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Der Adventskalender

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Rosalie stand wie immer schon um fünf Uhr morgens auf. Sie schaltete die Kaffeemaschine ein und toastete sich zwei Scheiben Toastbrot. Sie setzte sich an den Kaffeetisch und genoss gemütlich ihr Frühstück. Wie jeden Morgen informierte sie sich in ihrer Fernsehzeitschrift über das Tagesprogramm. Leichte Wehmut stieg in ihr hoch, als sie am Datum der Zeitschrift sah, dass morgen der erste Advent war. Sogleich kam ihr die schöne Zeit mit Karsten in Erinnerung. Rosalie lag die Zeitschrift beiseite und trank den letzten Kaffee in einem Schluck hinunter. Sie stand auf und räumte den Kaffeetisch ab. Anschließend ging sie ins Bad und nach einiger Zeit verließ sie schön geschminkt und frisiert das Badezimmer. Im Schlafzimmer schüttelte sie das Federbett auf und kleidete sich an. Wie jeden Tag das gleiche Ritual und das schon seit vielen Monaten. Genaugenommen seit März, seit Karsten seinen Beruf ihrer Liebe vorzog und nach Amerika auswanderte. Karsten war ihre große Liebe und sie waren beide sehr glücklich. Eines Tages bekam er die große Chance durch Weiterbildung in seinem Job vorwärtszukommen. Das war das Ende ihrer Beziehung, denn sie konnte nicht mit ihm gehen - Rosalie war mitten im Studium.

Bereits nach einem Monat hörte sie von Karsten nichts mehr, jetzt wusste sie, dass ihre Liebe von ihm zu ihr anscheinend doch nicht so groß war.

„Was soll’s, das ist Schnee von gestern“, sagte sie laut vor sich hin und verließ die Wohnung, um zum Briefkasten zu gehen.

Sie stieg wie jeden Tag die wenigen Stufen von der ersten Etage hinunter und wie immer öffnete die nette aber neugierige Hausmeisterin ihre Wohnungstür. Rosalie kannte Frau Meier schon seit ihrer Jugendzeit, wo sie noch mit ihren Eltern im Nachbarhaus wohnte.

„Guten Morgen Rosalie, gut geschlafen?“ Wie jeden Tag die gleiche Begrüßung und beide Frauen unterhielten sich auch wie jeden Tag wenige Minuten miteinander. Im Telegrammstil erfuhr Rosalie alles, was am Vortag so im Haus und der Umgebung geschah. Rosalie wollte sich wieder verabschieden, als Frau Meier erschrocken sagte:

„Oje … bald hätte ich es vergessen! Der Postbote hat mir etwas für dich gegeben, weil er es nicht in den Briefkasten stecken konnte, ohne es womöglich zu beschädigen.

Die Hausmeisterin verschwand kurz in ihrer Wohnung, als sie wieder herauskam, hielt sie Rosalie ein großes längliches – etwa zwei Zentimeter hohes Päckchen hin. „Hier ist es, es wäre doch schade, wenn der Briefträger es beschädigt hätte. Wer weiß, was da wohl drin ist?“

Rosalie zuckte mit der Schulter. Sie nahm das Päckchen, dankte ihr und ging hoch in ihre Wohnung. Sie legte das Päckchen auf den Esstisch und öffnete es sofort. Die Überraschung war groß, als sie sah, dass darin ein Adventskalender war. Sie suchte nach einem Schreiben, aber es war keines vorhanden. Plötzlich viel ihr ein, dass sie im Oktober ein Preisausschreiben mitgemacht hatte, bei dem man einen besonderen Adventskalender gewinnen konnte. In dessen Fenster jeweils ein Schokoladenbuchstabe sei, welche am 24. Dezember zusammengesetzt - ihren Gewinn anzeigen würde. Rosalie freute sich darüber, dass eine spannende Adventszeit vor ihr lag. Fieberhaft erwartete sie den morgigen ersten Advent.

Rosalie sammelte Tag für Tag die Schokoladenbuchstaben und legte sie in ein Schälchen.

 

Heute war der Heilige Abend. Die Neugierde ließ Rosalie noch früher als sonst wach werden. Rosalie stand auf und erledigte die Badezimmerprozedur noch schneller als sonst. Sie setzte sich an den Kaffeetisch und nahm sich ein Stück von dem köstlichen Weihnachtsstollen. Schluck für Schluck trank sie ihren Kaffee.

Nebenbei schüttete sie die Schokoladenbuchstaben auf den Tisch. Sie öffnete das letzte Türchen und holte ein Ausrufezeichen aus Schokolade heraus. Rosalie brauchte ziemlich lang, bis sie alle Buchstaben in der richtigen Reihenfolge hatte. Endlich konnte sie das Ausrufezeichen dazulegen. Die zusammengesetzten Buchstaben ergaben den Satz:

ICH KOMME AM HEILIGEN ABEND!

Rosalie konnte nicht unbedingt damit etwas anfangen, denn sie hatte erwartet, dass es ihren Gewinn anzeigen würde.

„Vielleicht bringen sie es ja persönlich vorbei“, sagte sie vor sich hin.

Ihr Blick auf die Uhr ließ sie aufschrecken. Es war bereits zehn Uhr vorbei und sie musste noch zum Metzger um die bestellten Weißwürste abzuholen und die Brezn vom Bäcker. Sie hatte das Hausmeisterehepaar für den heutigen Abend eingeladen. Sie wollte am Heiligen Abend nicht allein sein.

Plötzlich schrillte die Glocke an der Tür. Eilig ging sie hin und betätigte den Summer, der die untere Haustür öffnete. Sie hörte jemand die Treppe hochkommen. „Das werden sie sein“, sagte sie. Schnell warf sie noch einen kontrollierenden Blick in den Spiegel bei der Garderobe. Erneut schrillte die Glocke.

Rosalie öffnete und erstarrte. Vor ihr stand Karsten mit einem großen weihnachtlich geschmückten Blumenstrauß in der Hand, den er ihr sofort entgegenhielt.

„Darf ich hereinkommen?“

Rosalie nickte stumm und trat zur Seite, damit Karsten eintreten konnte. Kaum hatte sie die Tür hinter sich geschlossen und sich von ihrer Sprachlosigkeit erholt, ging sie auf ihn zu.

„Woher weißt du meine Adresse und was willst du hier?“ Ihre Stimme bebte vor Aufregung. Karsten sah sie tiefgründig an.

„Ich will dich um Verzeihung bitten. Du musst wissen, ich musste so handeln. Es war meine einzige Chance in diesem Beruf vorwärtszukommen und deine Adresse habe ich von der Hausmeisterin, letzte Woche telefonisch erhalten. Ich habe meine Weiterbildung mit unerbittlichem Lernen vorangetrieben, damit ich schneller die Prüfung machen konnte. Ich lernte Tag und Nacht und wie du siehst mit Erfolg“.

„Warum hast du mir keinen Brief geschrieben“? Karsten legte den Blumenstrauß auf die Garderobenablage und näherte sich ihr. Karsten legte seine Hände um ihre Taille. Rosalie wollte sich seinen Händen entziehen, doch Karsten hielt sie fest. „Ich hatte geglaubt, dass du von mir nichts mehr wissen willst, weil du meine Anrufe nicht entgegengenommen hast und auch meine SMS nicht beantwortet hattest“. Jetzt fiel es Rosalie wie Schuppen von den Augen.

„Konnte ich auch nicht, denn ich habe ein neues Handy. Mein Handy habe ich in der Kopflosigkeit um den Liebeskummer, den du mir mit deinem Weggehen bereitet hast, verloren“. Karsten zog sie näher an sich und flüsterte: „Und … kannst du mir verzeihen?“ Rosalie zuckte mit der Schulter.

„Ich weiß nicht“. Karsten drückte sie an sich. „Wenn ich dir verspreche, ab Silvester für immer hier bei dir zu sein und wir im Mai heiraten, wenn du mich noch haben willst?“ Rosalie sah ihm in die Augen. „Wenn du dein Versprechen einhältst, dann sage ich - ja“. Karsten küsste sie leidenschaftlich.

„Ich nehme mit Freuden dein Heiratsversprechen entgegen. Darf ich dann auch über die Feiertage bei dir bleiben?“ Rosalie nickte und küsste ihn.

Plötzlich schob sie ihn von sich. „Oh je die Weißwürste, hoffentlich bekomme ich für dich noch welche. Denn ich hatte nur für das Hausmeisterehepaar und mich welche vorbestellt“.

„Deine Weißwürste reichen bestimmt, denn die Hausmeisterin hatte mir heute Morgen mitgeteilt, dass sie nicht kommen, damit wir beide ungestört sind. Sie laden uns beide, für morgen Mittag zum Essen ein“. Freudestrahlend nahm Rosalie diese Neuigkeit entgegen. „Gut dann holen wir uns jetzt noch die Brezn und eine Flasche Sekt zum Anstoßen“.

Hände haltend gingen sie in die eisige Kälte hinaus und erledigten ihren Einkauf. Am Nachmittag schmückten sie gemeinsam den Weihnachtsbaum, sie tranken gemütlich bei Kerzenlicht einen Glühwein und aßen leckere Kekse dazu.

Zusammen verbrachten sie ein wunderschönes und zärtliches Weihnachtsfest, mit einer glücklichen Aussicht auf ihre gemeinsame Zukunft.

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Tag der Veröffentlichung: 12.12.2014

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