die jungen Leute in ihre eigenen Träume versetzen.
„Die Ursache für diesen Zustand ist jedoch noch unklar. Die Schüler befinden sich jedoch alle im REM-Schlaf, welcher auch als Traumschlaf bezeichnet wird. Die Hirnaktivität ist stark erhöht, die Muskulatur hingegen blockiert“, so Professor Minik von der Technischen Universität Berlin. Anzeichen dieser Art von Krankheit hat es schon einmal vor 15 Jahren gegeben. Damals seien lediglich zwei Jugendliche ins Koma gefallen, die ein Jahr später aus unerklärlichen Gründen wieder erwachten. Nun haben die Mütter und Väter Angst, dass sich diese Vorfälle in ganz Deutschland ereignen könnten…
Es könnte mich ebenso gut treffen mit meinen 16 Jahren, dachte ich versunken.
Ich packe mein Schulbrot ein und gehe ins Bad. Vor dem Spiegel bleibe ich stehen. Ein ungutes Gefühl überkommt mich. Seltsam, wie ich heute wieder aussehe. So blass und schläfrig.
Ich versuche meine Augenränder mit ein wenig Puder zu kaschieren, was meine Müdigkeit natürlich nicht den ganzen Tag verbergen würde.
Irgendwie wollte ich nicht so recht glauben, was ich mir da einredete. Das mit der Müdigkeit meine ich. Schließlich bin ich überhaupt nicht müde. Egal.
Während ich unter der Dusche stehe und dieser leichte Wasserstrahl sanft auf meine Haut rieselt, fällt mir eine Melodie ein. Ich fange an, sie leise zu summen. Irgendwie kommt es mir seltsam vor, dieses Lied unter der Dusche zu summen. Woher kenne ich diese Melodie überhaupt?
Die Frage blieb unbeantwortet, wie alles andere auch, im Raum hängen. Ein leichter Windstoß kommt durch das offene Fenster.
Moment?! Das Fenster ist sonst nie offen. Vielleicht hat Mum vergessen es zu zumachen? Oder... Nein, Geister gibt's doch nicht! Jetzt musste ich sogar selbst über meinen Aberglauben lachen, dass das Fenster von allein aufgegangen sei.
Doch das Lachen blieb allein im Raum. Niemand, der mitlacht. Keiner, der mir antwortet. Nichts, das mir zuhört. Nur eine unbeschreibliche Stille.
Erst jetzt bemerke ich, wie spät es schon ist, als sei die Zeit durch die Melodie rasend schnell vergangen. Ich werde garantiert zu spät zum Unterricht kommen. Das wäre das erste Mal in meinem gesamten Streberleben. Die werden mich auf Garantie alle blöd anmachen. Als wenn ich nicht schon genug Ärger hätte!
Ich nahm mein Handtuch und während ich mich mit einer Hand abtrocknete, putzte ich mir mit der anderen die Zähne. Noch schnell anziehen und los.
Hastig knalle ich alle Türen hinter mir zu. Den Ärger, den ich für diesen Lärm nach der Schule bekommen würde, stellte ich vorerst in den Hintergrund. Als ich an der Pforte angelangt bin, atme ich noch einmal tief durch und trete dann einen Schritt nach draußen in die begrenzte Freiheit. Endlich weg von zu Hause.
„Guten Morgen, Lana!“
Schon wieder dieser Typ! Jeden Morgen begegne ich ihm. Ich kenne ihn noch nicht einmal!
Collie sagt, er geht auf eine andere Schule. Er ist dort der Mädchenschwarm. Alle wollen nur ihn, aber er hat sie alle abgewiesen. Er offenbart niemandem seine Gefühle.
So kommt der mir aber nicht vor!
Oh Gott, wenn ich hier noch lange rumstehe, gibt's erst richtig Ärger! Nun los, Lana, beeil dich!
Irgendwie habe ich ein ungutes Gefühl in der Magengegend. Ob das daran liegt, dass ich zehn Minuten zu spät kam? Als ich die Tür öffnete, war niemand sichtlich überrascht. Nur von unserer Lehrerin erntete ich vernichtende Blicke. Collie fragte nur, ob etwas passiert ist.
„Nichts Besonderes“, meinte ich knapp und mit gelangweilter Stimme.
Das war natürlich eine Lüge. Ich konnte ihr nicht sagen, dass ich unter der Dusche dieses Lied gesummt habe und ich dabei eine Zeitmaschine betreten habe, die mich eine halbe Stunde meines Lebens gekostet hat. Sie wird mich für verrückt halten oder sagen, dass ich Halluzinationen habe.
Der Unterricht beginnt, doch ich kann mich nicht konzentrieren. Es liegt nicht an mir. Ich höre sie erzählen. Sie sprechen alle darüber. Warum haben sie alle so große Angst davor? Ewig zu schlafen ist nicht gerade die schönste Art zu leben, aber man spürt doch keinen Schmerz. Vielleicht haben sie gerade davor Angst? Nichts zu spüren und nicht zu wissen, was um sie herum abläuft? Vielleicht sind sie dann ja auch schon lange tot? Sie wissen nur nichts davon, weil sie nichts merken.
„Lana, lebst du noch?“
Wieder eine Frage, die ich nicht mit ‚ja’ oder ‚nein’ beantworten kann. Ich weiß nicht, ob ich jemals gelebt habe. Was ist das Leben überhaupt? Kann man es denn überhaupt beschreiben?
Mum sagte mal: „Das Leben ist wie eine Kerze. Es leuchtet hell und kann große Feuer entfachen. Doch es gibt einen Zeitpunkt im Leben, wo dieses Licht schwächer wird und letztendlich ganz erlischt. Es wird eine Zeit sein, in der die Dunkelheit das Licht beherrscht, das Böse das Gute besiegt und wir machtlos sein werden. Man wird uns wie Marionetten ausnutzen.“
Die Zeiten, dass Mum so dachte, sind vorbei. Damals war sie noch meinem leiblichen Vater zusammen, bis er gegangen ist. Seltsamerweise hat sie das relativ gut verkraftet und ein halbes Jahr später war sie dann auch schon mit Jakub zusammen.
Früher hat sie immer alles so negativ gesehen. Sie dachte, alles wird im Schlechten enden. Vielleicht mochte sie Recht haben. Schließlich wird die Erde, der einzige Lebensraum der Menschen, von den Menschen selbst zerstört, ohne, dass sie etwas dagegen unternehmen. Und das Schlimmste ist, dass sich die Natur nicht einmal wehren kann. Sie ist uns hilflos ausgeliefert. Sie wurde übernommen, denn sie war zuerst da. Es gibt immer eine stärkere Macht, die die vorhergehende Macht zerstört. So ist es und so wird es immer sein. Wir werden auch zerstört werden – irgendwann.
Tag der Veröffentlichung: 11.11.2010
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