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Nr. 1 - 9. Januar 2012



Hurra, es ist verlängert worden! Nicht mein Bett, nicht mein Leben, sondern das Visum, und zwar gleich für ein ganzes Jahr. Das kostet gar nichts, während ein Monat ca. 100 Euro gekostet hätte. Aber wie lange ich bleibe, ist noch völlig offen. Näheres vielleicht später.
In diesem Zusammenhang noch einmal ein Kaleidoskop von Eindrücken:
Die Stadt Khartoum bietet kaum echte Sehenswürdigkeiten und Anreize, und wenn, bleibt die Frage, ob sie für Kinder geeignet sind, bzw. ob man sie überhaupt erreicht, denn öffentliche Verkehrsmittel sind in keiner Form vorhanden. Gebäude und Exponate des Nationalmuseums etwa sind "bescheiden". Viele Stücke sind gar nicht oder nur auf Arabisch ausgezeichnet. Im Zoo gibt es ein paar viel zu enge Käfige, wo die die armen Geschöpfe oft ohne Schutz der glühenden Sonne ausgesetzt sind. Öffentliche Spielplätze sind nicht vorhanden. Nur wenige Cafés oder Restaurants bieten etwas Abwechslung für Kinder. Spazierengehen und Fahrradfahren auf den staubigen, ungepflasterten Straßen ist unmöglich. Also bleibt nur das Haus, jedes Kleidungsstück, Opas Habseligkeiten, der Inhalt des gesamten Kühlschranks werden als Spielzeug ausprobiert. 5mal am Tag umfluten uns die drei umliegenden Moscheen mit den eintönigen Lesungen und Gebeten der Imane. Aber nirgends habe ich mich bedroht gefühlt. Bettelei kommt vor, wird aber nie lästig.
Grob geschätzt haben nur 5% der Straßen einen Namen, aber selbst die keine Hausnummern. Der Rest der Wege und Plätze ist in einem miserablen Zustand. Man bahnt sich sich seinen Weg durch Schlaglöcher, um Schutthaufen herum, auch merkwürdigerweise durch riesige Pfützen, die wohl durch undichte Wasserleitungen entstehen. Strassenbeleuchtung fehlt, Beleuchtung an vielen Fahrzeugen auch. Auf den asphaltierten Strassen werden die vielen Kubikmeter des braunen Wüstensandes und bunten Mülls mit Bulldozern zusammengeschoben, oder ein einzelnes Männlein fegt mit einer Art von Besen kleine Häufchen zusammen, die er mit den Händen in einen Behälter füllt und in wenigen Metern wieder auskippt. Dass da überhaupt noch etwas läuft, grenzt an ein Wunder. Ich sitze manchmal an einer Kreuzung, wo der Verkehr nach allen mir bekannten Regeln total zusammenbrechen müsste, aber siehe, er bewegt sich doch, ohne Schimpfen und Fluchen, kräftig unterstützt von leichten Handbewegungen aus den ständig offenen Fenstern. Darum geht es: Vorwärtsrücken um Haaresbreite, jeden cm Spielraum nutzen, so bleibt alles in Bewegung. Leben und leben lassen, Zeit spielt ja keine Rolle, es hält sich ohnehin keiner daran, schon aus Mangel an Uhren. Geregnet hat es seit dem 16.12. kein Tröpfchen, gelegentlich ein Schleierwölkchen am fernen Horizont.
Pläne in diesem Lande zu machen ist schwierig. Immer müssen wir ein Auto bestellen, aber wegen Vergesslichkeit oder Verkehr lässt das oft lange auf sich warten. Wir wollen mit den ungeduldigen Kindern um 11 Uhr abgeholt werden, erfahren aber, dass eine Kollegin erst wegen Typhusverdacht ins Hospital gebracht werden muss, usw. usf. Wir fahren teils in den schweren UN-Landrovern mit dem charakteristischen schwarzen Unterbau für eine Riesenradioantenne am Bug, die für Einsätze in Urwald, Busch und Wüste gebraucht werden, in den winzigen Daevoo-Taxis (Amraks), wo ich zwei Knoten in meine Beine machen muss, und selten in den Tok-Toks, mit Zweitaktmotoren, die mit Seilzug gestartet werden, meist ohne Licht und immer ohne Blinker. Sie wuseln wie Ameisen durch den übrigen Verkehr. Bedauernswert die zweirädrigen Eselskarren. Die armen Tierchen, meist nur Gerippe, werden zwischendurch mit einem Band von 80 cm Länge irgendwo angebunden, ungeschützt der Sonne ausgesetzt, ohne Futter und Wasser. Am unteren Ende allerdings die Fußgänger, die verzweifelt um ihr Leben rennen, oder, wenn sie nicht gestorben sind, heute noch auf der falschen Seite stehen. Auch das Warten auf Verlängerung des Visums ist für fast alle Ausländer Glückssache. Um Geduld, wenn es nicht verlängert wird, wurde am Sonntag sogar im Gottesdienst der International Church of Khartoum gebetet. Schwierig auch dies für uns Westler: Nirgends, nirgends ein Bankautomat. Banken gibt es kaum, und eigentlich dürfte es überhaupt keine geben, denn Mohammed verbietet Zinsen. Selbst Flugtickets müssen bar bezahlt werden. Die Angestellten von IOM erhalten ihren Lohn bar in Dollar und müssen sie bei privaten Wechslern umtauschen, allerdings meist erheblich günstiger als in Wechselstuben. Da kommt man dann mit dicken Paketen mit sudanesischen Pfund zurück. Viele Kellner auch in gehobenen Lokalen verstehen die engl. Orders nicht recht, oder wenn sie sie verstehen, bringen sie doch etwas anderes. Eines bereitet mir echten Schmerz: Als Deutscher bin ich Weltmeister im Müllsortieren, und hier muss ich alles in einen Sack schmeißen: Papier, Plastik, Grünzeug, Glass, Elektroschrott. Alles wird irgendwo in der Sahara verscharrt. Artikel, die man in bestimmten Läden sucht, sind bestimmt gerade finished.
Ganz besonders fesselt mich, was meine Tochter von der Rückführung Tausender Südsudanesen in ihren neuen Staat zu erzählen hat, wo sie die Reisen per Flugzeug, Booten oder Eisenbahn samt unübersehbaren Gepäckmassen zu organisieren hat, auch Uralte am Stock und schwangere Mütter, wobei sich unterwegs immer wieder weniger Glückliche einzuschleichen versuchen. Vom Endpunkt Juba, der neuen Hauptstadt, kann es noch Wochen bis zur Heimat dauern, und ob von dem alten Dorf noch etwas existiert, steht in den Sternen. Auf so einem Boot mit 1000 Passagieren herrschen unvorstellbar enge und unhygienische Zustände bei glühender Hitze. Viele (die meisten) haben keinerlei Identitätspapiere und sind Analphabeten. Zum Glück helfen Clan-Chefs und und "Scheiche" mit, die sozialen Ordnungen zu überprüfen und herzustellen. Andrerseits gibt es auf beiden Seiten der neuen Grenze ständig bewaffnete Auseinandersetzungen oft mit zig Toten, was aber mehr ethnisch als national eingestuft wird. Die Flüchtlingsfrage nimmt also kein Ende. Aber gar nichts tun?
Das Leben in Khartoum ist sicher oft vergleichsweise primitiv, aber sehr intensiv, oder umgekehrt ausgedrückt: Je geringer die Ansprüche, umso weniger Mühe. Der Kampf ums Überleben ist sicher nicht weniger aufreibend als bei uns, aber er wird nicht so verbissen geführt und unter dem Zwang, immer den andern übertreffen zu müssen. Gemeinsam lässt sich der Mangel leichter ertragen. Im Schatten eines Baumes, Hauses, Reklameschildes, ausgeschlachteten Riesenlasters können Männer und ein paar Frauen stundenlang palavern und Allah einen guten Mann sein lassen. Oft eine Gruppe von Schafen dazwischen, Frischfleisch für den nächsten Festtagsbraten. Hitze, Schmutz, Chaos, Bauruinen, trotzdem pralles Leben: Lachen, Farben, Kinder, Vögel, Musik und sicher auch viel Verliebtheit hinter den Schleiern. Hier erfährt man hautnah, an sich selbst und in der Umwelt, wie wenig nötig ist, um fröhlich, ja glücklich zu sein. Der Diogenes in mir bekommt bestätigt, auf wie vieles er verzichten kann. Vieles von dem, was ich möchte, gibt es nicht. Man lebt von dem, was es gibt, z. B. Wasser, das ausreichend vorhanden ist, wenn auch aus der Leitung nicht unabgekocht trinkbar. Wie köstlich kann dieser Lebenssaft sein, sogar halb warm! Kein Fernsehen, allerdings ein sehr gebrechliches Internet. Mein Mac-Book verwandelt z.b. jedes "fuer" automatisch in Ufer, und zu den Stoßzeiten sind fast keine Aktionen möglich. Da es technische Abhilfe nicht gibt, bleibt nur, sich in Gleichmut zu üben, über die Unergründlichkeit und Größe und Güte des Schöpfers zu sinnen. Mensch, werde wesentlich, wie schon der Mystiker Angelus Silesius schrieb. Da ist alles Materielle sowieso eher störend. Ach ihr reichen, armen Europäer, zeigt doch endlich einmal euch selbst, eurer Umwelt und den Bewohnern der Entwicklungsländer, wie überlegen eure Lebensqualität ist! Ich höre so viele Klagen im reichen Deutschland und im sozial so geregelten Schweden. Hier höre ich sie nicht, aber das liegt vielleicht daran, dass ich kein Arabisch, Amhari oder einen der anderen 1000 Dialekte verstehe.
Irgendwann werde ich zurückkehren, aber voraussichtlich als - Mumie, konserviert von der direkten Sonnenbestrahlung und den zähen Autoabgasen. Aber wer will schon nach Stockholm, wo es dort - 6 Grad sind, hier dagegen + 28? Leise rieselt der ockerfarbene Wüstenstaub, und in 50000 Jahren, nachdem die Menschheit aus diesem oder jenem Grund ausgestorben ist, wird hier vielleicht wieder ein üppiger Urwald wachsen.
PS Zur Aufklärung einer Frage, eines Missverständnisses: Selbstverständlich gilt in keinem moslemischen Land der Welt der Sonntag als offizieller Feiertag, sondern nur in Ländern mit christlicher Tradition. Im Islam ist Freitag und im Judentum Samstag der Tag der Gottesdienste und damit arbeitsfrei.

Nr. 2 - 15. Januar 2012



1) Wetter. Seit ein paar Tagen ist der Wind umgeschlagen, der sonst so makellos blaue Himmel ist milchig-diesig geworden. Und es ist - Winter, wirklich der kälteste seit Menschengedenken, wie viele hier sagen. Eine Woche lang kann das dauern, heute z. B. nachts nur 12 und am Tage 23 Grad.
2) Verkehr Bis heute habe ich noch keinen Nichteinheimischen ein Auto steuern sehen. Und das liegt daran: Einmal kann es ohnehin kein Vergnügen sein, sich durch diesen dichten Verkehr zu lavieren. Aber noch wichtiger: Wenn Ausländer in einen Unfall verwickelt werden, können die Folgen unabsehbar sein, juristisch und finanziell.
3) Müll Neulich erfuhr in im Café Ozon, wo am Freitag sich alles trifft, was an Ausländern Rang und Namen hat, vor allem Dutzende von Kindern, die mit wildem Geschrei umhertoben, dass es doch so eine Art von Müllverwertung gibt. Einmal geht es Coca Cola, das hier an dem Verkauf von Millionen Flaschen Wasser beteiligt ist, um der Wiedergewinnung des Plastik, andrerseits verschifft ein Chinese, der den stinkenden Abfall von Kindern vorsortieren lässt, den Wertstoff nach China.
4) Amerikanische Schule. Die Schule, die weit überwiegend von Einheimischen besucht wird und für die Isabella 3000 (!) Dollar monatlich zahlen muss, hat im Hof Sport- und Spielgeräte installiert. Dort fahren wir manchmal hin, um Unterhaltung für die Kinder zu finden.
5) Hochhausskelette Es lässt sich nicht so leicht entscheiden, ob ein Haus aufgebaut oder abgerissen wird. Beides geschieht durch Menschen in Handarbeit. Nicht einmal Außengerüste gibt es und keine Maschinen. Einzige Ausnahme: Betonmischer, die in einer Rohrleitung das Material noch oben pressen, aber es kommt auch vor, dass der Mörtel 10 Etagen hoch geschleppt wird. Und wenn doch einmal ein Gerüst für den Außenputz, dann steht das derart krumm und verbogen, dass man sich fragt, warum es nach den doch überall gültigen Gesetzen der Physik nicht sofort zusammenkracht.
6) Braun Diese Farbe, auch politisch gesehen, war mir nie sympathisch. Hier begegnet sie mir vor allem in 4 Zuständen: Kakao, Nutella, Aa und Wüste. Alles zu seiner Zeit, alles an seinem Ort - nichts dagegen einzuwenden! Aber …
7) Ich, Christoph Auch dazu fällt mir eine Menge ein, leider genau so viel Unerklärliches wie zu diesem Land. Trotzdem oder gerade deswegen versuche ich zu lernen, zu begreifen. Hauptschwierigkeit: Die Welt ist so anders, als ich sie für richtig halte, so rund und bunt und unfassbar und mein Gehirn offensichtlich zu beschränkt. Es fehlt nicht an Gedanken, Gefühlen, Vorsätzen, aber wie immer keine klaren Linien. Mehr Wirbel als Ruhe. In welche Richtung ich auch schaue, nirgends ein gemeinsamer Nenner. Trotz alledem, keine Unruhe, kein Pfahl im Fleisch, keine Unzufriedenheit.
8) Mein Rückflug ist für den 31.1. geplant, aber wie schon gesagt, Buchen ist nicht so einfach.
Hier noch ein zusammenhängendes Thema. Leider, leider ist die Leistung des Internets zu schwach (und 48 Stunden hatte ich nun gar keinen Zugang), um die beeindruckenden Fotos von Menschen zu schicken, die auf dem Weg sind in eine andere Welt:
Faszination Afrika
In allen Religionen gibt es neben den Priestern und Propheten die Mystiker, denen ich mich seit je besonders verbunden fühle. Sie wollen nicht die rituellen Traditionen erhalten, interpretieren und mit Leben füllen, ihnen geht es auch nicht um ethische und diakonische Gebote und Verbote, sondern sie suchen Gott zu erfahren, in weiten Teilen der Welt durch Meditation, bewegungsloses Dasitzen mit geschlossenen Augen, um sich für eine andere Welt zu öffnen. Bekannt ist besonders Buddha, der auf diese Weise den Zugang zum Nirvana suchte, aber auch Mose, Jesus und Mohammed haben immer wieder die Einsamkeit = Wüste gesucht, um zu beten, sich zu besinnen und auf diese Weise Kraft für den Alltag zu schöpfen.
Im Islam ist es vor allem der Sufismus, mit einer auffälligen Sonderform, den Derwischen. Deren Herzland ist bis zum heutigen Tage der Sudan. Hier in Khartoum versammeln sich an jedem Freitag Tausende von meist weiß, aber auch sehr bunt gewandeten Männern, die sich nach einer sehr rhythmischen Musik, die immer lauter und schneller wird. im Kreis bewegen. Immer wieder tanzen einzelne, im wahrsten Sinn, aus der Reihe, von Trance und Ekstase gekennzeichnet. Immer mehr Schuhe, bzw. Sandalen bleiben liegen, das Schmerzempfinden hört auf, so dass anderswo ja sogar feurige Kohlen oder Scherben ignoriert werden. Die Hitze spielt keine Rolle mehr, Elend und Leid sind verbannt, der einzelne wird Teil von Allem und Nichts, der überwältigenden Kraft, die das gesamte Universum durchflutetet und trägt und lenkt. Körperliche Bewegung vermittelt die Begegnung mit dem Göttlichen, nicht sitzen und schweigend zuhören wie in unserem Gottesdienst, Bewegung, aber nicht als linearer Fortschritt, sondern zyklisch, oder besser, in aufsteigenden Spiralen. Nicht Selbstfindung oder Selbstverwirklichung, sondern Selbstauslöschung ist das Ziel. Die macht leicht und frei. Wir Westler wollen uns das Leben leicht machen durch Technik, Komfort, Konsum, Reisen, Unterhaltung, doch das Riesenheer der Sorgen und sei es nur der eingebildeten Sorgen schleicht sich auf tausend Umwegen in Herz. Diese Menschen leben in einem Standard, den wir vielleicht nicht einmal einen Tag ertragen könnten, aber am Freitag spüren sie nichts mehr davon, sondern sind dem Himmel nahe.
Warum sind sich die aufgeklärten, humanistischen Schweden nur so verdammt sicher, dass das Greifbare, Sichtbare, Beweisbare hier und jetzt die einzige Wirklichkeit ist. Welche Engstirnigkeit und Arroganz! Hätten sie recht, dann könnte man sich oft wirklich einen Strick kaufen und erschießen. Diese wunderschöne bunte, vielfältige, von Gaben und Aufgaben erfüllte Welt verliert doch nicht an Wert und Reiz, wenn es daneben, dahinter, darüber, danach noch etwas anderes gibt! Sicher kann der Rückzug auch zur Flucht vor Verantwortung werden, Opium des Volkes! Aber warum nicht im Gegenteil zur Kraftquelle, die mehr und nachhaltiger hilft als Tabletten, Geld, Statussymbole und woran wir sonst noch unser Herz hängen? Abusus non tollit usum. Missbrauch ist kein Argument, da müsste man auch das Denken verbieten, und das Autofahren und den Alkohol! Intoleranz sollte bekämpft werden, nicht Glauben. Und wie wäre es ab und zu mit etwas Selbstkritik?

Nr. 3 - 20. Januar 2012



1) Weihnachtspaket Wie abseits und unbekannt die Millionenstadt Khartoum ist, zeigt auch folgender Vorfall: Gestern kam ein Weihnachtspaket, d. h. wir mussten es bei einer DHL-Stelle abholen. Es war erst versehentlich nach Sydney/Australien geschickt worden.
2) Vögel Von den Gefiederten gibt es hier eine ganze Menge. Auffällig viele Raubvögel, so in Falkengröße. Auch Tauben, oft in einer Schrumpfform. Die fröhliche Schar der Spatzen findet reichlich Nahrung. Und was mich besonders freut: Rotkehlchen, allerdings mit grauer Brust, vielleicht eine sudanische Sonderform, das Graukehlchen.
3) Kleidung Ständig werde ich hier an Jesu Wort aus der Berpredigt erinnert: Sorget nicht, was ihr anziehen sollt. Die Kleiderfrage ist einfach: Jeans, T-Shirt, Sandalen oder im Hausbereich barfuß - nachts noch weniger. Die Füße sehen abends ziemlich dreckig aus, aber wer so pingelig kleinlich ist, der sollte zu Hause bleiben, mehrmals am Tage duschen und sich hinterher mit Sagrotan besprühen! Übrigens: Dreck reinigt den Magen, heißt es. Wie ich jetzt darauf komme, weiß ich nicht.
4) Gesundheit Wie geht es mir doch gut mit meinen 77 Jahren! Trotz oder wegen einfachster Speisefolge, deren Grundlage Pasta und Toast sind, viel Wasser und Fruchtsaft. Am Freitag, bei euch Fastentag, so war es jedenfalls in der guten alten Zeit, gibt es was Besseres, und zwar im Café Ozon. Nirgends an mir und in mir ein Wehwehchen. Ich fühle mich richtig gesund und könnte mich um mich selbst beneiden.
5) Eitelkeit Die Eitelkeit der Frauen, selbst die einer 6jährigen … ich höre sofort wieder auf. Es fehlt mir an Worten.
6) Noch einmal Frauen Darüber ließen sich dicke Bücher schreiben. Leider kann ich fast nichts dazu beitragen, denn - ich schaue nicht hin. 1) verbietet es Mohammed, 2) verbietet es die gute Sitte, 3) verbietet es deshalb mein Gewissen, und 4) lauert vielleicht ein eifersüchtiger Liebhaber um die Ecke, dem der Krummdolch locker im Gürtel steckt. Ich ahne bloß hinter manchem Schleier sehr grazile und graziöse Gestalten und kann mir vorstellen, dass manche der dunklen Augen eine verzehrende Glut ausstrahlen würden, wenn… wenn ich nicht a) Ausländer und b) Opa wäre.
7) Eil- und Sondermeldung. Eigentlich wollten wir den ganzen heutigen Feiertag im bzw. am Swimmingpool des Rotanaclubs verbringen, Sonne pur, angenehme 28 Grad Luft- und 23 Grad Wassertemperatur. Aber es kam anders. Heute ehelicht der Präsident des Tschad die Sekretärin unseres (hört, hört!) Präsidenten Omar al Baschir. Der Bräutigam ist 60, die Braut 26. Aber vielleicht noch bemerkenswerter: Er hat für sie 50 000 000 bezahlt, ich habe vor Aufregung nicht gefragt, ob Dollar oder sudanesische Pfund oder tschadische… ihr wisst schon. Nein, ihr wisst es auch nicht? Ich nenne sie also erst einmal tschadische Tschadschas. Um 14 Uhr wurden wir höflich, aber unsanft vertrieben. So bahnten wir uns den Weg zur Straße. Ich vorneweg in meinen verwaschenen Jeans und brasilianischen Arbeitgeberlatschen, einen Kinderwagen mit heftigem Linksdrall schiebend, beladen mit Netzen von Spielzeug und einem aufgeblasenen Gummiboot obenan, hinter mir Julia mit Ben, den wir roh aus dem Schlaf reißen mussten und der sich seine nackten Beine mit dickem blauen Filzstift beschmiert hatte, und neben ihr Isabella, wie immer nach der neuesten Mode gekleidet: Schreiend rot mit viel Glitzerzeug. In der Lobby durch dichte Scharen ehrfurchtgebietender Beduinen mit Fez oder Turban und weiten, weißen Nachthemden. Vor dem Hotel fuhren schwere, wahrscheinlich gepanzerte Geländewagen mit neuen Gästen auf und davor Massen von Polizisten und schwer bewaffnete Soldaten, wobei wir mit erstaunten, aber eher wohlwollenden Blicken gemustert wurden.
Sonne
Es ist leichter, in der Sonne zu leben. Das grelle Licht lässt die Konturen verschwimmen. Auch das Hässliche, das Widerspruchsvolle, das Empörende wird von der Überfülle des Lichtes verschluckt oder mindestens gemildert. Dazu kommt ganz praktisch: Hier muss sich keiner gegen den Angriff der Kälte wehren. Wenn die Luft zu flimmern beginnt und das Blut träger als sonst das Gehirn durchblutet, kann allerdings eines geschehen, was die alten Griechen schon erlebt und mythologisch zu deuten versucht haben. Um die Mittagszeit treibt der bocksfüßige, oft zu rauhen Scherzen aufgelegte Pan sein Unwesen. Er erscheinen merkwürdige und angsteinjagende Zwitterwesen, die ihren Schabernack mit den Menschen treiben, so schlimm, dass sie ein panischer Schrecken überfällt. In den nordischen Ländern passiert dasselbe um Mitternacht. Da raschelt es, da knackt es, da spukt es. Werwölfe, Trolle und die ständig wachsende Zahl der bösen Geister rücken immer näher, so dass man nur davonrennen möchte, aber leider oft nicht kann.
In einer solchen Umgebung, ich komme noch einmal darauf zurück, haben auch Mose, Jesus und Mohammed gelebt. Sie haben Tagträume gehabt, Stimmen gehört, kühne Bilder gesehen, bisher unvorstellbare Gedanken gedacht, Aufträge bekommen, abseits von Zivilisation und Alltagsgeschäften. Sie haben meditiert und diese Fähigkeit durch lange und systematische Übungen gesteigert. Irgendwo unter einem schattenspendenden Baum zu sitzen wurde ihnen wichtiger als Geld und Gut und selbst als das tägliche Brot. In der Stille und Einsamkeit lauschten sie auf die Stimmen von ringsherum, von innen und oben. Und wo wir gar nichts hören oder nur ein unentwirrbares Gebraus und Getöse, da formten sich für sie klare Anweisungen und Trostworte, so stark und überzeugend, dass sie ihre Offenbarungen weiter geben mussten.
So etwas Ähnliches erlebe auch ich. Noch und wahrscheinlich für immer bin ich zu geprägt, verbildet, entstellt von den alles versprechenden und so geschickt verpackten Angeboten der Konsumwelt. Selbst hier brauche ich noch Niveacreme und Rasierapparat und vor allem: Internet. Ich lausche nicht den überirdischen, sondern den elektronischen Stimmen, obwohl ich weiß, ja weiß, wie viel Lug und Trug dahintersteckt. Mundus decipiatur, die Welt will getäuscht werden. Lieber eine schöne Lüge als eine ernüchternde Wahrheit.
Gut, noch bin ich kein Prophet oder gar Religionsstifter, will auch keiner werden. Sie hatten ohnehin alle erheblichen Ärger mit ihren Zeitgenossen. Und wenn wie wüssten, was ihre Anhänger in den folgenden Jahrhunderten aus ihrer Lehre gemacht haben, würden ihnen sicher die ungeschorenen und wohl auch ungekämmten Haare zu Berge stehen. Aber ich fühle mich ihnen näher, ich ahne, wie es zu den Anfängen gekommen ist, die die Welt verändert haben, warum die drei großen Weltreligionen im nahen Osten entstanden sind. Nicht, dass Gott hier näher ist als anderswo, er ist Geist und überall, aber weil die Wüste das innere Gehör schärft.

Nr. 4 - 22. Januar



1) Film Da wurde in der amerikanischen Schule für alle Schüler der Unterstufe ein Film gezeigt: Santa Claus rast mit seinen Rentieren, anscheinend von einem Raumschiff gesteuert, durch das Universum, erschreckend laut und turbulent und natürlich mit einem unwahrscheinlichen happy end. Meine Hochachtung, die Schulleitung hat doch viel Mut, die Werte, für die sie steht, auf diese Weise den zu 90 % nichtamerikanischen Schülern und Eltern darzustellen. Mir, der ich ja immer ein pädagogische Nutzanwendung suche, hat sich der Magen umgedreht. Zum Glück wurde für den Eintrittspreis auch Popcorn und Coca Cola geliefert.
2) Gespräche Unglaublich spannend finde ich die Gespräche mit Julias Mitarbeitern, die z. T. an Stellen waren, deren Namen ich nicht einmal gehört habe. Viel Trauriges, Empörendes, Witziges, Gefährliches, Wunderliches, beinahe Geschichten aus Tausendundeiner Nacht oder vergleichbar dem Seemannsgarn meines geliebten Odysseus, der seine Leser mit immer kühneren tatsächlichen oder der Phantasie entsprungenen Erlebnissen unterhalten hat. Da bedauere ich, dass ich nicht viel mehr gesehen habe und tröste mich damit, dass es einmal zu "meiner" Zeit einfach noch nicht so üblich war, ich andrerseits am Ende meines Lebens doch noch etwas direkten Anteil nehmen kann.
3) Resignation - stimmt nicht, mein Laptop hat das Wort Remigration automatisch in Resignation verwandelt. Remigr… ist bei ihm nicht vorgesehen. Julia hat für diese Woche im Namen von IOM 3 Flugzeuge gechartert, die diejenigen nach Juba im Südsudan zurückfliegen sollen, die die mehrwöchige Reise auf den völlig überfüllten Booten nilaufwärts nicht mehr schaffen. In 3 Nächten nachts um 3 Uhr auf dem Flughafen Khartoum, jeweils ca. 100 Alte und Behinderte mit Hilfspersonal. Sie muss also um 2 aufstehen, und meine bescheidene Aufgabe, wenn die beiden Kinder, die im Laufe der Nacht in ihr Bett gekrabbelt sind, aufwachen, und das tun sie bestimmt, muss ich sie beruhigen und beschäftigen. Ihr stellt euch das leicht vor!? Ihr irrt.
4) Der Wind hat in den letzten Tagen zugenommen und wirbelt mehr Staub und Sand auf. Der knirscht zwar noch nicht zwischen den Zähnen, aber sozusagen in der Nase und im Hals.
5) Wenn ich Isabella von Schule abhole, klemme ich in dem Kleinstwagen wie Fötus im Uterus. Der Fahrer versucht, Bruchteile von Sekunden zu gewinnen, indem er sich an besonders verkehrsreichen Kreuzungen rechts einordnet, um links abzubiegen. Meine kniende Haltung gleicht dann auch der eines Beters, dem sein letztes Stündlein geschlagen hat. Aber M hat einen unbezahlbaren Vorteil, er ist realtiv pünktlich.
6) Rückschlag Weil ihr es seid, möchte ich euch etwas im Vertrauen verraten. Es sind da bei mir gewissen Ermüdungserscheinungen eingetreten. 1) der einfache, oft primitive oder sagen wir, ungewohnte Alltagstil, 2) fühle ich mich zu sehr auf das Haus beschränkt, fast eingeschlossen. Die Umgebung ist so staubig, oft fast widerlich, dass ich nur einkaufen gehe, wobei oft gerade das, was ich suche, gerade nicht vorhanden ist. Die Bewegungsmöglichkeiten in der Stadt, die ohnehin wenige Attraktionen bietet, sind umständlich und gefährlich, zumal man keine Adresse angeben und den Weg oft selbst beschreiben muss. Für Aufenthalte außerhalb der Stadt braucht man komplizierte Genehmigungen mit 2 Passfotos. So vertreibe ich mir viel Zeit mit 2 vielfordernden Enkelkindern und Henning Mankell, der ja in Mosambik wohnt, wo es wohl ganz ähnlich aussieht. In " Den Vita Leoninnan" beschreibt er auch ganz ähnliche Zustände in Südafrika. Aber im ganzen gibt es zu wenig Ablenkung, und die Wucht der Realität droht mich zu lähmen und zu erschlagen.
7) Am 29. Januar werde ich mit Turkish Airways über Istanbul nach Stockholm zurückfliegen, Khartoum ab 3,20, Arlanda an schon 11,40 Uhr.
Schönheit
Was ist eigentlich schön? Gibt es dafür gültige, gar allgemeingültige Maßstäbe? Leider wohl hier auf Erden nicht, vielleicht in Platons Ideenhimmel. Denker und Künstler, auch so gewöhnliche Menschen wie ich, haben sich ihre klugen Köpfe zerbrochen, ohne Erfolg. Schlussfolgerung: Wir finden manches schön und wissen nicht, warum. Wir können es deshalb auch andern nicht erklären. Die lachen uns womöglich aus und halten es für Geschmacksverirrung. In wenigen Punkten hat sich im Laufe einer oft langen Zeit eine Übereinstimmung herausgebildet: Der Parthenon ist schön, obwohl eine Ruine, die Mona Lisa ist schön. Aber ist van Gogh schöner als Dürer, Picasso schöner als Kandinsky? Ist so ein dürres Modemodell schön? Bin ich schön? Fangt doch nicht gleich an zu lachen. Man wird ja mal fragen dürfen. Wie auch immer, nicht nur die Psychologie, nicht nur die Astronomie, die Politik, die Börse stecken voller ungelöster Fragen, sondern auch die Ästhetik. Und das bekümmert mich hier selbst im fernen Afrika, ja besonders hier.
Ich sehe hier so vieles, was mir hässlich vorkommt, eigentlich ein ganzes Meer von Hässlichkeit. Aber ist das Hässliche wirklich hässlich? Schmutz, Unordnung, Armut. Empört sich nur mein Schönheitssinn? Oder ist es mein Gerechtigkeitssinn? Dass ich von Schönheit rede, hängt das nur damit zusammen, dass ich reich und einigermaßen gebildet bin? Ist Schönheit nur ein Luxusprodukt, das viele sich einfach nicht leisten können, das sie vielleicht nicht einmal vermissen? Ich suche nach Schönheit, ich lechze danach. Ich brauche sie wie Essen und Trinken und Schlaf. Wenn ich hier durch die namenlosen Straßen gehe oder eher stolpere, finde ich sie nicht, oder mit seltenen Ausnahmen, wenn dann zwischen all den halben Ruinen plötzlich ein Bau in Glas und Marmor auftaucht, natürlich auch von einer braunen Schicht Wüstenstaub überzogen, mit der riesigen Aufschrift: Beauty. Das wirkt irgendwie deplaziert, nicht als Zierde und Einladung.
Unberührte Natur, die mir fast immer wunderschön erscheint, die ja vielleicht auch der Urgrund aller Schönheit ist, finde ich weit und breit nicht. Höchstens in ein paar Büchern, die zufällig vorhanden sind. Die Außenwelt bietet also wenig. Also Rückzug in meine Innenwelt? Herrlich, wenn das so einfach wäre! Aber leider. Da sieht es eher ähnlich ungeordnet und chaotisch aus, nur hin und wieder etwas "Beauty", unbestimmt, wie die in die Umgebung passt. Soll ich sagen, innerlich bin ich noch auf dem Niveau eines Entwicklungslandes? Da irre ich oft in mir selbst herum wie Sokrates, der mit einer Fackel, am helllichten Tag durch Athen gewandert sein soll, um Menschen zu suchen. Schönheit, wo bist du? Wie finde ich dich? Existierst du?

Nr. 5 - 26. Januar 2012



Wie berichtet, ist je ein Flugzeug gechartert für 3 Nächte, um Alte und Behinderte von Khartoum nach Juba im Südsudan zu bringen. Allerdings hat die hiesige Regierung sich Zeit gelassen mit der Genehmigung, wohl um dem neuen Staat zu zeigen, wer das Sagen hat. Der geplante Termin wird gestrichen, und alle Beteiligten, Remigranten, Hilfspersonal und Ärzte, werden gezwungen, 2 Tage (!) irgendwo herumzusitzen, bevor es losgeht. Julia muss nun 3 Nächte mindestens um 1 Uhr auf dem Flugplatz sein für den Flug, um den für 3 Uhr geplanten Abflug zu überwachen. Dann fährt sie gleich ins Büro. Wir könnten theoretisch lange schlafen, denn der Unterricht fällt heute aus, weil die Lehrer der am. Schule sich fortbilden. Opa sucht sich im großen Dreierbett ein Plätzchen zwischen den kreuz und quer liegenden Enkeln, den Puppen und anderen Spielzeugen, meist am Rande des Abgrunds, erzählt Geschichten und versucht, einschläfernd zu wirken. Ben, der diese Welt nicht versteht - oder ist es purer Weltschmerz? verschüttet eine Flasche Wasser mitten im Bett. Aber das trocknet zum Glück schnell, denn es ist warm, richtig mollig warm. Es wird ja Frühling in diesem Land, 33 Grad sind angesagt, und die Mücken summen blutdurstig. Hunde bellen nah und fern, und um 4 Uhr überschwemmen die Imane der umliegenden Moscheen mit ihren Koranversen jeden Winkel der Stadt. Aber nicht verzweifeln, in wenigen Tagen kommt Papa aus dem Yemen zu Besuch. Welche Freude! Dann kann der sich ja irgendwo in diesem Riesenbett einnisten, das dann zum Viererbett wird.
Die Nacht ist zu Ende um 6,40 Uhr, und zwar schlagartig, ohne die sonst bei Pensionären beliebig lange Ausdehnphase wischen Traum und Wirklichkeit. Tritte in meine empfindlichsten Körperteile von über mich Krabbelnden und laute Befehle "Geschichte vorlesen!"
Dann das alltägliche Elend mit den Nutellatoasts.
Dann tropft plötzlich eine gelbliche Flüssigkeit auf den Küchenfußboden. Das ist kein Orangensaft, obwohl der noch schwieriger wegzuwischen ist.
Dann ….
Dann ….
Dieses war die erste von drei Nächten. Nach Adam Riese folgen noch zwei.
Fazit
Zunächst einmal eine banale Feststellung: Hier in Khartoum ist es anders, ganz anders, fast in jeder Beziehung. Schönheit, Gerechtigkeit, Menschenwürde, aber auch Leistung, Zuverlässigkeit, Effizienz etwa, all die schönen Werte, die uns so wichtig sind, Grundlage fur Gesellschaftliches und Privates, spielen hier keine Rolle, oder eine ganz andere. Wie soll man sich praktisch dazu stellen? Mit der Geste des (Besser)wissenden, des Erfolgreichen, des Erlösers auftreten, nach Möglichkeit alles umkrempeln und ohne Rücksicht auf Verluste den wunderbaren und auch hier weithin erstrebten american way of life einführen oder überstülpen? Abgesehen davon, dass es so nicht klappt, wie etwa Irak und Afghanistan zeigen, ist es vernünftig, hilfreich, dauerhaft? Friss, Vogel, oder stirb!
Eine Erkenntnis ist allerdings unabweislich und überdeutlich: Wie eurozentrisch und damit egozentrisch wir Europäer denken. Es sollte doch eigentlich überall so sein wie bei uns. Wir haben es so herrlich weit gebracht dank unserer guten Eigenschaften. Und weil wir unseren Erfolg mit Energie und Intelligenz geschafft haben, ist er selbstverständlich. Wir hätten es eigentlich verdient, dass es uns noch besser geht. Die anderen sollen sich halt anstrengen, ohne Fleiß kein Preis. Aber ja nicht auf etwas verzichten! Das sollen die andern. Mit welchem Recht eigentlich? Mit welchem menschlichen oder göttlichen Recht? - Hier könnte ich noch stundenlang fortfahren, aber da werde ich doch noch unversehens zum eifernden Propheten, Jeremia etwa, oder zu einem Bussprediger wie Abraham A Santaclara. Im Grunde kann ich mir mein Gejammere auch sparen. Nirgends wachsen die Bäume zum Himmel, und Hochmut kommt vor dem Fall, ob ihr's glaubt oder nicht.
Ein erhellendes Beispiel: Eine wohlsituierte Dame aus B - Charlottenburg, Journalistin ihres Zeichens, eine der besten, wie sie sich selbst öfters bescheinigt hat, ausgerüstet also, wie ich annahm, mit einem gewissen Grad Verstand und Bildung, riet mir allen Ernstes: Wenn du an Europa so viel zu meckern hast, bleib doch da unten. Dann aber der Hammer: "und schick deine Enkeltochter auf eine einheimische Schule!" O Sancta Simplicitas! 1) ist mir überhaupt nicht bekannt, dass irgendwo Opas über die Schulbildung zu entscheiden haben, 2) eine 6jährige, englisch und deutsch aufgewachsen, für womöglich nur 6 Monate in eine arabische Schule!? Aber das habe ich eben davon, dass ich gewisse Zweifel geäußert habe.
Doch andrerseits die Hände in den Schoß legen und sie in Unschuld waschen? Ich habe mich natürlich auch gefragt, und die Mitarbeiter fragen sich, und viele von euch haben mich gefragt: Ist es nicht Wahnsinn, dass IOM, wofür Julia sich so intensiv einsetzt, Hunderte von Menschen per Flugzeug und Hunderttausende per Boot in den Südsudan remigriert, während dort wohl täglich neue Menschen geschändet und vertrieben werden? Da muss natürlich nach den Ursachen geforscht werden. Und die sind im Grunde lächerlich einfach: Es geht um Macht und Einfluss. Und womit kann man heute Macht und Geld gewinnen? Mit Öl! Und dies brauchen, verbrauchen, verschwenden wir in Europa alle auf irgendeine Weise. Hier beißt sich die Schlange in den Schwanz. Was kann man tun, wenn eine Schlange so blöde ist, sich selbst in den Schwanz zu beißen? Leicht ist es dann, nach einem Sündenbock zu suchen. Die Menschheit war bewundernswert erfinderisch, Entschuldigungen für ihre eigene Dummheit, Feigheit, Bequemlichkeit zu finden, angefangen bei Adam, dem Urbild aller muskelstarken, aber denkscheuen Mannsbilder: Eva war schuld an der ganzen Misere, ich doch nicht! Und Eva, Urbild aller eitlen Frauenzimmer (Feigenblatt als eine Art Miniminirock, damit konnte sie so gut vor den andern Frauen angeben. Entschuldigung, die gab es ja noch nicht. Na ja, jedenfalls im Prinzip): Die Schlange war schuld, ich doch nicht.
Nun erwartet ja keiner von mir, dass ich die geballten Probleme der Welt löse. Deshalb sollte ich es auch nicht von mir selbst erwarten. Meine Zeit ist ohnehin abgelaufen. 10 meiner Klassenkameraden sind schon nicht mehr. Ich war ja nie ein Tatmensch, schon gar kein Macher, sondern eher Philosoph, Grübler, Theoretiker. Eigentlich sollten zwar gerade diese die Lösungen suchen und finden, und nicht die skrupellosen Egoisten, die über Leichen gehen. Aber die Probleme dieser globalisierten Welt sind so unendlich, dass man fast verzweifeln möchte. Deswegen bin ich so froh, dass es Organisationen gibt wie IOM und einzelne gibt, die nicht mit dem Strom schwimmen, sondern lieber eine flackernde Kerze anzünden als über die Dunkelheit klagen. Hoffnung besteht, das ist meine Überzeugung, mein christlicher Glauben. Ora et labora, bete *und* arbeite, das kann vielleicht an einigen Stellen helfen. Die schlimmste Sünde der Menschen: Wegschauen oder sagen: Ich kann ja sowieso nichts machen, also versuche ich es auch gar nicht und werde erst einmal meine eigenen Schäfchen ins Trockene bringen.
Genug mit Geschimpfe. Es bewirkt ja doch nichts außer einer augenblicklichen psychologischen Entlastung.
Ihr fragt: Das soll ein Fazit sein? Selbstverständlich nicht, es ist nicht mehr als ein Gestammel. Ehrlich, ich hatte das von Anfang an gefürchtet. Trotzdem wollte ich es versuchen. Welches sind denn dabei die Ausgangspunkte, welches die Ziele? Archimedes erkannte schon: Gebt mir einen festen Punkt, und ich hebe die Welt aus den Angeln. Doch den gibt es nicht, wo alles sich um alles dreht und eins vom andern abhängt. Ich flüchte mich zu Sokrates, äußerlich klein und hässlich, geliebt und gehasst schon zu seiner Zeit, einer, der auf der Suche war und dennoch Wege weisen konnte. Auch er konnte die Wahrheit, seine Wahrheiten nur paradox formulieren: Ich weiß, dass ich nichts weiß. Oder mit Martin Luther: Ich armer, elender, sündiger Mensch, bekenne dir alle meine Sünde und Missetat, die ich begangen in Gedanken, Worten und Werken, und ich vertraue auf deine große, grundlose Barmherzigkeit, mein Gott.


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Texte: Christoph Hartlieb
Bildmaterialien: Christoph Hartlieb
Tag der Veröffentlichung: 27.05.2012

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