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Kapitel 10



Das Skateboard in der einen Hand haltend und die Klingel mit der anderen betätigend stand ich vor Tims Haustür. Es dauerte nicht lange, da wurde das Fenster im ersten Stock auch schon aufgerissen und die alte Frau von heute Mittag sah heraus.
„Guten Tag. Ist Tim da?“
„Der ist in seinem Zimmer und möchte nicht gestört werden“, rief sie barsch hinab.
„Ich habe hier sein Skateboard, das er vergessen hat.“ Da im selben Augenblick die Außenbeleuchtung ausging, konnte ich nicht genau sehen, was die Frau machte doch kurz darauf hörte ich das Summen des Türöffners und konnte eintreten.
Die Frau stand auf der obersten Stufe einer Treppe, die in den ersten Stock führte. „Einfach den Gang gerade aus und die zweite Türe links. Aber klopfen Sie bitte an, er mag es nicht wenn die Leute einfach so in sein Zimmer stürzen.
Ich folgte dem Gang und blieb vor der besagten Türe stehen. Nachdem ich kurz anklopfte, kam von drinnen ein ersticktes dumpfes „Herein“.
Tim lag auf seinem Bett, das Gesicht auf ein Kissen gepresst. Einzelne Schluchzer waren zu hören. Beeindruckt musterte ich sein Zimmer. Die Möbel waren geschmackvoll ausgesucht und die Wände in warmen Brombeertönen gestrichen. Auf einem kleinen Tischchen stand ein recht großer Käfig in dem sich zwei Zwergkaninchen und drei Meerschweinchen tummelten. Seinen großen Schreibtisch zierte eine kleine Skulptur die den Kriegsgott Mars darstellte. Er stand in straffer Haltung und mit grimmiger Miene auf einem großen Felsen, mitten im Wasser. In einer Hand hielt er einen Speer und in der anderen einen kreisrunden Schild. Aus seinem Mund sprudelte Wasser welches plätschernd den Felsen traf und zum Meer hinab rann.
Die Nordwand war mit Simple Plan und Sum 41 Postern zugepappt. In einer Ecke hing auf Augenhöhe ein riesiger Flachbildfernseher, an dem eine Nintendo Wii, sowie ein DVD-Player angeschlossen waren. In einer breiten Nische stand ein Laptop an dem eine Webcam angebracht war.
„Tim?“, flüsterte ich vorsichtig.
Der blonde Junge schreckte auf und sah mich an. „Was willst Du?“
Ich hielt das Skateboard sichtbar in die Höhe. „Du hast das vergessen“, erklärte ich achselzuckend.
Er sah mich kurz an, bevor er sich wieder in sein Kissen fallen lies. Ich legte das Skateboard neben sein Bett und setzte mich auf den Chefsessel, der vor seinem Schreibtisch stand.
„Hör zu, Tim. Flo und ich hatten einen kleinen Streit, ja, aber das ändert nichts daran dass ich ihn liebe und vermisse. Immerhin ist er mein bester Freund“.
„Wenn man Dir zu hört, könnte man meinen er wäre noch am Leben.“
„Sein tot ändert nichts daran, dass er mein bester Freund ist. Ich bin mir ziemlich sicher, dass ich, nein, dass wir ihn wieder sehen werden.“
Durch meine Funktion als Todesengel konnte ich mir da sogar ziemlich sicher sein.
„Und warum erzählst Du mir das alles?“
„Ich würde gerne die Person kennenlernen, die Flos Herz im Sturm erobert hat. Ich möchte mir Dir befreundet sein.“
Überrascht setzte er sich auf. Er dachte kurz nach und nickte dann.
„Ich glaube, Flo würde wollen, dass wir Freunde werden.“
Erst jetzt wurde mir klar, wie sehr er Flo geliebt haben musste. Obwohl er ihn erst seit kurzer Zeit gekannt hat, wusste er, was Flo gewollt hatte.
„Ich denke auch. Wir sollten es zumindest versuchen.“
„Weißt Du, ihm ist eingefallen, dass du morgen Geburtstag hast. Deswegen wollte er zu Dir und sich mit Dir versöhnen“.
Erschrocken zuckte ich zusammen. Mein Geburtstag! Den hatte ich ganz vergessen. „Ich muss meine Gäste ja noch ausladen!“, rief ich entsetzt.
„Ich glaube, Du solltest deinen Geburtstag trotzdem feiern“, warf Tim ein.
Ich schüttelte den Kopf. „Ich bin wohl kaum in Feierlaune.“
„Du weißt, dass Flo das nicht zugelassen hätte.“
Seine Worte trafen mich vollkommen unerwartet. Dieser Mistkerl war gerissen!
„Du hast recht. Außerdem ist es jetzt zu spät die Gäste auszuladen.“
Ich stand auf und gähnte herzhaft. „Ich sollte mich dann mal auf den Weg machen“, erklärte ich.
„Mach das“, erwiderte er und gähnte ebenfalls.
„Die Feier beginnt um sechzehn Uhr. Bis Morgen dann“, ohne auf seine Proteste zu achten, verließ ich sein Zimmer. Nachdem ich die Haustüre geschlossen hatte, atmete ich einmal tief ein und brachte mich, kraft eines Gedankens in mein Zimmer. Dort setzte ich mich an den Schreibtisch und verfasste eine Einladung für Anna. Anschließend schnippte ich mit den Fingern und die Einladung löste sich auf dieselbe Art wie ein Todesengel auf und würde sich im selben Moment bei Anna wieder materialisieren.


Kapitel 11



Als ich am nächsten Morgen die Augen aufschlug, entdeckte ich zwei Zettel, die vor mir in der Luft schwebten. Einer war von Anna, in dem sie mir mitteilte, dass sie kommen würde. Kurz fragte ich mich, ob sie inzwischen wohl auch schon wusste, wie man Gegenstände versandte oder ob sie ihn persönlich hergebracht hatte, als ich noch geschlafen habe. Doch die Tatsache, dass der Brief mitten in der Luft hing, sprach für ersteres.
Der andere war ein neuer Auftrag.


Johannes Silberling, Husum, Deutschland
Geburtstag: 5. Juni 1997
Todestag: 17. Juli 2010; 14:36 Uhr im Meer
Todesursache: Surfunfall - Ertrinken
Erkennungsmerkmal: das einzige Menschliche Individuum weit und breit
Engel des Todes: Leon Winter



Irritiert fragte ich mich, wie ich eine Seele ernten sollte, die ihre fleischliche Hülle im Meer verlies. Ich beschloss mir keine allzu großen Gedanken darüber zu machen und stattdessen alles für die Feier vorzubereiten.
Als ich in die Küche kam, war meine Mutter gerade dabei, reichlich Kuchen zu backen. Sie gratulierte mir überschwänglich zum Geburtstag und scheuchte mich dann in den Garten hinaus, wo ich meinem Vater beim aufbauen helfen sollte. Offenbar war sie ebenfalls der Meinung, dass ich feiern sollte. Ich gab ihr einen kurzen Kuss und ging in den Garten, wo wir Feiern wollten. Mein Vater war gerade dabei die Tische und Bänke aufzustellen. Ein Blick in den Grill sagte mir, dass man ihn nur noch anzünden musste. Ich half meinem Vater kurz die fünf Tische und die Bänke aufzustellen und testete dann gemeinsam mit ihm die Musikanlage und die Außenbeleuchtung.
Währenddessen kam meine Mum zu uns hinaus und deckte die Tische mit der schönsten Dekoration und dem besten Tafelgeschirr. Obwohl ich meine Eltern kaum sah, weil sie ständig auf Geschäftsreisen waren, liebte ich sie unwahrscheinlich arg. Denn sie waren trotzdem immer für mich da, egal ob ich Probleme hatte oder irgendwelche größeren Feste wie Geburtstag anstanden.
„Wie viele Gäste kommen heute eigentlich?“, wollte meine Mutter wissen.
Da ich mir nicht sicher war, zählte ich sie kurz in Gedanken auf. Da waren zum einen meine neuen Freunde aus dem Park. Also schon einmal vier. Dann noch Tim und Anna. Mir viel auch wieder ein, dass ich Damon schon vor ein paar Wochen eingeladen hatte. „7 Leute“, antwortete ich knapp, wobei ich einen Stich verspürte, da es eigentlich acht sein sollten.
„Zusammen mit der Familie sind das dann 20“, stellte sie fest. Sie zählte kurz die möglichen Sitzgelegenheiten und machte sich dann wieder auf den Weg in die Küche um noch Geschirr für zwei weitere Personen zu holen.
Ich sah kurz auf die Uhr und beschloss anschließend, mich schon einmal zurückzuziehen um die Seele ernten zu können.
„Ich gehe mich dann mal umziehen.“ Meine Eltern wussten, dass ich nicht gestört werden wollte, wenn ich mich umziehe.



Ich hatte meine Zimmertür war gerade hinter mir zugemacht, da stand ich auch schon über dem aufgewühlten Meer in der Schwebe. Ich musste zwei Mal hinschauen, bis ich mich an das Gefühl der Schwerelosigkeit gewöhnte. Im Grunde war es so, als hätte ich festen Boden unter meinen Füßen; nur dass da keiner war.
Plötzlich fiel mein Blick auf einen Jungen, der verzweifelt versuchte auf sein Surfbrett zu kommen, welches unaufhaltsam von ihm wegtrieb. Immer wieder wurde er von kleineren Wellen unter Wasser gedrückt. Es dauerte nicht lange, bis seine Seele auch schon auf mich zu schwebte. Seinen Körper konnte man nirgendwo sehen.
„Hallo Johannes“, begrüßte ich ihn auf dieselbe Weise wie jede Seele.
Ich erklärte ihm rasch, wer ich war und weshalb er fast hundert Meter über dem Meer stand.
„Dann bin ich also Tod?“, wollte er ungläubig wissen.
„Du bist ertrunken“. Ein wenig hasste ich mich selbst, für den fast schon gleichgültigen Ton in meiner Stimme.
„Und was machst Du hier?“
„Nun, ich werde Dir das Tor in das Paradies öffnen.“
„Aha. Paradies.“ Man konnte ihm deutlich anhören, dass er mir nicht glaubte. Ich zweifelte stark an seiner Intelligenz, immerhin schwebte ein Mensch im Normalfall nicht einfach mal so im Himmel herum.
Vor uns erschien ein kleiner, strahlender Funke, der sich erneut zu dem Tor öffnete. Ich wünschte mir nichts mehr, als selbst hindurch zu schreiten. Doch ich erinnerte mich gerade noch rechtzeitig daran, was ich Flo versprochen hatte und das es immer noch Menschen gab, die ich liebte und die, hoffentlich, auch mich liebten.
„Du musst durch das Tor gehen“, erklärte ich dem Jungen, der ängstlich auf das Tor starrte.
„Und wenn nicht?“
„Dann wird Deine Seele dazu verdammt sein, bis in alle Ewigkeit einsam durch die Zwischenebene zu irren.“
Entsetzt keuchte er auf und eilte dann durch das Tor, welches sich direkt hinter ihm schloss.



„Hey Damon“, begrüßte ich den anderen Todesengel, der soeben neben mir erschienen war.
„Geht es Dir wieder einigermaßen gut?“
Ich überlegte kurz. „Ich glaube schon. Ich bin zwar noch meilenweit davon entfernt absolut glücklich zu sein, aber Anna hat mir da ein wenig geholfen.“ Lächelnd dachte ich an den Kuss zurück.
„Na dann. Bis gleich.“
Ich lächelte zufrieden und verschwand im selben Moment wie Damon.


Kapitel 12



Wieder in meinem Zimmer zog ich mich sofort um. Ich entschied mich für ein schlichtes weißes T-Shirt, eine schwarze Hose und meine schwarzen Nike-Schuhe. Dazu eine Muschelkette, dich ich mir um den Hals legte und ein schwarzrot-karierter Gürtel mit Drachenschnalle. Meine kurzen, braunen Haare stylte ich zu einer stacheligen Igelfrisur. Zufrieden betrachtete ich mich im Spiegel. Mein Gesicht sah zwar etwas aufgedunsen und meine eisblauen Augen glasig aus, doch daran konnte ich nichts ändern.
Ich ging wieder hinunter in den Garten wo mein Dad gerade damit beschäftigt war, Fackeln in die Erde zu stecken, die man später anzünden wollte um für eine gemütliche Stimmung zu sorgen.



Punkt sechzehn Uhr spürte ich, wie in der Nähe zwei Todesengel auftauchten. Obwohl es mir bereits in den Fingern juckte, wartete ich brav, bis die Klingel schellte.
Hastig sprang ich auf und rannte zur Haustüre. Dort angekommen musste ich erst einmal wieder Atem schöpfen, bevor ich die Tür freudig aufriss.
Anna stand links neben Damon. Gierig musterte ich sie von oben bis unten; angefangen bei den langen blonden Haaren mit den lila Strähnchen darin. Ihr wunderschöner Mund und die blauen Augen in denen ich mich zu verirren drohte.
Sie trug eine enganliegende Röhrenjeans und ein schwarzes T-Shirt mit dem Aufdruck: Don’t give Drugs a Chance.
Neben ihr stand Damon. Er hatte sein langes, schwarzes Haar zu einem Zopf zurückgebunden; seine schwarzen Augen huschten neugierig zwischen Anna und mir hin- und her. Passend zu seiner Erscheinung trug er ein schwarzes T-Shirt und eine schwarze Jeans.
Um ihn nicht länger im Dunkeln tappen zu lassen, zog ich Anna zu mir heran und gab ihr einen langen, freudigen Kuss.
Als wir uns wieder von einander trennten, trat ein merkwürdiger Ausdruck auf sein Gesicht.
„Hallo Damon. Ganz schön... düstere Erscheinung heute, nicht?“, begrüßte ich ihn lachend.
Er erwiderte das Grinsen. „So laufe ich oft durch die Gegend“, erklärte er ruhig.
Ich trat beiseite und lies die beiden herein. Fast augenblicklich betrat Tim das Grundstück und lächelte mich an. Wie gestern trug er wieder eine Dreiviertelhose. Allerdings hatte er sich diesmal auch ein T-Shirt übergezogen. Sein Skateboard war ebenfalls nirgends zu sehen.
„Hallo Tim“, begrüßte ich ihn überschwänglich und nahm ihn in die Arme.
Tim erwiderte die Umarmung kurz, dann löste er sich wieder von mir. „Danke für die Einladung“, murmelte er mit krächzender Stimme, die von einer langen, schlaflosen Nacht zeugte.
„Einfach den Gang entlang und dann zur Terrasse raus. Ich warte noch kurz auf ein paar andere Gäste.
Er nickte kurz und verschwand anschließend im Haus.
Ich ging die Stufen bis zum Tor hinauf und sah mich suchend um.
Als ich sie endlich entdeckte, stieß ich ein erleichtertes Seufzen aus, da ich nicht wirklich mit ihrem kommen gerechnet hatte.
„Hey, Leon.“
Ich nahm einen nach dem anderen in den Arm und lotste sie dann in den Garten, wo die anderen bereits warteten.
Meine Mutter war inzwischen vollauf damit beschäftigt den Gästen etwas zu trinken zu bringen. Es war ihr deutlich anzusehen, dass sie in ihrer Jugend sehr oft als Bedienung gejobbt hatte. Mein Vater stand am Grill und versuchte eine geeignete Glut zu entfachen.
„Setzt Euch doch“, forderte ich Daniel, Ina, Simone und Christian auf.
Ganz Profi stand meine Mutter sofort bereit und nahm die Bestellungen auf. Ich setzte mich zu Anna, die zusammen mit Damon und Tim auf der Bank gegenüber von Daniel und den anderen saß. Nachdem ich sie alle einander vorgestellt hatte, klingelte es auch schon wieder und ich eilte an die Haustüre.
Nach und nach kamen meine Verwandten, die alle ein kleines Geldgeschenk für mich dabei hatten. Als auch diese endlich mit Nahrungsmitteln und Getränken versorgt waren und auch mein Vater und meine Mutter saßen, konnte die kleine Fete beginnen.
Obwohl es keine große Feier war, genoss ich jeden Augenblick in vollen Zügen.



Je länger die Zeit dahinzog, desto ausgelassener wurde die Feier und es dauerte nicht lange, bis meine Tante und mein Onkel lachend um eine große Fackel tanzten, während Christian auf seiner Gitarre spielte und Ina mit ihrer bezaubernden Stimme ein fröhliches Lied sang. Meine Aufmerksamkeit galt den ganzen Tag nur einer: Anna. So oft es ging, gab ich ihr einen Kuss und erzählte ihr einen Witz um ihr schallendes Lachen zu hören. Damon und Tim hatten sich sehr schnell angefreundet und hielten nun eine hitzige Debatte über das Surfen. Damon war dabei nicht im Geringsten anzumerken, dass er eigentlich englisch sprach.
Plötzlich setzte sich eine schwere Gestalt neben mich und Anna. Tim und Damon hatten sich inzwischen zu Daniel gesellt, der verträumt auf einer Wiese saß und eine Zigarette qualmte.
Neugierig blickte ich mich um und entdeckte meinen Onkel Bob, den Bruder meiner Mutter. Er war ein reicher Geschäftsmann und ziemlich oft auf Reisen. Ich hatte ihn immer als netten Kerl in Erinnerung und von allen Verwandten, die ich hatte, war er mir der liebste.
„Ich habe von der Sache mit Flo gehört“, meinte er niedergeschlagen. Ich erinnerte mich daran, dass die beiden immer sehr gerne miteinander geredet hatten.
„Es ist schlimm einen Freund zu verlieren, der dir so wichtig ist. Glaube mir, ich weiß dass“. Die Traurigkeit in seine Stimme galt also nicht ausschließlich Flo.
„Du hast deinen besten Freund verloren?“, fragte ich vorsichtig.
„Ja, ein wunderbarer Kerl. Er ist bei einem Flugzeugunglück ums Leben gekommen. Damals war er gerade einmal 12 Jahre alt.“
Es war das erste Mal, dass ich davon hörte. Offenbar sprach er nur sehr selten darüber.
„Das tut mir Leid“, murmelte ich und dachte dabei an Flo. „Aber Du wirst ihn wieder sehen, das weiß ich“, fügte ich hinzu.
„Ja, da bin ich mir auch ziemlich sicher.“ Ein seltsamer Ausdruck legte sich auf sein Gesicht, als er mich wieder ansah.
„Aber bis dahin“, erklärte er, „lebt er in meinem Herzen weiter. Genau wie Flo in deinem Herzen weiterleben wird. Glaube mir, dass tut er ganz bestimmt.“
„Danke, dass Du mir davon erzählt hast“, meinte ich nachdenklich.
„Ach, da gibt es nichts zu danken. Ich schätze, ich musste einfach mal wieder darüber reden“, erwiderte er lächelnd.
Er stützte sich mit beiden Armen auf dem Tisch ab und stemmte sich wieder auf die Beine. Bevor er ging, legte er mir nochmal seine schwere Hand auf die Schulter. „So hart das jetzt klingen mag, aber Flo ist tot. Du solltest schauen, dass Du einen neuen Freund findest. Nicht um Flo zu ersetzen. Das kann keiner. Aber wenigstens damit Du nicht alleine bist“, riet er mir ziemlich ernst. „Und viel Glück mit ihr“, fügte er noch hinzu und verabschiedete sich dann noch von meinen Eltern und den restlichen Gästen.
Ich lies mir seine Worte noch einmal durch den Kopf gehen. „Das habe ich bereits“, murmelte ich und dachte dabei an Tim. Dann drehte ich mich wieder Anna zu und gab ihr einen Kuss.



Mit der Zeit verabschiedeten sich immer mehr Gäste und machten sich auf den Heimweg.
„Danke für die Einladung, Leon. Hat mich gefreut“, verabschiedete sich Ina von mir. Christian und Simone begleiteten sie.
„Hat mich gefreut, Euch kennenzulernen. Ich hoffe, dass wir uns nicht das letzte Mal gesehen haben“, erwiderte ich lächelnd.
„Auf keinen Fall. Vielleicht kannst Du ja dann auch deine Gitarre mitbringen“, meinte Christian. Ich umarmte die drei noch einmal und geleitete sie dann bis zur Straße.
„Macht´s gut“, rief ich noch hinterher und verschwand dann wieder im Haus.
„Deine Eltern sind bereits zu Bett gegangen. Und Du sollst die Fackeln löschen, wenn Du den Garten verlässt“, richtete mir Tim aus.
„Ah okay, danke“, murmelte ich und setzte mich zurück an den Tisch.
„Ich schätze, ich werde dann auch mal nach Hause müssen“, bemerkte Anna, die neben mir saß. Ich sah sie traurig an.
„Kannst Du denn nicht hierbleiben?“, fragte ich flehend.
Sie schüttelte den Kopf. „Ich muss mich um meinen Bruder kümmern. Seid unser Onkel gestorben ist, geht es ihm ziemlich schlecht. Ich mache mir ernste Sorgen, dass er sich etwas antun könnte“, erklärte sie mir. Jetzt wusste ich also auch, wer die Seele war, die Gabriel geerntet hatte.
„Okay, sehen wir uns morgen wieder?“, fragte ich hoffnungsvoll.
„Du kannst mich ja besuchen kommen, dann kann ich ihn Dir auch gleich vorstellen“, schlug sie vor.
„Danke, werde ich machen“.
Wie zuvor Christian und die Zwillinge begleitete ich Anna bis zur Straße vor. Ich gab ihr noch schnell einen Kuss, dann hatte sie sich auch schon aufgelöst.
Wieder im Garten angekommen, stellte ich fest, dass die anderen drei noch in ein tiefes Gespräch verwickelt waren.
„Dann waren es nur noch vier“, murmelte ich müde.
Die anderen nickten.
„Sag mal, hast Du vielleicht ein Zimmer für heute Nacht frei? Ich schätze, ich habe den letzten Zug verpasst“, fragte Daniel nach fortgeschrittener Stunde.
„Kein Problem. Du kannst im Gästezimmer schlafen. Tim kann im anderen schlafen und für Damon habe ich noch eine ausziehbare Couch in meinen Zimmer stehen“.
Tim setzte zum Protest an, doch ich würgte ihn ab. „Es ist bereits 1 Uhr vorbei. Da lasse ich keinen von Euch mehr alleine durch die Stuttgarter Straßen laufen“.
Tim gab klein bei und nickte nur.
„Da dies nun geklärt wäre, würde ich sagen, dass wir uns zum Schlafen fertig machen sollten.“
Ich zeigte ihnen wo sie schlafen konnten half ihnen noch dabei, die Betten zu beziehen. Nachdem alle versorgt waren, ging ich ins Bad um meine Abendtoilette zu verrichten.
Damon lag bereits auf seinem Gästebett und starrte Gedankenverloren an die Decke. Als er mich hereinkommen hörte, setzte er sich aufrecht hin und starrte mich mit zusammengekniffenen Augen an. Ich wurde ein wenig nervös, da ich seinen Blick nicht zu deuten vermochte.
„Du bist mit Anna zusammen“, bemerkte er trocken.
Ich legte meinen Kopf schief und starrte ihn eine Weile lang an.
„Seid gestern, ja. Ist das schlimm?“ Ich betete inständig, dass es damit keine Probleme geben würde. Allerdings war mir klar, dass mich das nicht hindern würde.
„Nein, mach Dir da keine Sorgen. Es spricht nichts dagegen, wenn Todesengel eine Beziehung miteinander eingehen.“
„Wo ist dann Dein Problem?“
„Sie ist trotzdem Dein Schützling, Leon. Das darfst Du nicht vergessen. Wenn sie Probleme hat, musst Du absolut ehrlich zu ihr sein. Egal wie sehr es sie verletzen könnte.“
Das musste ich erst einmal verarbeiten. Um Zeit zu gewinnen schlug ich meine Decke zurück und legte mich in mein Bett.
Damon folgte meinen Bewegungen mit seinem Blick.
Schließlich kam ich zu einem Entschluss. „Das werde ich riskieren müssen.“
Er schwang sich aus seinem Bett und kam zu mir herüber auf mein Bett. „Ich wollte mich bei Dir entschuldigen“, sagte er nach einigem Zögern.
„Entschuldigen?“
Ich wusste natürlich sofort, was er meinte. Schließlich hatte es an mir ebenfalls die ganze Zeit genagt.
„Ich bin nicht gerade einfühlsam gewesen, als Dein bester Freund gestorben ist.“
Ich erinnerte mich nur zu gut daran. Er hatte in dem Moment versagt, als er meine Stütze hätte sein müssen. Stattdessen hatte mir Anna geholfen. „Warum?“
„Ich war zu geschockt. Ich glaube, dass ist vor Dir noch keinem anderen Todesengel passiert. Ich wusste nicht wie ich reagieren sollte. Als ich die Trauer und die Wut in Deinen Augen sah, war ich einfach nur überfordert. Deshalb habe ich versucht so wenige Emotionen zu zeigen wie möglich. Ich weiß jetzt, dass das ein Fehler war.“
Ich ließ mir seine Erklärung durch den Kopf gehen. Im Grunde klang das alles plausibel, schließlich kannten Todesengel keine Trauer. Woher sollte Damon wissen, wie er mit mir umzugehen hatte? Vermutlich hatte er noch nie einen Menschen verloren, der ihm wichtig war.
„Ich habe immer gedacht, dass das erste, woran ich denken werde, wenn ich an meine Zeit als Engel des Todes zurück denke, Jana Koll wäre. Sie war die erste Seele, die ich geerntet habe.“
Wieder verfiel ich in ein trostloses Schweigen.
„Was glaubst Du, ist es jetzt?“
„Jetzt glaube ich, dass ich an den Zeitpunkt zurückdenken werde, als ich Flo im Licht verschwinden sah. An diesen Bruchteil einer Sekunde.“
Die Zeit schritt voran, während wir ohne ein Wort zu sagen, auf meinem Bett saßen. Irgendwann bemerke ich, dass er mich schon die ganze Zeit über beobachtete. Es schien, als würde er mir irgendetwas sagen wollen.
„Was ist denn los? Habe ich was im Gesicht?“
Er schüttelte nur den Kopf. Mir fiel auf, dass sein Gesicht unglaublich nah an meinem war. Seine blutroten Lippen öffneten sich leicht, während er sich mir unaufhaltsam näherte. Tausend Gedanken schwirrten durch meinen Kopf, doch ich bekam keinen davon zu fassen. Dann küsste er mich. Sanft und Erwartungsvoll. Ich war zu überrascht um sofort zu reagieren. Tatsächlich erwiderte ich ihn sogar leicht. Was machte ich da? Warum machte ich das? Warum machte er das? Was passiert hier gerade? Dann endlich begriff ich, was hier vor sich ging. Hastig stieß ich ihn von mir, wobei ich ziemlich grob zu ihm war, doch das war mir egal.
„Spinnst Du?“, schrie ich ihn zornig an. „Du kannst mich doch nicht einfach so küssen! Hast Du eine Meise?“
Einen kurzen Herzschlag lang wurde er rot, dann verschwand er.
Mir wurde sofort klar, dass ich falsch reagiert hatte, doch ich war noch zu aufgewühlt um ihm zu folgen.
Meine Gedanken überschlugen sich wieder. Was war das gerade eben? Warum hatte er mich geküsst? Und warum hatte ich ihn erwidert? Unbewusst schlug ich meine Decke zurück und legte mich in mein Bett.
Und was hatte ich eigentlich gefühlt? Ich wusste es beim besten Willen nicht mehr.
Mir wurde leicht mulmig, als mir der Verdacht kam, dass er mir gefallen hatte.
Da ich viel zu aufgekratzt war um einzuschlafen stand ich noch einmal auf und räumte Damons Bett wieder auf. Danach legte ich mich in mein Bett zurück. Und obwohl ich immer noch fieberhaft über das erlebte nachdachte, glitt ich irgendwann in das verworrene Reich der Träume ab, aus denen ich kein Stück schlauer wurde.


Kapitel 13



Als ich am nächsten Morgen aufwachte, herrschte in der Küche bereits ausgelassene Stimmung und auch aus dem Wohnzimmer kam amüsiertes Gelächter.
Eilig stand ich auf und zog mich an. Ich wusch mir noch kurz mein Gesicht, putzte mir die Zähne und kämmte mir die Haare.
Unten angekommen wurde ich als erstes mit einem warmen Lächeln empfangen. Als mich meine Mutter entdeckte, schenkte sie mir sofort eine Tasse mit frischen Kaffee ein. Ich warf noch zwei Zuckerwürfelstücke hinein und setzte mich anschließend hin.
Daniel war gerade dabei, den anderen von seinen Wünschen eine Band zu gründen zu erzählen.
„Wir sind immerhin schon zu viert. Ina meinte, es wäre toll, wenn sie noch einen männlichen Gesangspartner hätte, aber wir haben noch niemanden gefunden, der das übernehmen würde.“
Ich lauschte aufmerksam seinem Problem und schlürfte dabei meinen Kaffee.
„Oh, vielleicht kann das ja Leon machen? Er hat eine wunderbare Stimme“, schlug mein Vater vor.
Er sah mich einen Moment nachdenklich an, dann nickte er. „Er kann ja mal zum Vorsingen kommen, wenn die ganze Band dabei ist.“
„Wie soll die Band denn heißen?“, fragte ich neugierig. Der Gedanke in einer Band reizte mich.
Meine Mutter war inzwischen damit beschäftigt, jedem eine frische Waffel auf den Teller zu schaufeln. Mein Vater las interessiert die Tageszeitung und Tim nippte bereits seit fünf Minuten an einem leeren Glas.
„Wir haben uns bereits auf den Namen »Don’t be Silence« geeinigt.“
„Das ist ein interessanter Name“, warf mein Vater ein und schlug seine Zeitung um.
„Sag mal, wo ist eigentlich Damon?“, wollte Tim wissen.
„Der musste schon sehr früh gehen“, erwiderte ich mit einem leichten Zittern in der Stimme, da mir der gestrige Abend wieder eingefallen war.



Den Großteil des Nachmittags verbrachte ich damit, den Garten von allen Partyspuren zu reinigen. Nachdem ich endlich fertig war, legte ich mich ein bisschen aufs Ohr.
Es war bereits früher Morgen, als ich auf einmal aus meinem Schlaf schreckte. Vor mir in der Luft schwebte ein neuer Auftrag. Ein wenig verschlafen griff ich danach, wobei ich vier Anläufe brauchte bis ich es endlich zu fassen bekam.
Schlaftrunken setzte ich mich auf und machte meine Nachtlampe an, da es noch Dunkel war. Dann las ich mir den Auftrag durch.

Alle unter 19 Jahrigen, in der Nähe von Leipzig, Deutschland
Geburtstag:
Todestag: 18. Juli 2010; 07:32 Uhr
Todesursache: Zugunglück
Erkennungsmerkmal: -
Engel des Todes: Leon Winter und Anna Lancester für die jungen Seelen.



Verwirrt las ich mir den Auftrag noch einmal durch und legte ihn danach zur Seite. Ein Zugunglück. Ich warf einen Blick auf die Uhr und schrak zusammen. Hastig zog ich mir etwas an und machte mich anschließend mit einem Gedanken auf den Weg zu Anna. Dort angekommen stellte ich fest, dass sie denselben Auftrag bekommen hatte, wie ich und deshalb bereits fertig war.
Da nur noch eine Minute Zeit war, sagte ich schulterzuckend: „Ich weiß es selber nicht genau“. Dann packte ich sie am Arm und gemeinsam mit ihr gelangte ich an den Ort des Geschehens.
„Wer sind all diese Leute?“, fragte sie mich. Ich blickte mich kurz um. Kurz meinte ich, Damon entdeckt zu haben, doch das behielt ich für mich.
„Ich schätze, sie sind alle Todesengel.“
Mit uns beiden waren es genau 15 Engel des Todes
„Was die hier wohl wollen?“, hakte sie weiter.
„Das wird wohl ein größeres Unglück.
Und dann sahen wir ihn. Der Zug raste mit einem viel zu hohen Tempo über die Schienen. Schneller als erwartet sprang er in einer Kurve aus den Schienen. Da die Schienen auf einem Hang erbaut waren, stürzte der Zug mehrere Meter in die Tiefe, wobei er sich mehrmals überschlug, bis er endlich in einem kleinen Wäldchen zum stehen kam.
Binnen weniger Sekunden lösten sich hunderte Seelen aus ihren Körpern und stiegen ein wenig in die Höhe. Fasziniert beobachtete ich die schwebenden Personen. Ich hatte noch nie so viele auf einem Haufen gesehen.
„Die meisten sind ja gar nicht verletzt“, stellte Anna verwundert fest und deutete auf die Gestalten. Tatsächlich gab es nur eine junge Frau, deren Seele ein paar blaue Flecke und Narben hatte.
„Die Seelen können nicht durch physische Einwirkung verletzt werden. Egal was dem Fleisch passiert, die Seele bleibt ganz“, erklärte ich ihr, „die, ich zeigte auf die Frau, „muss irgendwas schlimmes erlebt haben. Vermutlich ist sie vergewaltigt worden.“
Anna keuchte entsetzt auf. Im nächsten Moment verblasste die Seele der Frau und verschwand wieder.
„Was ist mir ihr passiert?“
„Sie hat eine zweite Chance bekommen. Sie wird überleben.“
Anna lächelte freudig. Auch ich freute mich für die Frau.
Ich gab Anna ein Zeichen und gemeinsam schwebten wir den anderen Todesengeln hinterher auf die Seelen zu.
Diese bemerkten unser Kommen sofort. Neugierig flogen sie uns entgegen. Im nächsten Moment umkreisten sie die Engel. Einige verwirrt, andere ängstlich und wieder andere, die die wussten was passiert war, traurig.
„Pass auf Anna, Du wirst nun unter den Seelen nach denen Suchen, die jünger als 19 aussehen und sorgst dafür, dass sie Dir folgen. Wenn Du alle hast, kommst Du hierher zurück. Ich werde dasselbe machen“, wies ich sie an und mischte mich auch schon unter die Toten.
Mein geübtes Auge hatte so gut wie keine Schwierigkeiten die jungen Seelen zu finden. An jede einzelne trat ich heran und erklärte in kurzen Sätzen, dass sie mir folgen sollten. Mir fiel auf, dass einige Seelen stärker waren als andere. Manche lösten sich wie die Frau vorhin auf und kehrten in ihre Körper zurück. Wenn ihre Körper wieder erwachten, würden sie sich nicht an die Zwischenebene erinnern können.
Um mich herum herrschte heller Trubel. Überall suchten Todesengel nach jenen Seelen, für die sie zuständig waren.
Unterwegs traf ich auch auf Damon, der mich allerdings ziemlich gut ignorierte.
Eine knappe halbe Stunde später kehrte ich wieder an den Ort, den ich mit Anna ausgemacht habe, zurück. Wenige Minuten später stieß auch Anna dazu, die ziemlich grün im Gesicht war. Ich winkte sie zu mir heran.
„Also hört gut zu!“, rief ich über die Menge hinweg. Die jungen Seelen richteten nun ihre volle Aufmerksamkeit auf mich und meine Partnerin.
„Wir Beide werden Euch gleich ein Tor öffnen durch das Ihr gehen müsst. Auf der anderen Seite liegt das Jenseits.“
Ein paar der Seelen nickten einverstanden, andere waren immer noch viel zu geschockt um meinen Worten folgen zu können.
Ich sah zu Anna. „Ich brauche Deine Hilfe. Wir müssen ein etwas größeres Tor öffnen.“
„Wie?“ fragte sie mich.
„Stell Dir einfach vor, dass Du das Tor in das Reich der Seelen öffnest. Wenn es Dir leichter fällt, kannst Du das Tor auch in die Luft zeichnen.“
Sie nickte. Schulter an Schulter standen wir da und konzentrierten uns. Anna benutzte ihre Finger um das Tor zu zeichnen und ich konzentrierte mich darauf es zu öffnen. Binnen weniger Sekunden wuchs der kleine Funke zu einem riesigen Tor aus gleißendem Licht heran.
„Ich denke, es ist jetzt groß genug“, murmelte ich ihr zu.
Dann drehte ich mich wieder zu den Seelen um und sagte: „Ihr könnt jetzt durchgehen.“
Einige Kinder sahen sich nach ihren Familien um, doch diese waren bereits ebenfalls dabei, durch riesige Tore zu schreiten.
„Ihr werdet sie auf der anderen Seite wieder sehen, keine Sorge.“
Ein wenig erleichtert traten die ersten in das gleißende Licht und waren bald darauf verschwunden.
Immer noch kehrten einige Seelen in ihre Körper zurück, doch die meisten schritten durch die Tore und waren damit endgültig tot.
Es dauerte fast fünf Minuten, bis die letzte Seele eines der Tore passiert hatte. Fast Gleichzeitig erloschen die Tore.
„Gut gemacht Leute“, sagte einer der Todesengel und verschwand dann. Ich packte Anna am Handgelenk und brachte uns in ihr Zimmer zurück.
„Das war gute Arbeit!“, gratulierte ich ihr. Ich lächelte und verschwand gleich darauf in reinster Todesengel-Manier ohne mich zu verabschieden.


Kapitel 14



Zugunglück in der Nähe von Köln



Am Morgen des 18. Juli ereignete sich in der Nähe von Köln ein tragisches Unglück. Ein Zug mit sechshundert Insassen sprang in einer Kurve aus den Gleisen und rollte einen Abhang hinab. Dabei kamen über vierhundert Menschen ums Leben; darunter auch viele Kinder.
Viele der Überlebenden, wurden mit Lebensgefährlichen Verletzungen ins Krankenhaus eingeliefert.
Der Auslöser des Unglücks ist noch Unklar, allerdings ermittelt die Staatsanwalt bereits gegen den Lokführer, der das Unglück beinahe unbeschadet überstanden hatte.
Noch immer wurden nicht alle Leichen gefunden, da diese teilweise mehrere Meter weit vom Unfallort weggeschleudert wurden.
Eine überlebende berichtete: »Ich habe an dem Tag meinen Mann verlassen, der mich jahrelang misshandelt und manchmal auch vergewaltigt hat. Ich weiß gar nicht was los war. Alles schien normal zu sein. Es gab auch keine Warnung, dass es irgendeinen technischen Defekt geben würde. Das Unglück kam also vollkommen unerwartet. Es war schrecklich mit anzusehen, wie die Leute durch den Zug geschleudert wurden. Bei einer alten Frau konnte ich hören, wie ihr das Genick brach, als sie gegen den nächsten Sitz geschleudert wurde. Ich schaffte es, mich an einer Stange festzuhalten. Irgendwann wurde ich dann von etwas hartem am Kopf getroffen und fiel in Ohnmacht. Ich hatte dabei einen seltsamen Traum von durchsichtigen Menschen, die zum Himmel flogen und anderen Menschen, die aus fester Materie zu bestehen schienen und auf uns warteten. Ich bin froh, dass mir Gott eine zweite Chance gegeben hat und ich werde sie nutzen. In Zukunft werde ich mich nie wieder von einem Mann derart behandeln lassen.«
Überall im Land werden Schweigeminuten abgehalten und Trauernde versammeln sich um Kränze und Kerzen niederzulegen.
Die Strecke bleibt bis auf weiteres gesperrt.
19. Juli 2010




Kapitel 15



Es war eine ruhige, ereignislose Nacht. Der Vollmond wurde von leichtem Nebel verdeckt und spendete daher nur sehr wenig Licht. In der Ferne konnte man das träge Plätschern eines kleinen Baches hören. Die Luft war vom dominanten Duft der Kiefernnadeln erfüllt. Einzelne Tiergeräusche durchbrachen die Stille der Nacht. Ab- und zu war sogar das Heulen eines Wolfes zu hören, doch vor dem machte ich mir keine Sorgen. Es war angenehm warm.
Ich war gerade dabei ein Feuer zu entzünden um diverse wilde Tiere abzuhalten.
Doch meine Gedanken schweiften die ganze Zeit ab. Ständig musste ich an sie denken und ob sie ihr versprechen halten würde.
Zumindest beim Feuer war mir das Glück heute hold, denn es lies sich leicht entfachen und erleuchtete schnell die kleine Lichtung.
Ein Baumstamm lag quer über die Lichtung gelegt nur wenige Meter vom Feuer entfernt. Er war hervorragend dazu geeignet, darauf Platz zu nehmen, wenn man nicht mehr auf dem harten Boden sitzen wollte. Vor dem Baumstamm lag eine große Decke ausgebreitet und direkt daneben noch eine kleinere, auf der ein Korb stand. Darin befanden sich eine Weinflasche, ein paar Weingläser, sowie ein kleiner Kerzenständer. Außerdem hatte ich reichlich Obst hineingetan.
Sorgfältig stellte ich den Kerzenständer auf, wobei ich darauf achtete, dass sich nichts Brennbares in Unmittelbarer Nähe befand. Mit einem kleinen brennenden Stock entzündete ich die vier Dochte. Zum Schluss stellte ich noch die beiden Weingläser bereit und die Weinflasche daneben. Das Obst ließ ich im Korb, den ich in die Mitte der kleineren Decke stellte. Zu guter letzt gesellte sich noch eine kleine Vase mit frischen Waldblumen hinzu. Nervös sah ich auf die Uhr und stellte fest, dass sie zu spät kam.
Mit träumerischem Blick dachte ich an die vergangene Zeit zurück. Heute vor einem Jahr hatte ich Anna getroffen. Inzwischen hatte sich einiges getan. Kurz übermannte mich die Trauer als ich an Flos Tod dachte, doch dann schüttelte ich den Gedanken wieder ab. Anna hatte mir geholfen, damit zu recht zu kommen. Außerdem hatte ich in Ina, Simone, Christian, Daniel und Tim neue Freunde gefunden, für die ich mein Leben hergeben würde. Es verging kein Tag an dem ich mich nicht mit ihnen auf der Skaterbahn oder auf der Königsstraße aufhielt.



Lächelnd stand ich auf und nahm sie in die Arme. Sie war gekommen!
„Tut mir Leid, dass ich zu spät bin. Ich musste noch warten bis mein Bruder zu Bett gegangen ist“, erklärte sie entschuldigend.
Ich erwiderte nichts sondern genoss einfach nur das Gefühl, sie in den Armen zu halten.
Viel zu früh ließen wir uns los. Mit leuchteten Augen sah sie sich um.
„Dieser Ort ist wunderschön“, murmelte sie.
„Ich war hier schon einmal mit meinen Eltern, als wir in den Rockies Urlaub gemacht haben“.
Sie setzte sich auf die Decke und sah mich erwartungsvoll an. Ich kniete mich zu ihr und schenkte uns beiden jeweils ein Glas Wein ein.
Schweigend nippten wir an dem Glas; die ganze Zeit über hielten wir Augenkontakt. Ein weißes Lächeln blitzte auf, als sie das Glas abstellte.
Sie legte ihren Kopf auf meinen Schoß und blickte in den Himmel empor. „Hast Du eigentlich inzwischen etwas von Damon gehört?“
Niedergeschlagen schüttelte ich den Kopf. Seit meinem siebzehnten Geburtstag hatte ich nicht mehr mit ihm gesprochen.
Um mich zu beruhigen gab sie mir einen langen Kuss auf die Lippen. Doch diesmal war er anders. Nicht zart und vorsichtig wie sonst, sondern wild und fordernd. Ich wusste sofort was sie wollte und erwiderte ihn ebenso verlangend. Meine Hände glitten an ihrem ganzen Körper entlang. Streichelten ihre schönen Brüste und glitten über ihren Scham. Nach und nach zogen wir uns ein Kleidungsstück nachdem anderen aus bis wir vollkommen nackt waren. Wieder glitten meine Hände über ihren Körper; verharrten auf ihren Brüsten und an ihrer Scham. Küssend glitt ich an ihr hinab bis ich an ihren harten Brustwarzen ankam und an ihnen knabberte.
Plötzlich und ohne Vorwarnung setzte ein prasselnder Regen ein und wir waren binnen weniger Augenblicke vollkommen nass. Das Feuer zischte und die Kerzen gingen augenblicklich aus.
Doch unsere geballte Aufmerksamkeit galt einzig und allein uns beiden.



Erschöpft, aber glücklich, glitt ich von ihr herunter. Der Regen prasselte mir in mein Gesicht. Ich sah sie mit jenem verliebten, träumerischen Blick an, indem so viel Zärtlichkeit lag. Ich weiß nicht wie viel Zeit vergangen war, bis sie endlich zu sprechen begann: „Das war wunderschön“.
Der Regen nahm inzwischen wieder etwas ab.
Ich nickte nur zustimmend und küsste sanft ihre rechte Handfläche. „Ich liebe Dich, Anna“.
Nun war es an ihr zu lächeln. „Ich liebe Dich auch, Leon“, erwiderte sie.
Ich gab ihr erneut einen Kuss und spürte, wie dabei mein Verlangen zurückkehrte. Ihr schien es ebenfalls so zu ergehen, denn schon wanderten ihre Hände an meinem Körper hinab und umschlossen mein Geschlecht.


Kapitel 16



Am nächsten Morgen erwachte ich mit dem besten Gefühl, das ich jemals gehabt hatte. Wir lagen noch immer auf der Lichtung, die von der Sonne beschienen wurde. Es war ein wunderschöner Sommertag, ohne eine einzige Wolke. Neben mir erwachte Anna beinahe im selben Augenblick und setzte sich auf.
Etwas verschlafen rieb sie sich die Augen und starrte mich an. „Ich hatte einen wunderschönen Traum“, murmelte sie. Als sie bemerkte, dass wir beide nackt waren, riss sie überrascht die Augen auf.
„Es war kein Traum!“, rief sie entsetzt. Sie schien einen Moment nachzudenken, dann lächelte sie. „Ich bin froh, dass es kein Traum war.“
Sie stand auf und gab mir einen Kuss. Beinahe war mein Verlangen wieder dabei zu erwachen, doch dann hielt ich inne. „Wir müssen gehen“, flüsterte ich ihr ins Ohr.
Sie nickte und zog sich an. Ich tat es ihr gleich. Anschließend fing ich an, alles Mitgebrachte wieder im Korb zu verstauen, welchen ich schließlich mit einem Gedanken wieder in mein Zimmer schickte.
Ich drehte mich wieder um und sah ihr in die Augen.
„Ach, wir haben noch genug Zeit“, sagte ich mehr zu mir selbst. Ich weiß nicht, ob sie derselben Meinung war, doch sie hatte offenbar nichts dagegen einzuwenden.


Kapitel 17



Erschöpft lies ich mich auf mein Bett fallen. Die Erinnerungen der vergangenen Nacht rasten ohne irgendeinen Ansatzpunkt durch mein Gehirn. Ein zufriedenes Lächeln stahl sich auf meine Lippen.
Es ist die schönste Nacht meines Lebens gewesen und ich wusste schon damals, dass ich mich immer an sie erinnern werde. Vor meinem Fenster setzte heftiger Regen ein und auf den Straßen bildeten sich in kurzer Zeit riesige Pfützen. Ein heftiger Wind fegte durch die Stadt und wirbelte den Müll auf, der herumlag. Blitze durchzuckten den Himmel; gefolgt von mächtigen Donnern.
„Definitiv kein Tag an dem man raus gehen sollte“, murmelte ich.
Ich ging an mein Bücherregal und zog ein Buch heraus, das ich mir erst vor kurzem gekauft hatte.
Allerdings konnte ich mich aus irgendeinem Grund nicht auf das Buch konzentrieren. So sehr ich es auch versuchte, verstand ich doch nichts von dem was ich las. Nach einer gefühlten Stunde legte ich das Buch weg und starrte schmunzelnd aus dem Fenster. Ich hatte schon den ganzen Tag ein ziemlich seltsames Gefühl in der Magengegend. Der Regen trommelte noch immer in seinem monotonen Rhythmus auf die Fensterscheiben. Ein einzelner Blitz zuckte über den pechschwarzen Himmel; gefolgt von einem mächtigen Donnern. Der heftige Wind wehte allerhand Laub von den Bäumen und wirbelte sie durch die Luft. Es schien sich ein heftiger Sturm zusammen zu brauen. Doch das war es nicht, was mir zu schaffen machte. Vielmehr schien irgendwas gegen meine inneren Barrieren zu stoßen. Ein unglaublich starker Druck lag auf meinem Geist. Mir entfuhr ein heißer Schrei. Ein Schmerz wie tausend Messerstiche durchfuhr mich. Gleichzeitig konnte ich über all auf der Welt dieselben Schreie hören. Es schien, als wären alle Todesengel der Welt miteinander verbunden. Vor mir erschien das Bild von Anna, die sich kreischend am Boden ihres Zimmers kringelte und sich den Kopf hielt. Ihr Bruder stand hilflos über ihr. Dann wechselte das Bild und ich erblickte Damon, in genau derselben Haltung wie Anna. Um ihn herum stand eine Gruppe von Leuten, die besorgt auf ihn herab blickte. Ein Mann mit angegrautem Haar kniete sich über ihn und sagte irgendwas auf Englisch, das ich auf die Schnelle nicht verstehen konnte. So sah ich einen nachdem anderen, während ich selber vor Schmerz kaum denken konnte.
Plötzlich ließ der Druck auf meinen Geist nach, doch das Bild Gabriels blieb. Geschockt sah ich seinen zerfetzten, blutigen Leichnam. Das Gesicht, das ich bisher nur glücklich und freundlich gekannt hatte, war zu einer entsetzten, schmerzverzerrten Maske geworden. Seinen Mörder konnte man nirgendwo sehen.
Es dauerte fast eine halbe Ewigkeit bis ich wieder zur Besinnung kam und mir klar wurde was ich dort sah. Ohne weiter darüber nachzudenken teleportierte ich mich zu ihm. Im Sekundentakt trafen die Todesengel ein und bildeten einen Kreis um den Leichnam. Zum ersten Mal seit Beginn meiner Arbeit wurde mir klar, wie viele Todesengel es eigentlich gab. Menschen aus allen Nationen versammelten sich um Gabriel.
Unsicherheit, Ungläubigkeit, Angst und Trauer spiegelten sich in den Mienen der Anwesenden. Plötzlich löste sich einer der Gestalten aus der Menge und trat an Gabriel heran. Ich erkannte Damon sofort. Er sah mich kurz an, bevor er sich zu Gabriel herunter kniete und seinen Puls fühlte. Bekümmert schüttelte er den Kopf. Eine sanfte Hand legte sich auf meine Schulter. Ich blickte zur Seite und erkannte Anna, die mich fragend ansah. Ich schüttelte nur ahnungslos den Kopf.
Damon stand wieder auf und blickte sich um. „Das ist ein schwarzer Tag für die Todesengel. Bisher hieß es, dass wir nicht sterben können, solange wir im Dienst sind. Der Tod Gabriels beweist das Gegenteil. Irgendwo dort draußen gibt es ein Wesen das in der Lage ist Todesengel zu töten. Dieses Wesen hat uns heute den ältesten und weißesten Engel genommen, der je existiert hat. Ich rate vorsichtig zu sein, denn irgendwas sagt mir, dass Gabriel nicht der letzte Engel gewesen ist.“
Ein ängstliches Raunen erfüllte die Zwischenebene.
„Was sollen wir jetzt machen?“, fragte einer von Ihnen.
„Uns bleibt nichts anderes übrig als unsere Aufträge weiterhin gewissenhaft zu erfüllen. Auch wenn Gabriel tot ist haben wir immer noch eine Verpflichtung zu erfüllen“, antwortete ein anderer Engel. Zustimmendes Nicken von allen Seiten.
„Was machen wir mit seinem Leichnam?“, fragte Anna.
Keiner Antwortete. Was machte man mit dem Leichnam einer Person, die schon seit Jahrtausenden ein Engel gewesen ist?
Die Frage erübrigte sich von selbst, denn kaum hatte sie zu Ende gesprochen, da fing der Leichnam auch schon an sich aufzulösen.
„Meint Ihr er ist ins Jenseits übergegangen?“, fragte ich.
Geschocktes Schweigen. Offenbar dachten alle dasselbe wie ich. Niemand hatte mitbekommen, dass sich ein Tor geöffnet hatte. Was war also mit Gabriels Seele passiert?
„Könnt Ihr ihn spüren?“
Kopfschütteln. „Nehmt Euch in acht, Leute. Dieses Monster scheint Todesengel nicht nur zu töten. Es hat einen Weg gefunden deren Seelen zu vernichten.“
„Niemand kann eine Seele vernichten!“
„Das war wohl der zweite Irrtum.“
Nach und nach verschwanden die Todesengel. Anna gab mir noch einen Kuss bevor sie ging um nach ihrem Bruder zu sehen. Zum Schluss waren nur noch Damon und ich da.
„Was hat das zu bedeuten, Damon?“
Mein Gegenüber schüttelte nur den Kopf. „Ich weiß es nicht Leon. Ich weiß es echt nicht.“ Er sah mich traurig an. „Kannst Du mir verzeihen?“
Ich wusste was er meinte. „Das habe ich Dir schon längst.“
Dann verschwand auch ich und lies ihn alleine zurück. Wieder in meinem Zimmer setzte ich mich zitternd auf mein Bett. Geistesabwesend nahm ich das Buch zur Hand und fing an zu lesen.
Bis zum nächsten Morgen hatte ich es ganz durchgelesen.


Kapitel 18



Ich weiß nicht wie viele Tage ich schon in meinem Zimmer saß ohne ein Lebenszeichen von mir zu geben. Meine Eltern waren mal wieder auf Geschäftsreise, weshalb mich keiner daran hinderte vor mich hinzuvegetieren.
Ich befand mich mitten in einem Traum über ein glückliches Leben als es an der Tür klingelte. Wie in Trance stand ich auf. Als ich an mir herab sah musste ich schmunzeln. Man konnte nicht gerade behaupten, dass ich sehr gepflegt aussah.
Ich ließ Tim und Daniel herein. „Wartet kurz, ich bin in einer viertel Stunde wieder da.“
Hastig stieg ich unter die Dusche. Anschließend rasierte ich mich und putzte mir die Zähne. Nachdem ich wieder annehmbar aussah zog ich meinen Trainingsanzug an und ging zu Daniel und Tim, die es sich im Wohnzimmer bequem gemacht hatten.
„Sag mal, was ist denn mit Dir los?“, fragte Daniel besorgt.
„Was meinst Du?“
„Seit Tagen hört man nichts mehr von Dir. Du hast sogar die Bandprobe verpasst. Und als wir nach Dir sehen wollen finden wir Dich vollkommen blass und unterernährt vor.“
Verblüfft sah ich noch einmal an mir herab. Mir wurde klar, dass ich seit Gabriels Tod nichts mehr gegessen hatte. Und das war immerhin schon ein paar Tage her.
„Sorry. Ich habe da ein neues Computerspiel. Aber ich glaube ich werde es löschen. Sonst werde ich noch ernsthaft davon süchtig.“
Ich wusste, dass sie sich mit der Antwort nicht zufrieden geben würden, doch zumindest würde ich so Zeit schinden können. Entschlossen stand ich auf und holte uns allen etwas zu Essen. Das schien sie zu beruhigen.
„Am besten holst Du deine Gitarre. Ina und Simone sind kurz davor Dir den Kopf abzureisen.“
Mir war nicht ganz wohl dabei, das Haus zu verlassen. Seit Gabriels Tod fühlte ich mich seltsam verlassen und schutzlos. Obwohl ich ihn nicht besonders gut gekannt hatte, wusste ich, dass er die treibende Kraft hinter den Engeln des Todes gewesen ist. Wer ein Problem hatte, konnte auf seine Weisheit vertrauen. Jetzt war er fort – und schon machten sich Trostlosigkeit und Angst breit. Jeder wusste, dass dunkle Zeiten anbrechen würden.
Und doch war mir klar, dass ich nicht ewig in diesem Haus sitzen konnte. Ich musste hinaus. Und vielleicht würde mich die Bandprobe tatsächlich auf andere Gedanken bringen können.




Im Proberaum angekommen entschuldigte ich mich erst ein Mal bei den Zwillingen. Diese winkten nur ab. Offenbar waren sie einfach nur erleichtert, mich überhaupt mal wieder zu sehen. Während sich Simone an das Drums setzte und die Sticks zur Hand nahm, stellte sich Ina an das Mikrofon und sah mich abwartend an. Tim nahm wie immer seine Position als Zuschauer ein und auch Daniel und Christian gingen auf ihre Positionen.
Ich stimmte noch schnell meine eigene E-Gitarre und trank noch einen Schluck Wasser um meine Stimme zu ölen. Und zum ersten Mal überhaupt probte die Band alle Songs durch. Als wir fertig waren sprang Tim begeistert auf und gab uns Beifall. Erleichtert darüber dass ich die Proben heil überstanden hatte lies ich mich auf einen Stuhl fallen und lächelte vor mich hin. Christian ging an seinen Rucksack und zog einen Umschlag heraus.
„Hey Leute! Ihr werdet es nicht glauben! Ich habe mal ein Demotape an Universal geschickt und die wollen uns tatsächlich einen Plattenvertrag anbieten. Wir müssen nur noch Live vorspielen.“
Entsetzt rissen wir beinahe gleichzeitig die Münder auf und starrten ihn an, als hätte er uns gerade erzählt, dass er ein mächtiger Zauberer sei.
Dann passierten mehrere Dinge auf einmal. Während sich Ina und Simone lachend in die Arme fielen, fing Daniel an zu lachen und Tim beglückwünschte uns zu unserem Erfolg. Wir nutzten den Rest des Tages erst einmal um mächtig zu feiern.
Spät in der Nacht machte ich mich schließlich auf den Weg nach Hause.



Am nächsten Morgen ging ich zum ersten Mal seit zwei Wochen wieder in die Schule. Meine Eltern sind am Abend zuvor wieder nach Hause gekommen und hatten es sich nicht nehmen lassen mich in die Schule zu schicken. Es zeigte sich, dass ich trotz meiner langen Fehlzeit nicht sehr viel verpasst hatte, weshalb ich es schaffte, schnell aufzuholen. Fast schien es, als würde die Angst, die derzeit durch die Reihen der Todesengel grassierte vollkommen unbegründet sein. Doch ich wusste es besser. Gabriel war absolut kaltblütig und nach Plan getötet worden. Denn spontan könnte man einen solch erfahrenen Engel des Todes sicher nicht töten.
Kurze Zeit später zeigte sich, dass ich mit meinem Verdacht richtig lag.
Ich hatte es glücklicherweise gerade noch auf die Schultoilette geschafft, als es auch schon losging. Erneut setzte ein heftiger Schmerz ein. Ich versuchte ihn zu ignorieren und mich an den Ort des Geschehens zu teleportieren, doch ich schaffte es nicht. Genau so schnell wie der Schmerz gekommen war, verschwand er auch wieder. Diesmal hatte es einen Engel aus China erwischt. Ich wusste nicht viel über ihn, nur dass er noch Jünger als ich gewesen ist. Bevor die Verbindung zu den anderen Engeln des Todes unterbrochen wurde konnte ich die Welle der Panik spüren; auch ich wurde von ihr erfasst und mit hinfort gespült.



Im nächsten Moment läutete die Schulglocke und beendete den Unterricht für den heutigen Tag. Ich holte noch schnell meine Schultasche und teleportierte mich im nächsten unbeobachteten Moment zu Anna. Ich wusste, dass sie im Moment genau dieselbe Furcht verspürte wie alle anderen, doch bei ihr fühlte ich mich sicher.
Sie saß auf ihrem Stuhl am Schreibtisch und versuchte sich mit ihren Hausaufgaben abzulenken. Als sie mich bemerkte legte sie den Füller beiseite und sah mich mit ihrem bohrenden, fragenden Blick an.
„Was passiert da gerade, Leon?“
Verzweifelt lies ich mich auf ihr Bett fallen und zuckte mit den Schultern. „Ich weiß es nicht, Anna. Ich weiß es einfach nicht.“
„Meinst Du es könnte Rache sein?“
„Rache? Wie kommst Du darauf?“
„Nun ja. Immerhin sorgen wir dafür dass Menschen unwiderruflich sterben. Vielleicht ist das ein Angehöriger der sich Rächen möchte.“
Ich dachte einen Moment lang über ihren Verdacht nach. „Das ist möglich. Aber woher sollte diese Person wissen, dass wir existieren?“
„Es gibt durchaus Menschen, die an so etwas glauben. Und wir wissen aus erster Quelle, dass es gar nicht so abwegig ist an uns zu glauben.“
„Du meinst jemand könnte das auf Gut Glück getan haben?“
„Ich denke ja. Vermutlich hat die Person einen Weg gefunden in die Zwischeneben zu kommen.“
„Aber wie kommt es, dass er immer dort auftaucht wo ein Todesengel ist?“, warf ich ein.
Ihre Lippen kräuselten sich leicht, so wie sie es immer taten wenn sie nachdachte. „Vielleicht Selbstmord?“
„Selbstmord?“
„Ja. Wenn derjenige sich zum Beispiel selbst tötet, muss ein Engel des Todes kommen und ihn abholen. Und wenn das geschieht tötet er den Engel und kehrt in seinen Körper zurück.“
Schweigen breitete sich aus, während ich mir ihre Überlegung durch den Kopf gehen lies. Ich war mir ziemlich sicher, dass sie recht hatte, doch über eines war ich mir nicht klar. Wie schaffte es diese Person wieder in ihren Körper zurück zu kehren.
„Ähm Leon?“ Es dauerte eine Weile bis mir klar wurde, dass sie mich etwas fragen wollte.
„Ja?“
„Was passiert eigentlich mit Seelen, die nicht durch das Tor schreiten?“
Ich zuckte nur mit den Schultern. Was passierte mit solch einer Seele? War es möglich, dass sie einfach in ihren Körper zurückkehrte?
„Damon?“, rief ich laut.
Erst dachte ich, er würde nicht kommen, doch nach etwa fünf Minuten hörte ich ein leises „plopp“ während er im Zimmer erschien.
„Was ist los?“
Als er Anna erblickte setzte er eine betont neutrale Miene auf. Ich nickte ihr kurz zu, woraufhin sie ihm ihre Theorie noch einmal offen legte. Nachdem sie geendet hatte fragte ich, was uns schon die ganze Zeit beschäftigte.
„Was passiert mit den Seelen, die nicht durch das Tor schreiten?“
Er sah mich ungläubig an. „Ist denn das nicht klar? Diese Seelen sind das was wir allgemein als Geister bezeichnen. Es kommt recht häufig vor, dass ein Engel versagt.“
Nun war es an mir ungläubig dreinzublicken. „Sie werden zu Geistern?“
„Ja, aber der Mörder ist kein Geist.“
„Warum?“
„Weil es ein paar Todesengel gibt, die in der Lage sind, Geister aufzuspüren. Sie haben die ganze Zwischenebene nach Gabriel abgesucht, aber nicht gefunden. Die Zwischenebene ist seit ein paar Wochen geisterfrei.“
„Das heißt der Mörder kennt einen Weg aus der Zwischenebene heraus?“
Ich erkannte an den Mienen der anderen sofort, dass sie dasselbe dachten wie ich. „Wäre das denn möglich?“
Damon nickte. „Ich fürchte wir haben einen Verräter in unseren Reihen. Ein Engel, der es auf andere abgesehen hat.“
Wir diskutierten noch lange darüber, doch es lies keinen anderen Schluss zu. Nur ein Engel des Todes konnte auf die Zwischenebene gelangen und wieder zurück in das Diesseits kommen.
Kurz vor Mitternacht verabschiedete sich Damon und erneut war ein leises „plopp“ zu vernehmen, bevor er verschwand.
Anna und ich sahen uns eine ganze Weile schweigend an. Dann gab ich ihr einen Kuss, der länger dauerte als geplant war. Wir hatten noch eine lange Nacht vor uns.


Kapitel 19



Fünf Wochen waren seit jenem Ereignis vergangen, das die Welt der Todesengel in ihren Grundfesten erschüttert hatte. Inzwischen waren zwei weitere Engel gestorben und noch immer tappte man im Dunkeln. Zu allem Überfluss machte sich auch noch eine Welle des Misstrauens breit, die nicht mehr aufzuhalten war. Verdächtigungen wurden ausgesprochen, Kämpfe wurden ausgefochten. Und zum ersten Mal in meiner Karriere als Todesengel begegnete ich einem Geist auf der Zwischenebene. Ich hatte gerade ein Tor geöffnet und eine andere Seele hindurch geschickt, als mir die Beobachterin auffiel. Es war eine junge Frau um die 30. Sie hatte langes, blondes Haar und einen blutroten Mund. Ihre Augen blickten matt auf das Licht.
„Wer bist Du?“, fragte ich sie. Insgeheim fragte ich mich, wie sie ihrem Engel hatte entkommen können.
„Ich weiß es nicht. Alle meine Erinnerungen sind fort.“ Ihre Stimme klang einsam und verlassen.
„Wirklich alle?“
„Ja. Zumindest jene aus meinem Leben. Ich weiß noch, dass ich das Gesicht eines freundlichen Mannes erblickt hatte, als ich hierherkam. Er war glaube ich genauso alt wie ich. Er meinte irgendwas von einem Licht. Ich glaube er meinte dass da“, sie zeigte auf das Tor, dass noch immer offen stand.
„Was ist passiert?“
„Plötzlich war da all das Blut und diese Schreie. Als sie verstummten hörte ich nur noch ein fürchterliches Lachen.“
Einer der Engel, die in den letzten Monaten gestorben war, ist etwa um die dreißig Jahre alt gewesen.
Neue Hoffnung keimte in mir auf. Vielleicht konnte mir diese Frau sagen, wie der Angreifer aussah. „Hast Du gesehen, wer das gewesen ist?“
Sie dachte kurz nach, dann schüttelte sie den Kopf. „Ich habe vor lauter Angst die Augen zu gemacht. Kannst Du mir helfen?“
Enttäuscht ballte ich die Hände zu Fäusten, dann holte ich tief Luft. „Am besten gehst Du auch durch das Licht. Dort wird man Dir weiterhelfen“, wies ich sie an.
„Was wird mich dort erwarten?“
„Erlösung“, war alles was ich sagte; es reichte. Erwartungsvoll schritt sie durch das Licht. Ich lies es erlöschen und verschwand wieder in die Realität.


Kapitel 20



Seine Miene verzog sich zu einem sadistischen Grinsen, als er beobachtete wie der Engel verschwand.
»Diesen hier«, dachte er, »werde ich leiden lassen.«
Er stieß ein lautes, lang anhaltendes Lachen aus. Dieser eine Todesengel würde sich wünschen nie geboren worden zu sein.
„Ich werde mir für dich einen hübschen Plan überlegen.“
Und dann verließ auch er die Zwischenebene.



Eine kräftige Hand packte mich an der Schulter und weckte mich durch ein unsanftes Rütteln. Widerwillig öffnete ich die Augen und sah geradewegs in Christians Gesicht. „Wach auf Du Schlafmütze. Wir sind gleich da.“
Verschlafen richtete ich mich auf und blickte aus dem Fenster. Tatsächlich. Die verschlafenen, idyllischen Kleinstädte waren verschwunden und einer riesigen, geschäftigen Stadt gewichen. Fahrzeuge aller Art tummelten sich auf den überfüllten Straßen und hin- und wieder konnte man ein Flugzeug entdecken.
Ich rieb mir noch einmal meine Augen und zog dann meine Jacke an. Und dann war es endlich soweit. Erst waren nur die vielen Bahnsteige zu sehen, dann die ersten Züge und schließlich auch die vielen Menschen, die auf ihre Züge warteten.
Auf einem großen blauen Schild stand in weißen Lettern: B E R L I N Hbf.
Endlich kam der ICE zum Stillstand und auf den Gängen begann das große Gedränge, da jeder so schnell wie möglich hinauswollte. Sei es um den Anschlusszug zu bekommen oder um einfach nur mal wieder frische Luft schnappen zu können. Als sich der Gang endlich lichtete traten auch meine Bandkollegen und ich aus dem Abteil und stiegen schließlich aus. Erleichtert stellten wir unsere Koffer ab und sahen uns erst einmal mit leuchtenden Augen an. Wir waren tatsächlich hier! In Berlin! Dort wo sich Universal Music befand.



Ein wenig nervös saßen wir auf dem braunen Sofa und beobachteten die beiden Männer, die sich angeregt unterhielten.
Keiner wagte es die anderen anzusehen. Soeben hatten wir vor einem der Zuständigen vorgespielt. Nachdem wir geendet hatten, meinte der eine von den beiden Typen nur, man solle sich gedulden. Inzwischen waren knappe zwanzig Minuten vergangen und das Gespräch schien noch immer kein Ende zu finden.
Anfangs war ich ziemlich geschockt. Die beiden an die man uns am Empfang verwiesen hatte, sahen ziemlich streng aus. Die Empfangsdame meinte nur, dass die Beiden für Bewerber zuständig waren.
Endlich, nach einer halben Ewigkeit kamen sie wieder auf uns zu und setzten sich uns gegenüber auf ein weiteres Sofa. Der Ältere von beiden rutschte bis vor an die Sofakante und rieb sich dann die Hände.
„Nun, um es kurz zu sagen: Wir sind begeistert und würden Euch gerne einen Vertrag anbieten.“
Während sich die Anderen freudig anlächelten, fiel mir ein, was mir meine Mum vor meiner Abreise gesagt hatte. Wir sollten uns den Vertrag sorgfältig durchlesen und versuchen zu verhandeln.
„Wie genau würde der Vertrag denn aussehen?“, fragte ich deshalb.
Der Jüngere sah mich überrascht an. Dann nickte er und holte einen zwei-Seitigen Vertrag in Din-A4 Format aus einer schwarzen Mappe, die auf dem Tisch lag.
Ich las ihn mir sorgfältig durch. Dann schüttelte ich den Kopf.
„Damit bin ich nicht einverstanden.“
Ina sog entsetzt die Luft ein und Simone versuchte mir auf den Fuß zu treten.
„Womit bist Du denn nicht einverstanden?“
Offenbar hatte jetzt der Jüngere die Initiative übernommen.
„Wir haben viel zu wenig Entscheidungsrecht. Wir wollen unsere eigene Musik machen. Unsere eigenen Texte, unsere eigene Melodie. Wir wollen keinen Retortenpop machen. Unsere Musik soll Ernst genommen werden.“
Die Beiden sahen mich nachdenklich an. Auch meine Bandmitglieder waren nun aufmerksam geworden.
„Nun gut. Wir werden einen neuen Vertrag aufsetzen.“ Der Jüngere öffnete seinen Laptop und rief ein Programm auf, in dem das Gerüst eines Vertrages bereits gespeichert war.
Fast vier Stunden dauerte es, bis endlich alle Parteien, also die Vertreter von Universal und die Band zu einem Kompromiss gekommen war, mit dem alle zufrieden waren.
Wir unterschrieben den Vertrag und machten uns anschließend auf dem Weg zurück ins Hotel.
„Wisst Ihr was für ein Glück wir haben?“
Ich sah Daniel fragend an.
„Na, vor ein paar Wochen haben wir unseren Schulabschluss gemacht und jetzt haben wir einen Vertrag!“
Ich lächelte. „Nun, was meint Ihr. WG oder jeder einzeln? Ich fürchte nämlich, dass wir für unseren neuen Job umziehen müssen.“
Wir beschlossen unseren Erfolg in einer Bar zu feiern. Vor uns lag eine freudige Zukunft. Und der Engelmörder hatte sich auch schon lange nicht mehr gemeldet.

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 01.06.2010

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Dieses Buch widme ich alljenen, die immer schon mal wissen wollten, was Nachts in meinem Kopf vorgeht

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