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Berlin – die Stadt der Kreativen. Oder zumindest derer, die sich für kreativ halten. Wird man auf einer Party gefragt, was man beruflich tut, antwortet man am besten mit: Lebenskünstler. Das ist immer gut, das sind alle und das gibt garantiert Stoff für eine lange Unterhaltung. Kreativ klingt natürlich auch nicht schlecht. Dahinter lassen sich Berufe wie Maler, Grafiker, Schriftsteller oder Journalist verstecken. Doch unter denen herrscht großer Konkurrenzkampf, denn irgendwie scheint es, als seien alle auf Jobsuche. Wer hier wie ich als Journalist mit Mitte Dreißig arbeitslos ist, hat bei all den Praktikanten und Volontären kaum eine Chance auf einen gut bezahlten Job. Doch die Hoffnung stirbt bekanntlich zuletzt. Berlin inspiriert zum Schreiben. Und ab und zu gibt es auch Jobs, die auf den ersten Blick lukrativ und interessant wirken. Seit Monaten habe ich deshalb ein neues Hobby: Vorstellungsgespräche.

Noch ein letztes Mal in den Spiegel gucken. Es passt alles: Der Anzug sitzt, die Haare auch. Ich bin frisch rasiert. Auf geht es zum Vorstellungsgespräch. Gut vorbereitet auf die Firma bin ich guter Dinge. Dieses Mal ist es ein Gruppengespräch bei einem Telekommunikationsunternehmen. Gruppengespräche sind in meiner Branche eher ungewöhnlich. Deshalb bin ich auf den Verlauf und meine Mitbewerber gespannt. Leider wollte mir meine Ansprechpartnerin am Telefon nicht sagen, wie die Veranstaltung abläuft. Alles sehr geheimnisvoll. Ich lasse mich also überraschen.

Die Fahrt mit den öffentlichen Verkehrsmitteln verläuft reibungslos. Das ist der Vorteil einer Großstadt. Alle Anschlüsse kommen, ich muss kaum warten. Bis auf ein paar Verkäufer der neuesten Ausgabe der Obdachlosenzeitung „Straßenfeger“, stellt sich mir niemand in den Weg. Gleichförmig wie alle anderen schlängle ich mich von der S-Bahn zur U-Bahn. Immer rechts laufen, dann geht es schneller. Die stinkende Rolltreppe hoch und ab auf die lauten Straßen der Hauptstadt mit ihren breiten und wunderschönen Alleen. Es ist kein Tag wie die Anderen: Die Sonne scheint, obwohl es Winter ist und ein sibirischer Wind durch die breiten Straßen fegt. Ein perfekter Start für ein Bewerbungsgespräch. Meine Laune und das Wetter sind gut – was soll da noch schiefgehen?

Langsam laufe ich von der U-Bahn die Straße hinunter, biege einmal rechts ab und stehe vor dem imposanten Gebäudekomplex meines eventuellen Arbeitgebers. Zehn Minuten vor Beginn des Termins betrete ich die große Eingangshalle des Unternehmens. Alles ist sehr weitläufig und modern. Die Wände sind in kaltem Weiß, das durch den neongrünen Firmenschriftzug aufgepeppt wird. Dazwischen befinden sich hippe Glasbausteine und braune Ledersitzgelegenheiten. Die Halle sieht aus, als wäre sie dem neuesten IKEA-Katalog entsprungen. Oder als sei es eine der zahlreichen Kneipen in Berlin, die den Retro-Schick der 70iger Jahre wieder entdeckt haben. Passend zur Einrichtung laufen trendig gekleidete, aber aufgeregte Menschen zwischen dem Eingangsbereich und einer verschlossenen Glastür hin und her, grüßen freundlich und verschwinden hinter Glas. Das rege treiben passt zu meiner Stimmung. Ich will den Job und Teil dieser netten Community werden.

Der Eingangsbereich ist voll. Es sieht aus wie morgens um acht Uhr im Wartesaal des Arbeitsamts. Überall wartende Menschen, die sitzen oder stehen und sehr unruhig sind. Einige essen ein mitgebrachtes Sandwich oder trinken Milchkaffee aus dem Café nebenan. Da sie alle nicht nach Bewerbern aussehen, bin ich beruhigt. Vielleicht sind das Kunden der Firma, die ihren Fall persönlich mit einem der Mitarbeiter besprechen wollen.

Zielstrebig laufe ich von der Eingangstür zum Empfang. Die hübsche Frau hinter der Rezeption wirkt wie aus einer Castingserie: Perfekt geschminkt mit einem breiten Lächeln bittet sie mich höflich mit den anderen Kandidaten zu warten, bis ich abgeholt werde. Sind die merkwürdigen, wartenden Gestalten in der Halle also doch Mitbewerber? Ich kann es nicht glauben. Deshalb frage ich einen Typen, der eine große afrikanische Trommel neben sich stehen hat, ob er denn auch zum Vorstellungsgespräch gehe. Er brummt nur kurz: „Hm, ja.“. Eigentlich dachte ich, er sei ein Fahrradkurier, der in der Firma etwas abgibt. So kann man sich täuschen. Besonders gesprächig ist keiner der Wartenden. Ich versuche noch mit einer Frau ins Gespräch zu kommen. Doch der Versuch endet wieder kläglich. Auch sie hat sich auf den kommunikativen Job beworben, doch kommunizieren will sie nicht.

Zwei weitere Leute betreten die Halle. Beide in verwaschenen Jeans, mit labbrigen Strickpullis und ungepflegten Frisuren. Zur Gründungszeit der Grünen wären sie sicherlich sofort in den Vorstand gewählt worden. Sie kennen sich und tuscheln aufgeregt. Also keine Bewerber? Gespannt lausche ich, was sie am Empfang sagen. Natürlich wollen auch sie zum Vorstellungsgespräch. Ich bin und bleibe der Einzige im Anzug.

Die bunte Truppe in der Empfangshalle reicht vom Freizeitmusiker, bis hin zu einer langweiligen Blondine, die aussieht wie eine Buchhalterin aus alten Filmen. Sie hat eine strenge Frisur und ihr zu enges Röckchen bedeckt kaum die Po-Backen. Oje. Irgendwie komme ich mir falsch vor. Meine einzige Hoffnung ist, dass sich die Wartenden auf einen anderen Job beworben haben.
Kurzzeitig überlege ich mir, wieder zu gehen. Doch ich warte brav und schweigend mit den Anderen, bis die Personalerin kommt und uns begrüßt. Wenigstens sie ist im Hosenanzug – ich bin also nicht alleine auf weiter Flur mit meinem schicken Outfit. Wir folgen ihr in den zweiten Stock. Dort nehmen zehn höchst unterschiedliche Menschen in einem großen, nüchternen und schlecht eingerichteten Sitzungssaal Platz und betrachten sich erstaunt. Es war also nur die Eingangshalle schick und modern. Wie der Eintritt in eine tolle, vielversprechende Welt, die dann doch leider grau und verstaubt wirkt. Bis auf die Leute, die den Raum füllen. Sie sind alle sehr bunt und sehr unterschiedlich.

Eine Texterin des Unternehmens stößt zu uns und setzt sich neben die Dame aus dem Personal. Sie wirkt sehr sympathisch, aber schüchtern. Auch sie ist schick gekleidet. Nur ihre schmutzigen Schuhe widersprechen dem Outfit. Obwohl draußen kein Schlamm liegt, sind ihre Absätze komplett schmutzig. Es ist Montagmorgen. Sicherlich hat sie am Wochenende einen Ausflug in die Brandenburger Wälder gemacht und seitdem ihre Schuhe nicht geputzt. Leider muss ich während der gesamten Veranstaltung immer wieder auf ihre Schuhe blicken. Sie ziehen mich regelrecht in ihren Bann. Es fallen mir tausend Geschichten ein, die ich zu diesen Schuhen schreiben könnte. Angefangen von einer schwierigen Wanderung durch die Wälder bis hin zum Ausflug mit Kind und Kegel auf den Spielplatz. Aber ich darf mich nicht ablenken lassen und gebe meiner Fantasie Einhalt. Schließlich bin ich nicht hier, um mir Geschichten auszudenken, sondern um den Job als Texter zu bekommen. Ein besonders gutes Aushängeschild für das Unternehmen stellt die Texterin mit ihren Schuhen auf jeden Fall nicht dar.

Es bleibt auch gar keine Zeit für Geschichten. Wir werden freundlich und sehr professionell begrüßt. Die Personalerin stellt das Unternehmen, bzw. den Konzern vor. Es überrascht mich nicht, dass der Konzern erst vor Kurzem gegründet wurde. Obwohl die Firma in der Stellenanzeige als eines der größten Unternehmen im Kommunikationsbereich angepriesen wurde, hatte ich zuvor noch nie davon gehört. Aber auch das ist Berlin: Aus Klein wird einfach Groß gemacht. Umso interessanter ist es erst einmal. Das Unternehmensprinzip ist einfach: Aus jeder Abteilung wurde eine eigene Unterfirma gegründet, die dann den Konzern bildet. In jeder Unterfirma arbeiten zwei bis fünf Leute – bis auf das Call-Center, das ausgelagert wurde. Damit ist schon einmal gewährleitstet, dass kein Mitarbeiter einen Betriebsrat gründen kann. Aber schließlich leben wir in Berlin. Alles pulsiert hier, auch die Firmen. Und alles wird größer - auch der Konzern. Alte Mitarbeiter werden outgesourct oder entlassen, Neue eingestellt. Am Besten zu schlechten Konditionen. Natürlich zum Wohl des Unternehmens.

Alles passt zusammen: Eine bunt zusammengewürfelte Gruppe von Bewerbern, die für einen bunt zusammengestellten Konzern ohne erkennbares Konzept arbeiten will. Ich bin doch falsch. Aber ich nehme es sportlich und bleibe.

Nach der Konzernvorstellung wird das Aufgabengebiet erläutert. Gesucht wird eine kreative Person, die alle Textsorten beherrscht, die Presseabteilung mit aufbaut und die gesamte Kommunikation entwickelt und umsetzt. Ein Allroundtalent also. Klingt sehr interessant und typisch für Berliner Firmen. Genau das Richtige für mich! Ich liebe Herausforderungen. Die Stelle war allerdings anders ausgeschrieben. Gesucht wurde ein Texter mit langjähriger journalistischer Erfahrung. Ich frage mich: Was sollen dann die bunten und meist sehr jungen Leute hier? Denn die sehen nicht so aus, als könnten sie die Anforderungen erfüllen. Vielleicht verrät die Vorstellungsrunde mehr. Ich bin sehr gespannt. Schließlich sind wir nicht auf einem Cat-Walk sondern bei einem Vorstellungsgespräch.

Als Erste beginnt die Buchhalterin. Drei vorgefertigte Fragen, die mittels Beamer an die Wand geworfen werden, machen es uns Bewerbern leichter. Trotzdem stockt die Buchhalterin, als sie beginnen soll. Lange liest sie sich ihre Fragen durch und überlegt. Es wirkt, als sei es ihr erstes Vorstellungsgespräch. Die Fragen scheinen sie zu überfordern. Trocken und sehr stockend erzählt sie von ihren Vorzügen als Redakteurin. Es ist schwierig ihr zuzuhören, da sie sehr leise und monoton spricht. Ihre Klamotten sind ebenfalls grau und langweilig – bis auf die Länge ihres Rockes. Die Haare hat sie streng nach hinten zu einem Zopf gebunden und streicht sich nervös nicht vorhandene Strähnen aus dem Gesicht. Aber natürlich ist sie sehr kreativ und teamfähig. Meint sie zumindest. Als sie eine längere Pause macht, stellt die Personalerin ihr gleich zwei Fangfragen, auf die Buchhalterin schüchtern schlechte Antworten gibt.

Da ich mich irgendwie wie in einem falschen Film fühle, frage ich meine Nachbarin, was sie von der Runde hält. Sie sieht als Einzige noch normal aus, obwohl auch sie eine verwaschene schwarze Jeans mit einer ebenso verwaschenen schwarzen Bluse trägt und sehr gelangweilt auf ihrem Stuhl lümmelt. Immerhin hat sie die typische Journalistenbrille auf. Schon von weitem verrät das schwarze klobige Gestell, dass sie in einem kreativen Beruf tätig ist. Ihr geht es wie mir – was ich sehr beruhigend finde. Gemeinsam machen wir uns kurz über den Rest der Leute lustig. Doch zum Kichern bleibt nicht viel Zeit. Ich habe bereits so manch lustige Geschichte in meiner Bewerbungszeit erlebt. Aber das heutige Erlebnis ist einzigartig.
Leider haben wir durch unser Gequatsche einige Bewerber und deren Geschichten verpasst. Aber egal. Nun kommt meine Nachbarin an die Reihe. Sie ist eloquent und weist eine breite Berufserfahrung auf. Motiviert klingt sie allerdings nicht. Wie auswendig gelernt, leiert sie ihr Berufsleben herunter. Am Ende kann ich nicht sagen, was sie gemacht hat, derart interessant war ihre Schilderung. Sie lümmelt weiterhin auf ihrem Stuhl, als sei sie schon die nächste Chefredakteurin einer Zeitschrift für besonders emanzipierte Frauen, die wissen, wie die Welt funktioniert. Nicht nur ihr Outfit ist verwaschen, sie selbst hat auch zu viel Weichspüler erwischt. Auch ihr werden noch zwei Fragen gestellt und dann bin ich an der Reihe.

Bewerbungserprobt antworte ich auf die drei Fragen und stelle mich vor. Da ich nichts zu verlieren habe, hole ich etwas aus und berichte bis ins kleinste Detail. Ich warte nach meiner Ausführung auf die obligatorischen zwei Nachfragen, doch es kommen keine. Merkwürdig. Ich werde im Verlauf der Veranstaltung der Einzige sein, dem keine weiteren Fragen gestellt werden. Ob es an meinem Outfit liegt? Bin vielleicht doch ich derjenige, der deplatziert ist? War ich zu selbstbewusst? Oder sucht die Firma einfach nur nach einem anderen Typ? Blickt man in die Runde, so liegt der Verdacht nahe.

Als nächstes stellen sich zwei aufstrebende Typen vor, die nach ihrem Studium auch schon einige Praktika absolviert haben. Es ist also doch wahr, dass es Menschen mit Ende Zwanzig gibt, die nur Praktika hinter sich haben und sich dann auf Jobs mit Berufserfahrung bewerben. Bislang habe ich das immer für ein Gerücht gehalten. Berlin die Stadt der Praktikanten. Es scheint jedoch wahr zu sein. Einen bleibenden Eindruck hinterlassen sie nicht, obwohl sie sehr sympathisch wirken. Dafür aber die nächste weibliche Bewerberin.

Sie wirkt wie ein scheues Reh, das gleich zum Aderlass geführt wird, in ihrem viel zu engen, ausgewaschen T-Shirt, das ihre Speckrollen sehr deutlich zeigt. Sie verspricht sich ständig und ihr Eingangssatz charakterisiert sie am Besten: „Leider verfüge ich nicht über eine so umfangreiche Berufserfahrung, wie meine Vorgänger. Aber nach meinem Germanistik – und Psychologiestudium habe ich ein halbes Jahr lang als Praktikantin bei einem Vergleichsportal die Redaktion geleitet.“ So sieht es momentan in der Branche aus: Praktikanten leiten die Redaktion. Ein Hoch auf die Professionalität. Und ein Hoch auf scheue Rehe, die sich ständig am zu engen T-Shirt zupfen und aussehen wie meine Großmutter!

Danach kommt ein Typ mit Strickpulli und Jeans dran. Bei ihm hat man den Eindruck, er bewerbe sich bei Deutschland sucht den nächsten Superkomiker. Immer ein nicht lustiges Späßchen auf den Lippen. Er hat als Assistent des scheuen Rehs gearbeitet. Ach stimmt, das sind die beiden, die mir schon in der Eingangshalle aufgefallen sind. Sie scheint ihren Strickpulli ausgezogen zu haben. Er war also der Assistent einer Praktikantin – auch nicht schlecht! Als er am Ende seiner Ausführung ausruft: „Mit mir verschlechtert sich die Stimmung in ihrem Team auf keinen Fall!“, herrscht eisiges Schweigen. Die Luft im Raum wird immer weniger und der Spaßfaktor auch. Ich überlege immer noch, mich klammheimlich aus dem Raum zu schleichen. Aber es ist doch zu interessant, um jetzt schon zu gehen. Geschockt kichert die Personalerin und stellt ihre obligatorischen zwei Fragen. Ob er sich denn eine Festanstellung vorstellen könne, da er bislang nur freie Jobs und Praktika gemacht hat. Darauf antwortet er trocken: „Ich dachte, die Stelle ist als Freier ausgeschrieben. Aber das Angestellten-Dasein ist bestimmt auch lustig.“ Mehr muss er nicht mehr sagen. Betreten sehen sich alle an. Blicke sagen eben doch mehr als Worte – auch unter Kreativen.

Dann ist der Freizeittrommler der nächste in der Runde. Seine Trommel hat er neben sich gestellt. Ob er wohl zu Trommeln beginnt? Er tut es nicht. Schade! Das wäre noch der Höhepunkt dieser merkwürdigen Veranstaltung gewesen. Er ist ein ganz Aufgeschlossener, der interdisziplinär an den Job herangehen will. Denn schließlich ist es beim Texten wie in der Musik: Alles muss im Einklang stehen. Dreiklang kenne ich ja aus der Musik, aber Einklang? Na, wenn er meint. Er ist schließlich der Musiker von uns beiden. Ich frage mich, welche Art von Musik er spielt. Meine Fantasie macht schon wieder Ausflüge, ich spinne mir Geschichten aus. Es ist hier so interessant, dass ich mich kaum konzentrieren kann. Aber ich muss mich konzentrieren, da die Geschichten wirklich interessant sind. Von ihm erfahren wir leider wenig zu seinen beruflichen Vorzügen. Dafür erzählt er umso mehr von der Berliner Musikszene und deren Vernetzung und Bedeutung. Wäre ich ihm nicht bei dem Vorstellungsgespräch begegnet, hätte ich mich gerne bei einem Bierchen darüber unterhalten. Auch ihm werden die obligatorischen zwei Nachfragen gestellt. Auf die er flapsig antwortet und niemanden überzeugt. Vielleicht ist er ja ein besserer Musiker.

Als nächstes stellt sich eine weitere sehr graue Maus vor. In ihrer Jugend habe sie Arzthelferin gelernt und sich danach für ein Wirtschaftsingenieurstudium entschlossen. Seit ihrem Studienabschluss bearbeitet sie den Content für technische Unternehmen, da Schreiben schon immer ihre Leidenschaft war. Ob sie überhaupt weiß, was Content ist? Die Personalerin scheint sich dieselbe Frage zu stellen und hakt prompt nach. „Naja, den Content ebend“, kommt als karge Antwort mit Berliner Dialekt. Wow, diese Antwort reißt uns von den Stühlen. Alle blicken sich fragend an. Was denn Wirtschaftsingenieurswesen mit ihrer Leidenschaft zum Schreiben zu tun hat, fragt die Personalerin noch einmal freundlich. Denn diese These ist schon sehr gewagt – auch mit viel Fantasie. Aber vielleicht hat die Gute ja schon immer Poesiealben beschrieben, wer weiß. Es wird doch wieder interessant. Leider kommt, wie konnte es auch anders sein, keine Antwort, die einen Zusammenhang herstellt. So etwas nennt man dann wohl Quereinsteiger.

Die letzte Kandidatin scheint das Pech gepachtet zu haben. Ihr Name wurde in der Empfangshalle nicht aufgerufen, deshalb kommt sie zu spät. Verschwitzt und abgehetzt sitzt sie nun da und soll sich vorstellen. Sie ist schon etwas älter und erzählt von ihrer großen Berufserfahrung im Journalismus. Die besteht darin, dass sie seit einem Jahr in einer Agentur als schlechtbezahlte Lektorin zwischen kreativen Menschen arbeitet. Ob sie sich denn nicht als Kreative verstehen würde, fragt die Personalerin. „Na, ich bin die Schnittstelle zwischen den Kreativen und den Textern. Ich sehe mich als Servicestelle für die Kreativen“, antwortet sie naiv. Wie gut, dass das Unternehmen kreative Redakteure sucht. So schnell kann man sich selbst ins Aus schießen. Dann wird sie noch gefragt, warum sie sich beworben hat. Auch dazu fällt ihr ein sehr gutes Argument ein: „Ich bin in meinem jetzigen Job unterbezahlt und das Team arbeitet schlecht zusammen.“ Seufzend bedankt sich die Personalerin bei ihr und streicht ihren Namen auf der Liste durch.

Damit ist die Vorstellungsrunde beendet. Na endlich, kann man da nur sagen. Was für ein Gruselkabinett von Leuten, die sich alle für kreative Journalisten und Schriftsteller halten. Davon gibt es in Berlin anscheinend viele. Die witzigsten haben sich mit mir beworben. Schon in ihrer Kindheit haben sie Tagebuch geführt, zwei kleine Nachrichten für die Schülerzeitung geschrieben und halten sich nun für große Literaten. Weder ein Studium, noch ein Volontariat oder tatsächliche Berufserfahrung zeichnen sie aus. Sie wissen nur Eines: Sie können schreiben! Ich beneide die meisten hier für ihr Selbstvertrauen. Doch im Großstadtdschungel gibt es so Einige, die sich erfolgreich als Freizeitjournalisten verkaufen. Warum auch nicht. Doch wo bleiben da die gestandenen Handwerker der Zunft?

Viel Zeit über das Geschehene nachzudenken bleibt mir nicht. Es gibt noch einen dritten Teil der Vorstellungsrunde, der ebenso unglaublich beginnt, wie die restliche Veranstaltung. Die Personalerin klatscht zwei Mal in die Hände und verspricht nun das Highlight: der Praxistest. Wer ihn besteht erhält den Jackpot, denke ich. War es nicht früher in den schrecklichen Mädchenromane so, dass immer etwas passierte, wenn die strenge Gouvernante in die Hände klatschte? Ob es hier ähnlich ist?

Brav folgen alle Bewerber den beiden Frauen aus dem Unternehmen in einen anderen Raum. Er ist mit Computern ausgestattet, damit wir in der Praxis beweisen können, was wir drauf haben. Jeder nimmt vor einem Computer Platz. Die Personalerin legt jedem Kandidaten verdeckt zwei Blätter mit dem Hinweis hin, dass die Blätter nicht beschrieben werden dürfen. Ich frage meinen Nachbarn, ob es auch A und B Aufgaben gibt. Er lacht schallend. Offenbar versteht er Humor. Das macht ihn sehr sympathisch. Und dabei war es noch nicht einmal lustig von mir gemeint. Ich bin eher verzweifelt. Ich komme mir vor wie in der Schule, als Tests ausgeteilt wurden. Es fehlen nur noch die Trennwände zwischen den Personen. Alte Traumata kommen wieder hoch. Dabei ist meine Schulzeit seit langer Zeit passé. Zweifel kommen auf. Bin ich statt bei einem Vorstellungsgespräch vielleicht bei „Verstehen Sie Spaß?“ gelandet? Wundern würde es mich nicht. Die Dame aus dem Personal ermahnt uns – wie in der Schule - zur Ruhe. Also beruhigen wir uns wieder und warten auf die nächste Anweisung.

Auf ein Zeichen von ihr dürfen wir die Blätter umdrehen. Wichtig ist, dass wir das alle gleichzeitig tun. Nun haben wir eineinhalb bis zwei Stunden Zeit, drei Aufgaben zu bewältigen. Die Personalerin liest die Aufgaben vor und prompt fragt die Wirtschaftsinformatikerin, was ein B2B-Magazin sei. Geschockt sehe ich sie an. Nicht nur ihre Leidenschaft zum Schreiben, nein auch ihre Fähigkeit dazu stelle ich immer mehr in Frage. Schon komisch, sich bei einem Kommunikationsunternehmen zu bewerben und nicht einmal die einfachsten Marketinggrundlagen zu beherrschen. Doch mir bleibt keine Zeit, mich zu wundern oder noch länger über meine Konkurrenten nach zu denken. Es gilt ja den Praxistest zu bestehen. Oder auch nicht. Es überkommen mich Zweifel, ob ich tatsächlich bei einem Unternehmen mit einer so merkwürdigen Bewerberauswahl arbeiten will. Die Aufgaben sind für den anwesenden Personenkreis doch sehr erstaunlich. In der kurzen Zeit soll eine Stellenanzeige, eine Pressemitteilung sowie ein Konzept für ein B2B-Magazin geschrieben werden. Die Personalerin ruft noch eine Kollegin hinzu, die auf uns aufpasst und natürlich gerne weitere Fragen beantwortet.

Die Situation ist schon sehr obskur. Vor allem, weil plötzlich alle auf ihre Tastatur einhacken, als hinge ihr Leben davon ab. Klack, klack, klack schallt es durch den Raum. Und wieder klack, klack, klack. Kurz denke ich, ich bin bei einem Sekretärinnenwettbewerb. Wer am schnellsten fehlerlos schreibt, bekommt den Job. Doch so ist es nicht. Deshalb mache auch ich mich ans Werk, bin allerdings nach knapp einer Stunde fertig. Mein Vorteil ist, dass genau diese drei Aufgaben zu meinem vorherigen Job gehörten und ich sie deshalb relativ schnell bearbeiten kann.

Große Mühe habe ich mir nicht gegeben. Es ist mir lieber, nach Hause zu fahren und Geschichten zu schreiben, als noch weiterhin Teil dieser bunten Truppe zu sein. Große Hoffnung auf den Job mache ich mir so wie so nicht. Am Schluss meiner Ausführungen füge ich noch meine Gehaltsvorstellung ein. Damit ist es so ziemlich sicher, dass ich nie wieder etwas von der Firma hören werde. Denn meine dynamischen, interdisziplinär und sehr lustigen Mitbewerber fordern sicherlich knapp die Hälfte von dem, was ich an Gehalt haben möchte.

Ich gehe auf die Aufpasserin zu, die mich ungläubig ansieht, als ich ihr mitteile, dass ich fertig bin. „Aber sie haben doch noch eine halbe bis eine Stunde Zeit“, ruft sie laut aus. Plötzlich richten sich neun Augenpaare auf mich, die mich schockiert anblicken. Muss ich mich jetzt dafür schämen, dass ich schon fertig bin? Es ist doch wie in der Schule. Ich bin der Streber, der zuerst abgibt und von allen Anderen gehasst wird. Und dazu auch noch im unpassenden Outfit. Das waren schon immer die Schlimmsten. Am liebsten würde ich mich ungesehen aus dem Raum beamen, anstatt regungslos neben der Aufpasserin zu stehen.

Die Aufpasserin schiebt mich zu meinem Computer und will sich persönlich davon überzeugen, dass ich auch nichts vergessen habe. Enttäuscht liest sie sich alles durch und bestätigt mir, dass ich fertig bin. Ich speichere die Datei ab und schleiche mich peinlich berührt aus dem Raum.

Damit aber nicht genug. Ich gehe zum Aufzug und freue mich auf eine Entspannungszigarette. Ein fettes Schild zeigt jedoch an, dass der Aufzug aufgrund von Wartungsarbeiten nicht in Betrieb ist. Mist, vorhin funktionierte er noch. Gut, denke ich, dann eben die Treppe. Das wäre eigentlich nicht schlimm. Aber um mich herum sind nur Glastüren, die verschlossen sind. Ein Treppenhaus ist nicht zu sehen. Also muss ich wohl oder übel wieder zurück in den Computerraum.
Dort angekommen, hacken immer noch alle wie wild auf die Tastatur ein. Klack, klack, klack höre ich. Die Aufpasserin erklärt gerade einem Bewerber etwas. Ich gehe auf sie zu und erkläre meine Situation. Betroffen sieht sie mich an und holt eine Kollegin, die mir den Weg aus dem Labyrinth zwischen den Glastüren hindurch zum Ausgang weist. So ist das: Falsch angezogen als Streber zuerst abgeben und dann auch noch unfähig, um alleine den Weg hinaus zu finden.

An der frischen Luft angekommen, atme ich erst einmal tief die Winterluft ein und genieße die Sonne. Ich setze mich auf eine nahe Parkbank und lasse das Großstadtleben an mir vorbeiziehen. Ganz unterschiedliche Menschen strömen an mir vorbei: alte, junge, langweilige, interessante. Zu jedem Menschen gehört eine Geschichte, die ihn prägt. Aber Geschichten habe ich für heute genug gehört und mir in meiner Fantasie ausgedacht. Genug Großstadtdschungel. Langsam schlendere ich wieder zur U-Bahn und mache mich auf den Nachhauseweg. Das Streckennetz der BVG verschluckt mich und wirft mich zuhause wieder aus. Eines weiß ich: der Bewerbungsmarathon geht weiter.

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Tag der Veröffentlichung: 22.04.2009

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