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Als ich an diesem Morgen die Augen aufschlug, wusste ich sofort, dass dieser Tag anders sein würde. Der Morgen war wie aus Glas, so als ob man das Unheil sehen könnte. Etwas lag in der Luft, aber noch konnte ich es nicht benennen. Wie jeden Morgen, wusch ich mich, schaute in den Spiegel, und stellte fest, dass ich eine Rasur gut vertragen könnte.

Ich setzte Kaffeewasser auf, öffnete das Fenster, um frische Luft herein zu lassen. Ich schaute hinaus, es schneite. Ich fror, schnell schloss ich das Fenster wieder. Ich fragte mich, was an diesem Tag so anders war. Vielleicht war es nur ein Traum.

Das Schrillen des Wasserkessels ließ mich zusammenzucken. Als ich den Kessel vom Herd nahm, stellte ich fest, dass das Wasser schon fast verkocht war, obwohl ich nur kurze Zeit am Fenster gestanden hatte. Gegen meine Gewohnheit, ließ ich das Frühstück ausfallen. Lustlos, zog ich meine Uniformjacke an und machte mich auf den Weg.

Als ich vor die Tür trat, wehte mir ein eiskalter Wind entgegen. Die Schneeflocken tanzten auf meiner Nase, und im Nu war mein schwarzes Haar vollkommen weiß. Wie immer stieg ich in den Bus mit der Nummer M277. Ich schaute in den Rückspiegel, zupfte meine blaue Krawatte gerade, strich noch mal über mein Haar, dann fuhr ich los.

Es war wie immer die gleiche Route, Blumenstrasse, Tulpenweg, Gymnasium.

Doch dieses Mal nahm die Strecke kein Ende. Rote Ampeln, nichts als rote Ampeln.

Ich schaute auf die Uhr und rief: Verdammt! Schon eine viertel Stunde zu spät. In all den zwanzig Jahren meiner Dienstzeit, war ich noch keinen einzigen Tag krank und niemals war ich zu spät gekommen.


Es war stockdunkel, die Strasse glatt, mit Schnee bedeckt. Die Scheinwerfer durchschnitten das Schneegestöber, urplötzlich huschte ein Schatten über die Fahrbahn.
Ich wollte noch ausweichen, und riss das Steuer herum, stieg in die Bremsen, zu spät. Es gab einen heftigen Knall. Der Bus schlidderte auf der vereisten Strasse und rutschte ein Stück die Böschung runter.

Der Schreck saß mir in allen Gliedern. Ich stieg aus. Da lag sie, blond, zierlich, engelsgleich. In Jeans und einer weißen Jacke. Ich erkannte das Mädchen, dass ich jeden Tag zum Gymnasium brachte, ich schätzte es um die neunzehn, ich beobachtete sie jeden Tag im Rückspiegel. Irgendetwas zog mich zu ihr hin. Aber ich verbot es mir, mich einer Schülerin zu nähern. Nun kniete ich neben ihr im Schnee, sie war ohnmächtig, und blutete am Kopf. Ich trug das Mädchen in den Bus und legte sie auf die hinteren Sitze. Mit viel Geschick brachte ich mein Gefährt wieder in die Gerade und fuhr Richtung Krankenhaus.

Ich hatte schreckliche Angst und ich schwitzte. Es ging quälend langsam vorwärts, der Schnee nahm mir die Sicht. Nach endlosen zwanzig Minuten stand ich vor dem Krankenhaus, holte Hilfe herbei. Nachdem ich alles geschildert hatte, setzte ich mich in eine Warteecke und betete, dass dem Mädchen nichts Schwerwiegendes passiert war.

Ich merkte, dass ich noch ihre Tasche in der Hand hielt und mir fiel ein, das ich ihre Familie informieren müsste. Ich kramte in der Tasche und fand einen Ausweis. Ich las, Lisa Bernard. Bernard - dachte ich, und ich erinnerte mich an meine erste große Liebe, mit der ich gerade mal ein Jahr zusammen war. Simone Bernard verschwand vor zwanzig Jahren von einem auf den anderen Tag aus meinem Leben. Ich war damals sehr verzweifelt, sogar beinahe daran zerbrochen. Ich hatte nie wieder etwas von ihr gehört. Seither lebte ich allein.

Ich weiß noch, es war vier Tage vor Weihnachten, als sie ging. Genau wie heute.

Jemand riss mich aus meiner Gedankenwelt. Es war der Arzt, der mit besorgter Stimme sagte, "Herr Diehsel?"

"Ja!" schluckte ich.

"Leider muss ich Ihnen was Schlimmes mitteilen! Ihre Tochter ist schwerer verletzt, als es zu Anfang schien. Sie hat eine schwere Kopfverletzung", stotterte er nervös. "Im Moment liegt sie im Koma, wann sie wieder zu sich kommen wird, können wir noch nicht sagen. Aber wir tun unser Bestes, das können Sie uns glauben. Tut uns sehr leid für Sie", hüstelte er verlegen.

Mir war, als würde ich umkippen.

Ich dachte an den Morgen, als ich die Augen aufschlug, an diesen Tag, der sich so anders anfühlte, an das Unheil, das ich jetzt benennen konnte. Auch, dass ich vielleicht eine Tochter gefunden hatte, die ich mit einem Mal vielleicht wieder verlor.

Und ich heulte drauf los.


Copyright by Monika Schüler

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Tag der Veröffentlichung: 12.06.2010

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