Fast geräuschlos glitt der letzte Nachtzug aus der Halle. Der Bahnsteig war leer, bis auf einen einzelnen Mann. Er hatte sich eine Zigarette angezündet und starrte dem Zug nach, dessen rote Schlusslichter rasch kleiner wurden.
Er wirkte gespenstig, der leere Bahnhof. Der Mann, blickte sich um, nervös zog er an seiner Zigarette. Gerade schlug es Mitternacht. Zwei Minuten, wegen zwei Minuten hatte er diesen verdammten Zug verpasst.
Mit schleppenden Schritten, einem viel zu langen Mantel, der auf dem Boden schleifte, lief er zu der Tafel mit den Fahrplänen. "Mist – Mist!" fluchte er. Das war der Letzte. Der Nächste ging erst in fünf Stunden. Er fror und zog seinen Mantel enger um seine schmächtige Gestalt.
Wütend schmiss er die Kippe auf den Boden und trat sie heftig aus. Er musste unbedingt nach Stuttgart. Es war seine letzte Chance. Aber wie sollte er jetzt dort hinkommen? Hundert Kilometer waren es von hier aus - von diesem kleinen Nest, das sich Immelsheim nannte. Ein Taxi konnte er sich nicht leisten. Er hatte das letzte Bargeld zusammengekratzt, um einsteigen zu können. Bei diesem verteufeltem - Pokerspiel.
Er hatte keine andere Wahl. Die Gläubiger saßen ihm schon im Nacken. Sie würden ihn lynchen, wenn sie keine Kohle bekamen. Das hatten sie ihm mehr als deutlich gesagt. Automatisch steckte er sich den nächsten Glimmstängel an. Er musste nachdenken und vor allem, eine Lösung finden. Irgendjemand tippte ihm auf die Schulter. Erschrocken bis ins Mark, mit erhobener Faust, drehte er sich um.
"Haste noch' ne Fluppe?" fragte dieses verschmutzte "Etwas" mit dreckigem Gesicht, das männlich zu sein schien. Er musterte die seltsame Gestalt von oben bis unten. Die Kleidung von ihm war zerlumpt, mit unzähligen diversen Flecken und er stank tierisch nach Alkohol. "Haste nu eine für mich?" fragte er noch einmal.
Der Mann hielt ihm die zerknautschte Packung hin. Der Bettler grabschte sich mit seinen vor Dreck stehenden Fingern eine Zigarette heraus. "Was machst'n hier um diese Zeit?" fragte er. "Haste vielleicht deinen Zug verpasst?" Was für eine blöde Frage, dachte der Mann und schwieg. "Na, dann eben nich", sagte der Bettler. "Wenn de willst, kannste mich Ernie nennen." "Ich heiße Franz", sagte der Mann, mit Fistelstimme. Ernie holte irgendetwas aus seiner Hosentasche, hielt es ihm unter die Nase und sagte: "Willste'n Schluck?"
Franz zögerte, dann dachte er, is' ja jetzt auch egal und nahm den Flachmann entgegen. Er trank einen kräftigen Schluck. "Wow! Was is'n das für'n Zeug?" prustete er. Ernie sagte: "Ist ein Selbstgebrannter." Er grinste wie ein Affe. Der Flachmann wechselte noch einige Male hin und her. "Jetzt sach mal Franz, wieso hängst'n du so spät hier rum?"
Franz lallte: "Wieso willst'n das wissen? Is' doch eh egal." "Du sahst nich gerade glücklich aus", meinte Ernie. "Komm, sach schon, Ernie kannste's erzählen." "Ich muss dorthin", lallte Franz, "die bringen mich sonst um." "Mensch Franz, was quasselste denn da? Wer will dich umbringen?"
"Na die, die Geld von mir zu kriegen haben", stotterte Franz. "Du kennst die nicht, sagte er, die machen kurzen Prozess." "Aber wegen so'n bisschen Kohle, bringen die dich doch nich gleich um Franz."
"Dass is net nur'n bisschen, wenn du Zweihunderttausend 'n bisschen nennst – Mensch Ernie, du hast keine Ahnung. Alles is weg - alles. Selbst meine Frau und die Kinder. Die hatten die Schnauze gestrichen voll von mir - und meiner Spielsucht."
Er steckte sich eine neue Kippe an und reichte die Packung weiter. "Ja, das sieht wirklich nich' gut aus, Franz." Mehr sagte er nicht. "Ich glaub, ich muss mich mal für ne Runde auf's Ohr hauen", sagte Franz. Er lief zu der Bank und streckte sich aus.
Es dauerte nicht lange und er schlief ein. Ein Rattern weckte ihn. Er schreckte hoch. "Ernie?" rief er.
Aber, es war niemand da. Hatte er dass alles nur geträumt? Als er aufstand fiel etwas zu Boden - der Flachmann. Also doch kein Traum.
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Tag der Veröffentlichung: 25.02.2010
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