Feddersen lebte ein ausgesprochen wohl geordnetes Leben. Er lebte strikt nach der Uhr. Jeden Morgen stand er um die gleiche Zeit auf: Punkt 6 Uhr. Schaltete die Kaffeemaschine an, ging ins Bad, putzte sich die Zähne, duschte und zog sich an. Zum Frühstück gab es immer das gleiche, eine Tasse Kaffee, eine Scheibe Brot, mit Marmelade.
Er strich sich über sein braunes lockiges Haar, zog sein schwarz-gestreiftes Jackett an, nahm den Hut vom Haken und machte sich auf den Weg. Pünktlich wie immer war Feddersen in seinem Büro.
Er stellte seinen Aktenkoffer unter den Schreibtisch und fing gleich mit der Arbeit an. Er machte durch bis zur Mittagspause. Seine Kollegen belächelten ihn. Und er hörte mal wie Achim, der Lehrling, zu Benno, der schon seit zehn Jahren hier arbeitete, sagte: "Was iss denn das für einer?"
Benno meinte dann: "Ach, der iss halt so!"
Immer um die gleiche Zeit, Punkt 12 Uhr, aß er zu Mittag. Er holte sein Brot, seine Thermoskanne und die Zeitung aus der Tasche, las versunken, biss in sein Brot. Ein ziehender Schmerz lies ihn innehalten. Dann war es wieder vorbei. Feddersen trank einen Schluck Tee, verzog dabei das Gesicht, und ihm wurde schrecklich heiß.
Feddersen hielt seine Hand auf die Wange, stand auf und ging zur Toilette. Vor dem Spiegel stellte er sich auf die Zehenspitzen, riss den Mund auf, verrenkte den Kopf, aber er konnte nichts entdecken. Er ging zurück zu seinen Schreibtisch. Der Appetit war ihm vergangen. Er schaute auf die Uhr, noch Zeit, ging es ihm durch den Kopf. Nervös, blätterte er eine neue Seite auf.
Unkonzentriert stierte Feddersen die Buchstaben an. Immer noch zehn Minuten bis zum Ende der Pause, dachte er. Er schwitzte und starrte weiter auf den Artikel. Endlich war die Stunde um. Gerade wollte er ein Dokument bearbeiten, als es in seinem Mund schrecklich pochte. Er ballte die Faust, rutschte immer tiefer von seinem Sessel. Und gedämpft, hörte er Bennos Stimme. "Alles klar Feddersen?"
"Geht schon!" murmelte dieser.
Benno zuckte mit den Schultern und ging zurück zu seinem Platz.
Wie immer an einem Donnerstag, machte Feddersen um 17:30 Uhr pünktlich Schluss.
Der Pförtner in der Empfangshalle sagte: "Pünktlich wie immer, Herr Feddersen."
"Stimmt genau", murmelte Feddersen mit pelziger Stimme.
"Auf Wiedersehen."
Wie jedes Mal, wartete er die üblichen drei Minuten an der Haltestelle. Dann stieg er in den Bus der Linie 60. Er wechselte ein paar kurze Worte mit Willy Otremba - der schon immer diesen Bus fuhr, und hielt sich dabei die Wange.
Otremba sagte: "Guten Abend Feddersen! Soll noch Regen geben, heute. Dabei hatten wir in diesem November doch wahrhaft schon genug Regen", schimpfte er. Feddersen nickte abwesend.
"Iss was?" fragte Otremba.
"Zahnschmerzen!!" quollen die Worte aus Feddersens Mundhöhle.
"Hm, nicht so gut", meinte Otremba.
Nickend, setzte sich Feddersen auf den gleichen Platz wie jeden Abend. Er schlug die Zeitung auf, lies sie aber gleich wieder sinken. Als der Bus an seiner Haltestelle ankam, stieg er aus. Er ging den gewohnten Weg: Goethe-Straße, dann links die Nord-Allee. Noch mal links in die Linden-Straße bis zu seinem Haus mit der Nummer 22. Gewöhnlich, machte er sich gleich was zu essen. Aber schon bei dem Gedanken wurde ihm schlecht. Er stürzte ins Bad, suchte nach Tabletten. Eine leere Packung fiel ihm entgegen. Zornig schmiss er sie auf den Boden. Ging ins Wohnzimmer, setzte sich auf den Rand der Couch. Tränen liefen ihm übers Gesicht.
Automatisch schaltete er den Fernseher ein. Eine Werbung für Bacardi Rum regte plötzlich sein Gehirn an. Er dachte dabei an die Flasche Wodka, die er einmal vor Jahren geschenkt bekommen hatte.
Feddersen stürzte zur Bar, und trank einen großen Schluck. Es brannte wie Feuer. Der Wodka beruhigte den Schmerz etwas. Er sah auf die Uhr und merkte, dass es schon Mitternacht war. Eine Stunde über seiner üblichen Zeit. Doch der Alkohol tat seine Wirkung. Erschöpft schlief er ein. Alpträume plagten ihn. Emotionen überhäuften ihn. Sie taten weh, sie fühlten sich einsam und leer an. Sehnsucht ergriff ihn. Er seufzte im Schlaf.
Und mit einem Mal wurde ihm irgendwie klar, was Leben wirklich heißt - und das er etwas ändern musste. Schweißnass wachte er am Morgen auf. Der Zahnschmerz war immer noch da, und der Weg zum Zahnarzt blieb ihm wohl nicht erspart. Und er hatte verschlafen, aber mit einem mal war es Feddersen völlig egal.
copyright by Monika Schüler
Tag der Veröffentlichung: 12.06.2010
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