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Kapitel 21


Schmunzelnd lag ich auf der Couch und starrte an die Decke. Vor etwa einem Jahr hatten wir unser Vorsingen bei Universal. Ein Jahr in dem nicht wirklich viel passiert ist. Fast 7 Monate hatte es gedauert, bis endlich alle mit unserem Debütalbum zufrieden waren; morgen würde es in die Läden kommen. Natürlich hatte man mächtig die Werbetrommel geschlagen. Fernsehauftritt hier, Zeitungsinterview dort. Unser erstes Video war auch schon abgedreht und lief nun auf den hiesigen Musiksendern rauf und runter. Ob unsere erste Single Erfolg hat, würde sich morgen zeigen, wenn die offiziellen Charts bekannt gegeben wurden.
Bald nach dem Gespräch haben wir uns auf die Suche nach einer freien Wohnung gemacht um eine WG zu gründen. Jetzt wohnten wir in einer guten Wohnung mitten in Berlin. Wir, das waren die Band, also Ina, Simone, Daniel, Christian und ich, sowie Anna und Tim, die uns überall hin begleiteten. Ich bin heute noch froh, dass sich die Beiden bereit erklärt hatten mitzukommen, denn sie waren mir eine große Stütze.
Man könnte meinen ich sei ein ganz normales Mitglied in einer Band die nun kurz vor ihrem Durchbruch stand – wenn da nicht meine Aufgabe war. Inzwischen hatte sich wieder so etwas wie Normalität in der Welt der Todesengel breit gemacht. Der Engelmörder, wie er nun genannt wird, hatte nicht mehr zu geschlagen. Und doch war die Angst nicht gewichen, denn jeder wusste, dass er immer noch da draußen war und niemand konnte garantieren, dass er nicht irgendwann wieder auf die Idee kommen würde, Engel des Todes zu jagen.
Das Misstrauen unter den Engeln grassierte immer noch wie eine aggressive Seuche. Während Damon und ich wieder gut mit einander auskamen, schafften es die anderen Engel nicht mehr über ihre Schatten zu springen. Man ging sich aus dem Weg; wollte so wenig wie möglich mit anderen Engeln zu tun haben.
Bei Gemeinschaftsaktionen, wie damals nach dem Zugunglück, herrschte eisernes Schweigen.
Ich wusste, dass das nicht ewig so weitergehen konnte, doch ich hatte keine Ahnung, was man dagegen unternehmen konnte. Nächtelang haben Anna, Damon und ich darüber diskutiert, doch wir sind nie zu einem Schluss gekommen.
Der einzige Weg wäre, den Mörder endlich zu stellen, doch das stellte sich als ziemlich schwierig heraus. Wie sollte man einen Mörder finden, der keine Spuren hinterlässt?
Ich hasste dieses Gefühl der Ohnmacht. Zu warten, bis der nächste stirbt, ohne dagegen etwas tun zu können. Jedes Mal wenn Anna einen Auftrag bekam, fing bei mir das Zittern an. Was sollte ich tun, wenn sie nicht mehr zurück kam?
Fragen über Fragen geisterten in meinen Kopf herum und ließen mir nicht einen Moment der Stille.



Heute war es endlich soweit. Der Tag der Entscheidung. Nervös saßen wir in unserem Wohnzimmer und warteten auf den Anruf unseres Managers. Hatten wir es geschafft?
Anna war noch immer nicht von ihrem Auftrag zurückgekommen, was meine Nervosität ins unermesslichste steigerte. Ich wusste, dass sie noch lebte, aber warum lies sie sich so viel Zeit? Endlich, als das Telefon klingelte, konnte ich spüren, wie Anna vor der Haustüre erschien. Im nächsten Moment schloss sie die Tür auf und kam herein. Christian nahm währenddessen den Hörer ab und schaltete auf Lautsprecher.
„Guten Tag?“
„Christian? Ihr habt es geschafft! Eure Single ist direkt an die spitze der Charts gestiegen! Herzlichen Glückwunsch.“
Es dauerte eine Weile bis wir registrierten, was er da gerade gesagt hatte. An die Spitze? Direkt auf die Eins?
„Passt auf wenn Ihr feiert. Ihr seid jetzt berühmt und es könnte passieren, dass Ihr von Paparazzi verfolgt werdet.“ Dann legte er auf.
Wir sahen uns eine Weile sprachlos an. Dann brachen wir in hellen Jubel aus. Wie sooft im letzten Jahr gab es wieder etwas zu feiern.
Ich ging zusammen mit Anna in unser Schlafzimmer um unsere Sachen zu holen. Ich schnappte mir Schlüssel und Geldbeutel und gab ihr anschließend einen Kuss.
Wir wollten gerade zur Türe gehen als ich es spürte. Ich blieb wie angewurzelt stehen und wirbelte dann zu Anna herum, die es ebenfalls zu spüren schien.
Ein unglaublicher Druck legte sich auf unsere Geister. Entsetzt fing ich an zu schreien, genau wie Anna.
Wir brachen im selben Moment zusammen und wälzten uns am Boden, während der Druck immer stärker wurde. Dann kamen wieder die Bilder. Andere Engel, die denselben Schmerz fühlten. Damon, der sich an einem Schaufenster stützte und versuchte seine Schmerzen zu unterdrücken um nicht mitten auf der Straße wie ein verrückter los zu schreien.
Ich wusste was kommen würde und kämpfte deshalb so gut es ging dagegen an, doch es nützte nichts. Der Druck wurde immer noch stetig stärker. Dann war es da. Das Bild. Ein junger Engel, der noch nicht allzu lange im Dienst war. Ein schmerzverzerrtes Gesicht und weit aufgerissene, anklagende Augen. Er lag in der Zwischenebene, doch er würde sich sehr bald auflösen. Sein Verschwinden würde sich zu den vielen ungelösten Fällen gesellen.
Endlich ließ der Schmerz nach und ich konnte wieder klarer denken. Neben mir setzte sich Anna auf und wischte sich die Tränen ab.
„Er war ein so sympathischer Engel. Wir haben oft zusammen einen Kaffee getrunken. Er war ein guter Freund.“
Ich wusste, dass er ihr Schützling gewesen ist. Und nun war er tot. Der Engelmörder hatte sich wieder gezeigt – auf brutale Art und Weiße.
Die Türe wurde aufgerissen und Tim kam hinein gestürmt – gefolgt von den anderen.
„Was ist passiert?“
Verzweifelt dachte ich nach. Was sollten wir jetzt tun?
„Ich... ich bin ziemlich unglücklich gestürzt. Das hat kurz ganz schön wehgetan. Aber jetzt geht es mir besser.“
Dankbar sah ich zu Anna. Sie hatte im richtigen Moment instinktiv gehandelt und es glaubhaft herübergebracht.



Der Tod des Engels löste eine noch größere Welle der Angst aus, als je zuvor. Jeder wusste jetzt, dass der Mörder noch immer aktiv war – und dass er weiter morden würde. Der erste Engel hatte bereits seinen Dienst quittiert – und wurde mit dem endgültigen Tod belohnt, da er ihn nicht vollkommen abgeleistet hatte.
Die Atmosphäre wurde mit jedem Tag kühler. Lediglich Anna, Damon und Ich schienen noch gut miteinander auszukommen.
Die anderen aus der Band merkten natürlich sofort, dass etwas nicht stimmte. Doch sie konnten uns nicht helfen. Sie waren einfach keine Todesengel – sie durften von unserer Existenz nichts wissen.
Das einzige Heilmittel gegen die Angst, die auch mich wieder eingeholt hatte, war die Musik. Wenn ich auf der Bühne stand vergaß ich einfach alles um mich herum.
Es war seltsam zum Einkaufen vor die Türe zu gehen und auf einmal von Jedermann erkannt zu werden. Inzwischen trug ich selbst bei dem schlechtesten Wetter eine Sonnenbrille, damit man mich nicht erkannte. Die Musik hatte mein Leben grundsätzlich verändert. Zwar nicht so sehr wie mein zweites „Hobby“, aber dennoch beachtlich. Meine Gedanken schweiften erneut ab. Der Versuch, meine Gefühlslage zu erfassen scheiterte kläglich. Da fiel mir ein Rat ein, den mir mein Vater einmal gegeben hatte.
Er hat damals gesagt: „Wenn Du nicht mehr weiter weißt, wenn Du irgendwelche Sorgen hast, dann versuche sie aufzuschreiben. Schreibe auf was Dir auf dem Herzen liegt. Glaube mir, danach wirst Du Dich besser fühlen.“
Also schnappte ich mir Stift und Papier um seinen Rat zu befolgen.


Ist es Verzweiflung, ist es Angst?
Ich weiß es nicht.
Sind es die Sorgen, der Frust?
Ich weiß es nicht.

Ich gehe abends mit einen miesen Gefühl schlafen
Und stehe morgens mit selbigem wieder auf
Ich weiß nicht mehr weiter,
weiß nicht was ich tun soll.

Soll ich es verdrängen, es vergessen?
Oder soll ich es zulassen?
Die Leute sagen: „Hör auf Dein Herz!“
Und wenn das Herz schweigt?

Ich sitze hier und versuche zu schreiben,
versuche mir über meiner Gefühle Herr zu werden,
Ich begreife nicht,
Vollkommende Dunkelheit; Mitternacht

Doch halt; dort ist was
Dieses Gefühl, das kann ich bei Namen nennen,
es ist stark, sehr stark.
Die Nacht; nicht länger kalt.

Liebe, Freundschaft und Zuneigung
Sie legen sich wie eine Wolldecke über mein frierend‘ Leib
Ein lächeln, ein wohliges Schaudern.
Ich weiß nun, sie werden mir helfen.

Auch wenn die Angst, die Sorge, die Verzweiflung und der Frust
Noch da sind,
werden sie sekundär.
Sie helfen mir; ich bin zuversichtlich
Danke Dad!




Kapitel 22



Der Himmel trauerte. Prasselnder Regen trommelte auf den unscheinbaren, verwitterten Weg. Es war wie Nacht. Vollkommen Dunkel. Ich ging an den Gräbern vorbei; doch meine Augen ruhten auf den beiden Särgen vor mir, die von jeweils vier Männern getragen wurden.
Mehrere Dutzend schwarzgekleidete Menschen mit gesenkten Häuptern folgten mir. Einzelne Schluchzer entrangen sich ihren Kehlen. Direkt neben mir ging Anna, die sanft meine Hand hielt. Heute vermochte nicht einmal ihre Nähe mein Herz zu erwärmen.
Endlich blieben wir stehen. Nachdem die Särge über dem Grab positioniert waren, trat der Pfarrer vor und sah über die Menge hinweg. Dann begann er zu reden.
So sehr ich es auch versuchte; es gelang mir einfach nicht ihm zu zuhören. Immer wieder schweiften meine Gedanken zu den beiden Personen ab, die dort in den Särgen lagen.
Mir ist nie klar gewesen, wie wichtig sie mir gewesen sind. Wie sehr ich meine Eltern geliebt habe. Jetzt waren sie tot.
Ob der Engel gewusst hatte, wer sie waren? Das sie meine Eltern gewesen sind? Zum ersten Mal wurde mir klar, was die Engel wirklich taten. Sie rissen Familien und Freunde auseinander. Ich konnte nachvollziehen warum der Engelmörder solch einen Zorn gegen die Todesengel hegte; auch ich konnte ihn nicht ganz unterdrücken. Doch ich wusste, dass der Engel nichts dafür konnte. Er befolgte nur seine Befehle; es war notwendig die hüllenlosen Seelen durch das Licht zu schicken, denn sonst würden sie ewig in den trostlosen Weiten der Zwischenebene herumirren; ohne Erlösung.
Der Pfarrer hatte zu Ende gesprochen. Heiße Tränen schossen mir in die Augen, als die beiden Särge herabgelassen wurden. Ein Gefühl des Verlustes machte sich breit und verdrängte alle anderen. Erst Flo, dann meine Eltern. Wären sie auch gestorben, wenn ich nie ein Engel geworden wäre? Oder würde ich jetzt mit ihnen im Jenseits sitzen?
Fragen über Fragen. Erneut schweiften meine Gedanken ab.




Zwei Nächte zuvor ist es passiert. Damon und ich hatten uns im Wohnzimmer unterhalten, als alle anderen schon schlafen gegangen sind. Wir hatten uns, wie sooft, überlegt, was man gegen die Angst machen konnte. Im Grunde war es gar keine richtige Unterhaltung, da wir uns nur schweigend gegenüber gesessen sind. Jeder mit seinen eigenen Überlegungen beschäftigt.
Plötzlich hatten uns Geräusche aus Tims Schlafzimmer aufgeschreckt. Damon war daraufhin ohne ein Wort verschwunden.
Tim lugte kurz zu mir ins Wohnzimmer, bevor er weiter in die Küche ging um sich ein Glas Wasser zu holen.
Gerade als ich hörte, wie er den Kühlschrank öffnete, klingelte das Telefon. Verwirrt nahm ich ab. „Ja Hallo?“
Insgeheim fragte ich mich, wer um 2 Uhr Morgens noch anrufen würde.
„Spreche ich da mit Leon Winter?“, fragte eine barsche, männliche Stimme.
Tim hatte sich in der Zwischenzeit neugierig vor mich hingesetzt.
„Ja genau, der bin ich.“
„Es tut mir Leid Ihnen mitteilen zu müssen, dass Ihre Eltern Gisela und Horst Winter am späten Abend bei einem Autounfall auf der B10 ums Leben gekommen sind.“
Plötzlich war mein Kopf wie leergefegt. Ich wusste nicht was ich sagen sollte; wusste nicht wie ich reagieren sollte. Die Beerdigung würde am Sonntag stattfinden, erklärte man mir.
Ich sagte nur noch „Ja.“ Dann legte ich auf.
Tim sah mich besorgt an. Ich konnte nicht reden; wollte nicht reden. Er schien zu verstehen was ich fühlte, denn er sagte ebenfalls nichts. Schließlich stand er auf und nahm mich in den Arm.



Ich stand noch lange Zeit vor dem Grab. Meinen Regenschirm hatte ich schon lange zugemacht. Ich wollte den kalten Regen auf meinem Haupt spüren. Heiße Tränen quollen aus meinen Augen. Meine Klamotten waren vollkommen durchweicht und meine Haare hingen mir in Strähnen herab. Ich zitterte am ganzen Leib, doch ich konnte nicht sagen, ob es von der Kälte, dem Regen kam oder ob es der Anblick des Grabes war. Die Trauergesellschaft hatte sich vollkommen aufgelöst. Lediglich Tim, Anna und Damon standen noch hinter mir und warteten.
Ein dunkelgekleideter Mann ging auf das Grab zu und begann es zuzuschaufeln. Mit jeder Ladung Erde verschwand etwas mehr vom hellen Holz, bis es schließlich verschwand.
Ich sah auf den Grabstein:

Hier ruhen
Gisela und Horst Winter
Mögen sie sich im Paradies wohlfühlen



„Lebt wohl, Ihr Beiden. Ich freue mich schon auf unser Widersehen. Grüßt bitte Flo von mir. Danke, dass Ihr meine Eltern seid.“
Anna packte mich am Arm und zog mich sanft vom Grab weg, auf den Ausgang des Friedhofs zu. Hinter uns gingen Damon und Tim, die Blicke besorgt auf mich gerichtet.




Es dauerte lange bis ich mich endlich wieder mit meiner Band auf die Bühne wagte. In der Presse sprach man bereits von Ausstieg und dem Ende von „Don’t be Silence“, doch ich dachte gar nicht daran aufzuhören. Ich wusste, dass meine Eltern das nicht gewollt hätten. Außerdem brachte ich es nicht übers Herz die Band im Stich zu lassen; zumal die Musik das stärkste Heilmittel war, das ich besaß.
Ich war froh, dass die vier soviel Verständnis hatten und mich nicht drängten. Ganz im Gegenteil zu meiner anderen Aufgabe. Das Schicksal nahm keine Rücksicht. Einen Tag nach der Beerdigung meiner Eltern war wieder ein Auftrag erschienen. Hinterher hat es mir ziemlich Leid getan für die Seele, die ich geerntet habe, da ich nicht ganz bei der Sache gewesen bin. Tatsächlich bestand unser Gespräch lediglich aus den Worten: „Du bist Tot, deshalb musst Du durch das Tor schreiten.“ Dann hatte ich ihn auch schon hindurch geschubst und das Tor wieder geschlossen.
Ich weiß nicht wie, aber irgendwie schaffte ich es, die Balance zu halten. Anders als nach dem Tod von Flo und Gabriel verspürte ich keine Verzweiflung oder Einsamkeit. Es gelang mir schnell mich wieder einzuleben. Bereits nach einer Woche konnte ich wieder Lachen; auch wenn ich weiterhin schwarz trug.
Zum großen Entsetzen der Engel schien der Mörder nun noch aktiver geworden zu sein. Inzwischen war man darauf gefasst einmal am Tag die unerträglichen Schmerzen im Kopf zu bekommen und daraufhin das Bild eines zerfetzten Leichnams zu Gesicht bekommen.
Eines Tages kam Anna aufgeregt nach Hause. Außer mir war keiner da, weshalb sie sofort nach Damon rief.
„Damon!“
Das leise „plopp“ und er stand vor uns. Anna setzte sich zu mir auf das Sofa.
„Was kann ich für Dich tun, Anna?“
Sie sah erst mich an, dann Damon. Ich zuckte nur mit den Schultern.
„Ich habe ein wenig in den verschiedenen Bibliotheken der Welt nachgeforscht. Ich dachte vielleicht würde ich so etwas finden und dem Mörder einen Schritt näher kommen.“
Ihrem Eifer nach zu urteilen schien sie etwas entdeckt zu haben, weshalb das Interesse meinerseits sofort erwacht war.
„Los, schieß los!“
„Das hier habe ich in London gefunden. Hört zu.“
Und sie begann zu lesen.




„Dies ist der Bericht von George Andrews. Ich ahne, dass einmal etwas Schlimmes passieren wird. Etwas, für das ich verantwortlich sein werde. Wir schreiben das Jahr 1807 in London. Ich bin seit etwa acht Jahren ein Engel des Todes und zu meinem Aufgabenbereich zählen Opfer von Gewalttaten.
Der Todesengel Gabriel war mein Mentor, meine Stütze nach schwierigen Aufträgen. Doch irgendwann merkte ich, dass er mir nicht weiterhelfen konnte. Seine Worte spendeten nicht sehr lange Trost. Der Selbsthass kehrte jedes Mal wieder zurück.
Ich bin Jung und Naiv gewesen. Ich erkannte die Notwendigkeit meiner Aufgabe nicht. So geschah es, dass ich nach einem Weg suchte, die Toten wieder zurückzuschicken. Die Antwort fand ich schließlich in einem alten Hexenbuch voller schwarzer Magie. Das letzte magische Wesen hatte zehn Jahre zuvor diese Gefilde verlassen. Gabriel hat mir einmal erzählt, dass er die Hexe persönlich durch das Tor geschickt hat. Das besagte Buch ist ihr Vermächtnis und ich fand es an ihrem Sterbeort vollkommen ungeschützt. Die goldenen Runen auf dem Buchdeckel faszinierten mich sofort. Die Engel-Fähigkeit jede Sprache der Welt zu verstehen bewies sich als sehr nützlich. So fand ich schnell die Verheißungsvollen Worte mit denen man Seelen in ihre Körper zurückholen konnte.
Ich erkannte meinen Fehler sofort, als ich die Worte gesprochen hatte. Denn der Spruch war nicht für tote Seelen gedacht. Ich entdeckte auf der vorherigen Seite einen Spruch mit dem man seine Seele vom Körper lösen konnte ohne zu sterben. Auf diese Weiße trafen sich die Hexen Jahrhundertelang um ihre geheimen Zirkel auf der Zwischenebene zu feiern.
Zu meinem entsetzen hatte ich die Worte bereits einmal gesprochen und eine junge Frau in ihren Körper zurückgeschickt. Dieser versuchte sie abzustoßen. Als ihm das nicht gelang, begann er die Seele anzugreifen, bis sie vollkommen willenlos war. Das Böse übernahm die Oberhand. Die junge Frau tötete einen Menschen nachdem anderen, bis es endlich jemandem gelang ihr den Kopf abzuschlagen. Durch meinen Fehler hatte ich eine Seele verstümmelt und viele andere, die nicht hätten sterben müssen durch das Tor geschickt.
Ich wollte das Buch vernichten, doch es löste sich vor meinen Augen auf. Es zu finden war unmöglich. Deshalb schreibe ich diesen Bericht. In der Hoffnung, dass er von einem Engel des Todes gefunden werden würde, sollte das Buch wieder auftauchen und missbraucht werden. Das Buch...“



„Den Rest kann man leider nicht mehr lesen. Die Schrift ist unleserlich und vergilbt. Lediglich der letzte Satz ist noch lesbar, indem steht, dass er seine Aufgabe ablegen und durch das Licht schreiten würde.“
Damon sah sie mit großen Augen an. „Es ist also doch ein Mensch! Jemand, der sich rächen möchte!“
Sie nickte zustimmend. „Das löst aber nicht unser Problem. Im Gegenteil. Jetzt sind zwar nicht mehr die Todesengel verdächtig, dafür aber der Rest der Menschheit.“
Schweigen machte sich breit. Wir sind dem Mörder einen gewaltigen Schritt näher gekommen! Vielleicht konnte man nun endlich gegen das Misstrauen angehen.
Doch dann fiel mir etwas anderes ein. „Magie? Sie existiert wirklich?“
Damon sah mich verblüfft an. „Natürlich! Was glaubst Du wie wir auf die Zwischenebene kommen? Oder wie wir das Licht öffnen? Das alles ist Magie! Seit Du ein Todesengel bist, fließt Magie durch deine Adern.“
„Aber dann kann es doch nur ein Engel des Todes sein! Gabriel hat das letzte magische Wesen, die Hexe, durch das Tor geschickt! Unter den Menschen gibt es keine Magier mehr. Wer sollte die Runen lesen sollen, geschweige denn den Zauber einsetzen können?“
Damon schüttelte den Kopf. „Für Zaubersprüche braucht man kein Magier zu sein. Jeder kann mit den richtigen Worten zaubern. Der Unterschied zwischen einem Menschen und einer Hexe besteht einzig und allein daran, dass der Mensch für alles einen Zauberspruch braucht. Die Hexe kann das meiste aus dem Handgelenk. Sie benötigt die Worte nur für stärkere Zauber.“
„Sollen wir den anderen Engeln davon erzählen?“, fragte Anna.
Damon dachte darüber nach, dann schüttelte er den Kopf. „Wir können noch nicht beweisen, dass der Mörder wirklich keiner von uns ist. Sollte es einen Verräter geben, wüsste er, dass wir ihm auf den Fersen sind und würde uns umbringen.“



Kapitel 23



Die nächsten Tage verliefen wieder etwas ruhiger; von den Engeln einmal abgesehen, die noch immer sterben mussten. Man hatte sich entschieden erst einmal ein paar Tage frei zu nehmen. Sprich: Keine Auftritte, keine Interviews. Wir wollten etwas Zeit für uns haben.
Ich genoss jede Sekunde, die ich mit Anna hatte. Seit die Band so erfolgreich ist, hatte ich kaum noch Zeit für sie. Das wollte ich jetzt nachholen. Wir gingen jeden Tag ins Schwimmbad und abends ins Kino. Heute saßen wir zum Essen in einem schicken Nobelrestaurant. Mit leuchtenden Augen sah sie sich um und beobachtete die anderen Gäste. „Das ist wunderschön hier“, seufzte sie zufrieden.
Ich gab ihr einen langen Kuss über den Tisch hinweg. „Für Dich nur das Beste“, erklärte ich ihr.
Wieder huschten ihre Augen durch das Restaurant. Dabei blieben sie hin- und wieder bei anderen Gästen liegen. Immer wenn sie jemanden erkannte, stieß sie ein kurzes Keuchen aus.
Mir fiel auf, dass wir mit Abstand die jüngsten Gäste des Restaurants waren. Die anderen Gäste gingen alle schon auf die vierzig oder fünfzig zu.
Bis spät in die Nacht unterhielten wir uns über eher belanglose Dinge. Das Restaurant hatte sich bereits beachtlich geleert, als sie gähnte. „Ich bin so müde. Können wir nach Hause gehen?“
Ich zahlte noch kurz, dann machten wir uns auf den Weg.
Zuhause angekommen stellten wir fest, dass wir die Ersten waren. Zielstrebig gingen wir auf das Schlafzimmer zu. Gerade als ich die Tür öffnen wollte, fühlte ich dass gleich etwas passieren würde. Auch Anna bemerkte es weshalb sie sich sofort an meinen Arm klammerte. Dann setzte der Schmerz wieder ein. Doch etwas stimmte nicht ganz. Ich erkannte keinen der schreienden Personen wieder. Und auch das Opfer hatte ich noch nie zuvor gesehen. Endlich ließ der Schmerz nach. Anna und ich machten uns sofort auf dem Weg. Auch diesmal waren wir nicht die Ersten.
Als ich mich umblickte hob ich verblüfft eine Augenbraue. Unter den Leuten befanden sich viele goldgewandete Personen. Ihre lieblichen Gesichter waren Schock gezeichnet und ihre freundlichen Augen blickten glasig auf die Leiche. Auch die junge Frau trug ein goldenes Gewand.
„Wer sind die?“ Anna schüttelte ratlos den Kopf.
Wie alle anderen Engel auch, löste sich der Körper bald auf.
Entsetzen ging durch die Menge. Neben mir brach eine wunderschöne Frau in Tränen aus. Neben mir erschien Damon.
Auch er schien verblüfft. Ich stupste ihn mit meinem Ellenbogen an. „Wer sind die?“
Er sah mich kurz an, dann richtete er seinen Blick wieder auf die Fremden. „Das, Leon, sind Schutzengel. Unglaublich freundliche Wesen. Anders als wir sind sie ihr ganzes Leben von Geburt an Engel. Sie sehen zwar wie Menschen aus, aber sie sind keine. Sie leben auf einer anderen Ebene als wir. Aber auch sie agieren von der Zwischenebene aus.“
„Schutzengel? Sie existieren wirklich?“
„Natürlich. Du würdest Dich wundern, wenn Du wüsstest, wer sich noch alles auf der Zwischenebene herumtreibt.“
Einer der Schutzengel trat an uns beide heran. Erst jetzt fiel mir auf, dass Damon, Anna und ich die einzigen Engel des Todes waren.
Im selben Moment löste sich der Leichnam auf; genau wie immer. Ein Raunen ging durch die Reihen der Schutzengel. Ich bin nicht in der Lage gewesen, die verschiedenen Emotionen zu erfassen, die in diesem Raunen enthalten waren.
Der Engel der auf uns zugetreten ist, fand als erster wieder Worte. „Wer seid Ihr?“
»Offenbar bin ich nicht der einzige, der nichts von der Existenz der anderen wusste«, schoss es mir durch den Kopf.
„Guten Tag. Das ist Anna“, Damon zeigte auf sie, „Leon“, er zeigte auf mich, „und ich bin Damon. Wir sind Engel des Todes.“
Wieder ein Raunen. Diesmal ungläubig und neugierig. „Engel des Todes!“, ging es durch die Menge.
Nur den Engel der uns angesprochen hatte, schien das nicht zu beeindrucken. „Soso, Engel des Todes? Was macht Ihr hier?“ Die Feindseligkeit in seiner Stimme war nicht zu überhören.
Damon zog eine Augenbraue hoch und sah ihn fragend an. Dann antwortete er: „Vermutlich aus demselben Grund wie Ihr. Verspürtet Ihr ebenfalls diese unerträglichen Kopfschmerzen?“
Der Engel nickte. „In der Tat, das haben wir. Außerdem sahen wir diese Bilder. Von denen das letzte, den entstellten Leib meiner Schwester zeigte.“
Wenn er auf betroffene Gesichter aus war, so wurde er enttäuscht.
„Mein Beileid“, antwortete ich schließlich, da ich mich gezwungen sah, zu reagieren.
Er nickte nur. „Also, auf was wollt Ihr hinaus?“
„Seit etwas mehr als einem Jahr sind über zehn Engel des Todes ums Leben gekommen. Ihre Tode lösten bei uns Engeln des Todes dieselben Reaktionen aus wie bei Euch.“
Entsetzen. Angst. Trauer. All das konnte man in den Gesichtern der Schutzengel sehen. Offenbar waren sie sehr wohl dazu in der Lage Trauer und Mitleid zu empfinden.
Wir erzählten ihnen von der Gefahr, die die Todesengel verfolgte.
„Wir denken, dass dieser Mensch sich an uns Rächen möchte, weil wir eine ihm wichtige Person abgeholt haben.“
„Ein Mensch? Wohl kaum. Menschen sind nicht einmal in der Lage selber auf ihr Leben aufzupassen.“
Nun war es an Anna zu erzählen. Wir hielten es für richtig den Schutzengeln keine Information zu enthalten.
„Er benutzt schwarze Magie?“
„Genau. Er hat wohl besagtes Buch gefunden, von dem der Todesengel George Andrews in seinem Bericht geschrieben hat.“
Mit jedem Wort, das der Schutzengel hörte, verzog sich seine Miene immer mehr zu einer Maske des Zorns. „Warum tötet der Mensch dann einen Schutzengel?“
„Ich gehe mal davon aus, dass er nicht wusste, dass sie ein Schutzengel war“, antwortete ich.
„Es war eine Verwechslung?“
Damon blieb nichts anderes übrig als betrübt zu nicken.
„Warum unternimmt Gabriel dann nicht endlich etwas? Wo ist er überhaupt?“
Überrascht starrte ich den Schutzengel an. Er kannte Gabriel?
„Weil Gabriel nichts unternehmen kann. Er war das erste Opfer des Engelmörders.“
Der Zorn verschwand sofort aus dem Gesicht des Engels. Stattdessen waren dort nun ebenfalls Angst und Entsetzen zu sehen.
„Gabriel ist tot? Aber wie kann das sein? Er war einer der Engel der alten Zeit! Er müsste unbesiegbar sein!“
„Er wurde vom Angreifer überrascht. Sein Mörder war höchstwahrscheinlich eine der Seelen, die er ernten musste.“
Langsam lichtete sich die ungeplante Versammlung, bis nur noch der Schutzengel da war, mit dem wir gesprochen haben.
„Passt auf Euch auf“, meinte Damon und verschwand ebenfalls.
„Habt Ihr Schutzengel eigentlich denselben Auftraggeber wie wir?“, wollte Anna wissen.
„Ja. Aber wer es ist, kann ich Euch auch nicht sagen, tut mir Leid. Ich werde nun gehen. Meine Eltern warten sicher schon auf mich. Lebt wohl. Und passt auch Ihr auf“, meinte er und verschwand dann auch schon.


Kapitel 24



Erschöpft lies ich mich auf das große Doppelbett fallen und bettete meinen Kopf in dem Kissen. Kurz darauf hörte tat Anna es mir gleich.
„Glaubst Du, dass wir sterben werden?“, fragte sie auf einmal.
Ich setzte mich überrascht auf und starrte sie an. „Wie kommst Du denn darauf?“, wollte ich verwirrt von ihr wissen.
„Naja, wenn wir den Mörder nicht aufhalten können, wird er immer weiter töten. Wer weiß? Vielleicht bist Du der Nächste?“
Ich brauchte einen Moment bis ich meine Worte wiederfand. Dann schüttelte ich den Kopf. „Daran darfst Du gar nicht erst Denken! Ich werde nicht sterben. Noch nicht. Und Du auch nicht. Glaub‘ mir, ich werde ihn finden und zur Strecke bringen.“
Sie sah mich nur an. Großer Zweifel spiegelte sich in ihren Augen. Wie konnte ich sie beruhigen?
„Du musst das nicht tun, Leon. Ich weiß dass Du Dir dieselben Sorgen machst wie ich. Das sehe ich jedes Mal wenn ich mich von Dir verabschiede und in der Zwischenebene verschwinde.“
Ich stieß einen lauten Seufzer aus. Sie hatte Recht.
Ein Gefühl ließ mich aufschrecken.
Anna sah mich verwirrt an. „Was ist los?“
Ich schüttelte nur unmerklich den Kopf. Dann stand ich auch schon auf der Zwischenebene und starrte ihm direkt in die Augen. Doch irgendwas stimmte nicht. Seine Erscheinung war seltsam verzerrt, fast wie im Fernsehen wenn man Gesichter wegretuschierte.
„Wer bist Du?“ fragte ich ihn barsch.
Ich merkte sofort, dass etwas nicht stimmte. Die Luft schien von etwas Grausamen erfüllt zu sein, was es mir fast unmöglich machte zu atmen.
Ein weißes Grinsen blitzte auf. Aus seinen Augen sprach purer Hass und seine Hände ballten sich erwartungsvoll zu Fäusten. Er machte keinerlei Anstalten zu antworten. Stattdessen setzte er langsam einen Schritt nach dem anderen und kam mir so immer näher. Etwas schien mich festzuhalten. Es gelang mir nicht, zurückzuweichen oder zu fliehen.
Stattdessen stand ich einfach nur da. Ich versuchte mich mit aller Macht von der Stelle zu bewegen, doch die Umklammerung war zu stark.
„Was willst Du von mir?“, zischte ich aufgebracht.
Dann endlich ließ der Druck nach. Der Fremde schien zu überrascht um zu reagieren, deshalb nutzte ich die Chance und löste mich auf.

„Wo bist Du gewesen?“ In ihrer Frage schwang soviel Sorge und Angst mit, dass ich nicht umhin kam, mich über mein Verhalten zu ärgern.
„Er ist da, Anna. Auf der Zwischenebene!“
Geschockt schlug sie ihre Hand vor ihren Mund.
„Und Du bist Dir ganz sicher, dass er es wirklich ist?“
Ich nickte. „Von ihm ging eine unheimliche Macht aus. Sie war absolut böses. Du hättest seine Augen sehen sollen. So voller Bosheit und Mordlust!“ Ich konnte ein Zittern nicht unterdrücken.
„Wir sollten Damon rufen!“
„Nein! Er ist immer noch auf der Zwischenebene. Wenn wir Damon rufen, locken wir ihn geradewegs in die Arme des Engelmörders!“
Verzweifelt schlug ich auf das Bett. „Konzentrier Dich Anna. Dann wirst Du ihn spüren.“
Sie tat wie ihr geheißen und schloss ihre Augen um sich zu konzentrieren.
Es dauerte nicht lange, da schreckte sie auch schon entsetzt auf. „Was ist er für ein Wesen?“
Ich schüttelte nur ahnungslos den Kopf. „Ich habe keine Ahnung.“
Schweigen breitete sich aus. Im Moment konnte man sogar eine Feder zu Boden fallen hören. Wir hatten zu viel Angst um etwas zu sagen.

Hass. Das war es, was er empfand. Einfach nur puren Hass. Dafür, dass sie ihm den letzten Hoffnungsschimmer gestohlen haben und trotzdem noch lachten. Diese Ungeheuer mussten vernichtet werden, damit kein unschuldiger mehr von ihnen geholt werden würde. Und er, würde dafür sorgen. Er beobachtete den Jungen und das Mädchen noch einen Moment, dann verschwand er zurück in das Diesseits. „Ich werde Dich Rächen, Jana.“ Die Worte verhallten ungehört in der verlassenen Ebene.

Genauso plötzlich wie er aufgetaucht ist, verschwand er auch wieder.
„Meinst Du er ist weg?“ Die Hoffnung in ihrer Stimme ließ mich dahin Schmelzen.
„Er ist weg. Aber ich habe das Gefühl, dass er wieder kommen wird.“
„Ich weiß.“
Ich nahm sie in den Arm und gab‘ ihr einen langen Kuss. „Ich werde Dich beschützen, Anna. Komme was da wolle.“



Draußen im Gang wurde die Haustüre heftig aufgerissen und gleich darauf mit einem lauten Knall zugeschlagen, den man vermutlich in der ganzen Nachbarschaft hatte hören können. Ein freudiger Aufschrei ging durch die WG.
Verwirrt löste ich mich von meiner Freundin und starrte auf die geschlossene Schlafzimmertür.
Plötzlich fing jemand an ‚I’m singing in the rain‘ zu singen. Dass er dabei keinen einzigen Ton traf, störte ihn wohl nicht weiter.
Anna stupste mich an. „Vielleicht solltest Du nach ihm sehen?“, schlug sie mir vor.
„Warum?“ Irgendwas in mir wehrte sich dagegen, dieser fröhlichen Person gegenüber zutreten.
„Weil Tim Dein bester Freund ist. Deshalb.“ Sie gab mir einen weiteren stupser in die Seite; diesmal ein wenig kräftiger.
Erst wollte ich protestieren, doch dann wurde mir klar, dass sie recht hatte. Tim war genau das, was sie sagte. Mein bester Freund. Innerlich schalt ich mich, dass ich solange gebraucht hatte, bis mir das klar geworden war.
Um einem weiteren Stoß zu entgehen sprang ich ruckartig auf und eilte dem Sänger entgegen. Ich fand ihn auch sofort in der Küche, wo er sich vergnügt Erdbeersauce über zwei Kugeln Vanilleeis schüttete.
Anschließend verfrachtete er das übrige Eis wieder in das Gefrierfach und stellte die Erdbeersauce zurück in den Kühlschrank. Inzwischen hatte er das Singen aufgegeben und pfiff stattdessen einfach nur noch vor sich hin.
Ich stand im Türrahmen und beobachtete ihn fasziniert. Er hatte mich noch nicht bemerkt. Verblüfft stellte ich fest, dass ich ihn noch nie so glücklich gesehen habe – außer als Flo noch gelebt hatte.
Ich räusperte mich kurz. Erschrocken sprang er auf und lies dabei seinen Löffel zu Boden fallen. Ich konnte mir ein kurzes Lachen nicht verkneifen, bevor ich ihm einen neuen aus der Schublade holte.
„Hey Tim“, grüßte ich ihn endlich.
„Wie lange bist Du schon hier?“
„Die ganze Zeit“, antwortete ich ihm.
„Echt?“
„Ja.“
„Hmm“, er schien ein wenig verlegen, „dann hast Du“, und wie verlegen er war!, „dann hast Du mich singen gehört?“
Für einen winzigen Augenblick herrschte absolute Stille in der Küche. Dann brach ich erneut in Gelächter aus. Es dauerte seine Zeit, bis ich mich endlich beruhigt hatte.
„Ja, bin ich.“ Dass Anna ebenfalls da war, verschwieg ich ihm lieber.
„Hmm“, erwiderte er, während er gedankenverloren sein Eis aß.
„Also, was ist los Tim?“
„Was meinst Du?“ Er versuchte meiner Frage auszuweichen.
»Jetzt möchte ich erst recht wissen, was los ist«, dachte ich mir.
„Das weißt Du ganz genau.“
Er seufzte kurz. „Ich... ich habe da jemanden kennengelernt. Wir haben uns sofort super verstanden.“
„Wie lange kenn Ihr euch schon?“
„Seit ein paar Wochen. Jedenfalls habe ich ihm heute gesagt, dass ich mich in ihn verliebt habe.“
„Und? Was hat er gesagt?“, wollte ich aufgeregt wissen.
„Er hat mir gesagt, dass er mich auch liebt und gerne eine Beziehung mit mir haben möchte.“
„Das ist ja wunderbar!“ rief ich erfreut.
Den ganzen restlichen Abend verbrachte er damit, mir von Mark zu erzählen, einem charmanten, wundervollen jungen Berliner, der ebenso wie er, wahnsinnig gerne mit dem Skateboard fährt.
Während ich seinen aufgeregten Worten lauschte, gelang es mir, meine ganzen Sorgen beiseite zu schieben. Und zum ersten Mal seit langem, verspürte ich wieder etwas Hoffnung.
»Wenn Tim wieder eine Beziehung eingehen konnte, dann werden wir auch den Engelmörder besiegen«
Nach einiger Zeit kam auch Anna dazu und setzte sich neben mich. Tim machte uns allen noch ein Eis.
„Und wann werden wir Deinen Romeo zu sehen bekommen?“, fragte sie schließlich.
„Sobald es geht“, murmelte er nur.
„Wenn Du willst, kannst Du ihn ja mal auf eines unserer Konzerte einladen.“


Kapitel 25



Seufzend ließ ich das Licht erlöschen, durch das soeben ein junges Mädchen im Alter von sieben Jahren durchschritten hatte. Sie war ein süßer kleiner Fratz. Ich hatte sie sofort ins Herz geschlossen, weshalb es mir auch sehr schwer gefallen ist, sie durch das Licht zu schubsen. Sie hatte nicht ganz verstanden was mir ihr geschehen war und ich brachte es nicht übers Herz ihr zu erklären was der Nachbar der Familie getan hatte. Ich bin nur erleichtert gewesen, dass ihre Seele keinen Schaden davontrug nachdem er sie vergewaltigte. Voller Hass starrte ich auf den Mann der gerade dabei war sein Bett zu säubern; die Leiche hatte er achtlos auf den Boden geschmissen.
Sie war das zweite Vergewaltigungsopfer, dem ich das Licht öffnen musste. Meine Gedanken schweiften zu Sebastian zurück, dem Jungen, der von seinem eigenen Bruder vergewaltigt und ermordet wurde. Damals stand in dem Auftrag, dass ich es nicht der Polizei melden durfte. Doch bei Lena war das anders. In ihrem Auftrag hatte nichts dergleichen gestanden. Ich verschwand aus der kleinen Wohnung und erschien nur einen Herzschlag später vor einer Telefonzelle.
Nachdem ich mich vergewissert hatte, dass niemand in der Nähe wechselte ich ins Diesseits zurück und schmiss ein 50 Cent Stück in den Münzschlitz.
Ich wählte die Nummer der Polizei, hob den Hörer ans Ohr und wartete bis jemand auf der anderen Seite der Leitung abnahm.
„Polizei Berlin, was kann ich für sie tun?“
„Ich habe aus der Wohnung von Herrn Hummel schreie gehört. Ich glaube er hat ein Mädchen vergewaltigt“, erklärte ich ruhelos.
„Wie heißen Sie?“
„Das kann ich ihnen nicht sagen. Bitte kommen sie schnell, bevor er sie umbringt!“
„Geben Sie mir bitte die Adresse“, tönte es aus der Hörmuschel.
„Hauffstraße 45.“
„Ich schicke eine Streife los, die das überprüft.“
„Danke“, sagte ich und legte auf.
Ich holte noch einmal tief Luft. Dann ging ich nach Hause; zu Fuß.



Dort angekommen stellte ich fest, dass ich alleine war. Dann fiel mir ein, dass Ina erwähnt hatte, dass sie heute zum Kegeln gehen wollten. Ich warf meine Jacke über das Sofa und schaltete den Fernseher an. Ich zappte kurz durch bis ich auf dem Ersten landete wo gerade die Tagesschau lief. Der Nachrichtensprecher berichtete gerade von einem Bombenangriff auf Truppen der Nato.
»Laut aktuellen Informationen kam dabei kein Soldat ums Leben. Die Drahtzieher des Angriffs ließen ihr Leben.

«
Anschließend legte er das Blatt beiseite. Im Hintergrund erschien das Bild eines Jungen. Entsetzt schreckte ich auf, als ich Sebastian wieder erkannte. Gebannt lauschte ich dem Sprecher: »Wanderer entdeckten in einem Wald, nahe der baden-württembergischen Stadt Esslingen, Knochen von einem Menschen. Laut örtlicher Polizei handelt es sich dabei um den seit 2009 vermissten Jungen Sebastian Maier. Kurz nach dem Fund gestand sein Bruder den Jungen am Nikolaustag in den Wald gelockt zu haben, wo er ihn vergewaltigte und schließlich umbrachte. Der Junge wäre heute neunzehn Jahre alt gewesen.

«
Eine einzelne Träne rann mir über das Gesicht als der Bericht endete. Es war eine Träne der Erleichterung und der Genugtuung.
Nachdem die Nachrichten zu Ende waren schaltete ich den Fernseher aus und fuhr den Computer hoch, den sich die WG-Mitglieder teilten.
Kaum hatte ich eine Verbindung zum Internet hergestellt als ich auch schon von meinem E-Mail-Konto eine Nachricht bekam, die mich über neue E-Mails in meinem Konto informierte.
Es stellte sich schnell heraus, dass die meisten von ihnen entweder Werbung oder Newsletter waren.
Doch dann fiel mein Blick auf die Betreffzeile einer der E-Mails. Mit einem mulmigen Gefühl starrte ich die Worte an: Hallo Todesengel
Zitternd klickte ich sie an, woraufhin sie sich öffnete. Es war ein kurzer Text.

Ich bin noch nicht fertig gewesen, als Du so plötzlich abgehauen bist. Glaube nicht, dass ich Dich vergessen habe. Wir werden uns widersehen und dann werde ich Dich für das was Du meiner Schwester angetan hast büßen lassen. Ich weiß wer Du im realen Leben bist. Genieße Dein Leben – so lange Du noch kannst.

Mit freundlichen Grüßen,
Dein Engelmörder



Als ich den Absender wissen wollte, sagte mir das Programm nur, dass das E-Mail Konto inzwischen gelöscht war.
»Er hat es also auf mich abgesehen«, dachte ich.
Ich brauchte eine Weile bis ich wieder einen halbwegs klaren Gedanken fassen konnte. Mir wurde klar, dass ich einen Weg finden musste um ihn aufzuhalten. Aber wie?
Sosehr ich auch darüber nachdachte, mir fiel nicht ein was ich tun sollte.
Nach einer Weile schnappte ich mir Schlüssel und Jacke und verlies die Wohnung.



Da ich mit meinen Gedanken viel zu beschäftigt war, entschied ich mich, einfach ein wenig durch die Straßen zu schlendern; ohne jedes Ziel. Meine Beine trugen mich durch Straßen und Gassen die ich vorher noch nie gesehen habe, doch darüber machte ich mir keine großen Sorgen. Manchmal war es eben doch von Vorteil ein Diener des Todes zu sein, dachte ich.
Der Himmel begann bereits sich zu verdunkeln als im Osten der Vollmond über dem Horizont erschien. Die wenigen Sterne die man sehen konnte, verströmten eine kalte, einsame Atmosphäre und der Vollmond tauchte die Gassen, die nicht von orangefarbenen Straßenlaternen erleuchtet wurden in silbernes Licht. Aus einem Gullideckel stieg weißer Dampf auf. Irgendwo fauchte eine Katze.
Irgendwann fand ich mich vor einer ziemlich seltsamen Spelunke wieder. Von innen drang Partylärm nach außen und lud außenstehende zum Tanzen ein. Über dem Eingang stand in neonröhrenbuchstaben: Coyote-Ugly.
Ich zuckte mit den Schultern und trat an den Türsteher heran.
„Ausweis!“, bellte mich dieser an, wobei er keinesfalls unfreundlich klang.
Ich zog meinen Geldbeutel aus meiner Hosentasche und holte meinen Personalausweis hervor. Er sah ihn sich kurz an und nickte dann.
„Du solltest den vielleicht woanders hinstecken. In der Bar ist zwar noch nicht so viel los, aber man sollte sich trotzdem vor Langfingern in Acht nehmen.
Ich bedankte mich und stecke meinen Geldbeutel in meine Jackeninnentasche. Dann betrat ich die Bar, die bereits gut gefüllt war. Auf der Theke standen zwei ziemlich gut aussehende Frauen und tanzten zu einem Partysong, wobei sie zwar sexy, aber keinesfalls billig aussahen.
Ich drängte an die Bar vor und bestellte mir ein Weizen. Die Barkeeperin lächelte mich an und schenkte mir augenblicklich etwas in ein Glas ein. Ich zahlte und nahm das Glas entgegen.
Im laufe des Abends wurden es immer mehr Gläser und ab und zu gesellte sich auch mal ein Gläschen Schnaps oder Wodka hinzu.
Ich verlor immer mehr die Kontrolle. Bald fand ich mich tanzend und feiernd wieder. Meine Sorgen waren wie weggefegt.
Eine junge Frau, höchstens 20 kam auf mich zu und forderte mich zum Tanzen auf. Ich dachte nicht weiter nach und folgte ihrer Aufforderung. Irgendwann fiel mir auf, dass ich den ganzen Abend kein einziges Wort gesagt hatte.
Die Frau schmiegte sich beim Tanzen immer wieder an mich heran; ihre Hände glitten immer wieder über meinen Nacken. Ich atmete ihren Geruch ein und genoss den Körperkontakt. Und zum ersten Mal seit langem fühlte ich mich wieder leicht und unbeschwert.

Jemand dirigierte mich durch einen dunklen Raum und lies mich schließlich auf ein Bett sinken. Ich weiß nicht was ich tat oder warum ich hier war. Sanfte Hände strichen mir über meine Brust. Ich wusste, dass etwas nicht stimmte, aber ich konnte nicht klar genug definieren was es war. Das Geräusch eines Gürtels der geöffnet wurde durchdrang die Stille des Raumes. Mein Atem ging schneller und meine Gedanken begannen sich abzuschalten. Weiche Lippen strichen über meine. Was tat ich hier? Ich wusste es nicht; ich wusste nur, dass etwas nicht richtig war.



Stechende Kopfschmerzen und starke Übelkeit ließen mich aufwachen. Ich lag auf dem Rücken und starrte an eine karmesinrot gestrichene Decke. Eine schlichte Lampe erhellte den Raum. Ich versuchte meinen Kopf zu drehen und entdeckte dabei ein geöffnetes Fenster. Es war immer noch Nacht. Ich versuchte mich aufzusetzen, doch sofort fing sich die Welt um mich herum an zu drehen. Also ließ ich mich zurückfallen und versuchte mich an den Abend zu erinnern, doch alles was ich noch wusste, war dass ich diesen Club betreten hatte. Ab da war alles weg.
Erst jetzt fielen mir die leisen, gleichmäßigen Atemgeräusche auf, welche ein schlafender Mensch verursachte. Mir wurde klar, dass das Bett größer war als ich angenommen hatte. Erneut drehte ich meinen Kopf und starrte geradewegs in das Gesicht einer hübschen jungen Frau, die vollkommen nackt auf der Bettdecke lag. Jetzt wurde mir auch klar, dass alles was ich anhatte ein T-Shirt war. Auf einem Stuhl entdeckte ich meine Hose und meine Jacke.
Da mir noch immer ein wenig übel war, brauchte eine Weile um eins und eins zusammen zu zählen. Übelkeit und Kopfschmerzen waren sofort verschwunden – doch besser fühlte ich mich deswegen nicht. Im Gegenteil. Ich fühlte mich einfach nur elend und starr. Ich wusste nicht was ich tun sollte, doch mir war klar, dass ich Anna davon erzählen musste. Ich konnte sie einfach nicht anlügen.
Schließlich fand ich die Kraft aufzustehen. Während ich mich anzog rührte sich die Frau und wachte auf. Verwirrt sah sie mir zu, wie ich meine Hose und danach meine Strümpfe und Schuhe anzog.
„Wo willst Du denn hin?“
Ich sah sie kurz an und erklärte dann: „Bitte, erzähl niemandem davon. Ich will nicht, dass es meine Freundin von jemand anderem als mir erfährt.“
Ein eigenartiger Ausdruck machte sich auf ihrem Gesicht breit. „Du hast eine Freundin?“
Ich nickte nur beschämt: „Und ich hätte nie mit Dir schlafen dürfen.“
„Da hast Du recht. Aber ich habe sowieso nicht damit gerechnet, dass das mit Dir mehr als ein One-Night-Stand war.“
Ich atmete erleichtert auf. Dann wurde mir klar, dass ich gleich doppelt Glück hatte. Immerhin hätte sie damit zur Presse gehen können – aber offenbar wusste sie nicht einmal, wer ich war.
Ich schnappte mir meine Jacke und verlies den Raum. Nachdem ich die Haustüre hinter mir geschlossen hatte verschwand ich und erschien wenige Augenblicke später vor der WG-Haustüre. Ich schloss leise die Tür auf und trat ein. Anscheinend waren bereits alle schlafen. Erleichtert, weil ich unangenehmen Fragen erst einmal aus dem Weg gehen konnte, ging ich in die Küche um eine Aspirin zu schlucken.
Fünf Minuten später saß ich auf der Couch im Wohnzimmer und spülte mir den Aspiringeschmack mit einem Glas Wasser aus dem Mund. In der ganzen WG herrschte Dunkelheit, da ich noch kein Licht angemacht hatte. Durch das geöffnete Fenster strömte angenehme Luft herein und blähte die Gardinen etwas auf.
In der Ferne hörte ich wie sich eine Tür öffnete und wieder schloss, dicht gefolgt von langsamen Schritten die auf mich zu geschlurft kamen. Im nächsten Moment ging auch schon das Licht an und erhellte das Wohnzimmer.
Es dauerte eine Weile bis ich Tim erkannte, da ich mich erst an die plötzliche Helligkeit gewöhnen musste.
„Wieso bist Du denn noch wach?“, wollte er von mir wissen und setzte sich aufmerksam mir gegenüber auf den Sessel.
Ich starrte ihn nur an, nicht-wissend was ich antworten sollte. Warum war ich denn noch wach? Warum hätte ich denn nicht wie jeder normale Mensch um diese Zeit in meinem eigenen Bett schlafen können?
„Ich“, fing ich an, brach aber sofort wieder ab.
Doch er ließ sich nicht beirren. Stur wie er war blieb er sitzen und starrte mich mit seinem eindringlichen Blick an.
„Ich war heute in einer Bar unten am Fluss. Und ich habe wohl etwas viel getrunken.“ Ich spürte wie ein Heulkrampf in mir Aufstieg. „Und gerade wache ich auf und liege in einem fremden Bett neben einem vollkommen fremden Mädchen – nackt!“
Ich konnte mich nicht mehr länger zurückhalten. Heulend lehnte ich mich auf der Couch zurück. Innerlich verfluchte ich mich für meine grenzenlose Dummheit.
Tim sah mich erschüttert an. „Du bist fremd gegangen?“ Das kleine bisschen Verachtung, das in seiner Stimme mitschwang verletzte mich bis ins Mark.
„Ich werde es ihr sagen. Ich hoffe nur, sie kann mir verzeihen“, murmelte ich mehr zu mir selber.
„Das ist das mindeste was Du tun kannst“, pflichtete er mir bei.
Ohne ein weiteres Wort stand ich auf und machte mich auf den Weg in unser, in ihr Schlafzimmer.
Sie lag friedlich schlafend auf dem Bett. Ein Lächeln in ihrem Gesicht.
Unmotiviert ließ ich mich auf neben sie fallen und starrte sie an. Sie war sofort wach.
„Wo bist Du gewesen?“, wollte sie sofort von mir wissen. Aber es war nicht vorwurfsvoll gemeint. Sie hatte sich einfach nur Sorgen gemacht.
„Ich muss Dir was erzählen.“ In kurzen knappen Worten erklärte ich alles was passiert ist und woran ich mich noch erinnern konnte. Sie unterbrach mich kein einziges Mal, wofür ich ihr unglaublich dankbar war. Mehr als alles überraschte mich ihre verletzte Miene. Ich hatte nie geglaubt, sie so zu sehen. Und nun war ich sogar daran schuld.
„Ich hoffe nur, dass Du mir irgendwann verzeihen kannst. Ich liebe Dich und ich werde so lange warten wie es nötig ist.“
Sie nickte nur; sagte aber kein Wort. Da ich nicht wusste, was ich tun sollte verließ ich den Raum wieder. Ich wollte ihr Freiraum und vor allem Zeit zum Nachdenken geben.
Ich hatte die Tür noch nicht ganz geschlossen, als ich leises Schluchzen hörte. Ich hätte alles dafür getan sie jetzt in den Arm zu nehmen – aber ich wusste, dass das alles nur noch schlimmer gemacht hätte.
Da ich nicht wusste was ich tun sollte, setzte ich mich wieder an den WG Computer und surfte sinnlos durch das Internet. Irgendwann geriet ich dabei auf eine Seite, die Antike Bücher verkaufte. Eines fiel mir sofort in die Augen. Die Runen schienen uralt zu sein, doch ich konnte es sofort lesen. „Buch der magischen Zaubersprüche


Mir fiel sofort das Buch aus dem Bericht auf, den Anna einmal vorgelesen hat.
Ich starrte auf den Preis. Nur 10,00 Euro, da es niemanden gab, der es lesen kann. Ich klickte auf ‚Kaufen‘ und gab anschließend meine Adresse und meine Kontodaten an. Ich wusste nicht, ob es das Buch war, das wir suchten, doch ich wollte der Spur auf jeden Fall nachgehen.
Anschließend beschloss ich schlafen zu gehen und legte mich dazu auf die Couch.


Kapitel 26



Eine laute Diskussion weckte mich auf. Jemand unterhielt sich aufgeregt. Ich versuchte die Stimme zu identifizieren und erkannte Ina. Nun glitt mein Blick zum Fenster. Der Himmel war grau in grau und Regen prasselte gegen die Fensterscheibe. Gähnend schwang ich mich aus der Couch und machte mich auf den Weg in die Küche. Die anderen verstummten sofort, als sie mich sahen.
„Warum hast Du im Wohnzimmer geschlafen?“, wollte Simone sofort wissen. Daniel und Christian sahen mich interessiert an; Ina sprudelte vor Zorn und Tim tat alles daran nicht aufzufallen. Nur Anna fehlte.
Ich ignorierte ihre Frage indem ich mit einer Frage konterte. „Wo ist Anna?“
„Die liegt in ihrem Bett und will nicht aufstehen. Habt Ihr Euch gestritten?“, antwortete Christian.
Ich starrte ihn kurz an. „Ich wüsste nicht was Euch das angehen sollte“, fuhr ich in schließlich barsch an. Die anderen sahen mir aufmerksam zu, während ich mir etwas zum essen machte.
Ein lauter Schlag ließ mich aufschrecken. Vor mir auf dem Tisch lag eine Zeitung. Ich erkannte sofort, dass es die Bild-Zeitung war. Vorne drauf prangerte ein Bild welches mich, Arm in Arm mit der Unbekannten von letzter Nacht aus der Bar schlendernd, zeigte.
Oben drüber stand: »Es war bestimmt nicht Still im fremden Schlafzimmer. Ist jetzt Schluss mit der Bilderbuchbeziehung?«
Klappernd fiel mir das Messer aus der Hand mit dem ich gerade ein Brötchen aufgeschnitten hatte. Ich wusste, dass ‚nicht Still‘ auf unseren Bandnamen ‚No Silence‘ ausgerichtet war.
„Willst Du es uns immer noch nicht erzählen?“, fragte Daniel ruhig. Ich schüttelte nur mit dem Kopf.
„Alles was ihr wissen müsst, ist, dass es nie wieder vorkommt“, antwortete ich schließlich.
Christian stieß ein verärgertes Schnauben aus.
Sanfte Hände schmiegten sich mir um den Hals. „Das glaube ich Dir“, murmelte eine ruhige Stimme hinter mir. Ich sprang auf und starrte Anna an. Ihre Augen waren gerötet vom vielen Weinen und ihre Stimme klang ein wenig rau.
„Ich weiß ich kann Dir vertrauen. Aber verzeihen“ sagte sie weiter, „kann ich Dir noch nicht. Dazu brauche ich noch ein wenig Zeit.“
Ich nickte. Etwas anderes hätte ich auch nicht erwartet. „Das ist bereits mehr, als ich verdient habe.“
„Das ist es“, stimmte sie mir zu.
„Und was machen wir jetzt?“, fragte Simone. „Die ganze Zeit predigen wir, man soll treu und skandalfrei leben. Das kauft uns doch jetzt keiner mehr ab!“
„Vielleicht wäre es das Beste, wenn ich die Band verlasse“, schlug ich vor.
„Spinnst Du?“ Simone sprudelte vor Zorn.
„Gib ein Interview“, meinte Anna. „Erkläre, dass jeder Mal Fehler macht. Und das man daraus lernen sollte. Danach ist die Sache gegessen.“
„So machen wir das“, erklärte Daniel und ließ keine Widerworte mehr zu.
„Gut. Dann mache ich mal einen Termin bei RTL“, erklärte ich und nahm das Telefon in die Hand.



Anna und ich einigten uns darauf, dass wir uns bis auf weiteres kein Bett teilen sollten. Ich würde weiter auf der Couch schlafen- bis auf weiteres zumindest. Eine Vorahnung schreckte mich aus meinen Gedanken. Dann stand Damon auch schon vor mir. Ich begrüßte ihn und stand dann auf um ihm ein Bier zu holen.
„Hast Du etwas Neues vom Mörder?“, fragte ich ihn.
Er schüttelte nur den Kopf. „Leider nicht.“
Verzweifelt reichte ihm die geöffnete Flasche und setzte mich zurück auf die Couch. Damon hob fragend eine Augenbraue als ihm mein Schlafzeug auffiel. Ich winkte nur mit der Hand ab.
„Aber ich habe Neuigkeiten“, erklärte ich schließlich.
„Echt?“, fragte er interessiert. Offenbar dachte er ich würde ihm erzählen, warum die Couch meine neue Schlafstätte geworden ist.
„Er hat mir eine E-Mail geschickt“, erklärte ich nach einer kurzen Pause.
„Wer?“, fragte er verwirrt.
„Der Mörder.“
Entsetzt sprang er auf. „Und das erzählst Du erst jetzt? Was wollte er von Dir?“
Ich erklärte ihm kurz was in der E-Mail stand.
„Er ist hinter Dir her?“, fragte er ungläubig. Ich nickte nur stumm.
„Meinst Du er würde aufhören, wenn ich einfach durch das Licht gehen würde?“ Diese Frage beschäftigte mich schon die ganze Zeit.
„Nein, das glaube ich kaum. Er wird solange Morden bis es keinen Todesengel mehr gibt.“
„Was passiert dann eigentlich?“
Er zuckte ahnungslos mit den Schultern. „Einige meinen, dass dann wohl das jüngste Gericht eintreten würde.“
Schaudernd faltete ich meine Arme über meinem Brustkorb zusammen.
„Ich hoffe, dass ich das nicht mit erleben muss“, flüsterte ich. Damon stimmte mir nickend zu.
Wir verfielen ins Schweigen. Wie sooft in letzter Zeit war es absolut still in der WG. Die anderen schliefen entweder schon oder waren noch aus. Doch dann ließ mich ein panischer Schrei aufschrecken. Die Bosheit die durch die Wohnung strömte ließ mich zittern.
Ich rannte sofort los. Der Schrei war aus Annas Schlafzimmer gekommen. Damon folgte mir auf den Fuß.
Ich öffnete die Türe und erstarrte als ich ihn widererkannte. Er stand über Anna gebeugt – eine Hand auf ihren Mund gepresst.
„Geh weg von ihr“, schrie ich ihn drohend an.
Ein verwegenes Grinsen schlich umspielte seine Lippen. „Ich habe Dir gesagt, dass ich noch nicht fertig mit Dir bin.“
Er packte sie am Arm und verschwand anschließend. Von Anna war nichts mehr zu sehen.
Verzweifelt folgte ich ihm in die Zwischenebene.
„Ich werde sie nicht gleich umbringen. Sie wird leiden. Und schließlich an gebrochenem Herzen sterben, da Du ihr nicht zu Hilfe gekommen bist.“ Er stieß ein bestialisches Lachen aus. Einen Moment hatte ich das Gefühl, dass ich ihn irgendwoher kannte, doch dann verschwamm sein Gesicht auch schon wieder zu einer nichtssagenden Maske.
Anna sah mich verzweifelt an. Was konnte ich tun?


Verzweifelt ballte ich die Hände zu Fäusten. Neben mir stand Damon und starrte den Mörder entgeistert an. Seine Miene war wutverzerrt und in seinen Augen brannte Mordlust. Er spannte seinen ganzen Körper an und fing an zu zittern.
Eine kalte Umklammerung hielt uns beide an Ort und Stelle.
„Du bist der Nächste“, erklärte der Fremde noch und deutete dabei mit der einen Hand auf Damon. Dann verschwand er und nahm Anna mit.
Die Fesseln lösten sich augenblicklich. Entgeistert starrte ich auf die Stelle an der gerade eben noch Anna gewesen ist. Ich stieß einen Schrei der Angst und des Zornes aus. Er ist zu weit gegangen und ich würde ihm das klarmachen.
Damon brach neben mir zusammen. Aufgewühlt eilte ich auf ihn zu und zog ihn zurück auf die Beine. Sein Gesicht war tränenüberströmt. Pure Angst lag in seinem Blick.
„Ich werde nicht zu lassen, dass man Dir etwas antut, das ist ein Versprechen!“
Er nickte, obwohl er nicht sehr überzeugt aussah.
Ich wusste, dass meine letzte Hoffnung das Hexenbuch ist, welches ich bestellt hatte.


Kapitel 27



Schmerzensschreie ließen mich aus meinem ohnehin schon viel zu leichten Schlaf aufschrecken. Vor meinen Augen sah ich Anna. Zahlreiche Wunden, verursacht von einem Hammer und einem Schraubenzieher, bluteten ohne Unterlass. Tränen des Zorns, der Demütigung und des Schmerzes überströmten ihre geröteten Wangen.
»Sie wird leiden«, gackerte die Stimme des Feindes durch meinen Kopf. Ich wusste, dass das was ich sah, die Realität war.
Bevor ich es verhindern konnte stieg Übelkeit in mir auf. Ich schaffte es gerade noch bis auf die Toilette bevor ich meinen Magen entleerte. Es kam nur Galle – gegessen hatte ich den ganzen Tag nicht. Ich bin auf der Suche nach Anna gewesen. Doch ich konnte ihre Spur nirgends aufnehmen. Sie war wie verschwunden. Abends hatte ich deshalb einen Auftritt absagen müssen. Den anderen habe ich erzählt, dass Anna erst einmal zu ihrem Bruder nach Plochingen gefahren ist und es nicht sicher war, ob sie je wieder zurückkommen würden. Inzwischen war es nicht mehr nur der Blick von Tim, der mir Verachtung entgegenbrachte. Auch der Rest behandelte mich inzwischen wie einen Fremden. Auch der plötzliche Hass der mir von den anderen Todesengeln entgegenschlug tat weh. Während meiner Suche bin ich auf mehrere von ihnen gestoßen. Offenbar hatte Damon sie darüber aufgeklärt, was los war. Immer wieder durfte ich mir Vorwürfe anhören. Immer wieder bekam ich Besuch von Todesengeln die mir vor die Füße spuckten. Auch Damon hielt Abstand zu mir. Der Engelmörder schien einen sehr bleibenden Eindruck auf ihn gemacht zu haben.
Das Bild verblasste allmählich und auch der Würgreiz ließ endlich nach.
Ich verfluchte sie alle und ging anschließend wieder zurück ins Wohnzimmer. Ich bekam es einfach nicht übers Herz wieder zurück in das Schlafzimmer zu gehen.
Seufzend streckte ich die Hand aus – ein neuer Auftrag erschien.

Opfer: 15 Menschen
Ort: Käthe-Kollwitz-Schule Esslingen/Zell
Zeitpunkt: Zwischen 9:00 und 9:10 Uhr
Ursache: Amoklauf
Engel des Todes: Leon Winter; Damon Sullivan
Anmerkung: Die Amokläufer sterben ebenfalls; Höllentor



Ich musste unwillkürlich zum Fenster gehen und in den Himmel schauen. Es war eine sternenklare Nacht. „Du kommst Dir wohl unglaublich lustig vor, nicht wahr? Wenn Du wirklich so allmächtig bist, warum lässt Du zu, dass dieses Monster einen nach dem anderen umbringt? Erkläre Dich!“, rief ich in die Dunkelheit hinaus.
Ich wartete ein paar Minuten, dann schüttelte ich den Kopf, trat vom Fenster weg um es zuzumachen. Innerlich verfluchte ich mich für meine Naivität. Warum sollte er mir auch antworten? Ich war doch nur ein einfacher Todesengel.
Ein gewaltiger Kloß fest. Ich wandelte auf dem schmalen Grat zwischen Verzweiflung und Trauer. Ich verspürte den Drang zum Weinen, doch ich tat es nicht. Ich wehrte mich mit aller Macht dagegen an, der Schwäche nachzugeben.



Mit ausdrucksloser Miene beobachtete ich die beiden Jungs, die sich aufgeregt unterhielten, von der Zwischenebene aus. Beide trugen Rucksäcke. Ein wenig abseits stand Damon. Er hielt bewusst Abstand zu mir.
Plötzlich setzten sie sich in Bewegung und gingen gezielt auf eine gelbe Türe zu. Sie klopften kurz an; dann öffneten sie die Tür. Ich folgte den Beiden.
„Was kann ich für sie tun?“, fragte eine männliche Stimme.
Die beiden Jungs sahen sich noch einmal an. Dann nahmen sie ihre Rucksäcke von den Schultern, öffneten die Reisverschlüsse. Vorfreudiges Grinsen erhellte ihre Gesichter. Dann zogen sie zwei automatische Maschinengewehre hervor und zielten auf den Lehrer, der die Augen vor Schreck weit aufgerissen hatte. Die Schüler brachen in panische Schreie aus und versuchten sich hinter Tischen und Stühlen in Sicherheit zu bringen.
Die Amokläufer stießen ein bestialisches Lachen aus und schossen den Lehrer um. Anschließend ballerten sie wild in dem Klassenzimmer herum bevor sie kehrt machten und auf den nächsten Klassenraum zueilten.
Fünf Seelen verließen ihren Körper und wechselten in die Zwischenebene; vier davon waren noch nicht einmal 15 Jahre alt. Verwundert starrten sie Damon und mich an.
„Ich kümmere mich um diese Fünf. Folge Du den Beiden“, befahl er mir. Ich nickte und rannte den beiden Amokläufern hinterher. Die Schüsse hatten neugierige Lehrer und Schüler an die Klassenzimmertüren gelockt.
Als sie die Waffen in den Händen der Jungs sahen, versuchten sie panisch die Türen zu schließen. Die Täter lachten begeistert und schossen auf jeden dem sie begegneten.
Erleichtert stellte ich fest, dass die beiden wohl keine besonders guten Schützen waren, denn sie trafen fast nie oder schossen nur ins Bein.
Ich forderte jede Seele der ich begegnete dazu auf mir zu Folgen. Es würde zu lange Dauern für jede ein extra Tor zu öffnen.
Genauso schnell wie es anfing, hörte es auch auf. Urplötzlich herrschte absolute Stille. Ich warf einen Blick auf die Uhr. 9:11 Uhr.
Hinter mir standen 10 Seelen, die sich entgeistert umsahen. Ich erklärte ihnen kurz die Situation.
„Ich werde Euch ein Tor öffnen. Ihr müsst es durchschreiten; dann kommt Ihr in das Paradies.“
Viele von ihnen brachen augenblicklich in Tränen aus, als ihnen klar wurde, dass sie tot waren.
Ich brauchte nicht mehr als einen Gedanken um das Tor zu öffnen. Das gleißende Licht veranlasste ein paar der Seelen, die Hände vor das Gesicht zu halten.
Nachdem das Tor seine volle Größe angenommen hatte, drehte ich mich wieder zu ihnen um. „Ihr müsst jetzt hindurch gehen.“
Einige sahen mich mit einer leicht ängstlichen Miene an. „Auf der anderen Seite warten all Eure Verwandten und Freunde, die schon tot sind auf Euch“, erklärte ich ihnen.
Eine von ihnen stieß einen spitzen Schrei aus und ging hindurch. Durch den Mut des Mädchens angesteckt traten auch die anderen nach und nach hindurch.
„Ich kenne Dich“, flüsterte ein Junge, den ich auf 17 Jahre schätzte.
„Ach ja? Woher denn?“, wollte ich von ihm wissen.
„Du bist der Freund von Kais Schwester.“
Erst jetzt erkannte ich den Jungen wieder. Er ist oft bei Anna zu Besuch gewesen. Sie meinte, er wäre bestens dazu geeignet ihren Bruder von Drogen abzulenken.
„Ja, der bin ich.“ Er nickte nur.
„Muss ich da wirklich durch?“, hakte er noch einmal nach. „Ich möchte nicht, dass Kai wieder Rückfällig wird.“
Ich sah ihn mitleidig an. „Tut mir Leid. Aber ich werde mich um ihn kümmern.“
„Versprichst Du es mir?“
Seine Worte erinnerten mich an das Versprechen, welches ich einst Flo gab. »Ich muss mich mit Tim versöhnen. Ich darf nicht zulassen, dass meine Welt von diesem Monster vernichtet wird und meine Versprechen gebrochen werden«, dachte ich.
„Ja, dass werde ich.“ Doch der Junge war bereits verschwunden. Ich ließ das Licht erlöschen und folgte den beiden Tätern.
Sie standen im Schulfoyer und sahen sich suchend um. Offenbar hatten die Lehrer schnell geschaltet und die Klassenzimmer abgeschlossen. Ich hoffte nur, dass man sie noch auf anderem Wege verlassen konnte, denn so eine Tür konnte ein Maschinengewehr nicht wirklich aufhalten.
„Tja Kevin. Ich schätze das war`s“, sagte einer von ihnen auf einmal.
Er war ein gutaussehender Junge; ich schätze ihn auf etwa 16.
„Ich denke auch, Bruder.“
Sie grinsten sich an. Dann reichten sie sich die Hände. „Danke, dass Du mein Kumpel warst“, flüsterte der Junge, der Kevin hieß.
Sie richteten die Läufe der Waffen auf ihre Köpfe. „Ende.“ Dann drückten sie auf die Abzüge. Ihre Leichen fielen augenblicklich zu Boden; die Hände in einander gelegt. Im selben Moment kam Damon hinzu.
„Es hat viel Überzeugungsarbeit gebraucht um den Lehrer durch das Licht zu schicken.“
Beinahe teilnahmslos beobachtete ich, wie die beiden in die Zwischenebene wechselten.
Hinter ihnen erschien ein rotglühendes Tor. Verwirrt sah ich zu Damon.
Ein starker Sog setzte ein. Bevor die beiden Freunde sich wehren konnten, wurden sie auch schon durch das Tor gezogen und verschwanden.



„Was ist das für ein Tor?“, fragte ich fasziniert.
„Du weißt das nicht?“ Er klang ziemlich verwundert.
„Nein. Ich musste so ein Tor noch nie öffnen.“
„Ach ich vergaß. Es kommt ja auch nicht wirklich oft vor, dass man so junge Seelen, wie Du sie erntest, in die Hölle schickt.“ Das Höllentor verschwand.
„Die Hölle?“
„Ich muss jetzt gehen, Leon. Man sieht sich“, meinte er nur. Doch mehr passierte nicht.
„Das ist der Grund, warum ich Euch vernichten werde“, ertönte eine laute, hasserfüllte Stimme.
Der Fremde trat etwas näher. „Was haben diese Kinder getan, dass sie jetzt schon durch das Tor müssen?“, wollte er von mir wissen.
„Das haben wir nicht zu entscheiden“, versuchte ich zu erklären. Mir fiel auf, dass ich im Gegensatz zu den letzten beiden Malen nicht festgehalten wurde. Ich trat einen Schritt zur Seite, doch er zeigte keinerlei Regung.
Er schüttelte nur bedauernd den Kopf. „Ihr habt es nicht verdient weiterzuleben, während diese Leute sterben müssen.“
Er murmelte ein paar unverständliche Worte. Ich versuchte sie zu übersetzen, doch er sprach zu leise. Die Luft in der Zwischenebene schien bis zum Zerreisen gespannt zu sein. Ein ungutes Gefühl durchflutete meine Nervenbahnen.
Rote Augen blitzten auf; gefolgt von einem weißen, scharfen Gebiss. Scharfes Knurren ging von dem Objekt aus. Nach und nach erkannte ich einen von schwarzem Fell überzogenen Körper. Eine lange, buschige Rute ging bis an den Boden.
Der Wolf sah seinen Meister erwartungsvoll an. „Den da“, stieß er mit befehlsbetonter Stimme und deutete auf Damon.
Damon stieß ein ängstliches Winseln aus. Er riss seine Augen panisch auf. Angstschweiß bildete sich auf seinem Gesicht.
Mit unnatürlicher Geschwindigkeit raste das Ungeheuer auf ihn zu. Ich versuchte mich schützend vor Damon zu stellen, doch der Wolf war schneller. Er verbiss sich gierig in dessen Wade und riss ihn schließlich zu Boden. Es knackte grässlich, die Knochen unter dem Druck des starken Kiefers brachen.
Verzweifelt warf ich mich auf den Hund und versuchte ihn von Damon wegzuzerren, während dieser schmerzerfüllt schrie.
Erst jetzt schien der Mörder zu erkennen, dass etwas nicht stimmte. „Warum kannst Du Dich bewegen? Du müsstest vor Angst erstarrt sein!“ Nicht einmal der alte Mann konnte gegen diesen Zauber ankämpfen!“
Doch ich ignorierte ihn. Ich zerrte ohne Unterlass an dem Tier, doch es ließ Damon nicht los. Ich stand auf und warf mich mit meinem ganzen Gewicht erneut auf es; diesmal versuchte ich den Kiefer auseinander zu ziehen. Doch der Wolf gab nicht nach. Er schien eine unbändige Kraft zu haben, gegen die ich einfach nicht ankam.
„Du wirst ihm nicht helfen können. Er ist ein Höllenhund. Kein Mensch kann ihn mit purer Kraft aufhalten.“
Was sollte ich tun? Ich konnte den Höllenhund nicht aufhalten!
Mein Blick glitt hoffnungslos durch das Foyer. Es wirkte unnatürlich still in der Schule. Offenbar hatte sich noch niemand getraut, die Klassenzimmer wieder aufzumachen. In der Ferne hörte ich das Martinshorn eines Rettungswagens.
Mein Blick blieb an den Leichen der beiden Amokläufer hängen. Ich wusste nicht, ob es was bringen würde, doch es war der einzige Weg. Ich stand auf und trat von Damon weg.
„Na, hast Du endlich aufgegeben?“
Ich schüttelte nur den Kopf. Binnen weniger Sekunden löste ich mich auf und erschien anschließend im Foyer des Schulgebäudes. Ich hasste mich für das was ich gleich tun würde, doch mir blieb keine andere Wahl.
Ich bückte mich zu den Leichen herunter und nahm Kevin das Maschinengewehr aus der Hand. Dann kehrte ich wieder in die Zwischenebene zurück. Der Höllenhund war immer noch mit dem linken Bein beschäftigt. Zu meiner Bestürzung erkannte ich, dass er es gleich abbeißen würde. Wütend zog ich die Waffe hoch und fing an zu schießen. Grimmige Genugtuung erfüllte mich, als ich sah, dass der Höllenhund schmerzen hatte.
Er ließ Damons Bein blitzartig los.
„NEIN! Was machst Du da?“
Ich wirbelte zu dem Mörder herum; den Finger immer noch auf dem Abzug. Für einen kurzen Moment verblasste die Maske. Die Narbe kam mir nur zu bekannt vor. Er löste sich auf, bevor ich ihn traf. Aber das war mir egal. Ich wusste jetzt, wo ich suchen musste.
Ich schickte die Waffe wieder ins Diesseits zurück und eilte auf Damon zu, dieser ist inzwischen ohnmächtig geworden. Zu meiner Erleichterung schien ich ihn nicht versehentlich getroffen zu haben.
„Warte, ich helfe Dir.“ Ich packte ihn am Arm und brachte uns in die WG zurück. Die anderen waren inzwischen wohl wach, denn ich hörte es in der Küche klappern.
Ich legte Damon auf die Couch und sah mich dann aufgeregt um; auf der Suche nach etwas zum abbinden.
Dabei fiel mein Blick auf ein braunes Päckchen, auf dem Tisch. Da ich auf die Schnelle nichts fand, nahm ich meinen Gürtel um ihm das Bein abzubinden.
Damon regte sich stöhnend und öffnete die Augen. „Was ist passiert?“, wollte er wissen. Ich gebot ihm zu schweigen.
In der Hoffnung in dem Buch einen Heilzauber zu finden, riss ich das Verpackungspapier herunter und schlug es auf.
Das kribbeln, welches durch meine Fingerspitzen ging, ließ mich kurz zurückschrecken. Doch dann überwand ich meine Zweifel und schlug es auf.
Die Worte sprühten nur so vor Macht. Es war kein sehr Dickes Buch, doch dieses Mal schien mir das Glück hold zu sein. Ich fand den Heilzauber beinahe sofort. Je nach Verletzung, die geheilt werden musste, würde es unterschiedlich viel Zeit dauern. Außerdem wurde man darauf hingewiesen, dass der Patient starke Schmerzen spüren wird und am Ende ziemlich erschöpft sein würde.
Ich wollte Damon davon erzählen, doch dieser war bereits ohnmächtig. Er verlor immer noch viel Blut. Ich las die machtvollen Worte laut vor. Jedes Wort, das ich aussprach leuchtete golden auf. Dabei legte ich Damon eine Hand auf das Bein. Zufrieden stellte ich fest, dass das Bein bereits aufgehört hatte zu bluten. Ich deckte ihn zu.


Kapitel 28



Ich saß bereits eine ganze Weile neben Damon, der friedlich zu schlafen schien. Seit dem das Blut aufgehört hatte zu bluten, hatte sich nichts mehr getan. Ich würde Wache halten. So lange bis er wieder aus seiner Ohnmacht erwachen würde. Und dann würde ich töten. Der Gedanke erschreckte mich ein wenig, doch es war nötig. Denn wenn ich es nicht tat, würde er es tun; immer wieder. Ich hoffte, dass Anna noch nicht tot war.
Damon regte sich ein wenig. Offenbar erwachte er langsam. Seine Augenlider flatterten, doch sonst tat sich nichts. Dann stieß er ein leises Stöhnen aus. Eilig zog ich die Decke von ihm herunter und beobachtete gebannt, wie seine Knochen langsam wieder zusammenwuchsen. Das Stöhnen wurde immer lauter. Er hatte Schmerzen. Das Stimmengewirr verstummte schlagartig. Ich deckte die Wunde gerade wieder zu, da kamen auch schon Ina und Tim ins Wohnzimmer.
„Ist das nicht Damon?“, fragte Tim ungläubig.
„Ich habe ihn auf der Straße aufgegabelt. Er hat uns gesucht. Der Arme muss stundenlang durch die Straßen gelaufen sein.“ Im selben Moment wie ich endete verstummte Damon auch schon wieder. „Ich denke, er hatte einfach nur einen Albtraum.“
Ina setzte sich vorsichtig neben mich; sie wollte ihn nicht aufwecken.
Tim sah Damon stumm an. „Er sieht so fertig aus, wie er da liegt“, hörte ich ihn murmeln. Mir fiel ein, dass ich seinen Freund noch gar nicht kennengelernt habe. Er hatte so glücklich gewirkt, als er mir von ihm erzählt hat. Zudem Zeitpunkt ist die Welt noch einigermaßen in Ordnung gewesen.
Ich musste wieder an Anna denken. Ich musste zu ihr. Aber ich konnte Damon nicht alleine lassen. Mein Blick fiel wieder auf Tim, der sich nun ebenfalls gesetzt hatte. Mir kam eine Idee.
Bei dem Gedanken, was jetzt passieren würde, bekam ich ein wenig sentimental.
„Tim? Könntest Du Dich bitte um Damon kümmern?“
Er sah kurz auf Damon und dann wieder zu mir. „Klar, aber warum kannst Du das nicht machen?“
„Ich muss mich um etwas kümmern. Ich werde aber gleich wieder da sein. Ich möchte einfach nur, dass er nicht alleine ist, wenn er aufwachen sollte.“
Er nickte nur. Ich spürte, dass er immer noch sauer auf mich war, weil ich Anna betrogen hatte.
Ich umarmte ihn dankbar. Er wehrte sich nicht, auch wenn er sich ein klein wenig anspannte. Dann stand ich auf und ging ohne ein Wort aus dem Wohnzimmer.
Das Buch klammerte ich fest an mich dran. Es war meine einzige Möglichkeit Anna zu retten – und den Rest der Todesengelschaft.
Da ich nicht wusste, wo ich suchen sollte, beschloss ich, den nächstbesten Ort aufzusuchen. Der kurze Augenblick, indem ich die Narbe gesehen habe, hatte ausgereicht, um ihn zu erkennen. Ich schlich mich vorsichtig in sein Zimmer.
Es war ziemlich dunkel, da die Rollläden alles Tageslicht aus dem Zimmer fernhielten. Das Bett sah unordentlich aus und der Boden war übersät von alten Klamotten und Bierdosen. Ich rümpfte ein wenig die Nase, als ich das Licht anmachte und das ganze Ausmaß des Chaos erblickte. Ich stieg über Hosen und Jacken hinweg, stieß dabei aber immer wieder gegen harte Gegenstände; nicht nur einmal musste ich dabei mit aller Macht dagegen ankämpfen gequält aufzuschreien.
Ich begann meine Suche an seinem Schreibtisch, da dieser seltsamer weiße ziemlich ordentlich gehalten wurde. Doch ich fand nur ein paar Songtexte. Um besser suchen zu können steckte ich das Buch in meine Hose und wühlte dann weiter.
Enttäuscht wandte ich mich vom Schreibtisch ab; dort war nichts. Ich schöpfte neue Hoffnung, als einen schwarzen Kasten entdeckte, der grob unters Bett geschoben wurde. Ich kniete mich herunter und zog ihn vorsichtig hervor. Es war mit einem kleinen, goldenen Schloss versehen.
Mein Blick glitt suchend durch den Raum, doch der Schlüssel war nicht da.
„Du wirst ihn nicht finden, Leon.“ Daniel stand tief grinsend im Türrahmen; die Augen starrten mich hasserfüllt an.
„Wo ist sie?“ Ich klang ruhig; doch ich war es bei weitem nicht.
„Wen meinst Du?“
„Du weißt genau, wen ich meine!“ Hass. Bedauern. Trauer. All das wütete gerade in meinem Inneren. Ich hasste ihn für das was er getan hat; aber ich bedauerte es, dass es soweit kommen musste. Die Trauer galt dem was passieren würde. Egal, wie es ausging. Das Ende würde einen traurigen Nachgeschmack haben.
„Wenn Du Anna meinst, der geht es soweit gut. Ich glaube ich habe ihr versehentlich die rechte Hand gebrochen und ich fürchte sie wird nie wieder etwas hören können, aber das braucht sie auch nicht. Wenn ich Dich umgebracht habe, kommen Damon und Anna. Sie werden Dir also bald folgen.“
„Warum?“
„Warum? Weil unschuldige sterben! Menschen, die niemandem etwas getan haben. Und ihr lasst es zu! Was hat Dir meine Schwester getan, dass Du sie durch das Tor geschickt hast?“
Schwester? Er hatte nie von einer Schwester erzählt.
„Jahrelang habe ich sie gesucht, nachdem mein Vater sich in den Tod gefahren, weil er wieder einmal zu viel Bier und Schnaps gesoffen hat. Diese Narbe“, er deutete auf die Stelle, an der sie sich befand, „ist das letzte, was er mir geschenkt hat. Und als ich sie endlich gefunden habe hast Du sie mir genommen! Damals, das Mädchen am Hauptbahnhof, weißt Du noch?“
Ich nickte. Jana. Sie ist meine erste Ernte gewesen.
„Weißt Du warum sie an dem Tag nicht in die Schule gehen wollte? ICH war der Grund. Wir haben uns vor ihrem Tod häufig getroffen. Wir wollten an dem Tag ein wenig reden. Sie wollte mich zu meiner Mutter bringen. Und dann...“, er verstummte, als seine Stimme von Tränen erstickt wurde. „Ich bin da gewesen als Du gestorben bist. Ich habe gesehen wie Du vollkommen unberührt gegangen bist.“
Ich dachte an Jana. Sie ist damals so schnell durch das Tor gegangen. Warum hatte sie sich nicht beschwert? Sie ist einfach durch das Tor gegangen! Ich weiß noch, dass sie dadurch damals meinen Respekt gewonnen hatte. Und wenn sie am Ende nur dachte, dass ganze sei ein Traum? Wenn sie in der Erwartung hindurch gegangen ist, weil sie dachte, sie würde am nächsten Tag ihren Bruder treffen? Was ist durch ihren Kopf gegangen.
„Die ganze Zeit dachte ich, Du wärst mein Kumpel. Wir saßen an einem Tisch und haben zusammen gegessen. Wir spielen sogar in derselben Band. Aber Du hast die ganze Zeit nur an der Planung meines Todes geplant.“
Er ging ein paar Schritte auf mich zu. Ihn schien das Chaos nicht zu kümmern. Kein einziges Mal stieß er irgendwo an. Ich wich ein paar Schritte zurück. Ich konnte ihn noch nicht töten. Nicht bevor ich wusste, wo Anna war.
„Bring mir zu ihr“, verlangte ich von ihm.
Er lachte einmal auf. Hinter ihm leuchteten wieder zwei rote Augen auf; gefolgt von den weißen, gebleckten Zähnen. Der Höllenhund trat hinter ihm hervor; er zog eine Blutspur hinter sich her. Die Wunden waren noch immer da, doch der Hund ignorierte sie. Diese Hunde konnten also auch im Diesseits existieren.
„Wo hast Du den Hund her?“ Ich musste ihn hinhalten, bis mir etwas einfiel.
„Ich habe dieses Buch gefunden. Aber man braucht die Sprache nicht zu können um die Zauber zu wirken und zu verstehen was dort drin steht. Die Sprache wurde einst mit einem Zauber belegt, damit man sie versteht, wenn man sie liest“, er schien erpicht darauf zu sein, mir alles zu erzählen, bevor er mich tötet.
Wieder trat er ein paar Schritte vor. Die ganze Zeit lag dieses freudige Grinsen auf seinem Gesicht.
„Ich fand eine Stelle, in der von diesem Hund die rede war. Er ist wohl aus der Hölle entflohen. Die Hexe hat einen Weg gefunden, ihn unter ihre Kontrolle zu bringen. Sie hat den Zauber mit dem man ihn ruft in das Buch geschrieben. Das fand ich nützlich.“
Er ist aus der Hölle entflohen? Ich zog das Buch aus meiner Hose und schlug es auf.
„Schnapp ihn Dir“, schrie Daniel aufgeregt. Ich flüchtete sofort auf die Zwischenebene. Doch der Hund war genau so schnell. Er konnte ohne Probleme zwischen den Ebenen hin und her wechseln. Daniel folgte ihm sofort. Fieberhaft blätterte ich in dem Buch herum.
Doch ich fand nichts in dem Buch. Nichts, womit ich ihn aufhalten konnte. Lediglich, wie man ihn rufen konnte. Doch das würde nichts nützen.
Ich wich dem Hund aus, in dem ich mich an eine andere Stelle teleportierte. Diese Art der Fortbewegung konnte er anscheinend nicht nachmachen. Er sah sich verwirrt um und nahm anschließend meinen Geruch auf.
Ich hatte mich nicht weit entfernt. Ich wollte die beiden nicht aus den Augen verlieren. Daniel folgte dem geschehen erwartungsvoll.
Mir wurde klar, dass mir das Buch nicht weiterhelfen würde. Man konnte dieses Wesen nicht töten. Höchstens wegsperren.
Meine Miene hellte sich schlagartig auf. Es war so einfach!
Der Hund hatte mich inzwischen wieder entdeckt. Viel zu schnell für ein normales Lebewesen raste er auf mich zu. Ich versuchte mich zu konzentrieren. So wie ich es tat, wenn ich einer Seele das Licht öffnen musste. Endlich erstrahlte mitten in der Luft ein rotglühender Funken. Er breitete sich immer weiter aus.
Der Hund blieb neugierig stehen. Dann stieß er ein ängstliches Winseln aus.
„Bring ihn um“, hallte Daniels Befehl über die Ebene.
Doch es war zu spät. Das Tor hatte sich zu seiner vollen Größe geöffnet. Sofort setzte der Sog ein. Selbst seine übernatürliche Stärke half dem Hund nicht weiter. Unbarmherzig glitt er auf das Tor zu. Ein letztes Winseln, dann schloss sich das Tor und der Hund verschwand.
„Mögest Du nie wieder einen Engel töten.“
Das Buch noch immer noch in der Hand haltend, sah ich mich nach Daniel um. Ich konnte ihn nicht finden.



Angstvoll kehrte ich in sein Zimmer zurück. Auch hier war er nicht.
Mein Blick fiel wieder auf den schwarzen Kasten. Ich hatte in dem Buch einen Zauber gefunden, mit dem man Schlösser öffnen konnte. Ich las die Worte laut vor. Ein leises klicken, dann sprang der Kasten auf.
In dem Kästchen steckte ein postkartengroßes Stück Fotopapier. Ich holte es heraus und sah es mir an. Es zeigte eine junge Familie. Links außen saß Daniel. Er hatte noch keine Narbe im Gesicht und wirkte glücklich. In seinen Augen saß der Schalk. Er war höchstens drei oder vier Jahre alt. Hinter ihm saß eine hübsche junge Frau. Eine Hand lag auf seiner Schulter, mit der anderen tätschelte sie ihm den Scheitel. Ich erkannte in ihr die Mutter von Jana, dem Mädchen, dessen Seele ich als erstes durch das Tor geschickt hatte. Sie sah bei weitem nicht mehr so mädchenhaft aus, aber ich erkannte sie sofort wieder. Neben ihr stand ein junger Mann. Seine Augen waren voller Liebe für seine Frau und die Kinder. Er hatte einen Arm eng um seine Frau geschlungen, die andere hielt ein Baby, nicht älter als vier oder fünf Monate alt. Ich vermutete, dass das Jana war.
Die vier standen vor einem hübschen kleinen Häuschen. Vor der Haustüre standen zwei Blumentöpfe mit wunderschönen Begonien und die Einfahrt wurde von Rhododendren und Mageriten gesäumt. Ein kleiner Brunnen plätscherte im Hintergrund. Was war passiert, dass diese Familie ein solches Schicksal erleiden musste?
Der Vater ein Säufer, bringt sich beim Autofahren um und hinterlässt seinem Sohn eine Narbe. Die Tochter stirbt, als sie ihren Bruder, den sie lange Zeit nicht gekannt hat, besuchen will. Und der Bruder sieht zu, wie seine Mutter um ihr zweites Kind trauert. Und nun ist er ein Mörder, der es auf mich abgesehen hat.


Kapitel 29



Ich wusste jetzt, wo ich ihn finden würde. Er liebte das Haus. Er hatte oft davon erzählt. Mit seinem Vater hat er da gewohnt.
Ich brauchte nicht zu wissen, wo es sich befand. Es reichte vollkommen aus, mir das Bild einzuprägen, dann würde ich auch dorthin gelangen.
Im Gang hörte ich eine Stimme, die nach mir rief. Tim. Er suchte mich. Ich holte ein letztes mal Luft; dann verschwand ich. Ich wusste nicht, ob ich jemals wieder zurückkehren würde, doch das war unwichtig. Anna ist in Gefahr, mehr benötigte ich nicht.
Als ich die Augen wieder öffnete, stand ich vor dem Haus. Die weiße Farbe blätterte bereits ab und auch die Blumen und der Brunnen waren verschwunden. Laub lag auf der ganzen Wiese verstreut. Ich verschwinde erneut und tauche im Haus wieder auf; direkt hinter der geschlossenen Haustüre. Die Einrichtung musste einmal sehr schön gewesen sein. Ein imposanter Kronleuchter hing von der Decke herab; verziert von unzähligen Spinnweben. Die zugezogenen Vorhänge ließen kein Licht in das Haus. Vor mir befand sich eine große Treppe, die in das Obergeschoss führte. Die Eingangshalle wurde von 5 Türen gesäumt.
Auf leisen Sohlen schlich ich mich von einer Tür zur anderen und öffnete sie. Doch jeder neue Raum brachte neue Türen. Irgendwann gelangte ich in die Küche. Im Gegensatz zu den anderen Räumen, schien dieser regelmäßig benutzt zu werden. Die Arbeitsflächen waren sauber. Ein Glas mit einer klaren, gelben Flüssigkeit stand auf einem Tisch. Daneben befand sich ein Aschenbecher in dem sich ein Zigarettenstummel befand, der noch qualmte
Er befand sich also im Haus.

Mein Blick fiel auf eine alte Tür, die nur angelehnt war. Ich trat an sie heran und blieb ruckartig stehen, als ich ihn reden hörte.
„Ich denke er wird bald hier sein, meine Süße. Und er wird versuchen Dich zu befreien.“
Er redete mit Anna. Gebannt wartete ich auf eine Antwort, doch sie blieb aus.
„Aber ich fürchte Du wirst bis dahin nicht mehr am Leben sein, mein Engel. Und er wird Dir schnell folgen.“ Er lachte höhnisch.
„Aber bevor ich Dich töte, können wir zwei hübschen ja noch ein bisschen Spaß mit einander haben, denkst Du nicht?“
„Was meinst Du damit?“ Das war sie! Ihre Stimme! Endlich hatte ich einen konkreten Beweis, dass sie lebte.
„Kannst Du Dir dass denn nicht denken?“ Jemand öffnete einen Reisverschluss. „Komm schrei für mich, Baby!“
Er würde sie vergewaltigen! Ohne Vorwarnung riss ich die Tür auf und sprang auf die Treppe. Ich spürte sofort, dass etwas nicht stimmte. Ich konnte nur schwer atmen und ein leichtes Schwindelgefühl. Der Versuch auf die Zwischeneben zu wechseln scheiterte kläglich.
Ein rotes Glühen schreckte mich auf. Es kam von dem Buch, dass ich unter meinem T-Shirt versteckt hatte. So schnell wie das Glühen erschienen war, verschwand es auch. Genau wie das Buch. Ich stand nun ohne Magie und ohne die Kräfte eines Todesengels da.
Ich ging zurück in die Küche und sah mich um. In einer Schublade fand ich ein großes Hackmesser.
Ein gellender Schrei ließ mich bis ins Mark erzittern. Sein heißeres Lachen mischte sich dazu. Ich konnte nicht länger warten. Eilig rannte ich auf die Treppe zurück und stürmte hinab.
Jede Stufe knirschte unter meinen Schritten, doch das war mir egal.
Unten angekommen entdeckte ich Daniel, der gerade eilig von Anna wegtrat und seinen Reisverschluss dabei zuzog. Anna saß an Händen und Füßen geknebelt auf einem knorrigen alten Holzstuhl. Ihr Gesicht tränenüberströmt und ihre Haut von blauen Flecken übersät. Sie war nackt. Tiefer, kalter Zorn packte mich, als ich sie so gedemütigt und verletzt sah.
„Ich habe echt nicht damit gerechnet, dass Du mich so schnell finden würdest“, murmelte Daniel. Der einst so fröhliche, schalkhafte Glanz in seinen Augen war einem von Wut, Hass und Trauer verzerrtem gewichen. Ich erkannte ihn in keinster weiße wieder.
„Ich werde dem ganzen jetzt ein Ende setzen, Daniel!“
„Du glaubst doch nicht wirklich, dass ich mich so einfach von Dir erstechen lasse, oder?“
Ich packte das Messer fester und starrte es an. Anna winselte aufgebracht vor sich hin. Soweit ich es erkennen konnte, hatte sie keine allzu schlimmen äußerlichen Verletzungen. Doch wie es in ihrem Inneren aussah, konnte ich nicht sehen.
Ich sah ihn wieder an. Er hielt ein kleines Blatt Papier in der Hand.
„Weißt Du was das ist?“
Ich schüttelte nur verneinend den Kopf. „Ich kann leider nicht Hellsehen.“
„Ich habe mir Sprüche aus dem Buch abgeschrieben. Ich wusste, es würde eines Tages wieder verschwinden. Ich brauche den Höllenhund nicht um Dich zu töten. Es ist zwar bei weitem nicht so schön mit anzusehen, aber mein Ziel erreiche ich trotzdem.“
Ich sagte kein Wort. Stattdessen stürmte ich mit hoch erhobenem Messer auf ihn zu. Viel zu schnell wich er meinem Stich aus, in dem er sich zu Boden fallen ließ. Genau so schnell sprang er wieder auf und landete in einigen Metern Entfernung wieder auf den Beinen. Ich versuchte es erneut, doch er war wieder zu schnell.
„Ja, diese Magie ist schon was Tolles. Mit ihr kann wirklich alles anstellen. Sie kann Dich sogar schneller und stärker machen.“ Ich hörte den Wahnsinn aus seinem Mund sprechen.
Immer wieder versuchte ich auf ihn einzustechen; immer wieder rannte ich ihm hinterher. Mit jedem Schritt und jedem Stich in die Leere spürte ich die Verzweiflung in mir aufkommen.
»Er spielt nur mit mir!« Nach dieser Erkenntnis blieb ich ruckartig stehen.
Daniel sah mich enttäuscht an. „Ach komm schon, Leon. Das macht doch Spaß!“
Er stand hinter einem Regal und sah mich zwischen den Bretten hindurch an. Das Regal war vollgestellt mit Kartons und Bildern. Davor stand ein weiteres Sofa, auf dem Annas Klamotten lagen.
Schritt für Schritt ging ich darauf zu und nahm sie schließlich auf.
„Nur zu, lass sie sich anziehen. Letztendlich ist es sowieso egal wie sie stirbt“, erklang die höhnische Stimme Daniels.
Hastig ging auf Anna zu und Schnitt ihr die Knebel durch. Dann ließ ich das Messer neben mir zu Boden fallen. Augenblicklich schlang sie mir einen Arm um den Hals und küsste mich. Dann ließ sie mich los. Ich reichte ihr die Klamotten. „Es wird alles gut.“
Alles was ich von ihr erhielt, war ein eindringlicher, angsterfüllter Blick.
Irgendwo hinter mir hörte ich etwas Schweres zu Boden fallen.
Noch bevor ich reagieren konnte, spürte ich einen eiskalten, stechenden Schmerz in meiner Nierengegend. Anna sah mich mit vor entsetzen weit aufgerissenen Augen an.
Alles um mich herum begann zu flackern. Ich wusste sofort was mit mir geschah; schließlich bin ich schon einmal gestorben. Mein letzter Gedanke galt Anna, die ich doch so sehr liebte. Dann blickte ich an mir herab und entdeckte die Spitze eines, langen, blanken Messers. Es war das Messer, das ich selber aus der Küche mitgebracht hatte. Dann wurde alles schwarz und jegliches Gefühl hörte auf zu existieren.



Alles um mich herum war schwarz – und doch auch irgendwie nicht. Es war weder kalt, noch mild, noch heiß. Laut und doch leise. Ich konnte nicht einmal sagen, ob ich auf festem Boden stand, oder ob ich schwebte.
Dann änderte sich auf einmal etwas. Ich hörte eine Stimme. Sie war laut. Und ihr folgte tosender Lärm. Plötzlich stand ich vor einer kurzen, schmalen Treppe. Ich hielt eine E-Gitarre in der Hand. Hinter mir standen Christian, Ina und Simone. Sie zwinkerten mir zu und schoben mich anschließend die Treppe hoch. Sie führte auf eine große, hellerleuchtete Bühne. Davor jubelte uns eine unendliche Masse zu.
Die Gesichter konnte ich nicht erkennen.
Die Band sah mich erwartungsvoll an. Ich stimmte meine Gitarre an und fing an zu spielen. Ina begann zu singen. Es war ein zugleich trauriges und schönes Lied. Schmerz, Angst, Verlust, Einsamkeit. Aber auch Freude, Spaß, Liebe, Hoffnung. Ich kannte es nicht. Und doch sang ich einzelne Parts, sowie den Refrain mit.
Im Publikum wurden einige Gesichter erkennbar. Ich erkannte meine Eltern, die beide nie ein Konzert von mir mit erlebt haben. Sie strahlten im ganzen Gesicht und ihre Augen waren voller Liebe und Zuneigung. Ein wenig versetzt stand Flo. Mein bester Freund. Auch er strahlte. Ich erkannte Dankbarkeit in seinen Augen. Er umklammerte Tims Hand mit aller Macht. Dieser konnte seinen Blick nicht von ihm lassen.
Ich erkannte auch Jana und all die anderen Seelen, denen ich ein Tor geöffnet hatte. Sie schienen glücklich. Nur Jana schien ein wenig wehmütig. Doch dann trat ein Mann hinter sie und legte seine Hand auf ihre Schulter. Ich erkannte ihren Vater von dem Familienfoto wieder.
Dann fiel mein Blick auf eine weitere Gruppe. Ich erkannte die Todesengel wieder. Damon nickte mir mit seiner gewohnt, coolen, lockeren Art zu. Neben ihm stand Gabriel. Der alte Mann lauschte gebannt unserer Musik. Er schien voll Tatendrang und Lebensfreude.
Ganz vorne an der Absperrung stand Anna. Sie sah mich schmachtend an und schien bis über beide Ohren verliebt. Als sie meinen Blick bemerkte, schenkte sie mir ein sanftes, liebevolles Lächeln.
Dann verstummte die Musik. Die Bühne verschwand und auch all die unbekannten Gestalten lösten sich auf. Zurück blieben nur die Leute, die ich kannte. Wir schwebten irgendwo im Nichts.
Dann lösten auch sie sich auf. Doch sie verschwanden nicht ganz, denn es blieben goldene, flackernde Flammen zurück.
Nur Gabriel blieb übrig. Ich trat näher an ihn heran.
„Was hat das zu bedeuten?“, fragte ich misstrauisch.
Der alte Mann stieß ein belustigtes Lachen aus. „Du befindest dich hier im Nichts, Leon. Es ist eine Ebene zwischen dem Jenseits und der Zwischenebene. Was du gerade erlebt hast, war dein innigster Wunsch. Es passiert selten, dass das Nichts so etwas tut.“
„Dann war das nur ein Trugbild?“
„Ja, dass war es.“
„Bist du auch nur ein Wunschbild?“
„Ja. Und nein. Nach meinen Tod bin ich hier gelandet. Was du vor dir stehen hast, ist nur meine Erinnerung. Ich bin natürlich schon längst ins Jenseits übergangen. Genau wie alle anderen, die der Mensch umgebracht hat.“
„Aber wieso bin ich hier?“
„Das kann ich dir auch nicht sagen. Allerdings solltest du zusehen, dass du wieder zur Besinnung kommst.“
„Zur Besinnung?“
„Du bist nicht tot, Leon! Daniel hat dich nur mit einem einfachen Küchenmesser erstochen. So lange du ein Todesengel bist, wird dich das nicht umbringen.“
„Wie soll ich ihn besiegen?“
„Du bist der Tot!“
Dann löste sich auch der alte Mann auf und ließ eine goldene Flamme zurück.
Die anderen Flammen schienen nur darauf gewartet zu haben, denn sie setzten sich ruckartig in Bewegung und fuhren durch mich hindurch.



Schreie voller Schmerz und Hass drängten gegen mein benommenes Bewusstsein. Ich setzte mich ruckartig auf und schlug die Augen auf.
Daniel stand mit heruntergelassener Hose vor Anna, die sich vergebens zur Wehr setzte. Er hielt sie an beiden Armen fest. Seine rhythmischen Bewegungen ließen nichts gutes Ahnen.
Ich sprang auf und riss ihn von ihr weg. Er stieß einen überraschten Schrei aus und krachte in eine Mauer aus Kartons.
Ein unangenehmes Ziehen ließ mich an mir herab sehen. Das Messer steckte noch immer in meinem Rücken. Ich griff mit einer Hand nach hinten und versuchte das Messer zu fassen zu bekommen. Endlich gelang es mir und ich zog es ruckartig heraus. Die Wunde schloss sich augenblicklich.
Währenddessen war Daniel ungläubig aufgestanden und ein paar Schritte auf mich zu getreten. Anna sah mich verwirrt an.
„Wie ist das möglich?“, fragte Daniel endlich.
„Ein Höllenhund ist vielleicht in der Lage, einen Engel des Todes umzubringen. Aber kein Küchenmesser.“
Ich versuchte mir Fieberhaft etwas einfallen zu lassen. Ich wusste noch immer nicht, wie ich ihn besiegen sollte. Nur weil er mich mit dem Messer nicht töten kann, ist seine Macht nicht ungebrochen. Er ist immer noch unnatürlich schnell und stark. Und er beherrschte die schwarze Magie.
»Was hat Gabriel mit seinen letzten Worten gemeint?« Du bist der Tot.


Was nützte mir das? Der Tot zu sein? Welche Vorteile barg diese Tatsache? Was konnte der Tot gegen die Macht des Engelmörders ausrichten?
Endlich machte es klick und ich begriff was mir Gabriel hatte sagen wollen.
„Ich werde dich für all deine Taten büßen lassen, Daniel.“ Ich klang ernst und selbstsicher.
Dieser fing erneut an zu Lachen. „Wer bist du schon, dass du mir drohen kannst?“
„Wer ich bin? Das kann ich dir sagen, Daniel. Ich bin der Tot. Und niemand kann den Tot besiegen.“
Zum ersten Mal schien er verunsichert. Neben mir stand Anna auf und zog sich die Hose hoch. Auch sie schien es verstanden zu haben. Ich nickte ihr kurz zu. Dann sammelte ich all meine Konzentration. Ich erkannte jetzt, worauf all seine Macht basierte – Angst.
„Die Hölle wartet auf dich“, erklärte ich lächelnd und beamte mich hinter ihn.
Er stöhnte geschockt auf. Dann rammte ich ihm mit aller Kraft das Messer in den Rücken.
Anna streckte ihre Hand aus und ergriff ein Auftragsschreiben.
Daniel röchelte gequält.
Sie ließ das Schreiben wieder verschwinden und starrte Daniel an. „Ich soll ihm das Höllentor öffnen.“
Ich nickte. Daniels Lungen entwich der letzte Atemzug. Sein Geist wechselte auf die Zwischenebene.
Anna und ich folgten ihm.
„Wieso kann ich nicht in meinen Körper zurück?“
„Du bist tot, Daniel.“
Anna zeichnete eine Tür in die Luft, worauf hin sich ein Tor aus Feuer öffnete.
„Was habt ihr vor?“
„Wir werden dich der gerechten Strafe zuführen.“
Es setzte augenblicklich ein starker Sog ein. Daniel versuchte sich wehren, krallte sich an mir fest, doch der Sog war stärker, als seine dunklen Kräfte. Binnen weniger Sekunden verschwand seine Seele in den dunklen Feuern des Höllenreiches.


Kapitel 30



Gemeinsam mit Anna kehrte ich in die Band-WG zurück. Das Messer hatten wir vorher auf der Zwischenebene versteckt. Die Polizei hatte einen anonymen Anruf bekommen. Die nächsten Tage waren vor allem eins – Erleichterung. Damon konnte sich, dank des Zaubers, schnell von den Wunden erholen. Mein Streit mit Anna war so gut wie vergessen. Unsere Fans trauerten natürlich um Daniel, dessen Tot nie aufgeklärt werden konnte.
Wir gaben für ihn ein Abschiedskonzert.
Tim stellte uns bald seinen neuen Freund vor. Er hieß Marcel und konnte außerordentlich gut Gitarre spielen. Sieben Monate später unterschrieb er einen Vertrag und wurde ein Bandmitglied von „No Silence“.
Am 15. März 2015 gab ich Anna das Ja-Wort. Neun Monate später kam Sven zur Welt.



Wartend saß ich auf einer Mauer, mitten in Stuttgart. Es war ein ruhiger Vorort – kaum jemand war unterwegs. In der Ferne entdeckte ich eine kleine Gruppe. Ich wusste, dass sie aus 5 Leuten bestand. Vier Mädchen und ein Junge. Sie hatten sich warm angezogen, denn es war ein eiskalter Winter. Ehe mich die fünf sehen konnten, wechselte ich auf die Zwischenebene. Der Junge sagte gerade etwas, dass die anderen zum Lachen brachte. Er war etwas dürr, hatte schulterlanges, dunkelblondes Haar. Neben ihm lief ein Mädchen, blonde Haare, die zu einem Zopf zusammengebunden waren. Hinter den beiden ging ein anderes blondes Mädchen. Sie hatte einen Nasenpiercing und trug ein T-Shirt auf dem ein wunderschöner Wolf abgebildet war. Sie unterhielt sich mit einem schlaksigen, leicht rothaarigen Mädchen. Das Schlusslicht bildete ein braunhaariges Mädchen. Sie war vollkommen in Schwarz gekleidet.
Es war Nacht und die Straßenlaternen ließen ihre Gesichter ungewöhnlich blass wirken.
Plötzlich sprang ein Mann hinter einem der geparkten Autos hervor. Er sagte etwas. Dann zog er einen Colt und schoss. Fünf gezielte Schüsse in den Kopf. Während die Seelen zu mir auf die Zwischenebene wechselten, machte er sich an ihren Taschen zu schaffen und suchte nach Geld.
Die fünf starrten auf ihre reglosen, blutenden Körper.
„Guten Tag!“

Das Tor schloss sich nachdem der Junge hindurch gegangen war. Ich verschwand und erschien wenige Sekunden später bei Damon. Er erwartete mich bereits.
„Hallo Leon.“
„Damon, schön dich zu sehen.“
„Ich habe dich heute nicht aus freundschaftlichen Gründen gerufen.“
„Warum dann?“
„Wir haben heute den 4. Dezember 2019.“
„Na und?“
„Heute vor 10 Jahren bist du gestorben.“
Ich rechnete kurz nach und stellte überrascht fest, dass er recht hatte.
„Deine Aufgabe ist somit erfüllt.“
Ich nickte. „Wenn ich jetzt aufhöre, was passiert dann mit mir?“
„Du wirst zurück geschickt und bist von all deinen Aufgaben als Todesengel entbunden.“ Ich dachte kurz nach. „Werde ich dich und Anna vergessen?“
„Nein. Dein Gedächtnis bleibt unangetastet.“
Ich dachte erneut nach. „Gut. Dann erlöse mich von meiner Aufgabe.“
Er nickte und klatschte dann in die Hände. Ich wechselte augenblicklich in mein Schlafzimmer.


85 Jahre später



„Hallo Leon!“
Der Todesengel der vor mir stand schien nervös zu sein.
„Beruhige dich, Junge. Du kannst nichts falsch machen.“
Er nickte. „Es ist mir nur eine solche Ehre, euch gegenüber zu stehen.“
Ich nickte. Bedauernd sah ich auf meinen toten Körper herab. Neben mir lag Anna – sie schlief ruhig. Auch sie hatte damals aufgehört, ein Engel des Todes zu sein.
„Sag ihr bitte, dass ich sie liebe und auf sie warten werde.“
Der Todesengel nickte, dann öffnete er das Tor.
Ich schritt hindurch und glaubte meinen Augen nicht zu trauen. Vor mir stand er. Wartend. Als er mich erblickte stieß er ein freudiges Lachen aus und eilte auf mich zu.
Ich schloss ihn in meine Arme. Meine Seele hatte wieder ihr junges Aussehen erlangt.
„Hallo Flo!“


Impressum

Tag der Veröffentlichung: 13.07.2010

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Dieses Buch widme ich meinen treuen Lesern, die unerschöpflich weiterlesen

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