Der letzte Wunsch
Im Schutze der Dunkelheit krabbelte etwas über ihrem Fuß. Kurz erschrak die junge Frau, doch schon bald war diese Empfindung vergangen, so wie sie selbst bald fort sein sollte.
Behutsam bewegte Belinda ihre Hände. Der grobe Strick, mit dem man sie gefesselt hatte, zerschnitt ihre Haut noch tiefer. Warmes Blut floss aus mehreren Wunden, verklebte und vertrocknete, wie das Wasser im ganzem Land versiegt war. Seit Monaten.
Belinda erinnerte sich an die aufgebrochene Erde in ihrem Garten. Leblos hatten die Heilkräuter und verdorrte Blumen zwischen den Rissen im Boden gestanden. Ihre Häupter geneigt. Die feinen Wurzeln waren entblößt gewesen, als wenn sie das Wasser suchen gehen wollten.
Von weit her drangen Schritte an Belinda´s Ohr. Daraufhin folgten Stimmen, die miteinander stritten. Belinda verstand sie nicht, genauso wenig hatte sie die aufgebrachten Men-
schen im Gerichtssaal der Königin begriffen.
Man hat mich Schuldig erklärt, erinnerte sie sich.
Wann war das gewesen? Vor einigen Stunden oder hält man mich seit Tagen in dem finsterem Loch gefangen? Im höchsten Turm, wie eine Verbrecherin, nur bei Wasser und Brot.
Ihr Gefühl für Raum und Zeit hatte Belinda längst verloren.
Ein Schlüsselbund rasselte. Etwas Hartes stach ins Schloss und öffnete die Tür. Frische Luft wehte in den Raum, sie atmete tief ein. Die forschen Schritte, sowie die streitenden Stimmen kamen auf sie zu.
Jemand griff nach an ihrem Arm. „Komm, steh auf. Die Menge im Burghof wartet schon auf dich!“, knurrte ein Mann.
Belinda hielt ihre Augen geschlossen. Sie nahm den üblen Geruch seines Atems, wie auch seiner Kleidung war, die nach Brandwein und verkohltem Holz roch.
Die Ausdünstungen stachen ihr in der Nase, doch sie erwiderte nichts, da sie wusste, dass ihre kurze Lebenszeit sowieso bald zu Ende wäre.
Ihre Kniegelenke knackten, als sie die Füße auf dem mit Stroh bedeckten Boden setzte. Sie drückte sich ab, wurde plötzlich gehoben von den Armen eines weiteren Mannes.
„Hier, stütz dich auf mich“, sagte er.
Seine Stimme klingt weich, wunderte sich Belinda und öffnete die Augen. Forschend drehte sie sich zu dem helfenden Mann und blickte in sein Gesicht.
Sein hilfloses Lächeln erschien ihr ehrlich.
Der Wächter neben ihnen verlor die Geduld.
„Los jetzt, die Königin verlangt dich zu sehen!“, stieß er höhnisch aus.
„Halt doch dein Maul“, entgegnete der Andere.
Wortlos tat die Verurteilte einen Tritt, dann weitere. Sie folgte dem stinkenden Mann, der Zweite stützte sie mit seinen Armen.
Während Belinda die ausgetretenen Stufen der Treppe hinunter taumelte, kamen ihr die letzte Tage ihrer Freiheit in den Sinn:
Erst versiegte unser Brunnen, dann trocknete der Fluss hinter dem Haus aus. Wie gut, dass ich noch Wasser hatte, auch wenn genau das mir zum Verhängnis wurde. Ach, wäre ich doch nur ein wenig demütiger gewesen und hätte es am Hofe gemeldet, vielleicht hätte die Königin mir dann verziehen.
Der stützende Griff des Mannes verstärkte sich, als sein Kumpan das schwere Tor zum Burghof entriegelte. Achtlos warf er den Balken zu Boden. Der Klang des fallenden Holzes hallte in dem Gemäuer nach und wurde von den Wänden, wie ein Spielball, hin und her geworfen. Knarrend öffnete sich der Ausgang. Das Licht schien blendend herein, sodass Belinda die Augen zusammenkniff.
Ihr Wächter führte sie raus. Sand knirschte unter seinen Stiefeln. Das Rufen von zahllosen Menschen überdeckte es.
„Da, sie bringen die Wasserdiebin!“, keifte ein Frau aus der brüllenden Menge.
Eine rauchige Männerstimme schien ihr zu antworten: „Ja und gleich ist sie weg. Los, hinauf an den Galgen mit ihr!“
Warum hassen sie mich? Was hab ich ihnen bloß getan?, dachte Belinda und blinzelte zum schreienden Volk. Einige kannte sie. Hoch über ihnen, auf einem Podest, thronte die Königin und deutete mit ihrer versteinerter Miene auf die Hinrichtungsstätte.
Man führte Belinda dorthin. Ohne Gegenwehr stieg sie die Stufen hinauf. Eine nach der anderen. Die gaffenden Menschen verstummten und hielten endlich den Atem an.
Ein Vermummter legte ihr den Strick um, zog die Schlinge langsam zu. „So angenehm?“, fragte er.
„Nicht wirklich“, flüsterte Belinda.
Sie schwitzte, dachte voller Verzweiflung an den Himmel, wie sie ihn sich wünschte. Schneeweiße Schwäne flogen dort, mit weit ausgebreiteten Schwingen. Tief unter ihnen lief sie daher, über die grünen, saftigen Wiesen. Verloren geglaubte Freunde standen überall am Weg und lachten.
Belinda hielt dieses Bild vor Augen, während der Henker sie auf die Klappe treten ließ. Dann ging er zur Seite und griff mit seiner Hand nach dem Hebel. Einen Moment lang zögerte er, als ob er etwas vergessen hatte.
Die Menschenmenge schnappte bereits gierig nach Luft.
„Eine letzte Bitte muss ihr gewährt werden!“, rief plötzlich der Wächter, der die Gefangene gestützt hatte.
„Ja genau!“, meckerte eine Frau aus dem Volk, „wir wollen noch hören was solch eine üble Verräterin sich wünscht. Vielleicht will sie, dass der Regen kommt!“
„Regen, Regen, Regen ...!“, brüllten alle Menschen im Chor. Sie reckten ihre Fäuste zum Himmel, als wollten sie ihm drohen. Auf einem Wink der Königin verstummten sie sofort.
„Und, ist es dein letztes Begehren, dass es bald Regen soll?“, fragte die Königin mit unbarmherzigen Stimme.
Zaghaft öffnete Belinda ihre Augen. Die weißen Schwäne verschwanden, ebenso das frische Gras, über das sie gerade noch gelaufen war. Das ausdruckslose Gesicht der Königin blickte ihr stattdessen entgegen.
„Nein, ehrwürdige Herrin“, antworte Belinda. „Nicht den Regen wünsche ich mir, sondern dass die Menschen einander verzeihen.“ Sie senkte den Kopf und hob ihn wieder als sie hinzufügte: „Es schmerzt mich sehr, dass ich dir mein Vorrat an Wasser verschwiegen habe und für mich beanspruchte. Doch das Wasser des Himmels wird zurückkommen und vielleicht werden dann alle Menschen wie Freunde sein.“
Eine flüsternde Welle floss durch das Volk und trug ihren letzten Wunsch bis weit in die hinterste Reihe.
Verwundert blickte die Herrscherin auf die verurteilte Frau, dann griff sie sich vor ihr Gesicht. Die mit Edelsteinen besetzte Goldkrone rutschte ihr vom Kopf und tanzte schlingernd um ihre Füße. Sie bückte sich nicht, sondern zog behutsam ihre Hände zurück. Ein Raunen ging durch das Volk, das ein verändertes Antlitz der Königin sah.
„Dein Wunsch soll dir gewährt werden, du bist frei!“, sprach die Königin unerwartet aus und sie lächelte mild.
„Halt, das kann nicht euer Wille sein. Die Verurteilte hat euch verhext!“, kreischte der Wärter. Lautstark fügte er hinzu, dass auf Unterschlagung die Höchststrafe steht.
„Und wer unser Königin die Stirn bietet, ist nicht wert in ihrem Dienste zu stehen!“, konterte der Wächter neben ihm und erwartete den Befehl seiner Königin.
Belinda blickte den Mann an.
Sein Wesen war überraschend ernst geworden. Das Blaue seiner Augen, erinnerte sie trotzdem an Quellwasser, in dem sich der blaue Himmel spiegelte. In ihren Gedanken hörte sie Wasser gluckern und sah sich mit dem jungen Wärter über die grün werdenden Wiesen laufen. Wie aus weiter Ferne hörte Belinda die weiche Stimme der Königin erneut sprechen und unerwartet fielen ihre Fesseln zu Boden.
*
Texte: Copyright bei der Autorin
Tag der Veröffentlichung: 16.08.2010
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Für Lulu und alle, die an die Freiheit glauben