Routinemäßig griff ich nach den Medikamenten, schluckte sie mit Hilfe von einer Flasche Mineralwasser hinunter und begab mich Richtung Tür. Hier schob ich wieder einmal die Einladungskarten zur Seite, welche dort seit einigen Tagen ruhten.
Es war nicht so, dass ich diese Menschen, von denen ich sie erhielt, nicht mochte;- im Gegenteil-, aber mir lag viel daran einiges lange auf sich beruhen zu lassen. In meinem Alter hetzte man nicht mehr.
So nahm ich mir auch in aller Ruhe meinen Schuhanzieher und zog meine Schuhe an. Danach stand ich vom Garderobendiener auf, um auch meinen Mantel an streifen zu können. Dazu kam meine Kopfbedeckung, vielen als Golfhut bekannt, genauso schwarz wie mein Mantel. Angezogen nahm ich noch meine Geldbörse vom Schrank, steckte sie in die Innentasche, knöpfte den Mantel zu und verließ mit meinen Schlüssel in der Hand die Wohnung.
Obwohl ich allein lebe, kümmere ich mich um mein Heim. Ein kleines Häuschen zwischen vielen. Nichts besonders, aber ausreichend Platz für mich und ein bisschen Grün zum bepflanzen. Darum kümmert sich seit meinem letzten Krankenhausaufenthalt jedoch eine Nachbarin.
Ein letztes Mal versichere ich mich mit den Griff nach den Knauf danach auch alles richtig abgeschlossen zu haben, bevor ich meinen Weg Richtung Stadtrand aufnahm. Wie es bei vielen älteren Herren in meinen Alter der Fall war, machte auch ich mich nun auf meinen bekannten Weg. Heute jedoch, an diesen sonnigen goldenen Herbsttag, wollte ich ein wenig davon abweichen.
So führte mich mein Weg vorbei an kleinere Häuser, welche langsam auf den Winter vorbereitet wurden, hin zu den lärmenden Straßen an denen Wohnblöcke rechts und links zu Sonnenschirmen wurden. Ich eilte nicht, ging gemütlich, während neben mir alles in Hektik zu sein schien. Als die Wohnblöcke wichen, begrüßten mich die warmen Sonnenstrahlen und Mutter Natur.
Das Laub unter meinen Füßen, dass immer mehr wurde, die Sonne welche meinen Mantel und mich aufwärmte, all dies erschien mir wie eine Begrüßung.
Dabei kam mir in den Sinn, dass ich schon lange nicht mehr so liebkost wurde, wie gerade von Mutter Natur. Ein bisschen Wehmut klang in mir auf und verschwand mit den lauter werdenden Vogelgesang.
Vorbei an Spielplätze und immer weniger bebauten Plätzen, erreichte ich den kleinen Platz vorm Stadtpark. Dort bog ich Richtung Norden ab. Über mir flogen laut schnatternd Wildgänse Richtung Süden. Bald befand ich mich am Waldrand und bewunderte am Wegesrand einen Ameisenhaufen. Wie die kleinen Insekten dort emsig hin und her eilten, erinnerte ich mich an meine Zeit als ebenso agiler Jüngling.
Eine Wette unter den Buben der Stadt, hatte mich damals hoch erhoben und auch schmerzlich gepeinigt. Um die schönen Mädel, vor allem eines, zu imponieren, begaben wir uns zum größten Ameisenhaufen den wir finden konnten. Heute bezeichne ich es selbst als albern und muss erkennen, dass ich mehr belustigt, als beeindruckt habe.
Dort scharten wir uns also. Alle die Manns genug sein wollten, standen mit nackten Füßen knapp vor dem Ameisengewimmel. Sieben haben sich damals getraut.
Schmerzlich erinnere ich mich daran, was geschehen war. Doch Stolz schwelgt noch heute auf, denn ich blieb bis zuletzt stehen. Tapfer hatte ich bis zum Schluss dort ausgeharrt und meinen Platz in der Gruppe und an der Seite eines der Mädel, erhalten.
Heute jedoch weiche ich den Insekten lieber aus. Noch immer erinnere ich mich an das Brennen und Jucken.
Das Mädchen, welches ich damals beeindruckt habe, war zwei Monate später fort. Ich habe sie seitdem nie wieder gesehen, kommt es mir in den Sinn.
Der Wind in den Bäumen reißt mich aus meinen Erinnerungen und macht mir zugleich bewusst das es hier eigentlich nicht paradiesisch ist. Leere Einkauftüten und Verpackungen fliegen an mir vorbei, wie Strohbündel in einen Western. Ich richte mich auf und meinen Blick gen Himmel. Die Strahlen der Sonne wirken bizarr durch das Astgewirr. Beinahe so als wollten sie vor dem kommenden Winter noch einmal kraftvoll bis zum Boden gelangen. Dabei schreckt das Motorgeräusch eines Flugzeugs mehrere Vögel hoch. Ich folge ihren Flug mit meinen Blick. Dadurch entdecke ich einen Sperber der kopfüber sein Tagewerk vollbringt.
Als ich mich endlich vom interessanten Wesen des Tieres abwende, entschließe ich mich meinen Weg nun ins Ungewisse schweifen zu lassen. Hierfür verlasse ich den breiten Weg und verschwinde ins Dickicht des Waldes auf einen Trampelpfad. Mehr will ich meinen Beinen dennoch nicht zumuten. In diesen Tagen freue ich mich schon auf ein kleines Abenteuer im Wald. Ungewiss ob ich tatsächlich auf etwas anderes als Ameisen treffen würde, hoffe ich auf ein Wildtier. So selten sind sie geworden, dass eine Begegnung mit ihnen schon einer Entdeckung gleichkommt.
Hier und da knirschte ein Ast oder Zweig unter meinen Schuhen. Hier schien schon lange keine Menschenseele mehr gewesen zu sein. So erfreute ich mich daran vielleicht doch ein kleines etwas entdecken zu können. Es roch nach Moos, Laub und Erde. Je tiefer ich in den Wald kam, desto mehr schien die Zivilisation hinter mir zu liegen. Zu meiner Freude hatte auch die Unratplätze rasant an Population verloren. So entwich auch der Schmerz in meiner Brust bald meinem Tun und ich schritt ins Ungewisse voran.
Der Wind blies heftiger, wenn auch nicht kalt und kündigte vom Wetterwechsel. Mir wurde klar, dass alles was ich jetzt sah einmalig war und doch nicht ewig. Dann geschah es. Ich blickte ins Dickicht und sah etwas. Dort standen Sie!
Mir stockte der Atem und ich versuchte so still wie möglich zu bleiben. Der Wind kam aus ihrer Richtung und wirbelte Blätter um uns herum. Auch als eines mir direkt ins Gesicht flog, wagte ich es nicht mich zu bewegen.
Vorsichtig bewegte sich das größere der braun-weißen Tiere. Es schien bald so als handle es sich um Mutter und Kind. Welche Pracht, wie sie dort standen. Keine zwanzig Meter von mir, streiften zwei Rehe durch den Wald.
Wie lange war es her, dass ich solch ein Erlebnis hatte? Damals hatte mein Vater noch gelebt, soviel erinnerte ich mich noch. Doch wo und wann war dies geschehen? Auf der Jagd?
Der Wind spielte mit dem Laub der Bäume, während die beiden Rehe genüsslich Gras und anderes suchten. Ich meinte zu erkennen, dass das kleinere der beiden dabei sogar einen Pilz entdeckte und sich zugute kommen ließ.
Wie im Traum stand ich gerührt und glückselig zugleich dort. Irgendwo mitten im Wald, am Stadtrand. Wie sehr ich dabei inständig hoffte dieser Moment würde ewig andauern. Still dankte ich Mutter Natur und Gott mir solch einen schönen Tag beschert zu haben.
Einen Augenblick kam mir der Spruch meines Vaters in den Sinn. „Man soll den Tag nicht vor dem Abend loben!“
Ich sah mich um, entdeckte ein paar Schritte entfernt einen Baumstumpf und ging darauf zu. Gerade als ich mich darauf nieder lassen wollte, erfreut darüber die Tiere nicht verscheucht zu haben, geschah es.
Ein lauter Knacks, dann fiel etwas zu Boden.
Ein Ast, von einen älteren Baum, krachte Richtung Erde. Dabei blieb er immer wieder an anderen Ästen und Zweigen hängen, die mit ihm zu Boden gingen.
Die Rehe sahen auf und wichen erschrocken zurück. Wie in Zeitlupe erschien mir der folgende Moment. Als wäre ich in eine Starre verfallen, stand ich da, untätig meine Position zu ändern, sah ich kurz nach oben, dann direkt in die dunklen Augen des Tieres.
Diese schönen, tiefgründigen Augen vom größeren der beiden Rehe. Sein Blick haftete auf mir, wie auf eine Gefahr, während meiner auf ihrem ruhte. Wie durch unsichtbare Seile gefangen stand ich da, als der Ast unaufhaltsam hinunter krachte.
Mein geschwächtes Herz wurde wie von einen Dolch erstochen, als mich der Schmerz durch fuhr. Mitten im Wald, irgendwo am Stadtrand, stand ich Auge in Auge mit der Natur und mein Herz blieb stehen.
Herbststillstand.
Der große Ast war in drei Teile zerbrochen und lag nur wenige Schritte von mir entfernt. Ich stand wie angewurzelt da. Zur Salzsäure erstarrt. Nur der Wind rauschte oder war es das Blut in meinen Ohren?
Langsam ließ ich mich sinken, den Blick auf die Rehe gerichtet, die dort mit angespitzten Ohren standen. Der Schreck durchzog mich und saß tief, so dass mich das folgende Rascheln im Holz, wie ein Blitz durchzog.
Doch es fiel kein Ast vom Himmel.
Dafür erschien mir ein kleiner gestachelter Freund. Er sah zu mir auf, schnüffelte an meinen Schuh und verschwand dann wieder ins Laub. Mein Herz machte einen Sprung und Tränen liefen mir über das Gesicht. Jegliche Kontrolle darüber hatte ich verloren.
Der Film, welcher vor meinen Augen abgespielt wurde, hatte einen Riss bekommen und wurde unterbrochen. Ich konnte ihn nicht zu ende sehen. Doch der Schluss war mir peinlich genau bewusst. Der Wald und seine Bewohner ließen sich nicht davon beeindrucken. Der Igel schaute noch mal kurz aus seinen Laubhaufen und verschwand darin endgültig. Auch die Rehe hatte sich von mir entfernt. Das Kleinere jedoch blickte in meine Richtung.
Erst als ich mich langsam, mit zitternden Beinen erhob, wendete es sich von mir ab. Es verschwand gemächlich zum anderen, welches dort zu warten schien. Dann verlor ich sie im Dickicht des Waldes aus den Blick.
Ich wischte mir mit meinen Stofftaschentuch über das Gesicht und ging. Zurück blieb der Ort an dem mein Herz, irgendwo am Stadtrand, mitten im Wald, stehen geblieben war.
Es war Herbst. Ein goldener Herbsttag.
Zurück blieb auch mein altes einsames Ich.
Libellen begrüßten mich am Stadtteich, zusammen mit dem Licht der sinkenden Sonne. In mir war etwas neues aufgebrochen, vergangenes oder vergessenes. Genau wusste ich es nicht. Doch als ich meine Nachbarin freundlich begrüßte und sie mich bei meinem wohl merkwürdigen Anblick, vielleicht aus Sorge, zum Kaffee einlud, da wusste ich es.
Am Abend würde ich jemanden anrufen und erledigen, was ich zulange verschoben hatte. Ich mag ein Rentner sein, doch auch mir wurde bewusst, dass ich Zeit nicht ewig zur Verfügung habe.
Texte: Alle Rechte liegen bei Silizia Albrecht.
Tag der Veröffentlichung: 20.10.2011
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Diese Kurzgeschichte ist allen gewidmet die sich Zeit nehmen...