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Ein Abend

Es war dunkel geworden, als Helena endlich die Tür hinter sich ins Schloss fallen lies. Sie mied den Blick auf die Uhr, es würde doch nichts ändern. Sicherlich war es weit nach Mitternacht. Einzig ein paar übereifrige Personen, die Nase noch Rot vom letzten Trink, waren ihr auf der Straße begegnet.
Ein Seufzen entkam ihr, als sie sich auf das poröse Leder ihrer alten Couch fallen lies. Ein kleines Knarren erklang, als könnte Möbelstück ihr Gewicht kaum noch tragen. „Ja mein Freund, ich weiss was du meinst…“, unterbrach ihre Stimme, die ihr selbst so fremde klang, die Stille. Warum sie mit ihrer Couch sprach? Sie wusste es selber nicht. Vielleicht, weil sie es leid war zu schweigen. Dabei sprach sie jeden Tag. Stunde um Stunde saß sie in ihrem kleinen, abgetrennten Bereich, neben Namenlosen Gesichtern in einem viel zu Stickigem Raum, der einem die Luft zum Atmen nahm. „Schön guten Tag. Sie sprechen mit Miss Brown, was kann ich für Sie tun?“ Jeden Tag die gleiche Leier, mit einem fremden Akzent, den sie sich nur mit Mühe und Not angeeignet hatte. Natürlich war sie keine echte Engländerin, aber es wirkte authentischer. Niemand wollte zum Italiener gehen und von einem Chinesen bedient werden. Im Grunde war es bei ihnen genau das gleiche, nur das sie kein Essen verteilten, sondern Produkte aus Amerika. Natürlich nur das neuste vom neusten. Jeden Tag kamen neue Hightech-Varianten von den alltäglichsten Dingen bei ihnen an. Dabei wusste sie von dem meisten selbst nicht einmal, ob die Errungenschaften wirklich nötig waren.

Helena öffnete das Fenster, steckte den Kopf weit hinaus und schnappte nach Luft, als müsste sie noch immer in diesem kleinen Verlies hocken, wie sie es heimlich getauft hatte. Ein Verließ, genau das war es. Fensterlos, mit flackerndem Gesicht und jeden Tag neuen Folterungen. Sie fühlte sich wie ein Vogel, eingesperrt in einem Käfig, dem sie nicht entkommen konnte. Der fette Kater saß schon davor, lauerte auf seine Chance das sie einen Fehler machte und sie kündigen konnte.
Erneut entkam ihr ein Seufzen als sie ihren Weg in die sichere Küche antrat. Den Kopf in den Kühlschrank gesteckt, schloss sie sofort geblendet die Augen. Die wenigen Sekunden, indem sie in das Innere gesehen hatte,  hatten gereicht um ihr eins bewusst zu machen: Leere. Es war gähnende Leer die sie empfangen hatte. In der Wohnung, als sie die Tür aufgeschlossen hatte und erst recht in ihrem Kühlschrank, den sie seit Wochen nicht mehr fühlte. Einzig ein kleines Stück Käse, dass sie nur noch anhand der Beschriftung erkennen konnte, schien ihr Gesellschaft leisten zu wollen. „Dich hat wohl auch jemand vergessen…“, murmelte sie leise zu dem pelzigen etwas, nachdem sie es in die Hand genommen hatte. Vielleicht sollte sie sich einen Hund besorgen, oder einen kleinen Hamster. Irgendwas das ihr sagte: „Ich warte auf dich, komm Heim!“ Einen Moment starrte sie den Käse ausdruckslos an, stellte sich vor es wäre etwas anderes, ging verschiedene Möglichkeiten hinterher, bevor sie es einfach aus dem Fenster warf. Ein Quietschen erklang und für einen Moment war sie wirklich versucht hinter her zu springen, aber so schnell wie der Gedanke kam, war er auch schon wieder verschwunden. Ihre Mutter würde ihr eigenhändig den Hals umdrehen, wenn sie davon wissen würde. „Kind..“, würde sie schockiert anfangen und sich herzergreifend an die Brust fassen, als hätte sie einen Anfall, „…was hast du nur für Gedanken?! Das gehört sich für eine Dame nicht!“
Sie war keine Dame. Das wusste vermutlich jeder, aber solange sie die Menschen um sich herum dadurch glücklich machen konnte, würde sie es auch weiterhin vorgeben etwas zu sein, dass sie nicht war. Nur um einmal angelächelt zu werden und vielleicht zu hören: „Gut gemacht, Helena!“ So lange würde sie Lächeln und ihr Tränen verbergen, damit niemand sah wie sie wirklich war. Damit ihre Mutter stolz auf sie sein konnte und ihr Chef denken konnte, sie gab gerne vor, jemand vollkommen fremdes zu sein.

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Tag der Veröffentlichung: 18.03.2014

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