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Weihnachten könnte nett

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Luise stellte sich auf die Zehenspitzen und schaute über die Menschentraube hinweg zum Ende der Straße hin. Sie hatte die Nase gestrichen voll von Weihnachtsliedern, die aus den Geschäften plärrten. Wo blieb der Bus?
„Mami, die Ulli zankt!“, krähte ihre jüngste Tochter und drängte sich an ihre Beine. „Lass das, du Blödi!“ Ihre Zunge kam zum Vorschein.
„Selber, selber, da lachen alle Kälber!“, sang ihre Schwester und drehte sich kichernd im Kreis herum, ohne auf die anderen Passanten zu achten. „Kerstin ist ein Kälbchen, ein dummes, kleines Kälbchen!“
„He aufgepasst, Mädel!“
„Also wirklich, muss das gerade hier sein?“
„Unglaublich, diese Kinder von heute nehmen auf niemanden Rücksicht!“
„Ganz Ihrer Meinung, die sind allesamt verwöhnt!“
„Schön, wenn es so wäre!“, fauchte Luise die ältere Frau im Nerzmantel an, über den sie am liebsten rote Farbe gesprüht hätte, aber eine solche Dose war ihr momentan zu teuer. Sie griff an die Gesäßtasche ihrer abgewetzten Hose und fühlte, dass die Börse noch da war. Ein Glück! Sie öffnete sie und suchte in dem hintersten Fach, zwischen den verschiedensten Zettelchen, nach den Fahrscheinen.
In dem Moment kam quietschend der Bus vorgefahren. Menschen drängten heraus und herein. Etliche Tannenbäume wechselten den Ort. Vollgepackte Taschen schlugen gegen Luises Beine, während sie immer wieder ihre Börse durch-
suchte und dann mit einem heftig pochendem Herzen in der Brust den Bus betrat.
„Ulrike, Kerstin, wo steckt ihr?“, rief sie. Mehrere Passagiere schauten sie verärgert an. Luise drehte sich einmal im Kreis herum und fragte dann eine ältere Dame, die gerade stöhnend auf dem letzten freien Sitz Platz nahm: „Hallo, haben Sie vielleicht zwei Mädchen gesehen? Beide tragen sie die gleiche rosa Daunenjacke.“
Die Angesprochene musterte Luise mit zusammengekniffenen Augen, dann wandte sie sich mit den Worten: „Passen Sie halt besser auf ihre Kinder auf!“, dem Fenster zu.
„Mama, Mutti, hier sind wir!“, drangen zwei Stimmen an Luises Ohren.
Ein Seufzer entwich ihren Lippen. „Bleibt jetzt bei mir, wir müssen neue Fahrkarten vorne beim Fahrer kaufen“
„Aber Mama, wir haben schon Karten gekauft!“, warf ihre Tochter Ulrike ein. „Nimm einfach die!“
„Das geht nicht weil sie weg sind. Geklaut, verloren, was weiß ich und jetzt kommt schnell, bevor der Bus los fährt!“
Die Hintertüre wurde bereits geschlossen, nur noch vorne ließ der Fahrer eine junge Frau hinein, die mit zwei Rücksäcken in der Hand durch die Türe stolperte. Luise ließ sie vorbei und sagte zu dem Mann, der den Raum hinter dem Lenkrad ausfüllte: „Eine Fahrkarte für mich und zwei für meine Kinder, bitte!“
Der Fahrer schüttelte den Kopf. „Seit Jahren darf ich keine Karten mehr verkaufen“, erklärte er. „Die müssen sie vorher am Automaten ziehen!“
Luises Stimme klang heiser. „Das hatte ich, aber die sind weg!“
„Abfahrt! Wir wollen die Anschlussbahn erreichen!", brüllten zwei kahlgeschorene Jungen mit Fußballfanbekleidung durch den Bus.
Luise sah mit zusammen gepressten Lippen ihre Töchter an.
„Ulrike, Kerstin, wir müssen noch mal hinaus und neue Fahrkarten besorgen!“, sagte sie und griff nach den Schultern ihrer Töchter. Sie zog und schob, doch die Mädchen entwanden sich ihrem Griff.
„Ich will nach Hause - was trinken und dann zu Tante Trudi den Weihnachtsbaum anschauen!"
„Ich auch, ich auch!“, stimmte Kerstin ihr zu und zum ersten Mal waren sie einer Meinung.
Wie von Geisterhand klappte genau in diesem Moment die Vordertür zu.
Nein, nicht auch das noch!, ging es Luise durch den Kopf.
Mit hochrotem Gesicht drehte sie sich zu dem Fahrer um. „Bitte lassen Sie uns raus!“
Der Fahrer lachte und legte genüsslich den ersten Gang ein. „Heute fahren Sie drei ganz auf Kosten der Verkehrsbetriebe!“, erwiderte er. „Ein bisschen nett sein muss am Heiligen Abend einfach drin sein!“
Luise sah neben ihm eine volle Tüte Lebkuchen auf der Ablage liegen und fühlte plötzlich Weihnachten nicht nur als Geschmack.


Impressum

Texte: Copyright by Silke Kissel
Tag der Veröffentlichung: 06.12.2009

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