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a) Männchen und Weibchen
In Linksdrehung ringelt sich der Ringelwurm um die Ringelwürmin. Sie ihrerseits kringelt sich wolllüstig (wollüstig?) in Gegenrichtung um den Herren Gemahl. Das vollzieht sich in schier unmenschichem Schweigen, ist aber offensichtlich schon häufiger geübt. Was sie dazu veranlasst, bleibt offen. Hat es etwas mit Fortpflanzung zu tun, die ja schon der jetzt 200jährige Charles Darwin entdeckt und so schockierend beschrieben hat, so dass sie sich durch das, was sie gerade tun, innerhalb von 1 Million Jahren von kriechenden Ringlern zu elefantenartigen Rüsslern entwickeln?
Der Hahn macht einen langen Hals, schreit kikeriki und steigt gravitätisch vom Misthaufen, den er für den Nabel der Welt hält. Er hat die erwünchte Aufmerksamkeit gefunden und tritt eine Henne, ohne dass der Betrachter durchschaut, nach welchen Maßstäben er sein Lustobjekt erkiest. Sie gackert. Ist es Gewohnheit, Unterwürfigkeit, unterdrückter Überdruss, sexuelle Erregung oder die Vorfreude auf ein Ei und eine eventuelle Mutterschaft? Für sie jedenfalls ist ein jahrtausendealte Frage beantwortet, über die sich Biologen und Philosophen ohne Erfolg den Kopf zerbrochen haben: War erst die Henne oder das Ei? Ganz klar: Sie war zuerst.
Der Pfau schlägt ein farbenprächtiges Rad und gibt, anders als die Nachtigall, ein unmelodiöses Krächzen von sich. Die Pfauinnen stört es nicht. Sie stehen darauf, wie man heute sagt. Sein aufgerichteter Schwanz wirkt einfach unwiderstehlich. Er ist in der gesamten Fauna, wozu auch letztlich der Homo sapiens gehört, von einzigartiger Pracht.
Der Orang Utan trommelt respektheischend in geradezu affiger bzw. äffischer Manier auf seinen gewaltigen Brustkasten, brüllt, dass alle Urwaldriesen weit und breit erzittern. Es liegt etwas in der Luft, das die Nerven vibrieren lässt. Sein geiler Blick schweift wohlgefällig über den vollzählig versammelten Harem. Jede Orang Utänin denkt, sofern man da schon von Denken sprechen kann: Welch imposantes Mannbild! Hoffentlich bin ich heute endlich dran.

b) Ari und Bea
Ari und Bea spielen zusammen im Sandkasten. Ari und Bea spielen in spielerischer Weise Doktorspiele. Ari schreit: Du blöde Kuh! Bea antwortet, ohne dass eigentlich eine Antwort erforderlich wäre: Scheißkerl. Woher sie solche Ausdrücke bei ihrem zarten Alter und gebildeten Elternhaus kennt, kann man sich fragen.
Einige Jahre später: Ari lädt Bea trotz des viel zu geringen Taschengeldes zu einem Schokoladeneis ein. Bea lässt sich gern einladen, will aber Vanilleeis. Ari errötet, wenn er glaubt, dass Bea ihn ansieht. Ari bleibt in der Schule sitzen, weil er zu oft an Bea denkt, statt mathematische Formeln und Englischvokabeln zu pauken. Beas mädchenhafte Brüste erregen erotische Träume in Ari. Ari singt Schlager der Rockgruppe „Babas“ zur Gitarre unter Beas Schlafzimmerfenster, ohne eigentlich singen und ein a von einem b (Töne einer bestimmten Oktave) unterscheiden zu können. Die Nachbarn schütten aus den Fenstern alles, was einigermaßen flüssig ist, über seinem Haupt aus.
Es passiert etwas ganz Entsetzliches, was über Klassensprecher, Vertrauenslehrer, Klassenlehrerin, Schulpsychologin, stellvertretenden Schulleiter, Direktor bis in die allgemeine Konferenz aller Mitarbeiter geleitet wird und bei jeder Station natürlich noch entsetzlicher wird. Ari grabtsch unter Beas Rock. Im Grunde könnte man die Geschichte auf sich beruhen lassen, denn Bea gibt Ari eine klatschende Ohrfeige. Ari beschließt deshalb, misogyn = Frauenhasser zu werden. Weil Bea außerdem auch noch mit einem Oberstufenschüler flirtet, befriedigt er sich selbst. Ari kann aber Bea nicht vergessen und bereut seine früheren Beschluss. Ari und Bea finden wieder zueinander. Ari will mit Bea ins Bett. Weil aber die jeweiligen Eltern die jeweiligen Betten bewachen, versuchen sie, was sie im Bett tun wollten, unter einem blühenden Fliederbusch. Der Mond scheint, der Flieder duftet, die Amsel flötet. Unzählige Ameisen krabbeln, spitze Steine stechen stark, von unten kommt es unangenehm kalt. Dazu die nagende Angst, erwischt zu werden. Der erhoffte Höhepunkt stellt sich nicht ein.
Ari und Bea sind enttäuscht und sind fast bereit, ins Kloster zu gehen. Sie tun es nicht, und es ist damit zu rechnen, dass sie ihrem inneren Drang folgen und alles unter günstigeren Bedingungen wiederholen werden.

c) Er und sie
Er irrt allein, frierend und frustriert durch öde Vorstadtstraßen. Sie kommt deprimiert, wie das oft so ist, aus dem Büro, um widerwillig in ihrem ungeheizten, unaufgeräumten Zimmer die Bratkartoffeln von gestern herunterzuwürgen. Er blickt stur zu Boden. Sie starrt blicklos in unerreichbare Fernen. Plötzlich an der Haltestelle der Straßenbahn 27 treffen sich ihre Blicke. Ein Ruck geht durch sie. Ihre Gesichter verändern sich, erst unmerklich, dann deutlich. Ihm scheint, dass sie lächelt. Ihr scheint, dass er lächelt. Sie bleiben automatisch stehn, um sich länger ansehen zu können, um das aus dem Nichts entstandene Gefühl von Gemeinschaft noch etwas in die Länge zu ziehen. Trotzdem gehen sie dann weiter, jeder in seine Richtung.
Aber beide drehen sich um. Jetzt sieht er genau, dass sie lächelt. Sie spürt trotz des Halbdunkels: Er lächelt. Irgendetwas treibt sie zueinander. Sie gehen aufeinander zu. Auch ohne Worte sind sie sich einig. Sie wandern nebeneinander, schweigend. Erst mit geziemendem Abstand, dann etwas näher, dann berühren sie sich. Sie wagen einen kurzen Blick aufeinander, dann noch einen. Beide suchen den Blick des anderen. Seine rechte Hand sucht ihre linke. Sie zuckt einen Moment zurück. Ihre Hände umschließen sich. Sie lassen sich nicht mehr los. Sie gehen immer weiter, ohne zu wissen, wo sie sind, wohin sie wollen. Beide wünschen, dass dieser Gang nie enden möge. Nichts ist mehr, wie es vorher war.
Und wenn sie nicht gestorben sind, wandern sie heute noch - so hieß es einst, als es noch Märchen gab und als Märchen noch Wirklichkeit wurden. Der coole Mensch des 3. Jahrtausends, der nicht mehr an Glück und Liebe und solche Dummheiten glaubt, weil er grundsätzlich gegen alles und jeden misstrauisch ist, weil er von vornherein mit dem Scheitern rechnet, weil er befürchtet, es könne ihn etwas treffen, das Folgen hat, kommentiert nüchtern: Na ja!

d) Du und ich
Ich gehe spazieren durch eine Stadt an der Weser. Durch die Schaufensterscheibe eines Fotogeschäftes sehe ich eine Frau. Ich drücke meine Nase ans Glas, um sie genauer sehen zu können. Die Frau hat etwas Besonderes. Sie elektrisiert mich, ohne Einzelheiten unterscheiden zu können. Mir scheint, sie lächelt mir zu. Ich lächele zurück.
Wie zufällig schlendere ich immer wieder an dem Laden vorbei, umsonst. Absichtlich rechne ich Zeitpunkte aus, wo sie da sein könnte und müsste, vergeblich. Systematisch suche ich die ganze Umgebung ab, ohne Erfolg. Wenn es mich packt, dann packt es mich, und zwar vom Scheitel bis zur Sohle.
Jahre später spaziere ich durch die Hauptstadt Schwedens. Ich beobachte die hübschen blonden Schwedinnen, absichtslos einfach so. In einer Kirchentür sehe ich eine Frau, dunkelhaarig. Dem ersten Blick folgt ein zweiter. Ich reibe mir die Augen und denke: Das kann doch nicht wahr sein! Dann denke ich einen Moment überhaupt nichts. Alles verschwimmt vor meinen Augen. Ich möchte etwas denken und sagen, aber mir fällt nichts ein, und ich bringe nichts heraus. Und als ich wieder denken kann, denke ich: Ein Wunder! Ein freudiger Schrecken durchzuckt mich wie ein elektrischer Schlag. Ich kenne diese Frau. Es ist jene Frau von der Weser.
Mir scheint, die Frau lächelt mir zu. Auch sie erkennt mich. Ich lächele zurück. Ich gebe mir einen Ruck, gehe auf sie zu und spreche sie an. Wir schlendern durch die Stadt. Wir müssen wieder Abschied nehmen. Wir verprechen uns zu schreiben. Wir schreiben einander, aber immer seltener. Ich denke oft an sie, aber es scheint zu Ende.
Zu Weihnachten schicke ich einen Gruß, eine der üblichen Glückwunschkarten. Sie antwortet umgehend: Komm doch zu mir an die Weser. Ich komme, sehe, aber siege nicht. Sie sagt: Es ist alles so verfahren. Es hat doch keinen Zweck. Wir kommen nie zueinander. Das Schicksal ist gegen uns.
Wie soll es weitergehen? Geht es weiter?
Ich will nicht, dass das Schicksal bestimmt, jedenfalls nicht allein. Ich möchte selbst bestimmen. Ich gebe mich nicht so leicht geschlagen. Ich werde kämpfen, mit Zähnen und Klauen, mit Telefonaten und Mails, mit Gedichten und Blumen. In der Liebe sind bekanntlich alle Mittel erlaubt, sogar intelligente.
Als wir uns trennen, verpasse ich beinahe den letzten Zug nach B.

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Tag der Veröffentlichung: 22.05.2012

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