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Rubicola und die Anfänge

Seit Februar habe ich einen Vogel, Rubicola, das Rotkehlchen.
Eines Tages saß ich auf der Terrasse, dachte an dies und jenes, aber nichts Bestimmtes, und zwischendurch dachte ich überhaupt nicht. Diesen Luxus erlaube ich mir ab und zu. Ich blinzelte in die schöne Gardaseelandschaft. Da sah ich etwas herumflattern. Das fiel mir auf, denn ich selbst bin überaus schwerfällig und bieder, alles andere als flatterhaft.
Aber noch etwas fiel mir auf, eine leuchtend rote Brust. Nun ist es ja kein Geheimnis, dass mindestens seit der Steinzeit Männer magisch und magnetisch von einer Frauenbrust angezogen werden. Sie können einfach nicht anders. Sie denken dabei automatisch an die säugende Mutterbrust und wie schön das Gefühl ist, angelegt zu werden. Alles finden sie da: Wärme, Zuwendung, Geborgenheit und zugleich Stillung aller ihrer Sehnsüchte, Triebe, Bedürfnisse.
Nun wird der alte Siegmund Freud heute zwar etwas belächelt, aber mir ist durch ihn der Zusammenhang von weiblicher Brust und männlicher Regression unmittelbar anschaulich geworden. Oder sagt es euch mehr, wenn von Enzymen, Hormonen, Transmittersubstanzen und dergleichen die Rede ist?
So begann es.

Rubicola und ihr Name
Herkunft, Namen und Aussehen von erithacus rubecula (Rotkehlchen) werden durch ein tiefsinnige Legende erklärt:
Es war einmal ein kleiner grauer Vogel. Der lebte vor 2000 Jahren im Lande der Juden. Eines Tages sah er etwas Furchtbares. Da stand ein hölzernes Kreuz, und daran hing ein Mann. Er flog näher und umflatterte den Kopf des Mannes. Entsetzlich spitze Stacheln steckten in seiner Haut, denn er trug eine Art Krone aus Dornen.
Schnell packte er den größten Dorn mit dem Schnabel und zog ... und zog. Es glückte. Der Dorn flog heraus, und ein dicker Tropfen Blut fiel auf die Brust des Vogels.
„Danke,“ sagte der Mann, „du hast mein Leiden erleichtert. Von nun an soll der rote Fleck auf deiner Brust nie mehr verschwinden, bei dir nicht und bei deinen Kindern nicht. Er soll ein Zeichen meiner Dankbarkeit sein.“
Biologisch klingt es so: Länge 13-14 cm, Gewicht 11-22 g, Alter bis 4 Jahre. Gehört zur Klasse Aves, Unterklasse Neonithes, Ordnung spatzartig, Unterordnung Oscines, Familie Muscicapida.
Wisst ihr nun Bescheid? Ich glaube nicht. Namen sind Schall und Rauch. Ihr werdet euch wundern über diesen Vogel!

Rubicola und die Mode
Kleider machen Leute, lautet ein uraltes und brandneues Sprichwort. Was die chinesischen Kaiser oder venezianischen Dogen getragen haben, konnte einen unbedarften Tölpel vom Lande schon beeindrucken. Gar nicht weit von hier in Milano schlendern Tausende mit glänzenden Augen durch das sog. Modedreieck, wo alle namhaften Modeschöpfer ausstellen und verkaufen. Die Preise der Modelle in den Schaufenstern werden überhaupt nicht genannt. Und das hat wohl Gründe.
Heute zeigen die Luxusausgabe von Mercedes, ein schnittiges Boot auf dem Gardasee oder eine Finca auf Mallorca, mit wem man es zu tun hat. Schüler benutzen Kleidungsstücke von Adidas, Puma, Nike, um in zu sein. Wer No-name-ware trägt oder Selbstverfertigtes, ist ein Aldikind.
Ich frage Rubicola: „Ist dir noch nicht aufgefallen, dass du immer dasselbe trägst? Leidest du nicht darunter, dass alle Rotkehlchen dir zum Verwechseln ähnlich sind? Möchtest du deine Federn nicht einmal grün oder lila färben? Wo bleiben deine Individualität und Persönlichkeit?“
O, das hätte ich mir lieber verkneifen sollen! „Halte du bloß den Mund in deinen ausgewaschenen
T-Shirts und Jeans. Ich bin ich, und wenn ich dir nicht gefalle, such dir eine andere!“

Rubicola und die Chancengleichheit
8. März, Weltfrauentag! Habt ihr auch hemmungslos gefeiert, bzw. Euch feiern lassen? Nicht ihr Männer! Ihr habt doch wohl gekocht, abgewaschen, Staub gesaugt, Kartoffeln und Milch gekauft, wenigstens heute! Aufgaben und Chancen sind ja sehr ungerecht verteilt.
In meiner Jugend gab es einen Schlager: „Die süßesten Früchte fressen nur die großen Tiere.“ Ja, die Großen haben viele Vorteile. Alle andern kuschen, wenn sie die Szene betreten. So ein Elefant, ein Löwe, ein Bison verschaffen sich überall Respekt. Und wenn es dazu auch noch Männchen sind – Männchen ist ja wohl eine Beleidigung, das sind echte Männer! – dann werden auch einem Menschenmann die Kniee weich.
Es gibt gewaltige Unterschiede in der Natur. Zwischen einem Wal und einer Amöbe liegen Welten. Das reicht von der Körpergröße bis zum Gehirngewicht.
Rubicola gehört eher zu den Kleinen, Schwachen, Unauffälligen. Irgendwelche Anzeichen von Minderwertigkeitskomplexen sind mir allerdings nie aufgefallen. Rubicola hat ihre Aufgabe und damit ihr Glück gefunden.
PS Ein Proteststurm im Internet und der heutige Weltfrauentag haben mich zu Einsicht und Reue geführt. Ich korrigiere eine frühere These: Es gibt auch kluge Frauen.

Rubicola und andere Piepmätze
In kleineren Orten Italiens hängen vor den Fenstern oder auf Balkons prächtige Vogelkäfige, aus denen ein fröhliches Tirrilieren, Quirilieren, Tremolieren, Quinquilieren ertönt. Und drinnen hocken die paradiesisch bunt gefiederten Sänger, vor sich eine Schale mit leckersten Körnern, daneben ein Töpfchen mit sauberem Wasser. Sie singen, so vermutet der ahnungslose deutsche Tourist, weil sie singen wollen und müssen, aus lauter Lust an der Freude, weil sie sich einfach nichts Schöneres vorstellen können.
So denken ja viele von uns: Mit allem Notwendigen versorgt sein, italienische Mode tragen, die herrliche Gardaseelandschaft genießen und den lieben Gott einen guten Mann sein lassen, das ist das höchste der Gefühle, erst recht natürlich für einen Brummbär aus dem eisbedeckten Land der Wikinger.
Das habe ich auch gedacht, und ganz hat die Realität mich noch nicht davon abgebracht.
Ich kenne ja auch eine „wilde“ Vertreterin dieser Tierart, Rubicola. Wie beurteilt sie die privilegierten Artgenossen? Erst schweigt sie, dann schweigt sie immer noch, und mir scheint, eine Träne rinnt über ihren Schnabel. Dann will sie etwas sagen, bringt aber nichts heraus, mit andern Worten, sie schweigt immer noch und dann stockend, von Mitleid geschüttelt: „Die armen, armen Wesen. Keine Freiheit …“

Rubicola und die Literatur
Literatur, die Kunst, die nicht ohne Buchstaben auskommen kann. Die Fähigkeit des Schreibens ist wohl irgendwo im Orient erfunden worden, vielleicht gleichzeitig an verschiedenen Stellen. Vier Dinge braucht man dazu: 1) Inhalt, 2) Schrift, 3) Schreibmaterial und 4) Schreibgerät. Irgendwelche Gedanken, Erinnerungen, Rechnungen, Gesetze, Entdeckungen, Dichtwerke usw. hatten die Menschen sicher schon vorher. Aber die allmähliche Erfindung von relativ einfachen und vor allem begrenzten Zeichen, mit denen man jedes beliebige Wort ausdrücken kann, war etwas, worauf der Homo sapiens echt stolz sein darf.
Selbst ich bin tatsächlich stolz und richtig froh darüber. Ich wäre ohne „Literatur“ nur ein Schatten meiner selbst, ein Krüppel, ein Wrack. Mit Hilfe von Lesen und Schreiben kann ich meine Grenzen um ein Vielfaches ausdehnen, ein Riese werden, an der Unsterblichkeit teilhaben.
Dass Vögel nicht schreiben können, dachte ich mir schon. 1) fehlt ihnen da wohl das notwendige Abstraktionsvermögen, und 2) wie soll man mit Krallen einen Kugelschreiber halten?
Aber ich bin ja in der glücklichen Lage, einen Vogel zu haben.
Rubicola: „Diese literarisch Gebildeten, sind das auch gute Menschen?“

Rubicola und die Matthäuspassion
J. S. Bach ist einer der gewaltigsten Komponisten aller Zeiten. Das ist nicht das x-beliebige Urteil eines blutigen Laien, der ich nun einmal bin. Das haben die größten Musikkenner voll Bewunderung bestätigt, und viele haben die Noten b,a,c,h zu eigenen Werken umgearbeitet. (Übrigens würde das selbst ein überragendes Genie mit meinem Namen nicht schaffen, wetten?, obwohl ich auch musikalische Bestandteile habe.) Auch ist er wegen seiner Wirkung als 5. Evangelist bezeichnet worden. Ich schäme mich nicht, öffentlich zuzugeben, dass mir die Tränen kommen, vor allem bei den Chorälen, aber auch einzelnen Arien. Bach setzt sich nicht über Schmerz und Leiden hinweg, er hebt sie auf im Sinne Hegels, trans-poniert sie auf eine höhere Ebene: das Böse ist unleugbar vorhanden, gleichzeitig verliert es seine Drohung und Macht. Auch um meine Schuld geht es. Sie existiert, muss mich aber nicht in Verzweiflung stürzen, Das ist die zentrale christliche Botschaft ist, das ist Martin Luther. Aber der Inhalt einer Botschaft braucht auch eine adäquate Sprache. Und die hat der Komponist offensichtlich überzeugender gefunden als der mitreißendste Kanzelredner.
Hat Rubicola auch etwas dazu zu sagen? Welche Frage, sie hat. „ … Selbst Palestrina, Vivaldi, Verdi, Rossini sind im Vergleich zu ihm nur Waisenknaben“.

Rubicola und die Essgewohnheiten
Seit es Menschen gibt, essen sie. Essen scheint wichtig, ja unentbehrlich zu sein. Was man isst, natürlich, wie man ist, wo man isst, wann man isst, warum man isst, mit wem man isst, darüber lässt sich trefflich streiten, besonders in den Zeiten, wo Supermärkte und Regale überquellen. Nun sind die Geschmäcker einzelner Esser und ganzer Völker verschieden, glücklicherweise. Was die Speisekarte angeht, haben Italiener und Franzosen sich ja besonders hervorgetan. China und Japan sorgen für exotische Genüsse. Die Deutschen sind bekannt für Sauerkraut und Bratkartoffeln.
Ich selbst esse auch. Da ich (noch) kein Engel bin, muss ich es. Allerdings beschränke ich mich auf auf ein Minimum, was Zeit und Aufwand betrifft. Versuche, ganz darauf zu verzichten, sind früher oder später gescheitert. Mein Prinzip: Bequem muss es sein, gesund soll es sein. Bequem und gesund ist ohne Zweifel: Müsli, also Körnchen, Sätchen, Keimchen, Beerchen, Nüsschen, Blättchen.
Und das verbindet mich mit Rubicola, dem Rotkehlchen. Auch sie pickt unermüdlich Körnchen, Kernchen, Sämchen, Sätchen, Früchtchen. Was uns unterscheidet: Sie schluckt außerdem mit besonderem Appetit Würmchen, Lärvchen, Mädchen (abgeleitet von: die Made), Räupchen, Spinnchen usw. Das tue ich nicht.
Aber wer weiß? Vielleicht noch nicht.

Rubicola und Caesar
Habt ihr einmal auf dem Gymnasium Latein gelernt? Die alten Sprachen sind ja heute out. Englisch, Russisch, Arabisch, Chinesisch sind gefragt. Ich habe das am eigenen Leib erfahren müssen. Als die Nachfrage nach Griechisch und Latein ständig abnahm und ich umgesattelt habe auf Pfarrer.
Wie dem auch sei. Merkwürdigerweise beginnt man nach dem Studium der Grammatik mit der Lektüre eines Feldherrn und Diktators, Gaius Julius Caesar, der dann an den berühmten Iden des März von seinem Freund Brutus erdolcht wurde, und das hat er nach meiner Ansicht auch nicht verdient, obwohl er sich ja vorher ausschweifend mit seiner ägyptischen Pharonenfreundin Kleopatra verlustiert hatte. Er, der oft Griechisch sprach, hat in einem klassischen Latein mit teilweise endlosen Satzperioden, soz. einen Kriegsbericht über die Eroberung Galliens geschrieben „De bello Gallico“. Ein toller Hecht, so ganz anders als ich. Aber das Schöne an mir: Ich kann auch Andersartigkeit anerkennen.
Als ich irgendwann in trauter Zweisamkeit mit Rubicola den Namen Caesar fallen lasse, kommt es mir doch vor, als ob sie murmelte: „Gallia est omnis divisa in partes tres, quarum unam incolunt Belgae …“

Rubicola und das Wetter
Manche nordalpinen Barbaren meinen, in Italien gäbe es kein Wetter, weil sowieso immer die Sonne scheint. Sie irren. Auch da gibt es Wetter. Dazu gehören zwar Sonnenschein, aber eben auch Regen, Schnee und Sturm. Vielleicht spricht man in diesem Land nicht so viel über das Wetter. Es ist beständiger und zuverlässiger. Und was gut läuft, darüber braucht man ja nicht zu sprechen.
Nichtsdestoweniger darf man u. U. auch hier, wenn „man“ auf der Seepromenade von Saló neben einer flotten Römerin auf einer Bank sitzt – ihr wisst schon, diese überwältigend schicken Modepuppen mit ganz, ganz spitzen Stöckelschuhen - das Wetter zu Hilfe nehmen, um eine Kommunikation anzuknüpfen. Da kann man praktisch nie, auch nicht aus Unwissenheit, in ein Fettnäpfchen treten. Nein, ja nicht etwa Politik oder Religion oder den Euro oder die Maffia! Dann kann sich im Nu eine wütende Volksmenge zusammenrotten, um die Ehre dieses Landes zu verteidigen.
Tja, wovon sprach ich? Vom Wetter. In England ist bekanntlich das Wetter erstes, letztes und wichtigstes Gesprächsthema, seit die alten Angelsachsen die Insel eroberten. In Schweden wohl schon seit der Eiszeit, die ja erst vor 10000 Jahren aufhörte.
Rubicolas Kommentar: „Mein Federkleid schützt mich gegen Sonne, Kälte und Sturm.“ Sie ähnelt zuweilen der delphischen Pythia, die unter dem Einfluss giftiger Erddämpfe äusserst Rätselhaftes von sich gab.

Rubicola und die Artenvielfalt
Jetzt kann man im neu errichteten Darwin Centre in London in sieben Etagen 22000000 Arten von Lebewesen bewundern, vom Elefantenfötus (Loxodonta africana) bis zur schönhäusigen Giftschnecke (Conus geographus), von der gemeinen Stadtratte (Rattus norvegicus) bis zum Großen Armmolch (Siren lacertina); 450000 Glasgefäße mit 400000 Litern Äthylalkohol aufgereiht auf 25 Regalkilometern. Selbstverständlich sind auch ein Tiefseeschwamm (Discodermia panoplia) und ein Quastenflosser (Latimeria chalumnae) dabei. Demnächst sollen noch 28 Millionen Insekten und 6000000 Pflanzen dazukommen, siehe Zeit Nr. 40.
Weil ich ja auch ein halber bin, möchte ich in diesem Zusammenhang auf den Schweden Carl Linné hinweisen, der diesen einfachen Trick erfunden hat, jedes Lebewesen durch zwei Bezeichnungen eindeutig zu definieren, also: Christoph Hartlieb = homo sapiens. Genial, nicht?
Selbst etwas schaudernd erzähle ich Rubicola von diesem „Louvre der Artenvielfalt“. Darauf sie: „Ich werde sofort testamentarisch verfügen, am Gardasee bestattet oder kremiert zu werden. Wenn schon tot, dann richtig tot.“

Rubicola und der Coperto
Coperto ist eine typisch italienische Angelegenheit, weshalb die Brüsseler EU-Bürokraten schon mit Argusaugen nach Süden schielen und ein Regelwerk (547 eng beschriebene Seiten mit 2918 Paragrafen, übersetzt in zwölf Sprachen) in den Expertenkommissionen vorbereitet haben.
Manche Restaurants hier berechnen einen Extraobolus (0,50 bis 2 Euro) dafür, dass sie Teller und Besteck etwa für Pasta, ein Glas für den Rotwein und einen Stuhl für den Popo zur Verfügung stellen. Auch unbenutzte Zahnstocher sind eingeschlossen. Es ist ja bequemer und hygienischer, die glitschigen Spaghetti nicht einzeln mit den Fingern aus dem Kochtopf zu fischen, den Wein nicht in der Flasche kreisen zu lassen und dabei auf dem Fußboden kauern zu müssen.. Jeder Service hat seinen Preis. Ist der Coperto also berechtigt?
Ich frage die Vollblutitalienerin Rubicola. Ihre beiden Schnabelhälften kräuseln sich vor Verachtung. „Hinter dieser Schmutzkampagne steckt sicher McDonald.“

Rubicola und der Schupfen
Zur Zeit bin ich echt verschnupft. Nicht, weil ich mich geärgert habe oder beleidigt bin. Nein, irgendetwas Kleines, Unsichtbares, was in der Frühjahrsluft herum schwebt, hat mein Immunsystem infiziert, ja ich wage sogar zu behaupten, völlig durcheinandergebracht. Es ist offensichtlich nichts Lebensgefährliches, aber etwas höchst Unangenehmes, und zwar Tag und Nacht, zu Hause und in der freien Natur. Dieses Herumgehuste, Herumgehüstele, Herumgekrächze, Herumgeniese, Herumgeschupfe, Herumgeschniefe, Herumgetropfe, Herumgeschnäuze, Herumgewische ist wirklich so überflüssig wie ein Kropf, schüttet dauernd Wermut in den Wein des Lebens und treibt mir die Tränen in die Augen und den Schlaf aus dem Bett. Und was mich zusätzlich enttäuscht und empört: Keiner bedauert mich. Mit andern Worten, ich muss es selbst tun. Aber das ist ungefähr so wirksam, wie sich selber streicheln, und so erfolgreich, wie sich selber einen Witz erzählen. Klar, ich kriege haufenweise jahrhundertealte Hausmittel empfohlen: Honig, Knoblauch, Kamillentee, das rezeptfreie Hustofan, Zitronen lutschen, Sauna, fünf Minuten den Atem anhalten, Yoga auf dem Balkon.
Mit heiserer, fast gebrochener Stimme hauche ich Rubicola zu: „Ich bin so erkältet!“ Sie: „ Stell dich nicht so an! Ich habe einfach keine Zeit, krank zu werden.“

Rubicola und das Sein
Oft sind ja die Fragen, die am einfachsten klingen, am schwersten zu beantworten. Zum Beispiel: Was ist? Ich meine: Was existiert, unabhängig von dem, was unsere Sinnen uns vermitteln?
Unsere Sinne können sich und uns täuschen: Der Mond sieht manchmal aus wie eine Sichel, „und ist doch rund und schön“. Ein Apfel, so appetitlich knackig im Supermarkt, ist zu Hause schmierig-faulig. Das Wasser im Gardasee erscheint so makellos klar, dass man Lust bekommt, sich zu ertränken. Aber Baden ist „aus sanitären Gründen“ in diesem Sommer strengstens verboten.
„Was ist also das Wesen der Dinge? Was steckt hinter allem Wechsel? Wie können wir das Eigentliche erfassen? Ist das Leben vielleicht ein Traum?“ frage ich Rubicola in einer ruhigen Minute. Sie setzt ihre teils weltabgewandte, teils arrogante Philosophieprofessorenmiene auf und doziert: „Das Bierglashafte des Bierglases west im Schlürfen des Bierhaften.“
„Sehr heideggerhaft“, deucht mir.

Rubicola und das Staunen
„Mir ist aufgefallen“, sagt Lucretia. Aber was ihr aufgefallen ist, kriege ich gar nicht mehr mit. Sie schnabbelt alles so schnell vor sich hin, ohne Punkt und Komma, dass ich sie überhaupt nur schlecht verstehe, aber vor allem nicht unterscheiden kann, was ihr wichtig ist und was nicht. Sie scheint alles, was sie sagt, für wichtig zu halten. Ich nicht. Ich wage auch schon mal zu sagen oder mindestens zu denken: „Was für ein Bödsinn!“ Es passt mir auch nicht, wenn ich völlig in der Luft hänge. Ich brauche dann einen geistigen und emotionalen Übergang und vor allem einen psychologischen, soziologischen, historischen Rahmen, wenn ihr versteht, was ich meine.
Ihr ist etwas aufgefallen, das weiß ich noch. Das ist mir sehr sympathisch. Es verrät eine wache Beobachtungsgabe, um nicht zu sagen Intelligenz, anders als bei vielen, die einfach nur drauflos quatschen. Sie hat etwas bemerkt, was aus der Reihe fiel, was ungewöhnlich war, was Fragen in ihr geweckt hat. Aristoteles sagt: Sich wundern (thaumazein) ist der Anfang der Philosophie.
Ja, Rubicola steckt voll Überraschungen.

Rubicola und die Liebe
Es gibt einfache Fragen, die sind in der millionenjährigen Geschichte der Menschheit noch nie beantwortet worden. Ich vermute, einzig aus dem Grund, dass sie unbeantwortbar sind. Nun sollte man die Hoffnung darauf nicht zu früh aufgeben. So weiß man heute z. B. auch unterdessen, warum der Himmel blau und die Banane krumm ist. Wird sich je beantworten lassen, ob irgendwo anders im Universum auch noch Leben existiert? Ich selbst bin zwar optimistisch, aber …
Sicher bin ich mir dagegen, dass folgende Frage nie und nimmer beantwortet werden wird: Wer hat die Liebe erfunden?
Das scheint mir überaus merkwürdig. Jeder redet von der Liebe, aber keiner weiß, woher sie kommt. Sollte vielleicht doch der kleine Lausbube Amor mit seinem Pfeil und Bogen dahinterstecken? Aber auch 1000 Behauptungen ersetzen nicht die Wahrheit.
Ich frage Rubicola, die selbstverständlich auch nicht alles weiß, aber nie eine Antwort schuldig bleibt: Wer hat die Liebe erfunden? Sie verdreht die Augen, etwas Zärtliches kommt in ihr spitzes Gesicht:
Die Liebe ist das A und O der Welt.
Hat sie das nicht schön gesagt?

Rubicola und die Naturheilkunde
Im 4. Jahrhundert, als man in Rom mehr und mehr der überlieferten Schulmedizin misstraute, schrieb Marcellus ein viel gelesenes Werk über Naturheilkunde, worin es u.a. heißt: Du sammelst am siebenten Tag nach Neumond Steinbockmist in über 2000 m Höhe. Davon nimmst du eine Faustvoll, aber in einer ungeraden Zahl von Kügelchen, und zerstampfst sie mit 25 fein geriebenen Pfefferkörnern. Den daraus gewonnenen Sud schlürfst du, nach Osten gewandt, auf einem dreibeinigen Schemel stehend.
Heute nennt man das auch alternative Medizin, die wahrscheinlich genauso wenig nützt wie schadet.
Ich frage Rubicola, was sie von der Sache hält. „Nihil novi sub sole“, sagt sie, „o K = olle Kamellen. Wenn ich Hunger habe, verschlucke ich einen Tausendfüßler (millepedarius forte); wenn ich Durst habe, nippe ich drei Tropfen Gardaseewasser (aqua gardonensis), bei Atembeschwerden inhaliere ich den Duft meiner Zypresse (cypressus relaxante). – Schau, wie gesund ich bin!“
Übrigens: Habt ihr heute schon euern Löwenzahn gepflückt und ein Löffelchen Ginseng mit geriebenem Cayenne-Pfeffer geschluckt, am besten auf dem Kopf stehend?

Rubicola und das Weibliche
Manchmal komme ich echt ins Grübeln. Ich kann es einfach nicht verhindern und unterdrücken. Es überkommt mich. Ich grübele etwa über die Amöbe am Anfang der Lebenskette, und ich grübele über das Ende des Universums in 12 Milliarden Jahren - oder sind es 20 Milliarden Jahre? Oder gibt es keinen Anfang und kein Ende? Solche und mindestens noch 375901 andere Themen.
Heute Nacht überfiel mich glühend heiß die Frage: Ist Rubicola so wie die Menschweibchen? Zu denen habe ich ein gespaltenes Verhältnis. Ich finde die Stöckelbeinige typisch weiblich, und ich hoffe nur, dass diese Zeilen nicht einer schwedischen Radikalfeministin unter die Augen geraten. Für die gibt es nichts Weibliches, schon gar nichts Typisch-weibliches, höchstens traurige Relikte einer spätbürgerlichen Gesellschaft - angeblich ein wissenschaftlich abgesichertes Resultat der universitären Genusforschung, und wer das nicht glaubt, der ist ein Ketzer - einer, der eingesperrt oder verbrannt werden müsste. Jedenfalls verdient es nicht, im aufgeklärten Schweden leben zu dürfen.
Ich finde Rubicola weiblich, sowohl so als auch anders. Sie reizt mich, im doppelten Sinn des Wortes: Sie macht mich neugierig, sie lockt mich, sie bezirzt mich. Zugleich reizt sie mich so, dass sich meine Federn sträuben – wenn ich welche hätte: Launisch, sprunghaft, unlogisch.
Rubicola ist zwar Weib, aber ich werde ihr eine Chance geben.

Rubicola und die Tunnelbahn
Tunnelbahn ist in Stockholm, was in Italien Metro und in Deutschland U-Bahn ist, also ein schienengebundenes Massenverkehrsmittel, das sich durch künstliche Tunnel fortbewegt - falls es nicht gerade oberirdisch fährt.
Am Gardasee gibt es keine Tunnelbahn. Es gibt dort und sonst in den Alpen zwar Tunnel, die auch den Verkehr beschleunigen oder überhaupt ermöglichen sollen, aber die sind bestimmt für Autos und Eisenbahnen.
Diese Bohrerei des Homo faber hat den Nord-Südverkehr gewaltig erleichtert. Hannibal mit seinen sonnenverwöhnten afrikanischen Truppen und Elefanten hat mächtig gefroren, als er das alte Rom von hinten bedrohte. Ötzi hat seinen Versuch sogar mit dem Leben bezahlt. Auch Goten, Vandalen, Langobarden haben trotz extra dicker Bärenfelle unheldenhaft gebibbert auf den steilen und engen Alpenpässen, als sie sich mit Kind und Kegel auf die Socken machten ins Land, wo die Zitronen blühn. Und ehrlich, ihr Leser, steckt nicht diese Sehnsucht auch noch tief in eurem Herzen? Ihr gleitet nun bequem per Mercedes oder Luxusbus etwa durch den Simplon, St. Gotthard, St. Bernhard, Mont-Blanc, Tauern, und wie die Tunnel alle heißen mögen.
Ich frage den Zugvogel Rubicola: „Welchen Tunnel benutzt du eigentlich für deinen Sommeraufenthalt in Deutschland?“
Sie tippt mit ihrer Mittelkralle an ihre Stirn. „Du hast wohl einen Vogel! Ich fliege darüber hinweg.“

Rubicola und die Missverständnisse
Es ist erstaunlich, ja erschreckend, wie oft Menschen aneinander vorbeireden und sich missverstehen. Nicht nur Italiener und Deutsche, Westfalen und Bayern, sondern Ehepartner, Kollegen, Eltern und Kinder, Pfarrer und Gemeinde, die lange und eng zusammenleben.
Ich lächele meine Frau an, aber sie fühlt sich ausgelacht. Ich schenke ihr aus purer Liebe eine rote Rose, aber sie sagt: Du hast wohl ein schlechtes Gewissen. Jeden Morgen reiche ich ihr, nett, wie ich bin, die obere Hälfte des Brötchens, obwohl ich sie selbst gern essen würde. Nach Jahren bricht es aus ihr heraus: Warum muss ich immer mit der oberen Hälfte vorlieb nehmen, obwohl ich viel lieber die untere hätte.
Ich wende mich an meine Pythia, das Rotkehlchen Rubicola: „Ich muss dir einmal auf den Zahn fühlen.“
Sie starrt mich geistesabwesend an und – streckt mir ihren geöffneten Schnabel entgegen.
Mich schüttelt es. Das habe ich nun doch wirklich nicht gemeint!

Rubicola und das Singen
Die meisten Vögel singen, wobei ich Singen sehr weit fasse. Auch Krächzen, Flöten, Trillern, Krähen, Gackern, Schnalzen, Kreischen rechne ich dazu. Denn das findet man ja auch bei Opernsängern, Pastoren und Popstars. Was in meinem Ohr schrill und abstoßend klingt, klingt für die Artgenossen, als ob Enrico Caruso und Maria Callas gleichzeitig auftreten.
Rubicola singt am Morgen, am Tag, am Abend und manchmal in der Nacht, Ausdruck ihrer Lebensfreude. Sie singt, um einen Partner anzulocken (Sehnsucht, Liebe). Sie singt, um ihr Revier zu verteidigen (Mut, Entschlossenheit, Selbstbehauptung). Sie singt, wenn sie ein Ei gelegt hat (Erfolg). Sie singt bei der Erziehung ihres Nachwuchses (Vorbild). Sie singt, wenn sie Kopfschmerzen hat (Hoffnung). Sie singt wenn sie von der Schönheit des Gardasees überwältigt wird (Lob Gottes). Sie singt, bevor sie einen Wurm verzehrt (Erwartung). Sie singt, wenn sie den Wurm verschluckt hat (Dankbarkeit). Sie singt, wenn sie den Wurm verdaut (Stärkung). Sie singt, wenn sie die unverdaulichen Überreste des Wurmes ausscheidet (Erleichterung). Leben ist Singen, Singen ist Leben.
Cantate domino, heißt es in Psalm 98 – und das ist zu Menschen gesagt!

Rubicola und der Flirt
Rubicola hat das gewisse Etwas. Wisst ihr, was ich meine? Nein? Dann tröstet euch, denn genau genommen weiss ich selbst nicht, was ich meine. Ich kann also nur ein bisschen herumstammeln.
Also das „gewisse Etwas“ ist, wenn … Halt! So ein Anfang ist eine grammatikalische, schriftstellerische und psychologische Katastrophe. Das muss in die Hose gehen.
Zweiter Versuch. Ich schleiche mich unauffällig an das Thema heran. Rubicola strahlt mich manchmal so hintergründig, verschmitzt an, so bilde ich mir jedenfalls ein, so unverschämt siegessicher und erfolgsbewusst, als ob, ja wirklich, als ob sie mit mir flirtet. So lockend und verführerisch, als ob sie meinen Widerstand brechen und mich irgendwie herumkriegen wollte. Dann tut sie wieder, als könne sie kein Wässerchen trüben.
Beides sind aber nur die zwei Seiten derselben Medaille: Sie flirtet mit mir. Äußerlich die Haltung einer deutschen Eiche: Was kümmert´s mich, wenn ein räudiger Köter mich anpinkelt! Innerlich kurz vor dem Siedepunkt, gespannt wie ein Flitzebogen: Wenn ich dich habe, verspeise ich dich mit Haut und Haaren!
Solche Flirts liebe ich. Da muss ein unsichtbarer Strom fließen, Funken müssen sprühen, das Blut muss anfangen zu rasen. Fressen oder gefressen werden, und zwar mit höchstem Genuss.
So eine ist Rubicola.

Rubicola und die Interpretation
Heute hat Rubicola eine wunderbares Melodie gesungen, jedenfalls habe ich sie so empfunden – wie eine Menschin, die Mozart oder Rossini singt, so dass einem fast die Tränen in die Augen steigen.
Nun verstehe ich bei Gesungenem oft die Worte nicht, wie ich auch die Italiener in ihrem Singsang nicht immer verstehe. Übrigens verstehe ich auch meine Landsleute häufig nicht, obwohl da von Singen keinerlei Rede sein kann. Was wollen sie eigentlich zum Ausdruck bringen? Habe ich verstanden, was sie meinen? Und dann tue ich fast automatisch etwas, was erwiesenermaßen zu einem falschen Ergebnis führen kann: Ich interpretiere, d. h. ich biege es so hin, dass ich etwas dabei herausfinde, was mir passt.
Warum hat Rubicola so gesungen? Sie hatte Lust, etwas zu tun, was sie nicht jeden Tag tut. Es war ihr so froh und wohl zumute. Singen ist ja eine besonders ehrliche und überzeugende Art der Dankbarkeit. Sie wollte den Schöpfer dafür loben, dass sie in einer so bunten Welt herumflattern kann, in der sich genügend Körnchen und Würmchen finden und finden lassen. In diesem Moment war es ihr egal, ob jemand sie hörte und vestand. Oger ganz anders: Vielleicht war sie ihres Alleinseins müde und sehnte sich nach der Liebe von einem, der sie verstand und ähnlich fühlte.
Ich kann leider nicht so schön singen. Was tue ich? Ich hacke auf den Tasten meines Computers herum.

Rubicola und die Spinatwachtel
Ungewollt habe ich in meiner Leserschaft einen Sturm, um nicht zu sagen, Orkan der Empörung ausgelöst. Anlass war, dass ich meine Freundin Rubicola als Spinatwachtel bezeichnet habe. Die Flut der Protestmails (1!) hat mich schier überwältigt. Tenor: Du ungehobelter Klotz! Das gehört sich doch nicht! Wo bleibt deine gute Kinderstube? Pfui!
Nun habe ich 1) dieses Wort nicht laut ausgesprochen, sondern leise gedacht. 2) finde ich weder an Spinat noch an einer Wachtel irgendetwas Diskriminierendes. 3) Wie bezeichnet ihr eine Autofahrerin, die ständig euer Recht als freier Bürger beschneidet, indem sie nur 70 fährt, obwohl 50 erlaubt sind?
Na, also. Ich finde, es soll keiner mit Melonen schmeißen, der im Glashaus sitzt.
In einer stillen Minute erzähle ich Rubicola von meinem Ausrutscher. Darauf sie: „Du blödes Kamel!“ Diese Frau ist unmöglich!
Jetzt bin ich ja gespannt, wer mich gegen die Verbalinjurien dieses ungezogenen Vogels verteidigt.

Rubicola und der Trost
Parken ist in vielen Städten ein Problem. Aber wenn ich mit der Bahn nach Mailand will oder muss, weiß ich unterdessen, dass sich in den Straßen hinter dem Bahnhof Brescia meist ein freies Plätzchen findet, ganz bestimmt morgens um 7,30 Uhr. Tatsächlich habe ich noch genügend Auswahl und stelle meinen silbergrauen Opel Corsa dorthin, wo er nach dem objektivsten Urteil keinen andern stören oder behindern kann, bzw. wie heißt es doch im Paragraphen 1 der Straßenverkehrsordnung, der sicher sinngemäß auch in Italien gilt?
Nach etwa fünf Stunden und erfolgreich erledigter Arbeit möchte ich das Auto wieder besteigen, aber es ist weg. Erst traue ich meinen Augen nicht und schaue ein zweites Mal hin. Nichts. Dann suche ich in der näheren, dann in der ferneren Umgebung, was natürlich totaler Blödsinn ist, denn keiner hätte es wohl aufgebrochen, um es 100 m entfernt zu parken. Am Bahnhofsvorplatz finde ich eine Polizeistation mit einem Polizisten und drei Polizistinnen. Mir schwant, hier kann ich nur ungelegen kommen. Falsch gedacht. Ich werde mit ausgesuchter Höflichkeit behandelt, wie ich gern zu ihrer Ehre und gegen meine Vorurteile bestätigen möchte. Älteren Herrschaften begegnet man hier oft mit viel Respekt. Nach einigen Telefongesprächen tröstet man mich: Nicht gestohlen, sondern abgeschleppt. Ja, der Abschleppbetrieb hat geöffnet, sogar die ganze Nacht. Ich bekomme sogar einen Stadtplan geschenkt, auf dem der Ort des Corpus delicti angekreuzt wird.
Das Gemeine allerdings: Die Stadtverwaltung legt solche Sammelplätze nie in der Nähe des Bahnhofs an, sondern in den äußersten Außenbezirken, in diesem Fall in San Polo. (In Hamburg heißt dieser Stadtteil St. Pauli, aber die beiden sind verschieden). Weil es mir als Nichtmathematiker nie gelingt, die gemessenen oder geschätzten Zentimeterzahlen mit 12500 oder 50000 zu multiplizieren, unterschätze ich die wirklichen Entfernungen. Dazu kommt noch, dass dieser Stadtplan die wahren Größenverhältnisse völlig verschweigt. Ich brauche 70 Minuten, um mein Ziel zu erreichen, bedeckter Himmel, trocken, ca. 26 Grad, fast ideales Wanderwetter. Aber mein Kollege hat mir ausgerechnet heute vier dicke, teils kriminalistische, teils theologische Bücher geliehen, die schwer auf meinen akademisch-schwachen Schultern lasten. Zum Glück weist mir auch der Lärm der nahen Autobahn A 4 den Weg, so dass ich auch meine Ohren bei der Suche nach dem Ziel beteiligen kann. Ich durchwandere die hässlichsten Gegenden dieser 300000 Einwohner zählenden Provinzhauptstadt, wo ich, ehrlich gesagt, nicht einmal begraben sein möchte, und da steht mein Wagen endlich auf der Via Canetto zwischen all dem anderen Schrott, der auch dort abgeladen wird. Für 84 Euro bekomme ich meinen „Pegasus“ unversehrt zurück.
Zu Hause lasse ich mich erschöpft in den Liegestuhl auf meinem Balkon fallen. Rubicola kommt aus ihrer Zypresse geschossen, als ob sie auf mich gewartet hätte. Ich schütte ihr mein Herz aus und hoffe, von der Macht des Schicksals gebeutelt und der Ungerechtigkeit dieser Welt verfolgt, auf tröstlichen Zuspruch. Und sie? „Siehste, ich hab´s doch gleicht gewusst!“
Dämliche Spinatwachtel ! ! !

Rubicola und der Blickkontakt
Wenn ich in der Mittagsstunde auf meinem Balkon sitze – ja, hier in Gardone ist das auch im Januar möglich - beobachte ich gern die Vögel ringsumher: Spatzen, Amseln, Möwen, Enten, Zaunkönige und besonders gern meine Freundin Rubicola.
Sie kommt mir manchmal bis auf Greifweite nahe. Dann sehe ich mit meinen beiden Augen, wie sie mich mit einem Auge anstarrt, d. h. ich frage mich: Kuckt sie eigentlich mit dem auf mich gerichteten Auge mich an oder mit dem andern Auge auf der andern Seite etwas anderes. Krabbelt dort eine leckere Made? Kann sie zwei verschiedene Dinge in verschiedenen Richtungen zugleich sehn, m. a. Worten, schielt sie? Und weiter denke ich: Liegt in ihrem Blick Neugier, Erwartung, Wiedererkennen? Im Grunde ist ihr Blick, aus dem einen Auge, unergründlich. Konstatiert sie, dass in meinem Blick, beider Augen, Freundlichkeit und Bewunderung für ihre Schönheit liegt? Manchmal fange ich an, wie sie zu zwitschern bzw. zu schnalzen. Es klingt aber sehr germanisch roh und grob. Manchmal befällt mich die Hoffnung, dass sie mich schätzt. Aber nie lässt sie sich festhalten oder festlegen. Plötzlich verschwindet sie mitten im Flirt, das verführerische und rätselhafte Frauenzimmer.
Oder ist sie womöglich ein Mann?

Rubicola und der Humanismus
Der Mensch heißt auf Lateinisch: Homo. In der Biologie wird er als „Homo sapiens“ bezeichnet, als der Wissende und Weise. Von Bescheidenheit und Selbsterkenntnis keine Spur. Der Mensch, also auch ich, wird als die Krone der Schöpfung betrachtet, als das Maß aller Dinge. Das tut gut! Rein psychologisch gesehen, aber auch, was die praktischen Konsequenzen in der Welt und für die Welt betrifft. Der Mensch darf alles, was ihm in den Sinn kommt: Sich die Erde untertan machen, die Natur zu seinem Profit ausbeuten, die Tiere nach Belieben quälen. Wir machen das schon! Wir bestimmen, was erlaubt ist! Wir entscheiden, was gut und was böse ist! Basta.
So zu denken und zu handeln ist also menschlich bzw. human. Klar, es gibt noch eine andere Bedeutungsvariante von human: Edel, freundlich, wohlwollend, verständnisvoll, großzügig - solche Eigenschaften, bei denen einem das Wasser im Munde zusammenläuft.
Ja, die gibt es auch.
Ich frage Rubicola, was sie von der menschlichen Sonderstellung hält. „Wenn doch die Menschen nicht so verdammt eingebildet wären!“ - Sie hat sich nicht gescheut, das Wort „verdammt“ in den Schnabel zu nehmen.

Rubicola und die Erinnerung
Je älter ich werde, umso häufiger und intensiver erinnere ich mich an früher. Deutlicher gesagt, diese Erinnerungen überkommen mich spontan, ausgelöst wohl durch irgendwelche Assoziationen, eine Einzelheit in der Natur oder Landschaft, ein Wort eines Gesprächspartners oder in der Zeitung, eine Melodie oder einen Geruch. Im Nu bin ich dann über Jahrzehnte zurückversetzt, in einer ganz andern Welt, oft die meiner Kindheit und Jugend.
Leider taucht da nicht nur Erfreuliches aus den Tiefen, sondern auch fast unaussprechlich Schreckliches etwa aus der Nachkriegszeit unter Polen und Russen in Schlesien und den Hungerjahren in Bielefeld nach der Vertreibung. Wie sie im Einzelnen auch aussehen mögen, ich empfinde sie als bereichernd. Die dahinter steckenden Tatsachen und Erlebnisse haben mich geprägt und auch mit zu dem gemacht, der ich bin. Sie geben also Antwort auf die Frage, woher ich komme.
Wie ist das nun bei Vögeln? Sie werden ja lange nicht so alt wie wir, und ihr Gehirn ist viel kleiner. Das kann ja gar nicht anders sein. Ich meine jetzt: Im Verhältnis zu ihrer Körpergröße.
„Rubicola, woran erinnerst du dich besonders oft oder gern“? Sie blinzelt in die Strahlen der jenseits des Gardasees aufgehenden Sonne. „Geh weg mit Erinnerungen! Ich lebe heute. Was kümmert mich das Gestern und Morgen“.

Rubicola und das Forum Romanum
Rubicola ist durch und durch Italienerin: Flott, bildhübsch, kann nicht eine Sekunde lang schweigen. „Fare figura“, piccobello nach außen, wie es dahinter aussieht, geht keinen etwas an. Einem tiefschürfenden Nordländer kommt das immer etwas heuchlerisch und oberflächlich vor. Schwamm drüber! Auch in Bella Italia gibt es einige Vorurteile über die Deutschen, mit denen viele in einer Art Hass-Liebe verbunden sind.
Was weiß dieser Vogel von den alten Römern? Ihrem Imperium um das ganze Mittelmeer, ihrer Kriegskunst, ihrem Recht, ihrer Literatur, ihrer Architektur? Ich lenke das Gespräch auf das Forum Romanum in Rom, das ich gerade besucht habe. Aber auch hier die betrübliche Erkenntnis: Sic transit gloria mundi.
„Schade, jammerschade, dass feindliche Eroberer, Erdbeben, Christen und der Zahn der Zeit so vieles in Trümmer gelegt haben. Aber immer noch imponierend, atemberaubend, was Senat, Feldherren und Kaiser da errichtet haben. Grandioso, fantastico, straordinario, bricht es aus mir hervor.
Rubicola: „Diese vielen Katzen dort sind ja lebensgefährlich!“

Rubicola und Sokrates
Wer ein Beispiel für Originalität sucht, sollte auf Sokrates zurückgreifen. Ach, das war ein Mann nach meinem Herzen! Abstoßend hässlich. Aber er machte sich nichts draus. Das brauchte er auch nicht, denn 1) war er über solche Kleinigkeiten erhaben, 2) fand er trotzdem eine Frau, Xanthippe nämlich, und 3) wurde er vom dem schönsten Mann seiner Zeit umschwärmt, Alkibiades. Außerdem hat er massenhaft von später fast genauso berühmten Schülern gehabt, mich zum Beispiel, aber auch Platon, Aristoleles, Euripides, Euklid, Aristipp, Xenophon. Unter solch günstigen Umständen kann man leicht auf Eitelkeit verzichten.
Er war der Sohn einer Hebamme, und wie seine Mutter wollte er durch Dialoge mit Hinz und Kunz die Wahrheit ans Licht bringen mit Hilfe der Mäeutik, der Hebammenkunst. Er lief am helllichten Tag mit einer Laterne durch Athen, um Menschen zu suchen. Er tat so, als wüsste er überhaupt nichts. Aber denkste! Er durchschaute alles und alle. „Ich weiß, dass ich nichts weiß“, gab er von sich. Ein tolles Paradoxon, finde ich.
Ich sitze auf meinem Balkon, philosophiere so querfeldein und murmele vor mich hin: Sokrates. Da höre ich doch neben mir eine Piepsstimme: „Oida udén eidós“.
Alle Achtung, Rubicola!

Rubicola und der Schlaf
Der Elefant schläft, das Rotkehlchen schläft, der Mensch schläft, ich schlafe – logisch, sonst wäre ich ja kein Mensch -, nur Gott schläft nie, was einige beruhigend, andere empörend finden, weil er dann womöglich ständig nach unseren Sünden schnüffelt. Dass Gott nicht schläft, stört mich übrigens überhaupt nicht. 1) tue ich ja nichts Böses, 2) ist es recht fraglich, ob Gott direkt belohnend oder strafend in das Diesseits eingreift, und 3) deute ich Gottes Schlaflosigkeit positiv: Er hält ein wachsames Auge auf mich, ich bin nicht ein einsames, klitzekleines Staubkörnchen, eine Monade in den unendlichen Tiefen des Universums.
Also, so könnte man sagen, alle Lebewesen auf Erden schlafen, natürlich nicht 24 Stunden am Tag. Rubicola ist jetzt sicher wach, denn es ist 15,37 Uhr, und wenn es hell ist, hat sie massenhaft andere Aufgaben. Ihr, verehrte Leser, schlaft jetzt wohl auch nicht, denn es wäre schon sehr ungewöhnlich, wenn jemand gleichzeitig schlafen und lesen kann. Ich selbst, der Autor, schlafe jetzt auch nicht, denn es wäre wohl noch ungewöhnlicher, wenn jemand schlafen und schreiben zugleich könnte, dazu auch noch etwas so Hochwertiges.
Aber Schlaf ist nötig, jedenfalls eine gewisse Portion. Schlafentzug ist Folter. Wer zu viel schläft, ist krank, und wer zu wenig schläft, wird krank. Zum Schlaf lässt sich überhaupt eine Menge sagen.
Ich aber befrage meine geflügelte Klugscheißerin (sit venia verbo, das ist unsere Art von Zärtlichkeit). Sie, immer mit dem Schnabel vorneweg, zitiert Napoleon:“ Ein Mann schläft 4 Stunden am Tag, eine Frau 6 und ein Dummkopf 8. Ordne dich selbst ein!“

Rubicola und das Denken
Wer lebt, denkt; wer denkt, lebt – wenn ich Descartes richtig verstanden habe. Ich selbst habe mit dem Denken schon im Mutterleib angefangen, so bilde ich mir ein, und es ist mir unterdessen zu einer lieben Gewohnheit geworden, ja, mehr noch: Ich kann überhaupt nicht nicht-denken, vergl. Waclawik: Ich kann nicht nicht-kommunizieren. Es denkt sozusagen in mir. Nur selten Weltbewegendes, Nobelpreisverdächtiges. Meist eher Alltägliches. Na ja, Sie wissen schon. Jedenfalls finde ich mein Selbstgedachtes meist ganz schön. Es liegt mir nicht nur näher, es ist nicht so abstrakt, es hat mit mir zu tun. Und selbst wenn es abstrakt und scheinbar lebensfern ist, befriedigt es mich, weil ich ja bekanntlich mehr Gehirn habe als etwa meine nächsten Verwandten, die Schimpansen und Gorillas. Ich finde es auch keineswegs beleidigend, wenn jemand mich in böser Absicht als intellektuell bezeichnet. Ich stelle mir dann zum Trost vor, dass er mich eigentlich beneidet.
Was da in Rubicola vorgeht, habe ich letztlich noch nicht durchschaut. Das muss ich auch nicht. Allerdings ist eines bei ihr nicht zu übersehen: Sie ist ein glückliches Geschöpf.

Rubicola und der Terrorismus
Seit Adam und Eva aus dem Paradies vertrieben worden sind – Eigene Schuld! Warum waren sie so doof, unbedingt klug werden zu wollen? – war die Welt nicht mehr so nett wie vorher. Die Menschen, die Gott nach seinem Bilde geschaffen hatte, waren überhaupt nicht interessiert, bzw. gaben sich nicht die geringste Mühe, den hohen Anforderungen zu entsprechen. Die Griechen drückten es ähnlich aus: Das Goldene Zeitalter sank herab zum Eisernen. Oder: Die Übel in der Büchse der Pandora verbreiteten sich unwiderstehlich über den ganzen Erdball.
Alle Übel, die ja schon mit Kain und Abel begannen, im Einzelnen aufzuzählen, dafür reichte wohl ein dickes Buch nicht. Deshalb verzichte ich darauf. Eines aber wurde erst relativ spät erfunden: Terrorismus, der mit Sprengstoff, Selbstmordbombern, einfach so, ohne Rücksicht auf Verluste. Schrecklich, in U-Bahnen, Hotels, Badestränden, Flugzeugen, auf einen mehr oder weniger kommt es nicht. Ruhig ein paar Unschuldige hops gehen lassen. Das verstärkt und Unsicherheit und Angst. Wahnsinn in höchster Perfektion!
Auch die normalerweise recht gelassene Rubicola plustert sich auf vor Empörung: „ Phhh, dieser Homo Sapiens! Zu solchen Bestialitäten gibt er sich her.“

Rubicola und der Dichterwettbewerb
Seit Beginn haben Menschen das Bedürfnis, ihre Kräfte zu messen. Sie möchten besser sein als andere, schneller, mutiger, erfolgreicher. Früher führte man Kriege, heute ist es der Sport, wo um den Sieg gekämpft wird. Olympische Spiele und Weltmeisterschaften ziehen Millionen in ihren Bann.
Ich schlage Rubicola einen Dichterwettbewerb vor: „Du tippst auf ein Wort in dieser Zeitung, und jeder von uns muss dieses dann in einem Vierzeiler unterbringen.“ Das Wort heißt: Mitternacht.
Um die Objektivität eures Urteils nicht durch persönliche Vorlieben oder Antipathien zu trüben, sind die Beiträge nur mit einem Buchstaben gekennzeichnet
Mitternacht.
An der Grenze
von gestern und morgen
Träume ich. (R)
Die Kirchturmuhr schlägt Mitternacht,
Es schläft das Volk, der Dichter wacht,
vor sich ein leeres Blatt Papier. -
Was er zustandebringt, steht hier. (C)
Und nun, liebe Leser, frisch ans Werk! Wiederholt es, ausdrucksvolles Deklamieren kann das Verständnis und damit die Entscheidung erleichtern.

Rubicola und die Zeit
Eine Bewegung ist für den gehetzten, gejagten, gestressten Menschen der Gegenwart charakteristisch: Den linken Unterarm nach oben reißen und auf die Armbanduhr schauen, auf der er analog oder digital auf die Sekunde genau ablesen kann, ob bald Feierabend ist, ob er jetzt eine bestimmte Tablette einnehmen muss, ob das einzige Flugzeug gerade abgeflogen ist.
Weil Zeit so wichtig ist, haben Menschen schon früh Mechanismen gesucht und gefunden, mit denen sie Zeit messen können: Sonnenuhren, Sanduhren, Wasseruhren, Stahlfederuhren, Stoppuhren, Elektrouhren, Funkuhren, Digitaluhren zum Beispiel.
Die extrem riesigen oder winzigen Zeiteinheiten interessieren im Alltag meist nicht so, etwa Jahrmillionen, Jahrtausende oder Milli- und Nanosekunden. Uns gewöhnlichen Sterblichen geht es mehr um Minuten und Stunden, vielleicht auch Monate und Jahre. Ich überlege, welchen Bus muss ich nehmen, um in Brescia den Zug nach Rom zu erreichen, wobei oft die sorgfältigste Überlegung nichts nützt, weil die Ferrovia Italiana meist nicht geneigt ist, sich an den gedruckten Fahrplan zu halten. Nun, ich bin Gast in diesem Land und will da nicht meckern.
Rubicola bringt es wieder einmal auf einen kurzen Nenner: Tempori parce! Geh sparsam mit der Zeit um!

Rubicola und der Determinismus
Der Determinismus behauptet, dass im innerweltlichen Geschehen, z. B. in der Physik jede Erscheinung eine Ursache hat, die dann zu einer neuen Wirkung führen kann. So können endlose Ketten entstehen. An einem Beispiel deutlich gemacht: Meine Eltern waren die Ursache für mich, ich (wenn auch nicht allein) war die Ursache für meine drei Kinder usw. usf. Bei Adam und Eva hat es begonnen – ich setze im Moment einmal voraus, dass dies die ersten Menschen waren – und das geht so weiter, bis … ja, das weiß ich leider nicht. Anders ausgedrückt: Das ist Kausalität. Wenn man diese konsequent anwendet, kommt man nicht nur weit zurück in die Vergangenheit, sondern kann auch eventuell die Zukunft voraussagen.
Schön wär´s. Aber da habe nicht nur ich meine Zweifel.
Die Krux ist nämlich, wenn auch der Mensch determiniert wäre (Konjunktiv!), könnte er sich nicht entscheiden, etwa ob er Kaffee trinkt oder Bier, ob er Jeans trägt oder einen Frack. Er gliche dann eher einer Marionette, die von unsichtbaren Fäden gelenkt wird.
Ich beschließe, Rubicola das Problem vorzulegen. Beim nächsten Erscheinen auf der Balkonbrüstung frage ich sie: Fliegst du gleich nach links oder nach rechts?
Sie: Ich fliege geradeaus direkt zu meiner Zypresse.

Rubicola und das Geld
Ich bin nicht reich, jedenfalls kein Millionär, weder in Euros noch in schwedischen Kronen. Ich möchte nicht einmal reich sein. Aber das glaubt mit wahrscheinlich keiner. Bei mir reicht´s, um des Tages Notdurft zu stillen und mir ab und zu einen Extrawunsch zu erfüllen. Arm bin ich vielleicht auch nicht. Gerade hier in Italien habe ich schon sehr arme Schlucker gesehen. Arm sein möchte ich auch nicht. Das verstehen Sie sicher!
In gewisser Weise hängt ja alles von den Maßstäben ab, hier wie überall. Ist ein Millionär reich oder nur ein Milliardär? Oder auch schon ein Hunderttausendiär?
Aber wie auch immer, ob arm, ob reich, jeder hat doch wohl schon gehört, dass es Geld gibt.
Nein, nicht jeder. Rubicola offensichtlich nicht. Als ich sie frage, wie viel Bargeld sie besitzt, stellt sie sich dumm, was sie hervorragend kann. Ich wiederhole laut und betont: Geld. Keine Reaktion. Mit wachsender Lautstärke: Pinkepinke, Kies, Zaster, Moneten, Möpse, Kohlen, Moos, Penunzen. Ich versuche es in anderen Sprachen: Denaro, money, pengar und reibe dabei meinen Daumen über Mittel- und Zeigefinger. Womit bezahlt ihr Vögel denn?, frage ich. Sie: Wir nehmen, was wir brauchen. Mehr brauchen wir nicht. Alles gratis.
Ich wundere mich: So einfach ist es woanders.

Rubicola und die Transzendenz
Schon mal was von Transzendenz gehört? Wohl nicht! Allerdings im immer noch weithin vom Katholizismus geprägten Italien eher als in Schweden, das sich mit Riesenstolz als das säkularisierteste Land der Welt bezeichnet. Wer dort ein solches Wort auch nur in den Mund nimmt, darf sich der Verachtung der Gebildeten sicher sein. Angeborene und nie beseitigte Dummheit ist verzeihlich, der Glaube aber, dass es auch jenseits unserer Erkenntnis noch etwas gibt oder geben kann, gilt als dumm hoch 2, und diese selbstverschuldete Dummheit gilt als unverzeihlich. Natürlich könnte ich mich jetzt auf Immanuel Kant berufen. Aber da ich hier in der Via … kein Philosophielexikon zur Verfügung habe, lasse ich es lieber, um mich nicht zu blamieren.
Doch die Fragestellung interessiert mich brennend: Existiert nur das, was ich mit meinen Sinnen fassen kann? Was steckt hinter allem? Was ist auf der anderen Seite? Wie sieht es am gegenüberliegenden Ufer aus? Ist jenseits des Horizonts auch noch etwas? Vielleicht ist es nur eine Hoffnung, eine Sehnsucht, dass es mehr geben muss, als unsere Schulweisheit sich träumen lässt.
Leider weiß ich die Antwort nicht, aber ich kenne eine, die sicher eine Antwort weiß, Rubicola.
Und tatsächlich: Es ist unbeschreiblich schön, in den Höhen zu schweben, aber nach einiger Zeit komme ich wieder herunter auf den Boden der Tatsachen: Nest bauen, Nahrung suchen, Nachkommen aufpäppeln usw.
Da ist etwas Wahres dran!

Rubicola und das Ei
Ostern naht, der Tag, an dem sich die Christenheit der Auferstehung Jesu erinnert. Das Wort allerdings ist von einer germanischen Frühlingsgöttin abgeleitet, und viele heidnische Bräuche sind mit diesem Fest verbunden, zum Beispiel der Osterhase.
Wieso eigentlich Hase? Eine neuere Erklärung leuchtet mir besonders ein: Osterhasen sind ursprünglich Nikoläuse, bein Weihnachtsgeschäft nicht verkaufte und umgeschmolzene Schokoladennikoläuse.
Wieso aber Eier? Wer die Lösung solcher Probleme sucht, der kommt fast immer zu einer Antwort, wenn er die symbolischen Hintergründe. berücksichtigt. Die alten Römer drückten es so aus: Omnis vita ex ovo, das Leben kommt aus dem Ei. Ei – Frühling – Auferstehung, neues Leben, das leuchtet ein.
Biologisch besteht da kein Zweifel, philosophisch ist es komplizierter. Oder wisst Ihr die Antwort auf die Frage: War erst das Rotkehlchen und dann das Rotkehlchenei oder umgekehrt?
Rubicola selbst scheint nicht so aufgeschlossen für solche tiefschürfenden Grundsatzerörterungen. Ich habe sie übrigens länger nicht gesehen. Ich glaube, sie brütet. Nein, nicht über irgendwelche Probleme, sondern auf ihren Eiern.

Rubicola und die Poesie
Meine ausweichende Bemerkung über ihre dichterische Begabung lässt Lucretia nicht ruhen. Am nächsten Morgen piepst sie, kaum dass ich die Balkontür öffne: „Du hast mich tief verletzt. Ich habe es deutlich herausgehört, dass du meine Verse doof findest. Was hältst aber du von dem, was ich heute in schlaflosen Stunden kreiert habe?
Es sagte Gute Nacht die Schlampe
und machte aus die Nachttischlampe.
Man hörte nur, doch keiner sah,
was daraufhin im Bett geschah.“
Spontan bricht es aus mir heraus: „Phänomenal! Formal überzeugend! Inhaltlich ergreifend! Witzig und melancholisch, schwebend und abgrundtief zugleich! Dazu genügend Raum für das Unausgesprochene und Unaussprechliche. Einfach nobellpreisverdächtig.“
Etwas übertrieben, ich weiß. Ich neige zu Übertreibungen.
Aber Rubicola strahlt von der Schnabelspitze bis zu den Spitzen ihrer Mittelkrallen.

Rubicola und das Altern
Das Altern beginnt ja nicht erst im Alter. Es wäre natürlich herrlich, wenn es erst mit 60/70 Jahren begänne, dann, wenn man sich schon alt fühlt oder von Jüngeren brutal als alt erklärt wird. Na ja, so echt schön wäre es vielleicht auch dann nicht, weil irgendwie die Zukunft kürzer wird, die körperlichen Fähigkeiten nachlassen, der Horizont sich einschränkt und solch eine Erkenntnis kann schon wie ein Damoklesschwert über einem hängen und manchen Tropfen Wermut in den Wein des Lebens tropfen lassen. - Irgendwie hat da wohl eine Vermischung von Bildern stattgefunden, die einer stringenten Logik entbehrt. Aber der kluge Leser ahnt zweifelsohne, was gemeint ist.
Nein, das Altern beginnt streng genommen schon, wenn Ei und Sperma sich vereinigen. Denn dann läuft ein unumkehrbarer, wie die Vorfahren der heutigen Gardaseeumwohner formuliert haben, irreversibler Prozess ab, der mit dem Tod endet. Dazwischen liegen ein paar Jährchen, mehr oder weniger geglückt, wobei die Beurteilung wechselt, ja nach Zeit, nach Laune, nach Betrachter.
Zugegeben, das Thema ist damit noch nicht erschöpft. Aber da es offensichtlich unerschöpfbar ist, versuche ich es nicht einmal. Erschöpfend behandelte Themen erschöpfen ja hauptsächlich den Leser.
Als ich mich wieder einmal durch eine meiner fast pathologischen Phasen von philosophischen Anwandlungen schleppe, frage ich Rubicola: Wie hältst du es mit dem Altern? Sie: Ich lasse mir einfach nichts anmerken.
Gut gepiepst, Rotkehlchen!

Rubicola und die Talente
Jeder, jede hat Fähigkeiten und Begabungen: Sprechen, Zuhören, Malen, Tanzen, Kochen, Klöppeln, Organisieren usw. usf. Aus Unkenntnis, Bequemlichkeit, Mangel an Mut werden diese vergrabenen Talente oft nicht gehoben, genutzt und gemehrt, was schade ist für die Betreffenden und andere. Darum versuche ich auch, Menschen etwa zur Ausübung eines Hobbys zu ermutigen.
„Was kannst du eigentlich, Rubicola?“ frage ich. Und sie, die nun wirklich nicht an Schüchternheit leidet: „Singen, fliegen, auf einem Bein stehen, Eier legen, Nester bauen, kleine Rotkehlchen erziehen, Verse machen.“ Ich traue meinen Ohren kaum. Dichten kann dieses flatterhafte, etwas eitel erscheinende Frauenzimmer auch noch? Und ich fordere sie auf, eine Kostprobe zu geben.
„Im Gegensatz zu dem Kamele
besitz ich eine rote Kehle.
Dafür trägt jenes eine tolle
braunfarbene Kamelhaarwolle.“
Müde lächelnd flüchte ich mich ins Lateinische: „De gustibus non est disputandum.“

Rubicola und die Leichtigkeit des Seins
Der Vogel Rubicola kann etwas, was wir Menschen nicht können: Fliegen. Fliegen können, sich frei bewegen über Grenzen und Hindernisse hinweg ist eine uralte Sehnsucht der Menschheit. Was (vielleicht) mit Dädalus und Ikarus auf Kreta begonnen hat, ist mit den heutigen Kosmonauten zwar zu einem Höhepunkt gekommen, aber noch nicht abgeschlossen.
Ich kann nicht fliegen, leider. Ich bringe meine 85 kg (da ich keine Waage habe, messe ich nach den Löchern meines Gürtels) höchstens 30/40 cm hoch und das auch nur für Bruchteile von Sekunden, obwohl ich heftig mit den Armen schlage. Abends habe ich oft das Gefühl, noch schwerer zu sein, wenn ich mühsam mit den Füßen über das Pflaster schürfe, zu Hause wie ein Mehlsack im Sessel hänge und meinen Kopf auf meine Arme stützen muss.
Dann würde ich gern auf den Flügeln des Gesanges in höhere Sphären emporsteigen, wobei aus meiner Kehle nur eine Art undefinierbaren Krächzens dringt, das mich sofort und brutal an die erbarmungslose Brust von Mutter Erde zurückreißt. Ich bin halt nur ein unförmiger Klumpen Materie.
Aber ab und zu, selten, allzu selten, gelingt es mir, das geflügelte Musenross Pegasus zu besteigen und mich in jene Höhen emporzuschwingen, von denen der normale Sterbliche kaum etwas ahnt, dorthin, wo es keine Zeit gibt und keine Grenzen, wo Entscheidungen klar und Worte wahr sind, wo das Atmen und das Denken leicht fallen.
Rubicola hat es da tausendmal einfacher. Husch, und sie ist weg – drüben – oben. Versteht Ihr, warum ich ihr oft sehnsüchtig nachblicke?

Rubicola und das Heimweh
Wer, wie ich, fast 18 Jahre in verschiedenen Ländern Europas gelebt hat, fragt sich manchmal, wo er eigentlich hingehört, und sogar, wo er begraben sein möchte. Irgendwo will und muss man Wurzeln schlagen, um nicht zu verwelken und zu einem Relikt der Vergangenheit zu werden.
Ich frage Rubicola: „Du bist ja auch so ein Weltenbummler, im Sommer Deutschland, im Winter Italien. Hast du nicht Heimweh nach einem bestimmten Plätzchen, wo du dich zu Hause fühlst, wo du die anderen Rotkehlchen kennst und sie dich; wo man die gleiche Sprache spricht; wo man zum Augenblicke sagen möchte: Verweile doch, du bist so schön?“
„Es macht mir Spaß, immer neue Vögel kennen zu lernen. Toleranz, Herzlichkeit, Mitvögeligkeit gibt es überall. Zwar verrenkt sich unsereiner, der Möwisch oder Meisisch lernen will, fast den Schnabel, aber wenn man nur radebricht, freuen sich die Gastgeber schon. Und die Stunden des Glücks sind nicht auf die Heimat beschränkt.
Wichtig ist: Ein warmes Nest, wo man nach getaner Arbeit ruht und Kraft schöpft für den neuen Tag.“

Rubicola und die Kunst
Ich lebe ja zur Zeit in einem Land, wo die Kunst hinter jeder Ecke lauert. Etrusker und Römer, Renaissance und Barock haben so viele Spuren hinterlassen, dass man fast von einem Weltkulturerbe ins nächste stolpert. Wer irgendwo ein Löchlein ins Erdreich bohrt, stößt auf Marmorscherben. In jeder Garage kann ein noch nicht entdeckter da Vinci vor sich hin modern, und die blutrünstigen Operm des 19. Jahrhunderts locken Tausende von Musikliebhabern nach Verona.
Auch ich habe mir schon Gedanken über die Kunst gemacht, ernsthaft, sozusagen existenziell, obwohl mir im Grunde jede künstlerische Ader fehlt, von Genialität ganz zu schweigen. Ich weiß nicht, ob ich bei diesem Thema wirklich mitreden kann. Aber ich tue es, man könnte sagen: als interessierter Laie.
Was sagt meine kleine Italienerin in Gardone dazu?
Kunst soll Fragen stellen und Antworten geben, soll unterhalten und beunruhigen, soll geltende Normen in Frage stellen und neue Blickwinkel eröffnen.
Donnerwetter! Saepe summa ingenia in occulta latent. Es gibt viele verkannte Genies!

Rubicola und Pfingsten
Pfingsten ist eines der drei wichtigen christlichen Feste neben Ostern und Weihnachten. Aber wer im sog. christlichen Abendland weiss eigentlich noch, warum wir es feiern? Ein zusätzlicher Urlaubstag und schönes Wetter, das genügt. In der Apostelgeschichte wird berichtet, dass seinerzeit, als Jesus zum Himmel aufgefahren war, der heilige Geist über das versammelte Volk ausgegossen wurde, die schöpferische, heilsame und versöhnende Kraft, die Christen brauchen und weitergeben sollen.
Der Geist hat es schwer in einer materiell geprägten Gesellschaft. Es zählt, was man anfassen, messen, wiegen, in Geld bewerten kann; Statussymbole, die bestimmen, ob man dazugehört; Publicity ohne moralische Skrupel. Nicht Geist, sondern Cleverness, Köpfchen, Schläue, Geschäftemacherei, Gerissenheit, Rücksichtslosigkeit sind gefragt. Wer sich auf diesem Wege nach oben arbeitet, hat Erfolg und wird beneidet. Da verwundert es kaum, dass Menschen von allen guten Geistern verlassen sind: Umweltverschmutzung, Millionenbetrug, ein Schuldenberg für kommende Generationen. Und wider besseres Wissen werden die babylonischen Türme immer höher.
Wie beurteilt Rubicola dieses Phänomen? „Pfingsten“, piepst sie fröhlich, „ist bei mir 365 Tage im Jahr. Ich freue mich meines Lebens, lobe Gott mit Stimme und Taten, tue keinem Mitvogel etwas zu Leide, häufe mir keine Reichtümer an, und was andere über mich denken, ist mir völlig schnuppe.“

Rubicola und die Volkslieder
Jeder Autor wird von zwei Dauerfragen geplagt, die letztlich seine Existenz berühren: 1) Wird er überhaupt Leser finden. 2) Wie beschaffen sind sie? Wie ungebildet, wie beschränkt, wie blauäugig, wie böswillig? Es ist ja ein gewaltiger Unterschied, ob man sich an Klippschüler oder Professoren wendet, an Frauen oder Männer. Und in diesem Fall die Frage: Wie alt sind sie? Kennen sie die alten Volkslieder noch? Haben sie sie wenigstens seinerzeit in der Schule gesungen? Singen sie heute im Chor oder allein in der Badewanne? Können sie noch einen einzigen Vers auswendig? Denn warum sollten sie? Wikipedia oder Google stecken ja in der Tasche, und ein Knopfdruck genügt. Ausserdem wollen sie ja heute ganz andere Dinge wissen: Wie hoch stehen die XY-Aktien? Welches ist die trendigste Kneipe in Berlin? Hat Borussia Hintertupfingen den Aufstieg geschafft?
Wer weiss denn noch, dass in ungewöhnlich vielen Volksliedern Vögel vorkommen. „Alle Vögel sind schon da“, „Kommt ein Vogel geflogen“, „Wenn ich ein Vöglein wär“ usw. usf. Damit vertrieben sich unsere Vorfahren abends beim Spinnen die Zeit, z. B. „Ein Vogel wollte Hochzeit machen“ mit mindestens 19 Strophen. Oder Uroma sang so etwas dem jüngsten Urenkel vor, wenn sie ihn trotz seiner Blähungen einschläfern wollte.
Ich frage Rubicola: „Welche Volkslieder kennst und singst du eigentlich?“ „Ach, ich kann mir den Text nicht merken. Deshalb singe ich nur: Ssst, tsch, zzz, psch“.
Trotzdem, manchen gefällt es.

Rubicola und die Technik
Über das Verhältnis der Vögel zur Technik ist nicht so viel bekannt. Das gilt natürlich auch für andere Themen, etwa Vögel und die jährliche Nilüberschwemmung, Vögel und die Ozeanographie des 20. Jahrhunderts, Vögel und Einsteins spezielle Relativitätstheorie. Nun kann ich mir das auch alles ruhigen Gewissens ersparen, denn gebildete Leser schätzen es überhaupt nicht, wenn der Autor etwas schreibt, worüber er nichts zu schreiben hat – obwohl es öfters so scheint, als stimme genau das Gegenteil.
Dagegen weiss ich, zumindest in der Theorie und obwohl ich zwei linke Hände habe, einiges über Technik, z. B. dass der Homo faber überhaupt nur deshalb seinen Siegeszug über die Erde antreten konnte, weil er sich technischer Werkzeuge bedient hat. Zwei waren ihm sozusagen schon angeboren: Hände und Verstand, so dass es eigentlich gar nicht mehr weit war zum Gebrauch von Feuer, Rad, Hebel, Hammer, Keule usw. bis hin zu Mobiltelefon und Computer. Und wie herrlich weit werden wir es noch bringen!
Also wie hält es das Rotkehlchen Rubicola mit der Technik? Sie plustert sich auf und wird fast doppelt so gross: „Ich denke gar nicht daran, mich von irgendwelchen Maschinen abhängig zu machen. Hast du aus diesem Grund etwa den Eindruck, dass mein Leben primitiv, langweilig, eintönig ist? Ihr Menschen tut mir echt leid. Ihr gebärdet euch wie Götter und seid nichts als elende Sklaven.“

Rubicola und die Mobilität
Das Fremdwort Mobilität stammt von dem lateinischen „mobilitas“, was sich wiederum herleitet von dem Verbum „movere“. Es bedeutet demnach: Beweglichkeit. Mobilität ist für die moderne globale Gesellschaft eine unverzichtbare Voraussetzung. Nicht nur Personen müssen sich schnell und leicht von A nach B bewegen können, sondern auch Waren und besonders Informationen. Autos, Flugzeuge, Internet sind eindrucksvolle Beispiele. Zwar zog schon Ötzi zu Fuss, Hannibal mit Elefanten, die deutschen Kaiser und Martin Luther (ja, wie eigentlich?) über die Alpen. Auch die Goten fallen mir ein und Goethe, aber das war ebenso langwierig wie mühsam wie lebensgefährlich.
Auch ich musste ja von Schweden nach Oberitalien aufbrechen, um hier am Gardasee meinen Dienst auszuüben. Ich schaffte es mit Ryan, wenn ich mir diese Schleichwerbung hier erlauben darf, dann mit dem Bus nach Milano, dann mit dem Zug nach Brescia, dann mit einem anderen Bus nach Gardone – nicht gerade bequem, aber ich schaffte es doch innerhalb eines Tages. Eine gewisse geistige Mobilität musste wohl auch vorhanden gewesen sein, sonst würde ich ja immer noch zu Hause in Stockholm hocken.
Auch Rubicola ist von auffälliger Beweglichkeit, genauer gesagt, sie kann überhaupt nicht still sitzen. Auch ihr Schnabel steht niemals stille. Hat ihr ebenso berühmter wie tragischer Landsmann Galileo Galilei etwa sie gemeint, als es am Ende seines Lebens aus ihm hervorbrach: Sie bewegt sich doch?

Rubicola und die Dankbarkeit
Manche Anrufe schmettern mich zu Boden. Dann muss ich meinem gequälten Herzen Luft machen.
„Rubicola, der Betreffende hat nur geklagt. Nichts schmeckt ihm, nichts passt ihm, nichts freut ihn. Der Nachbar hat ihn nicht gegrüßt, die Börsenkurse waren 1,27 % gefallen, das Essen angebrannt, die Primeln verwelkt, eine Mücke hat ihn im Schlaf gestört, er hat von einer Hexe geträumt, die Pendeluhr ist stehen geblieben. Seine Olle (wörtlich) hat ihn ausgeschimpft“
„Entsetzlich!“ „Findest du das auch?“ „Ja, dass sich jemand über so viele Dingen ereifern kann. Aber das kann ich auch. Ich freue mich ja so, ich bin ja so dankbar, dass ich lebe, atme, fühle, schmecke, mich erinnere, Pläne mache, morgens neu anfangen kann, dass ich Hunger habe und meinen Hunger stillen kann, dass ich singen kann, wie mir der Schnabel gewachsen ist, dass ich schon in ganz Europa bekannt bin, dass ich einen so gebildeten Gesprächspartner habe.“ (Damit meint sie offensichtlich mich.)
„Übertreibt ihr nicht beide?“ „Man kann es so oder so sehen“.

Rubicola und die Touristen
Der Gardasee lebt vom Tourismus - nicht gern, aber gut! Wer sich in den schönsten Wochen des Jahres dorthin auf die Socken macht, der will einfach - koste es, was es wolle - etwas erleben. Da will darf und will er nicht knauserig sein. Die Zeiten der Lira mit dieser komplizierten dreistelligen Umrechnung sind vorbei. Jetzt kann auch Putsi aus Hinterobertupfing und Kalle aus Bochum-Langendreer leicht die Preise vergleichen - d. h. er könnte es, wenn er wollte. Und das Wichtigste: Auch hier gibt es die Bildzeitung, am gleichen Tage, die mit den knackigen Mädchenpopos und Skandalen am laufenden Band. Und in der anderen Hand eine Riesentüte Pommes frites, Herz, was verlangst du mehr?
Touristen sind meilenweit gegen den Wind erkennbar: In der prallen Mittagssonne nur mit einem knappen Höschen bedeckt, dagegen von Sonnenöl glänzend und trotzdem mit einem Sonnbrand (Verbrennung 2.Grades?), entweder schlafend oder sitzend, in einer Hand eine Riesentüte Fritten und in der anderen Bild – ach, sagte ich das schon? – und dabei ungeniert laut sprechend: Alte, hast de die da gesehen, die mit dem fetten Arsch und dem Hängebusen… Hol mer ma noch´n Eis, mit viel Sahne.
Kann es sein, dass ich hier einem Vorurteil zum Opfer gefallen bin? Ich schwöre: Ich habe es selbst gesehen und gehört! Ist es womöglich trotzdem ein Vorurteil?
Heute Abend werde ich mit Rubicola dieses Thema bekakeln.

Rubicola und die Fußballweltmeisterschaft
Kurz nach 14 Uhr ertönt ein schriller Schrei aus der Zypresse vor meinem Balkon. Obwohl ich kein Fußballfan bin, weiß ich, ein Schrei zu dieser Zeit kann nur bedeuten: Tor!!! Denn ist die Zeit der Fußballweltmeisterschaft in Korea und Japan, und heute spielen die Fidschiinseln gegen Belutschistan. Millionen, wenn nicht Milliarden von Zuschauern kleben an ihren Fernsehapparaten, um diesen kribbelnden Nervenkitzel mitzuempfinden: Trifft er den Ball oder den Gegner oder das Tor oder gar ins Tor? Was Leben ist, konzentriert sich auf diesem grünen Rasen: Kampf, Schnelligkeit, Entscheidung, Zusammenspiel, Zuspätkommen, Mogeleien, Niederlage, Rote Karte, Buhrufe, Sieg, Triumph, Ruhm.
„Wie steht es? Haben diese Flaschen endlich einen in den Kasten geballert?“ schreie ich, wobei die volkstümliche Wortwahl wohl einer Art Fieber entspringt.
Rubicola erscheint: „Ich mache mir ja nichts aus Fußball. Ich halte es mit den drei Wassersportarten: In Geld schwimmen, in Glück baden, in Liebe tauchen.“

Rubicola und die Hölle
Viele aufgeklärte Zeitgenossen sehen überlegen, mitleidig oder verständnislos auf die Menschen des Mittelalters, die glaubten, für ihre Sünden von Gott bestraft zu werden, hier auf Erden oder nach dem Tode im Fegefeuer; die zu langwierigen und schmerzhaften Bußübungen bereit waren, um sich davor zu schützen oder die Folgen abzumildern. Das sei purer Hokuspokus, Aberglaube, Volksverdummung, die allenfalls zu ekklesiogenen Neurosen führten.
Anscheinend sind heute an die Stelle eines strafenden Gottes andere Horrorvorstellungen getreten, die wie eine Massenpsychose durch die Medien schwappen und das hilflose Volk verunsichern: Gefährliche Strahlen aus Atomlagern, dem Weltall, der nächsten Radiostation; Killerviren im Internet und Schadstoffe im Essen. Die Politiker schlagen bei der Schuldzuweisung aufeinander wie die Inquisition auf die Ketzer.
„Rubicola, wie beurteilst du eigentlich dieses Thema?“
„Am schlimmsten ist wohl die Hölle im Kopf.“

Rubicola und der Gardasee
Die Umgebung des Gardasees ist eine in viefacher Hinsicht außergewöhnliche, vor allem aber auch geschichtsträchtige Landschaft. Auf der Isola di Garda, auf die ich in diesem Moment mit einem Auge blicke (das andere brauche ich für die Tasten), gründete Franz von Assisi 1220 ein Kloster. 1430 wird eine Flotte mit fünf Galeeren und über 20 weiteren Booten von den Venezianern und 2000 Ochsen die Etsch hinauf über den San Giovanni-Pass nach Torbole gezogen. In Salò ird 1540 Gasparo Bertolotti geboren, der als Erfinder der Violine gilt. In Malcesine wird Johann Wolfgang Goethe für einen österreichischen Spion gehalten, als er eine Zeichnung der Burg anfertigt. Nur dank seiner italienischen Sprachkenntnisse und seines diplomatischen Geschicks entgeht er der Verhaftung. 1921 bezieht der Dichter Gabriele d´ Annunzio sein Anwesen Gargnacco, woraus später das Vittoriale degli Italiani wird. 2002 wohnt nur einen Steinwurf davon entfernt der deutsche Pfarrer Christoph Hartlieb.
Ich habe Rubicola gefragt: „Bist du nicht stolz auf diese glanzvolle Geschichte?“ „Ach,“ sagte sie und schwieg längere Zeit. „Stolz? ..., aber es stimmt: Von Ausländern kann man viel lernen.“
Rubicola und Acqua a casa

Ich liebe Überraschungen, aber solche nicht. Als ich gestern gegen 23 Uhr das Gewitter in der Ferne beobachte, ahne ich noch nichts. Es kommt näher, aber da ich das weder verhindern will noch kann, gehe ich ins Bett. Als ich heute morgen den ersten Inspektionsgang mache, steht der innere Teil meines Wohnzimmers unter Wasser. Der Regen hat sich auf dem Balkon gesammelt, ohne abfließen zu können, und ist über die Schwelle der Balkontür eingedrungen. Das Wasser innen auf den weißen Steinfliesen steht nur deshalb nicht noch höher, weil es durch die Wohnungstür auf der anderen Seite über die Marmorstufen nach draußen ins Parterre wegsickert.
Mit dem Scheuerlappen beseitige ich mehrere Eimer von der Brühe und dünge die zwei Pälmchen auf der Balkonbrüstung. Zum Glück ist es so warm draußen, dass ich alle Türen und Fenster aufreißen kann und der Durchzug beim Trocknen hilft. Drei Paar Schuhe sind durchnässt, die Unterlage des Liegestuhls und meine zarten Akademikerhände. Der Fußboden glänzt nun ungewöhnlich sauber, und in gewisser Weise bin ich mit dem Schrecken davongekommen. Aber ich erschauere vor dem nächsten Schauer. Zu beten, dass es während meines Hierseins nie mehr regnet, wird wohl nichts helfen. Es ist so schwül, dass das nächste Gewitter drohend in der Luft liegt.
Es muss etwas passieren, damit nicht wieder etwas passiert. Ich werde zumindest die Wohnungsagentur informieren. Dort sitzt heute aber nur die Tochter, die weder Deutsch noch Englisch kann. Immerhin will sie, was sie verstanden hat, sofort der Wohungsbesitzerin mitteilen. Und da ich meine wiederholte Klage „Acqua a casa (Wasser im Hause)“ mit dramatischer Zeichensprache (zum Himmel erhobene Hände, verdrehte Augen, Wegputzen von Tränen, Auswringen des feuchten Lappens, mühsames Wegschleppen der vollen Eimer) und tiefen Seufzern unterstreiche, muss sie den Ernst der Lage kapiert haben.
Während ich dieses schreibe, ballen sich weitere schwarze Wolken über Gardone und meinem Haupt zusammen. Mir schwant Böses.
Lucretia betrachtet schon länger aus ihrer Zypresse heraus mein hektisches Treiben. Auch meine tief zerfurchte Stirn muss ihr aufgefallen sein, denn sie fragt teilnahmsvoll: „Geht es dir nicht gut?“ Ich presse mit versagender Stimmer hervor: „Acqua a casa,“ und schicke mich an, wieder in die hier so beliebte Körpersprache umzuschalten, da winkt sie mir beruhigend mit dem rechten Flügel zu: „Du solltest in ein Nest ziehen. Was da einregnet, fließt von allein wieder ab.“

Rubicola und die Theologie
Ehrlich, ich habe mich immer gern mit Theologie befasst, beruflich und privat. Spannend, was die klugen Theologen alles ausgeheckt haben über ganz Wesentliches und total Abwegiges. Dabei haben sie sich nicht nur die eigenen Köpfe zerbrochen, sondern gegenseitig diese gespalten, denn Andersgläubige gehören ja meist zu jenen verdammten Ketzern, die hartnäckig an ihren selbst verschuldeten Irrtümern festhalten. Erstaunlich, was man in Jahrtausenden alles über Gott herausgefunden hat, kaum erstaunlich, dass sich da auch eine Menge Widersprüche ergeben.
Ich frage Rubicola: „Soll ich dir die Habilitationschrift von Dr. theol., Dr. theol., Dr. h.c. Teofanio Vielmümmler leihen, 793 eng bedruckte Seiten zum Thema „Die pneumatologischen, ikonographischen und eschatologischen Konsequenzen des Semikolons in Augustins „De civitate Dei“?
Rubicola: „Danke. Ich versuche lieber, meine eigenen Glaubenserfahrungen zu machen. Es wäre doch schade, Gott allein den Theologen zu überlassen.“

Rubicola und der Pizzócolo
Heute bin ich acht Stunden gewandert, von S. Michele aus über den Monte Spino zum Pizzócolo (1581 m). Es war die schönste Bergwanderung seit langem. Doch Lucretia gegenüber bringe ich kaum etwas heraus. Meine Seele läuft über, aber mein Körper ist am Ende. „Du musst dich leider mit ein paar Begriffen, Bildern, Beobachtungen, Gefühlen begnügen, ich bin noch zu sehr überwältigt: Erwartung, Aufbruch, Aufstieg, Grün, Frische, Farben, Stille, Schweiß, Durst, Quellwasser, Herzklopfen, Zögern, Entscheiden, Risiko, umkehren, Einsamkeit, ausruhen, Weitsicht, Abgründe, Fernweh, Freiheit, Höhepunkt, Abstieg, Steine, Heimkehr, Erschöpfung. Jede Minute war gefüllt mit Staunen, Freude und Leben. Zu jedem Stichwort könnte ich ein ganzes Kapitel erzählen und schreiben.“
Rubicola schweigt ergriffen, um dann ein würdiges Fazit zu ziehen: „Gott ist überall, aber da oben ist er noch ein Stück näher.“

Rubicola, der Spatz und die Spinne
Alle Fensteröffnungen meiner Wohnung sind rund, aus behauenem Naturstein, 90 m im Durchmesser. Auch vor meinem Schreibtisch, von dem aus ich auf die Isola di Garda, die Rocca di Manerba und die andere Seite des Gardasees Richtung Bardolino und Lazise blicke.
Eines Tages fällt mir ein kunstvolles Spinnennetz vor der Scheibe auf, und bald darauf stelle ich fest, dass jeden Abend in der Dämmerung eine beneidenswert fette Spinne aus ihrem Versteck kommt, um die reiche Beute zu verzehren. Sie lebt wie im Schlaraffenland, anders als die armen Artgenossinnen, die ich manchmal in einer Zimmerecke finde: Nichts als Haut und Knochen.
Gestern schreibe ich gerade eine Rubicola-Geschichte und starre mit Dichterblick geistesabwesend in die Ferne, da kommt ein Spatz geflogen und schnappt sich, eingehüllt in weiße Fäden, den Leckerbissen.
Am nächsten Morgen erzähle ich Rubicola davon. „Traurig, wie grausam die Welt ist“, sage ich.
„Traurig,“ sagt sie, „tief traurig, dass du mir nicht früher von dieser Spinne erzählt hast.“

Rubicola und die Predigt
Die Zeiten der Predigt sind vorüber, behaupte ich. Sie war angebracht und möglich, als der Pfarrer als theologischer Experte allein über Erkenntnisse verfügte, die er dem unwissenden Volk weitergab. Aber abgesehen von der Wahrheitsfrage, Einbahnkommunikation ist in jeder Hinsicht aus der Mode.
Kürzlich lade ich Rubicola ein zum Gottesdienst in der evangelischen Kirche in Gardone. Dabei rutscht es mir heraus. “Du musst aber eine Stunde lang stille sitzen.“ Da plustert sie sich auf: „Bilde dir ja nicht ein, dass ich auch nur eine Minute den Schnabel halte.“
Nun könnte man das für ein Zeichen einer heute weit verbreiteten Ungezogenheit halten. Aber ungefragt fährt sie fort: „Grob geschätzt besteht das Publikum aus zwei Gruppen: Einmal Leute, die in Haus und Beruf etwas zu sagen haben. Warum sollten die jetzt stumm zuhören? Zum andern Senioren, die tagelang schweigend zu Hause herumsitzen. Die wollen reden und nicht zuhören.“
Wie sagt doch Martin Luther so treffend? Man soll den Vögeln auf den Schnabel schauen!

Rubicola und der Frühling
Der Mai ist ein Fest für alle Sinne: Saftiges Grün, soweit das Auge reicht; Rosenbüsche übersät von leuchtenden Blüten; Lilien in Violett und Gelb; roter Mohn; blaue, weiße und gelbe Wiesenblumen. Schwalben, Lerchen, Spatzen, Zaunkönige, Eidechsen, Ameisen, Eichhörnchen, Schmetterlinge, Fledermäuse tummeln sich in ihrem Element. Amseln flöten, Wellen klatschen ans Ufer, Musik dringt aus offenen Fenstern, die Glocken der umliegenden Kirchen rufen zur Besinnung, Möwen krächzen, Bäche rauschen, Kuckucke verständigen sich über Kilometer, todessüchtige Motorradfans lassen ihre Maschinen aufheulen. Würzige Kräuter verströmen ihren herben und Akazien ihren süßlichen Duft, die Kochdünste meiner „Unter“mieterin regen den Speichelfluss an, reizende Auspuffgase der Urlauber steigen in die Nase. Sonne streichelt die bleiche Haut. Wer Augen hat zu sehen, der sieht; wer Ohren hat zu hören, der hört; wer eine Nase hat zu riechen, der riecht; wer Gefühl hat für irgendetwas, der fühlt - das Wunder des Lebens.
Ich frage Rubicola: „Was gefällt dir besonders am Frühling?“ „Die vielen fetten Käfer und Würmer“.
Jedem Tierchen sein Pläsierchen.

Rubicola und die Enkel
Vor einigen Tagen habe ich meinen ersten Enkel bekommen. Das ist nun sicher nicht mein Verdienst. Trotzdem habe ich riesig darüber gefreut, obwohl damit endgültig bestätigt wird, dass ich zur älteren Generation gehöre. Leider werde ich den kleinen Steffen wohl nicht so bald in natura sehen. Aber es gibt heute ja Digitalkameras und Internet.
Was einen freut, möchte man gern mit andern teilen. Ich stürze auf den Balkon und schreie Richtung Zypresse: „Rubicola, ich bin Großvater geworden!“ Keine Reaktion. „Freust du dich nicht auch?“
Da kriecht sie, die sonst kaum zu halten ist, zögernd hervor, Tränen scheinen in ihren Augen zu stehen. „Ach, natürlich gratuliere ich dir. Aber ich bin eher traurig. Denn bei uns verlassen ja die Kinder ihre Eltern für immer, und wir Rotkehlchen erfahren also nicht, ob und wann wir Enkel bekommen. Niemals dürfen wir die süßen Flaumknäuel in den Krallen wiegen.
Es hat Vorteile, Mensch zu sein.

Rubicola und die Verkündigung
Ob Rubicola evangelisch oder katholisch ist, konnte ich noch nicht eruieren. Im Mitgliederverzeichnis der evangelischen Gemeinde Mailand steht sie jedenfalls nicht, den Gemeindebrief liest sie auch nicht. Nun liegt es in Italien sowieso näher, dass sie katholisch ist. Allerdings fromm im traditionellen Sinn ist sie nicht, eher so in dieser Wischi-Waschi-Art: Beten kann ich auch für mich allein, dafür brauche ich die Kirche doch nicht.
Am letzten Sonntag habe ich folgendes beobachtet: Da machte sie sich zwischen 10,23 und 10,47 Uhr in ihrer Zypresse zu schaffen. Ich weiß nicht, ob sie Strümpfe stopfte oder ihre roten Federn fönte oder ihre Krallen lackierte. Aber offensichtlich war sie nicht in der Messe in S. Nicolo in Obergardone.
Das gefällt mir als Pfarrer überhaupt nicht.
Andrerseits, wenn sie in ihrem leuchtenden Kleid auf der Balkonbrüstung sitzt und aus voller Kehle ihre Botschaft in die Welt hinausschmettert, habe ich den Eindruck, dass sie das Lob Gottes überzeugender verkündigt, als der beste Pfarrer es kann.
Dann wünschte ich mir, dass, wenn ich auf der Kanzel stehe, die Gottesdientbesucher aufmerksam emporschauen und denken: Da krächzt er wieder so schön, der schwarze Vogel.

Rubicola und die Unendlichkeit
Wir endlichen Menschen haben es schwer mit der Unendlichkeit, z.B. mit Begriffen wie Nichts oder Alles. Sokrates sagt: „Ich weiß, dass ich nichts weiß.“ Sollte dieser Weise nichts gewusst haben? Wenn ein Kreter sagt: „Alle Kreter lügen“, hat er dann gelogen oder die Wahrheit gesagt?
Wenn ich in Brescia auf den Zug nach Mailand warte, zerbreche ich mir den Kopf über die Bahngleise, die dort übrigens sind wie überall: Vorn auseinander, in der Ferne immer enger zusammen. Trotzdem treffen sie sich nie, denn sonst würde der Zug entgleisen. Wenn ich nach 83 km in Milano aussteige, haben die Gleise immer noch denselben Abstand, obwohl uns in der Schule beigebracht wurde, dass Parallelen sich im Unendlichen treffen. Begreife das, wer kann!
Wir Menschen sind endlich. Unser Gewicht ist begrenzt, unsere Sehweite, unser Appetit (?), unser Lebensalter, unsere Schönheit, unser Verstand. Möchte einer von Euch unendlich reich, unendlich mächtig, unendlich alt werden?
Was das mit Rubicola zu tun hat? Das weiß ich leider auch nicht. Ich kann doch nicht alles wissen.

Rubicola und die Not in der Welt
„Rubicola,“ sage ich neulich zu Rubicola. „Rubicola, du singst unaufhörlich fröhliche Lieder. Nie höre ich dich klagen, schimpfen, toben. Bist du denn nicht auch manchmal bedrückt, traurig, genervt, schlecht gelaunt, mürrisch über tropfende Wasserhähne, störende Nachbarn, hohe Gemüsepreise, den täglichen Verkehrsstau? Bist du nicht besorgt, dass so viel gestohlen wird, dass Jugendliche Drogen nehmen, dass Millionen Menschen hungern müssen? Ärgern dich nicht Bestechungsskandale und Kaltschnäuzigkeit in der Politik, die Unzuverlässigkeit der italienischen Handwerker? Bist du nicht entsetzt über das Blutvergießen in Israel und Palästina?“
„Christoph“, antwortet Lucretia. „Christoph, was wird besser, wenn ich klage? Vögel singen in einer Welt, die krank, lieblos, ungerecht ist.“

Rubicola und der Dualismus
Es gibt eine Art des Denkens, die man Dualismus nennt. Alles wird, mehr oder weniger willkürlich, in die Schubladen Gut oder Böse eingeordnet: Gott und Teufel, Licht und Finsternis, Geist und Körper, Mann und Frau. Von Persien her sind solche Auffassungen über Platon, aber an Jesus vorbei, in die christliche Theologie und Verkündigung eingedrungen. Das Gute ist erlaubt, das Böse ist verboten. Und wer sündigt, wird bestraft, spätestens in der Hölle.
Ich frage Rubicola: „Was magst du lieber, Wein oder Wasser?“ „Was heißt hier: Oder. Ich mag beides. Ich mag Engerlinge, mit der Nachbarin quatschen, ein Nest bauen, Sonne, Rubicolus, Träumen, Tausendfüßler, Singen, Brüten, Einschlafen, Umherfliegen, Flöhe aus dem Gefieder picken, Caruso, Aufwachen, gehackte Nüsse, Eichhörnchen, Schweigen, Johann Sebastian Bach ...
Irgendwann habe ich mich davongeschlichen, denn wie ich sie kenne, schmettert sie immer noch in die Welt hinaus, was ihr alles gefällt und was sich in ihren Augen ohne weiteres vereinbaren lässt.

Rubicola und der Tod
Bei den meisten Menschen ist der Tod nicht beliebt. Sie denken nicht gern an ihn und sprechen nicht gern von ihm.
Als Pfarrer habe ich berufsmäßig häufiger damit zu tun, wenn ich Sterbende besuche oder ein Trauergespräch mit Angehörigen führe. Von einem studierten Theologen erwartet man z. B. verlässliche Aussagen, ob, wo und wie wir uns im Jenseits wiedersehen. Auch persönlich beschäftige ich mich gern (!) mit Todesvorstellungen, ob nun aus dem alten Ägypten oder dem Vogelmilieu.
Ich frage Rubicola: „Denkst du manchmal an den Tod?“ „Nein.“ „Hast du Angst davor?“ „Nein.“ „Bereitest du dich irgendwie darauf vor?“ „Nein.“ „Freust du dich vielleicht sogar darauf?“ „Nein.“ „Willst du jetzt nicht darüber sprechen?“ „Nein.“ „Später einmal?“ „Nein.“ „Möchtest du wissen, was ich darüber denke?“ „Nein.“
Psychologisch aufschlussreich, aber im ganzen recht mager.

Rubicola und ihre Identität
Rotkehlchen sind Zugvögel, das wusste ich.
Neulich sitze ich auf dem Balkon und schaue dem Treiben des Rotkehlchens in der Zypresse zu. Dabei scheint mir, dass seine Schwanzfedern länger als üblich und die Brustfedern mehr orangefarben aussehen. Ich frage: „Warst du auf einer Schönheitsfarm, Lucretia?“
Ein schallendes Lachen. Es tut weh, wie immer, wenn man ausgelacht wird. „Ich bin doch Siciliana! Weißt du nicht, dass Rotkehlchen im Frühling Nestertausch machen. Ich komme aus Palermo, Via Pettirosso nach Gardone. Lucretia fliegt nach Den Haag-Vogelwijk, Roodborstjelaan und Beatricia von dort nach Stockholm-Hässelby, Friherregatan. Im Herbst geht´s zurück. Rubicola hat mir gleich gesagt: Dieser evangelische Pfarrer aus dem Norden ist ganz ja nett, und dumm ist er auch nicht, aber er schwebt oft in höheren Sphären. Ehe er kapiert, was los ist, können Wochen vergehen. - Auf gute Nachbarschaft!“
Es ist wahr: Man sieht oft nicht, was ist, sondern was man sehen will.

Rubicola und die Erziehung
Menschen (Kleinkinder, Schüler, Gemeindeglieder, Verkehrsteilnehmer, Leser, sich selbst) zu erziehen ist fast ein Ding der Unmöglichkeit. Man wandelt auf einem scharfen Grat zwischen Strenge und Nachgiebigkeit, Anforderung und Hilfe, Prinzipientreue und Intuition. Oft steht man dann vor dem Scherbenhaufen dessen, was doch so gut gemeint war. Aber auf Erziehung zu verzichten, kann ja wohl auch nicht die ultima ratio sein.
„Wie erziehst du eigentlich deinen Nachwuchs?“ frage ich Rubicola? „Eher zu den alten Tugenden Ehrlichkeit, Sparsamkeit, Pünktlichkeit, Fleiß? Oder Durchsetzungsvermögen, Effektivität, Karriere, Mobilität? Nach Fröbel, Montessori, Rudolf Steiner oder dem letzten Lehrplan für Hauptschulen in Nordrhein-Westfalen?“
„Ich versuche, auch den seltsamsten Kauz in seiner Besonderheit zu erkennen und zu respektieren und gleichzeitig mit gutem Vorbild voranzugehen.“
So einfach ist das.

Rubicola und die Wahrheit
Neulich frage ich Rubicola: „Was ist Wahrheit?“ Sie aus ihrer Zypresse, von oben herab: „Kannste vergessen.“
Nun finde ich 1.) solche dummen Floskeln der Würde und Bedeutung dieses Menschheitsthemas völlig unangemessen, und 2.) irritiert es mich, wenn ein Gespräch anders verläuft, als ich es vorher gedacht habe.
Mein Ton erhöht sich um einige Dezibel. „Wahrheit“! Rubicola: „Ich habe eben die leckerste Raupe meines Lebens schnabuliert und werde gleich ein Verdauungsschläfchen halten.“
Da wird doch der Mops in der Pfanne verrückt! Ich fühle mich irgendwie verhohnepiepelt. Ich schreie: „Wahrheit !!! Du nimmst mich offensichtlich nicht ernst. Ich quäle mich mit existenziellen Fragen herum, und du denkst nur an Fressen und Schlafen.“
„Siehste,“ sagt sie, „das ist die Wahrheit.“

Rubicola und die Antworten
„Welche Normen und Werte gelten eigentlich in der Rotkehlchengesellschaft?“, frage ich neulich meine Nachbarin. Wir fangen oft ganz alltäglich und harmlos an, und dann macht das Gespräch einen qualitativen Sprung, - nach oben selbstverständlich.
Sie schaut eine Weile nachdenklich nach innen und die Ferne. Ich bin froh, wenn jemand sich Zeit nimmt für seine Antwort. Ich kann es nicht leiden, wenn jemand eine Antwort gibt, bevor die Frage gestellt ist. Aber erst recht hasse ich es, wenn einer unaufhörlich Antworten hervorsprudelt auf Fragen, die keiner gestellt hat. Ich finde, das deutet auf einen unstillbaren Wunsch nach Selbstbestätigung, ja schlicht auf Unhöflichkeit und erzeugt pure Langeweile.
Ich warte also auf die Antwort. Da höre ich ganz leise die Melodie „Wenn ich ein Vöglein wär“. Rubicola greift in ihr Federkleid und holt etwas Grünweißrotgestreiftes heraus, anscheinend ein Vogelhandy, und indem sie mir Tschüss zuzwitschert (Zungenbrecher!), verschwindet sie.
Mein Schrei: „Welche Normen gelten ...?“ verhallt unbeantwortet in der Gardaseelandschaft.

Rubicola und die Pisastudie
Ihr kennt die Pisastudie nicht? Ihr Glücklichen! In mir, der ich Lehrer an höheren Schulen war, haben sich Empörung, Ratlosigkeit, Trauer, Unglauben, Scham und Triumph (früher war doch alles besser!) zusammengeballt, als ich von dieser gesamteuropäischen Untersuchung erfuhr. Danach marschieren die deutschen Schüler heute ganz am Schluss, wenn es um Wissen und Bildung geht, die Finnen voran.
Welche Schulbildung Rubicola genossen, was sie studiert, ob sie gar promoviert hat, weiß ich nicht. Ich habe auch nie danach gefragt. Man will ja nicht in ein Fettnäpfchen treten. Ich blicke auch auf keinen herab, der eine andere Bildung hat als ich. Im Gegenteil. Ich halte z. B. die Müllmänner für eine der wichtigsten Gruppen der werktätigen Bevölkerung, und ich kenne studierte Leute, die trotzdem so ignorant und arrogant sind, dass mir die Galle hoch kommt..
Wisst Ihr übrigens, wann Rom gegründet wurde? Die chemische Formel des Wassers? Wie viel 8 x 9 ist? Den Unterschied zwischen einem Rotkehlchen und einer Möwe?
Na also!

Rubicola und meine Geschichten über sie
Gestern zeige ich Rubicola zum ersten Mal eine meiner Geschichten über sie. Ja, ich gestehe, reichlich spät. Aber reibt bitte nicht noch Pfeffer in meine offenen Wunden! Ich weiß, es gehört sich nicht, so intim aus dem Nähkästchen zu plaudern, ohne um Erlaubnis zu fragen. Ich bin nachträglich auch zutiefst zerknirscht. Dazu kommt noch, dass ich gegen meine obligatorische Amtsverschwiegenheit verstoßen habe.
Sie liest sich die Zeilen kommentarlos durch und sagt: So etwas schreibst du über mich?
Ich vergesse nie ihren Blick, diese Mischung aus Schmerz, Empörung, Verwunderung, Spott. Ich schrumpfe immer weiter zusammen und fange an, eine Entschuldigung zu stottern. Darauf sie apodiktisch: Du spinnst.
Spricht man so unter Freunden?

Rubicola und die Seelenwanderung
Leben wir eigentlich immer noch oder schon wieder in der Ära des „New Age“? Irgendetwas Neues gibt es ja mindestens täglich, sicher auch manchmal wichtiges darunter, so wichtig, dass man ein neues Zeitalter ausrufen könnte. Ist der Aquarius, der Wassermann schon wieder irgendwo im Universum verschwunden? Heute wechseln ja die Moden so schnell, dass selbst die Modemacher nicht mehr mitkommen.
Aber Ihr erinnert Euch vielleicht noch an diese wilde Mischung aus Astrologie, Indianerweisheit, Druiden, Buddha, Hexen, Schamanen, Esoterik, Tarock, Spiritismus, Satanismus und wie die –ismusse sonst noch heißen. Manche haben auch die feministische Theologie dazugerechnet. Aber das sollte man nicht tun, finde ich.
Zu diesem bunten Salat wurde auch die Seelenwanderung gerechnet, eine Lehre, die aus dem Osten kam. Ich spüre schon, auch Eure Augen fangen dabei zu leuchten an, so wie dem Pawlowschen Hund der Speichel im Maul zusammenläuft, wenn eine bestimmte Glocke läutet. Ex oriente lux. Orientalische Spiritualität, faszinierend! Neben Platon war es vor allem Pythagoras, der diese Idee verbreitete und popularisierte. Er soll ja Vegetarier gewesen sein, weil er um keinen Preis Fleisch von einem Tier essen wollte, in das womöglich seine Großmutter geschlüpft war.
Während ich das schreibe, denke ich an Rubicola, das Rotkehlchen. Was oder wer steckt wohl in ihr? Lucrecia Borgia, die Unmoralische, nachdem sie sich auf der Stufenleiter der Werte etwas emporgearbeitet hat? Eine biedere Bäuerin des 18. Jahrhunderts aus einem kargen Seitental des Gardasees? Kaiserin Auguste Viktoria, die Gönnerin des evangelischen Kirchleins in Gardone, die dann, so muss man wohl urteilen, deutlich abgesunken wäre.
Man wird ja mal spekulieren dürfen.

Rubicola und das Stopping
Neulich frage ich Rubicola: Wie hältst du dich eigentlich fit? Wie vermeidest du Stress und Ausgebranntsein? Machst du Frühgymnastik oder Yoga oder Atemübungen? Schluckst du Multivitamintabletten unter Einschluss von Mineralien? Hörst du klassische Musik? Bewirtschaftest du einen Schrebergarten?
Sie: Stopping. Ich: ??? Sie: Verstehst du kein Englisch? In-ne-hal-ten, nichts tun, faulenzen. Eine neue Psychotechnik aus Amerika. Ich: Und das funktioniert? Sie: Herumsitzen, aus dem Fenster starren, im Schnabel bohren, Däumchen drehen, an einem Strohhalm nuckeln, auf einem Bein stehen, bis das Wasser kocht, der Computer hochfährt, Lucretius seine Zigarette vor der Tür zu Ende geraucht hat oder die Waschmaschine ausläuft. Einfach einmal den Alltag unterbrechen, bloß für einen Moment. Ich: Diese uralten Kamellen sollen helfen? Sie: Ausprobieren!

Rubicola und die Psychoanalyse
Ich selbst habe mich früher gern mit Siegmund Freud beschäftigt. Unglaublich, was der alles durch Traumanalyse und Hypnose herausgefunden hat. Am eindrucksvollsten finde ich immer noch den Ödipuskomplex und wie er den griechischen Mythos mit unserer Kindheit verbunden hat. Oralphase, Analphase, Genitalphase, - einfach wunderbar, wie genial er das alles durchschaute. Und warum rauchen manche Menschen 50 Zigaretten am Tag und mehr? Weil sie an der Mutterbrust zu kurz gekommen sind. Rauchen und auch Kaugummi befriedigen die Libido. Darauf muss man doch erst einmal kommen.
Die Frage, ob Rubicola je beim Psychiater war oder gar auf der Couch lag, kann ich leider nicht beantworten. Sie scheint nicht an Schlaflosigkeit oder Höhenangst zu leiden, sieht nicht anorektisch unterernährt aus, kaut nicht an ihren Krallenspitzen. War sie nie krank, oder ist sie wieder gesund, oder fliegt sie zwischendurch doch einmal in die Praxis eines Seelenklempners?
Und ich? Entschuldigung, das geht Euch nun wirklich nichts an! Aber offen gestanden, ich denke darüber nach. In letzter Zeit sagt man mir immer häufiger, dass ich einen Vogel hätte.

Rubicola und die Perspektive
Es kommt auf die Perspektive an. Diese uralte künstlerische Einsicht lässt sich leicht nachvollziehen, wenn man etwa van Gogh mit Picasso vergleicht oder Praxiteles mit Modigliani.
Es hängt vom Standpunkt ab, was man sieht und wie man es darstellt. Im Tunnel sieht man nicht viel, auf dem Pass mehr. Die Hintertupfinger halten ihr Rathaus für den Nabel der Welt; Astronauten, die die Erde umkreisen, wissen vielleicht gar nicht, wo Hintertupfing liegt. Wenn Lucretia einen Wurm sieht, zwitschert sie „Oh“ = Entzücken. Wenn eine Frau denselben Wurm sieht, kreischt sie „Ih“ = Ekel. Lucretia würde wahrscheinlich ungern in meinem Bett übernachten, ich wiederum nicht gern in ihrem Nest.
Es kommt auf die Perspektive an.
Nützlich ist es deshalb, Dinge, Menschen und Probleme aus verschiedenen Perspektiven zu betrachten. Plötzlich ergibt sich eine Lösung, wo vorher nur ein unübersteigbarer Berg von Problemen war. Eine Hausfrau sieht dann mehr als ein Professor, das Kind mehr als ein Experte.
Auch die Vogelperspektive kann hilfreich sein.

Rubicola, Johanna, Lesbia und Julia
Johanna, eine meiner jüngsten von meinen 3 Leser(inn)en, machte darauf aufmerksam, dass hier am Gardasee (Sirmione, Pflichtbesuch für jeden Reisenden) schon einmal ein weltberühmter Dichter gelebt hat, Catull, der auch einen Vogel hatte. Genauer gesagt, seine Geliebte Lesbia hatte einen Spatzen, auf den der verliebte Catull so eifersüchtig war, dass er ihn am liebsten massakriert hätte.
Johanna, ein schlummerndes Dichtertalent, fasst dies dramatische Geschehen „lyrisch und respektlos“ folgendermaßen zusammen:
Der Spatz war tot /sein Blut war rot / nie werd ich vergessen: / wir haben ihn gegessen. / sehr war sie besessen / von seinem Gesang / - welch himmlischer Klang. / doch aus und vorbei / ist jenes Geschrei. / das Messer, an dem er verreckt, / noch in seinem Bauche steckt. / Lesbia, verzeih mein Tun, /doch konnte ich nicht länger ruhn / ohn’ dich zu gewinnen / von außen und innen. / nun bist du mein / nur das Grab ist sein.
Rubicolas Kommentar: Wen wundert´s in diesem Land des Wahnsinns? Du weißt doch, nicht weit von hier, in Verona, Romeo und Julia!

Rubicola und der Gardasee
Die Umgebung des Gardasees ist eine in vielfacher Hinsicht, aber vor allem eine geschichtsträchtige Landschaft. Auf der Isola di Garda, auf die ich jetzt in diesem Moment mit einem Auge blicke (das andere brauche ich für die Tasten), gründete Franz von Assisi 1220 ein Kloster. 1430 wird eine Flotte mit fünf Galeeren und über 20 weiteren Booten von den Venezianern und 2000 Ochsen die Etsch hinauf über den San Giovanni-Pass nach Torbole gezogen. In Salò wird 1540 Gasparo Bertolotti geboren, der als Erfinder der Violine gilt. In Malcesine wird Goethe 1796 für einen österreichischen Spion gehalten, als er eine Zeichnung der Burg anfertigt. Nur dank seiner italienischen Sprachkenntnisse und seines diplomatischen Geschicks entgeht er der Verhaftung. 1921 bezieht der Dichter Gabriele d´Annunzio sein Anwesen Gargnacco in Gardone, woraus später das Vittoriale degli Italiani wird. 2002 wohnt nicht weit davon entfernt der deutsche Pfarrer Christoph Hartlieb.
Ich habe Rubicola gefragt: „Bist du nicht stolz auf diese glanzvolle Geschichte?“ „Ach“, sagte sie und schwieg längere Zeit, um dann fortzufahren: „ Stolz? ... , aber es stimmt: Von Ausländern kann man viel dazu lernen.“

Rubicola und Alexander der Große
Ich hoffe, Ihr seid zufrieden mit der Welt und mit Euch selbst. Ich selbst kann nicht klagen, und auch wenn ich es könnte, täte ich es wahrscheinlich nicht.
Aber manchmal bedauere ich, mehr noch, da ist ein Schmerz ganz tief innen, dass ich nur ich bin, dass ich nicht aus meiner Haut heraus und über meinen Schatten springen kann.
Dann wäre ich gern Alexander, der eine unbekannte Welt eroberte, oder Diogenes, der in seiner Tonne meditierte. Dann wäre ich gern eine Möwe, ein Delphin, ein Zitronenfalter, eine Rose, eine Säule des Parthenontempels, ein Bulldozer.
Tatsächlich bilde ich mir ein, ich könnte von allen etwas sein, wenn ich nur will, wenn ich nur ..., wenn ... . Doch ich stoße überall auf Grenzen: Ort, Zeit, Gene, Gewohnheiten, Vorurteile, Fluchtmechanismen, Zweifel.
Fühlt Rubicola sich innerlich irgendwie gespalten? An sich steht sie mit ihren dünnen Stöckelbeinen fest auf den schwankenden Zweigen ihrer Zypresse.
Aber zwischendurch - fliegt sie

Impressum

Texte: Christoph Hartlieb
Tag der Veröffentlichung: 14.05.2012

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