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Prolog




„Wo bin ich hier?“ Das Mädchen sah sich mit großen Augen um.
„Du bist hier in der Zwischenebene, Jennifer“, erklärte ich ihr, während ich sie genau musterte.
„In der was?“, widerholte sie verwirrt.
„In der Zwischenebene. Das ist der Ort an den die toten Seelen kommen, bevor sie von einem Engel das Tor geöffnet bekommen, durch welches sie ins Paradies gelangen.“
„Dann bin ich Tod?“
„Ganz genau. Es tut mir Leid.“
„Aber das kann doch gar nicht sein! Ich bin doch erst 16 Jahre alt. Mein ganzes Leben liegt noch vor mir!“
„Du hast auf der Party zu viel getrunken. Du hast es nicht mal mehr ins Krankenhaus geschafft.“
„Wer bist Du eigentlich? Bist Du etwa auch tot?“
„Ich bin der Todesengel Leon. Mein Auftrag lautet Dir das Licht zu öffnen.“
„Das Licht? Was für ein Licht? Und woher kennst Du überhaupt meinen Namen?“
„Das Licht ist das Tor von dem ich Dir bereits erzählt habe. Deinen Namen kenne ich meinem Auftragsbrief.“
„Kannst Du mir denn nicht noch eine zweite Chance geben?“
Seufzend schüttelte ich den Kopf. „Diese Entscheidung liegt nicht bei mir. Ich habe weder die Macht noch die Autorität dazu.“
„Aber was ist mit meiner Familie? Meinen Freunden?“
„Du wirst sie irgendwann wiedersehen.“ Zweifelnd sah sie mich an. Ich hob meine Hand und beschrieb einen Bogen. Einen Moment später erschien ein kleines, helles Licht, dass zu einem Tor heranwuchs.
„Was erwartet mich auf der anderen Seite?“
„Ich habe keine Ahnung“, antwortete ich ihr ehrlich.
„Warum hast Du keine Ahnung? Du hast doch selbst gesagt, dass Du ein Todesengel bist!“
„Ich war aber noch nie dort und bisher ist auch noch keiner zurückgekommen um mir davon zu erzählen.“
„Warum warst Du noch nie dort?“
„Weil man tot sein muss, um durch das Tor zu schreiten.“
„Du bist nicht tot?“
„Nein.“ Fordernd nahm ich ihre Hand und führte sie zum Licht.
„Muss ich wirklich?“, fragte sie mich flehend. Es fehlte nicht mehr viel, bis sie vor mir auf die Knie fallen würde. Ich streckte ihr die Hand entgegen. Dann wies ich auf das Tor. Doch zu meinem Leidwesen wollte sie noch immer nicht gehorchen. Ich seufzte erneut. Dieses Mädchen war echt ein schwieriger Fall. Mit einem freundlichen Lächeln schritt ich auf sie zu. Sie blieb trotzig stehen. Ich konnte ihr ansehen, dass sie Angst hatte, auch wenn sie es gut überspielte. Mit einer plötzlichen Bewegung stieß ich sie durch das Licht, welches daraufhin sofort erlosch.




Wenn ich mich dann mal vorstellen darf? Ich heiße Leon Winter, bin im Moment 16 Jahre alt bin das was man einen Engel des Todes oder auch Todesengel bezeichnet.
Oh cool, werdet Ihr jetzt denken. Ich mache Euch deshalb keinen Vorwurf, ich habe genau dasselbe gedacht, als mir mein Engel des Todes von dieser Möglichkeit erzählte.
Heute weiß ich, dass ich besser daran getan hätte, wenn ich durch das verdammte Tor geschritten wäre. Doch genau wie Jennifer hing ich einfach zu sehr an meinem Leben.


Kapitel 1



Mit schnellen Schritten eilte ich über die glatten Straßen Stuttgarts. Es war bereits spät in der Nacht und ich kam gerade von einer sehr unterhaltsamen Party. Lächelnd erinnerte mich an den Tanz mit dem unbekannten Mädchen.
Frierend rieb ich meine Handflächen aneinander um mich etwas zu wärmen. Dichter, kalter Schnee trieb vom Firmament herunter und bedeckte die eisigen Straßen. Nur noch eine einzelne kleine Straße musste ich überqueren, dann war ich endlich zu Hause. Euphorisch beschleunigte ich meine Schritte, da ich gleich nicht mehr frieren musste.
Mit einem entsetzten Schrei rutschte ich auf einer großen gefrorenen Pfütze aus, wobei ich eine ziemlich bescheuerte Figur machte. Ein stechender Schmerz durchfuhr meinen Schädel als ich mit ihm als erstes auf der Straße aufschlug. Die Welt um mich herum verschwamm zu einer dunklen Masse und kalter Schnee fiel in meine offenen Augen. Die Welt um mich herum fing seltsam an zu flackern. Verzweifelt versuchte ich nach meinem Handy zu greifen, welches in meiner linken Hosentasche steckte. Warmes Nass verriet mir, dass ich eine Kopfwunde hatte, die ziemlich stark blutete. Gerade als ich das Handy mit den Fingerspitzen berührte, wurde alles um mich herum schwarz – dann verschwanden sowohl der Schmerz als auch das Gefühl der Hilflosigkeit.




Verwirrt starrte ich meinen Körper, der in einem merkwürdig grotesken Winkel auf der Straße lag, an. Obwohl die Situation ziemlich ernst war, kam ich nicht umhin loszulachen.
Unter meinem Kopf hatte sich eine breite, tiefrote Pfütze ausgebreitet.
„Guten Tag Leon.“ Überrascht wirbelte ich herum und starrte in das Antlitz eines älteren Mannes, dessen Haare ein mattes Silber aufwiesen. Sein Gesicht war von vielen, größeren und kleineren Fältchen durchzogen und seine grauen Augen durchbohrten mich mit interessierten Blicken. Alle Anzeichen eines Lachens waren aus meiner Miene verschwunden.
„Wer bist Du?“, fragte ich ihn vorsichtig. Der Mann trat ein paar Schritte auf mich zu, ein freundliches Lächeln auf dem Gesicht.
„Ich bin Gabriel.“
„Und ich bin betrunken.“
Ein belustigtes Glucksen entrang sich seiner Kehle.
„Ich fürchte, da muss ich Dich enttäuschen.“
„Du willst mir doch nicht wirklich klar machen, dass DU der Erzengel Gabriel bist.“
„Ich bin kein Erzengel. Die Menschen haben da etwas vollkommen falsch verstanden.“
„Ach und was bist Du dann?“
„Ich bin ein Engel des Todes.“
Ungläubig starrte ich diesen seltsamen Gabriel an. Dann brach ich in schallendes Gelächter aus. „Okay, wo sind die Kameras?“
Doch der Mann lächelte nur stumm vor sich hin.
„Wenn Du willst, dann werde ich Dir das Tor in das Paradies öffnen.“
„Wenn ich will?“ Inzwischen war ich mir ziemlich sicher, dass das ganze nur ein Traum sein konnte.
„Nur wenn Du es willst“.
Fragend sah ich ihn an.
„Ich möchte Dir ein Angebot machen“, sprach er weiter, „entweder Du schreitest durch das Licht oder Du dienst in den nächsten 10 Jahren als Todesengel und lebst dann ganz normal weiter“.
Ich muss zugeben, dass ich meinen Entschluss damals ziemlich schnell gefasst hatte. Wohl auch, weil ich nicht wirklich daran glaubte, was ich da hörte. Ich beschloss einfach mitzuspielen. „Eltern sollten ihr Kind niemals zu Grabe tragen. Ich werde ein Todesengel“, antwortete ich ihm schließlich entschlossen.
„So soll es sein. Zehn Jahre wirst Du uns als Todesengel dienen. Du wirst die Seelen junger Leute ernten, ihnen bei dem Übergang vom Lebenden zum Toten helfen und das Licht für sie öffnen. Du wirst nebenbei weiterleben wie jeder andere auch, allerdings bist Du freigestellt von Trauer. Deinen ersten Auftrag werde ich Dir noch persönlich überbringen“.
Bevor ich kapierte was mit mir geschah, kehrte ich auch schon in meinen Körper zurück. Alles was ich hörte, war ein Fingerschnippsen.




Mit einem heftigen schaudern schluckte ich den kalten Schnee herunter der sich in meinem Mund gesammelt hatte, der die ganze Zeit offen gestanden hatte und stand auf. Ungläubig tastete ich mit der linken Hand an meinem Kopf herum. Ich fühlte keinerlei Verletzung und auch als ich mir die Hand wieder ansah, klebte kein einziger Tropfen Blut daran. Nur die leichten Kopfschmerzen blieben als Erinngerung an den Vorfall zurück. Jeder Hinweis, dass ich hier gerade gestorben bin, war verschwunden. Und doch würde ich immer daran denken müssen, wenn ich an diesem friedlichen, unscheinbaren Sträßchen vorbeikommen würde. Fröstelnd schob ich meine Hände in die Jackentaschen und setzte meinen Weg fort.
Erst als ich vor der Glotze saß und meine Tasse mit einer aufgelösten Kopfschmerztablette in der Hand hielt, wurde mir klar was ich soeben erlebt hatte.
„Ich bin ein Engel des Todes!“, entfuhr es mir aufgebracht.


Kapitel 2



Als ich am nächsten Morgen die Augen aufschlug, fühlte ich ein leichtes, unangenehmes Ziehen in der Magengegend und entschied, heute mal nicht in die Schule zu gehen. Zehn Minuten später wurde mir bewusst, dass ich wohl so schnell nicht mehr einschlafen würde und zog mich doch an. Meine Eltern waren natürlich noch immer auf Geschäftsreise.
»Soll mir recht sein. Im Moment würde ich sie sowieso nicht um mich herum haben wollen«, dachte ich mir.
Eilig trank ich meinen Kaffee und machte mich auf den Weg in die Schule. Mit den Gedanken ganz wo anders stieg ich in die Straßenbahn und setzte mich auf einen der freien Plätze am Fenster. Wie in Trance zog ich meinen MP3-Player aus meiner Hosentasche und steckte mir die Kopfhörer in die Ohren.
»Hallo Leon«.

Entsetzt fuhr ich zusammen und sah mich um.
„Können Sie denn nicht wenigstens vorher anklopfen oder so? Wo sind Sie überhaupt?“. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte ich Gabriel und alles was mit Engeln des Todes zu tun hatte vollkommen vergessen. »Daran wirst Du dich gewöhnen müssen. Ich spreche gerade über deine Kopfhörer zu Dir«,

erwiderte er glucksend, »es reicht übrigens wenn Du denkst, was du sagst. Die Leute könnten Dich sonst für verrückt halten. Ich habe deinen ersten Auftrag«.


Ich hörte ein Fingerschnippen. Im nächsten Moment hielt ich einen schneeweißen Umschlag in der Hand. Nervös sah ich mich um, doch niemand schien etwas bemerkt zu haben.
»Das ist die erste Seele die Du ernten wirst«.


Mit großen Augen öffnete ich den Umschlag und starrte auf die feine Schrift.
»Was genau werde ich in den nächsten zehn Jahren machen?«


»Du wirst junge Seelen zum Licht führen«.
»Können die das nicht alleine?«


»Nein, denn Du musst das Licht erschaffen«.
»Wie geht das?«


»Das ist mir jetzt zu müßig um es Dir zu erklären. Vertraue einfach auf Deinen Instinkt«.


»Was meint Ihr mit jungen Seelen?«


»Du bist ein Engel der auf junge Seelen spezialisiert ist. Du wirst keinen Auftrag bekommen, bei dem die Seele Älter als 20 Jahre alt ist.«


»Das ist nicht ihr Ernst!«

, entfuhr es mir ungläubig. Wie ich es damals schaffte, dass nicht laut zu sagen, ist mir noch immer ein Rätsel. Vermutlich hat Gabriel da irgendeinen von seinen tollen Tricks gemacht.
»Doch ist es! Tut mir Leid, ich muss jetzt gehen. Da wartet eine Seele in China auf mich.«


Zitternd las ich mir den Auftrag durch.


Jana Koll, Stuttgart, Deutschland.
Geburtstag: 3. April 1995
Todestag: 5. Dezember 2009 Uhrzeit: 11: 22 Uhr
Todesursache: Treppensturz am Stuttgarter Hauptbahnhof
Erkennungsmerkmale: Pferdeschwanz, rote Kappe, blaue Jeans, Hello Kitty T-Shirt
Engel des Todes: Leon Winter



Junge Seelen! Was zum Teufel hatte mich denn dazu bewogen, dieses Angebot anzunehmen? Erst jetzt wurde mir wirklich klar, was es bedeutete ein Engel des Todes zu sein. Mir fiel auf, dass ich zwar etwas unsicher war, aber keine Trauer für sich übrig hatte. Mir fiel auch ein, dass Gabriel so etwas in der Art bei unserem persönlichen Kennenlernen erwähnt hatte. Viel mehr irritierte mich die Uhrzeit zu der Jana Koll sterben sollte. „Wie soll ich das denn bitteschön machen? Um die Zeit habe ich noch Schule!“ Verzweifelt dachte ich nach. Wenn ich die Schule schwänzte, würde Dad mich erschlagen. Aber irgendwas sagte mir, dass diese Jana wichtiger als die Schule war. Ich entschied mich in Feuerbach umzusteigen und zum Hauptbahnhof zu fahren.
»Dann kann ich mir auch gleich noch was zu Essen bei BurgerKing holen« dachte ich mir, als mir einfiel, dass ich noch gar nichts gefrühstückt hatte.




Genüsslich kauend saß ich auf einer Bank und aß meinen letzten Muffin. Neben mir stand ein leerer Pappbecher, in dem sich vor wenigen Minuten noch ein Cappuccino befunden hatte.
Ein Blick auf die Uhr sagte mir, dass sie in fünf Minuten sterben sollte. Ich packte den Rest meines Essens wieder ein und sah mich neugierig nach ihr um. Schließlich fand ich sie an einem Zeitungsstand.
»Hättest vielleicht doch lieber in die Schule gehen sollen.«
Mir viel auf, dass sie ein recht hübsches Mädchen war. Langes blondes Haar, ein freundliches, aufgeschlossenes Gesicht und blaue Augen. Während sie auf die Treppen zu ging, wühlte sie in ihrer blauen Tasche nach einem Feuerzeug. Innerlich verfluchte ich mich. Ich war der einzige, auf dem ganzen Bahnhof, der wusste was geschehen würde. Aber ich war auch der einzige der ihr nicht helfen durfte. Irgendetwas sagte mir, dass diese Idee nicht allzu gut wäre.
Und dann geschah es auch schon. Durch das Wühlen in ihrer Tasche waren ihr die Treppen vollkommen entfallen.
Sie stieß einen entsetzten, ängstlichen Schrei aus, als sie die erste Stufe nicht traf und stürzte. Bereits beim ersten Aufprall brach sie sich das Genick und war tot.




Im nächsten Moment war ich auch schon wieder in der Zwischenebene. Absolute Stille umgab mich. Außer Jana und mir befand sich hier keine Menschenseele mehr. Sie stand auf der obersten Stufe und starrte ihren leblosen Körper an, der noch bis zum Ende des ersten Treppenabsatzes gerollt war. Auf leisen Sohlen ging ich auf sie zu.
„Hallo Jana“, begrüßte ich sie mit freundlicher, unbekümmerter Stimme.
„Bin ich tot?“ Es war keinerlei Schock oder Angst in ihrer Stimme zu hören. Na, die hat sich aber schnell damit abgefunden, schoss es mir durch den Kopf.
„Ja, bist Du. Ich bin hier um Dir zu helfen und Dich durch das Licht zu führen.“
„Du brauchst mir nicht zu helfen“, antwortete sie beherrscht. Ich hob fragend eine Augenbraue, während ich überlegte, wie ich das ‚Licht‘ erschaffen sollte. „Bist Du dir sicher?“
„Ja, bin ich.“ Ich sah sie ein letztes Mal an und drehte mich dann um. Ich sog scharf die Luft ein. Was hatte Gabriel nochmal gesagt? Ich solle meinem Instinkt trauen? Wie ein Pfarrer, der seine Gemeinde segnen wollte, hob ich meine Arme und stellte mir vor, wie sich das Tor öffnete.
Im nächsten Moment erschien auch schon ein kleiner Lichtfunke und wuchs zu einem mannshohen, gleißenden Tor heran. Verblüfft ließ ich die Arme sinken und starrte auf das Licht. Der Name passt, dachte ich mir. Ich wollte mich gerade nach Jana umsehen, doch diese war schon an mir vorbei geschritten und hatte das Tor passiert. Einen Atemzug später war es auch schon erloschen.
„Mutiges Mädchen“, murmelte ich.




Ein Gedanke brachte mich wieder in das Diesseits zurück. Ich saß noch immer auf der Bank am Stuttgarter Hauptbahnhof und die Welt um mich herum ging seinen gewohnten Gang. Ich richtete meinen Blick auf die Menschenansammlung an der Treppe. Neugierig ging ich auf sie zu und entdeckte einen Notarzt der verzweifelt versuchte, das Mädchen zu reanimieren. Dann schüttelte er den Kopf. Eine junge Frau neben mir brach in Tränen des Entsetzens aus, andere sahen weg um die Ihrigen zu verbergen. Es schien als wäre ich der einzige der kein Mitleid, keine Trauer zeigte. Das hieß es also ein Engel des Todes zu sein. Ich wollte gerade gehen als ich eilige Schritte die Treppe hinauflaufen hörte. Ich drehte mich wieder um und entdeckte eine Frau, etwa Mitte 30. Sie hatte langes, blondes Haar, trug hohe Absatzstiefel und hatte einen anziehenden, kurvenreichen Körper. Mit einem heißeren Schrei sank sie neben dem Körper des Mädchens zu Boden. Der Notarzt versuchte ihr etwas zu erklären, doch sie schien ihn kaum zu hören. Immer wieder hämmerte sie auf den Brustkorb des Mädchens, während ihr Tränen über die blasse Wange glitt. Ich wandte mich von der betretenen und entsetzten Menge ab und ging zu den S-Bahnen.
Dass ich dabei beobachtet wurde, bemerkte ich allerdings nicht.




Erleichtert stieg ich in den Zug und setzte mich auf einen freien Platz. Ich griff in meine Jackentasche um meinen MP3-Player herauszuholen, hielt dann aber inne. Ich hatte mich gerade an das letzte Mal erinnert. Ich dachte einen Moment nach, bevor ich den Player wieder wegsteckte. Noch eine Seele wollte ich heute nicht ernten.
„Gute Arbeit, Leon.“ Erschrocken sprang ich auf und starrte den Mann an, der ganz in Weiß gekleidet war. Er hatte eine große, kerzengerade Nase und graue Augen. Sein Haar hielt er unter seinem weißen Hut versteckt. Er hatte einen schlanken, schmächtigen, dunkelhäutigen Körper. Alles in allem, wurde mir klar, sah er nicht wirklich so aus, wie sich die Menschen einen Engel vorstellten.
Gabriel erwiderte meinen Blick kühl und wartete bis ich wieder saß. „Allerdings doch etwas ungeschickt, nicht wahr?“
Ich schwieg und ließ ihn weitersprechen. „Du hast heute die Schule geschwänzt.“
„Naja, ich dachte mir das Mädchen wäre wichtiger, oder nicht?“
„Das stimmt schon. Aber das hättest Du auch von der Schule aus machen können.“
Ein amüsiertes Lächeln erschien umspielte seine Lippen, dessen Auslöser zweifellos mein Gesichtsausdruck war.
„Das nächste Mal wirst Du es besser machen. Ich bin eigentlich nur hier um Dir zu gratulieren. In Zukunft wirst Du wohl ohne mich auskommen müssen. Erleichtert sank ich in den Sitz zurück. „Danke“, brachte ich schließlich hervor.
Er lächelte kurz, dann war verschwand er auch schon.
Hastig sah ich mich um, doch das Abteil war vollkommen leer. Niemand hatte das Auftauen und Verschwinden des merkwürdigen Mannes bemerken können. Ich konnte noch immer nicht fassen, was dort am Bahnhof geschehen ist. Dieses Mädchen war wirklich Tot! Und ich hatte ihre Seele ins Paradies geschickt! Zitternd stand ich auf, als die S-Bahn zum Stillstand kam.




Kaum hatte ich meine Sachen ausgezogen, da klingelte es auch schon an der Haustüre. Seufzend machte ich auf den Weg und ließ Florian, meinen besten Freund herein.
„Hey Leon, wo warst Du denn heute? Ich dachte schon Dir wäre etwas passiert, weil Du dich nicht bei mir gemeldet hast.“
Florian und ich waren schon Freunde seit ich denken kann. Ich habe keine Ahnung, wie und ob wir uns überhaupt kennengelernt haben. In den vergangenen Jahren hatten wir beide schon so ziemlich viel zusammen durchgemacht. Sei es der Streit um das beste Spielzeug oder als wir uns mit dreizehn in dasselbe Mädchen verliebt hatten. Den Streit ums Spielzeug hatten wir immer noch manchmal, aber zumindest was Mädchen anging war das Problem gelöst. Kurz nach seinem fünfzehnten Geburtstag hatte Florian ein äußerst interessantes Erlebnis mit einem Jungen aus der Parallelklasse. Natürlich wusste er wie ich reagieren würde, weshalb er sofort danach zu mir kam und mir alles erzählte. Die Details hatte er dabei freundlicherweise ausgelassen. Seitdem galt ich als seine große Stütze, wenn er Streit mit diesen Anti-Homo-Leuten hatte. Was aber nicht hieß, dass er immer sofort zu mir gerannt kam. Er konnte sich nämlich auch sehr gut selber wehren. Unsere Freundschaft hatte darunter nie gelitten; im Gegenteil, sie ist sogar noch um einiges fester geworden. Deshalb fiel mir auch sofort ein Stein vom Herzen als ich ihn herein ließ. Ich konnte ihm zwar nicht von meinem Problem erzählen, aber allein zu wissen, dass er an meiner Seite war, reichte mir schon aus.
„Tut mir Leid. Ich hab‘ voll verschlafen. Bin gerade erst aufgestanden.“ Dass ich ihn jetzt anlügen musste, schmerzte mich daher umso mehr.
„Das würde nicht passieren, wenn deine Eltern nicht ständig auf Geschäftsreise wären. Wann hast Du die eigentlich das letzte Mal gesehen?“
Ich zuckte nachdenklich die Schultern. „Keine Ahnung, ist wohl schon eine Weile her. ´Ne Cola?“
„Klar.“ Ich ging in die Küche um uns zwei Gläser Cola zu holen. Als ich zurück kam, hatte er es sich auch schon auf dem Sofa bequem gemacht. Ich stellte ihm seine Cola auf den Tisch und ließ mich auf die Couch fallen.
„Und, habe ich heute irgendwas verpasst?“
„Nicht wirklich. Frau Korn hat uns wieder eine Menge Hausaufgaben aufgegeben und Simone und Sven müssen zum Nachsitzen kommen, weil sie im Unterricht aneinander herumgefummelt haben.“
„Das übliche also.“
„Lass mal sehen was so in der Glotze kommt“, forderte er mich auf. Ich nahm die Fernbedienung und schaltete das Fernsehgerät ein.
»Tragischer Unfall am Stuttgarter Hauptbahnhof. Junges Mädchen stürzt die Treppen am Haupteingang hinab und stirbt noch am Unfallort«, trällerte es mir sofort entgegen. Ich wollte hastig umschalten, doch Florian fing sofort an zu protestieren.
„Schalt‘ zurück! Das möchte ich sehen.“ Seufzend zappte ich auf den Sender zurück. Der Reporter berichtete gerade über den tragischen Unfall.
»Warum das Mädchen um die Zeit nicht in der Schule war, bleibt ungeklärt. Allerdings werden die ersten Stimmen wach, die von Selbstmord sprechen.«
„Heftig“, meinte Florian, in dessen Stimme eine gehörige Portion Mitleid mitschwang.
„Jaah“, antwortete ich ruhig als die Kamera auf die Mutter des Mädchens schwang, die Gedankenverloren auf der Treppe stand. Der dunkle Blutfleck war immer noch zu sehen.
»Danke, Markus Schmied. Kommen wir zu weiteren Themen des Tages. Der DAX ist weiterhin am fallen.«
Da der Bericht nun zu Ende war konnte ich ohne Protest umschalten.
„Die Mutter kam mir irgendwie bekannt vor“, bemerkte Florian schließlich.
„Echt?“
„Ja, ich weiß nur nicht mehr woher. Ich glaube, die hat irgendwas mit meiner Mutter zu schaffen.“


Kapitel 3



Erleichtert ließ ich mich auf mein Bett fallen und starrte an die Decke, während ich mir den Tag noch einmal durch den Kopf gehen lies. Ich schaltete das Licht aus und wickelte mich in meine warme Decke ein. Plötzlich wurde die Stille der Nacht von einem lauten Zischen erfüllt. Vor mir in der Luft schwebte ein beiges, pergamentartiges Blatt. Seufzend griff ich danach und schaltete das Licht wieder ein.


Sebastian Maier, Esslingen Neckar, Deutschland.
Geburtstag: 6. Dezember 1992
Todestag: 6. Dezember 2009 Uhrzeit: 15: 23 Uhr, Waldgebiet Esslingen/Neckar
Todesursache: Vergewaltigung
Anmerkung: Leiche darf nicht vom Todesengel gemeldet werden
(auch nicht anonym)
Erkennungsmerkmale: kurzes Blondes Haar, schwarzer Pullover mit >Freedom



„Vergewaltigung“, flüsterte ich entsetzt, „und noch dazu an seinem Geburtstag.“
Entsetzen, das war alles was in meiner Stimme lag. „Was ist das für eine grausame Welt?“




Völlig übermüdet verließ ich das Klassenzimmer und machte mich auf den Heimweg. Die ganze Nacht hatte ich kein Auge zugetan, was sich natürlich auch auf meine Konzentration im Unterricht ausgewirkt hatte. Neben mir ging Florian und sah mich besorgt an. Den ganzen Weg über sprachen wir kein Wort. Erst als sich unsere Wege trennten, blieben wir stehen.
„Okay. Was ist los Leon?“
„Was meinst Du?“
„Lass mich mal überlegen. Gestern verschläfst Du den ganzen Vormittag und heute siehst Du aus als hättest Du die ganze Nacht nicht geschlafen.“
„Ach keine Ahnung was los ist.“
„Vielleicht solltest Du mal ein paar Tage zu mir kommen. Ein wenig Gesellschaft könnte Dir nicht schaden.“
Ich brauchte nicht lange darüber nachzudenken. Zum einen hatte er Recht und zum anderen sehnte ich mich mal wieder nach einer richtigen Mahlzeit.
„Ich bin dann um 18 Uhr bei Dir.“
„In Ordnung.“
Ich verabschiedete mich noch kurz von ihm und machte mich dann auf den Heimweg. Den restlichen Weg nach Hause verbrachte ich mit Grübeln. Ich wusste ja noch nicht mal genau, WO ich hinsollte. In Esslingen gab es nämlich nicht gerade wenig Wald.
Zu Hause angekommen nahm ich das Pergament mit meinem Auftrag noch mal in die Hand und las es mir, wie ich glaubte, zum tausendsten Mal durch. Ein Blick auf die Uhr sagte mir, dass es jetzt 15 Uhr war. Verzweifelt starrte ich wieder auf darauf und hielt inne. Drei Worte. Ich war mir ziemlich sicher, dass diese drei Worte vorher nicht dagewesen waren.
„Auftrag Sebastian Maier“, las ich laut vor.




Knirschende Schritte ließen mich aufblicken. Ich saß auf einem feuchten, von Laub übersäten Waldboden. Die Bäume standen ziemlich dicht beieinander und ließen nur wenig Licht durch, das aufgrund der Schneewolken sowieso schon ziemlich kraftlos war.
Die Schritte kamen von zwei Jungen, die langsam auf mich zugelaufen kamen. Der eine Junge hatte kurzes blondes Haar und trug einen schwarzen Pullover auf dem >Freedom




Sofort verhallten die Geräusche des Waldes und auch die Kälte verschwand.
Sebastian sah mich aus großen Augen an. Er glaubte ich würde ihn retten können. Nun, zumindest würde ich ihn von seinen Schmerzen befreien. Ich streckte meine linke Hand aus, die er sofort ergriff. Fast schmerzte mich seine naive Art des Vertrauens. Ich zog ihn auf die Beine.
„Hallo Sebastian“, sagte ich als er vor mir stand. Doch er hörte mich gar nicht. Sein Blick war starr auf seine Leiche gerichtet, die im Diesseits noch immer auf dem Waldboden lag.
„Was hat das verdammt noch mal zu bedeuten? Was geht hier vor?“
„Du bist tot, Sebastian. Die Stichwunde hat Dich umgebracht.“
„Ich bin tot?“
Ich nickte.
„Wie konnte er das nur tun?“
„Ich weiß es nicht. Aber ich bin mir ziemlich sicher, dass er bestraft wird.“
„Heute ist mein Geburtstag.“
Ich nickte abermals.
Schluchzend sank er zu Boden, die Hände auf sein Gesicht gepresst. „Ich habe ihm vertraut!“
Da ich nicht wusste was ich sagen sollte, kniete ich mich zu ihm herunter und nahm ihn in den Arm.
„Was passiert jetzt mit mir?“
„Wenn Du soweit bist, öffne ich Dir das Tor. Wenn Du es durchschreitest, kommst Du in das Totenreich.“
„Werde ich meine Eltern wieder sehen?“
Zuerst wollte ich ihm erwidern, dass ich das nicht wusste, doch dann entschied ich mich anders. Irgendwas sagte mir, dass sie bereits auf ihn warteten.
„Du wirst sie wieder sehen. Sie warten schon auf Dich.“
Ein kleines lächeln erschien auf seinem Gesicht, dann nickte er. Und wie schon zuvor für Jana, öffnete ich ihm das Licht.
„Leb wohl, Sebastian.“ Ich half ihm wieder auf und klopfte ihm auf die Schulter. Dann trat er durch das Licht und verschwand. Nachdem das Licht wieder erlosch, stand ich wieder in meinem Zimmer, das Pergament hatte sich aufgelöst. Ein Blick auf die Uhr sagte mir, dass es bereits 15: 23 Uhr war. Während meines Aufenthalts auf der Zwischenebene ist keine Zeit vergangen.
Ich dachte noch einmal an Sebastian. Dann wurde mir bewusst, auf welch grausame Weise er ums Leben gekommen ist. Bevor ich es verhindern konnte, drehte sich mir der Magen um und ich verteilte das Erbrochene auf meinem Bett.


Kapitel 4



„Irgendwann wirst Du dich daran gewöhnen“, sagte eine Stimme, nachdem ich mein Bett neu bezogen hatte.
„Daran könnte ich mich niemals gewöhnen“, antwortete ich ruhig.
Gedankenverloren starrte ich auf das frisch bezogene Bett.
»Moment mal!«, fuhr es mir durch den Kopf. Hastig wirbelte ich herum und blickte einem jungen, gut aussehenden Typen geradewegs ins Gesicht.
„Wer bist Du?“, fragte ich. Der Schock ließ mein Herz in einem rasanten Tempo gegen meinen Brustkorb hämmern.
„Ich bin Damon. Gabriel hat mich gebeten ein Auge auf dich zu werfen.“
„Dann bist Du auch ein Engel des Todes?“
„Genau.“
„Und warum sollst Du ein Auge auf mich werfen?“
„Gabriel hat geahnt, dass Dich deine neue Aufgabe ein wenig mitnehmen könnte. Ich bin für Dich da, wenn Du Fragen oder Sorgen hast, über die Du mit deinen Freunden und Eltern nicht reden kannst.“
„Danke, aber ich brauche keinen Aufpasser.“
Erwiderte ich ein wenig schroff. Ich mochte es nicht, wenn man mich wie ein wehrloses altes Weib behandelte.
„Dann lass uns wenigstens Freunde sein“, meinte er nach einer kurzen Pause.
„Warum?“
„Weil ich noch genau weiß, wie das damals bei mir gewesen ist. Ich hatte niemanden, mit dem ich reden konnte. Irgendwann bin ich so verzweifelt, dass ich fast schon verrückt geworden bin. Meine Mum wollte mich schon in die nächste Klapse einweisen lassen.“
„Wirklich?“
„Ja. Jeden Abend wenn ich ins Bett gegangen bin, habe ich geweint. Irgendwann habe ich dann angefangen, mir weh zu tun. Erst war es nur eine Rasierklinge, die ich über meinen Arm zog, dann wurde es zu einem Feuerzeug, mit dem ich mir die Hände verbrannte.“
„Und was hat sich jetzt geändert?“
„Irgendwann ist Gabriel zu mir gekommen. Er hat mir geholfen.“
„Wie?“
„In dem er zu meinem Ansprechpartner wurde. Uns verbindet inzwischen eine tiefe und enge Freundschaft“
„Na gut. Wir können es ja versuchen.“
Ein breites Grinsen erschien auf seinem Gesicht. „Danke! Du wirst es bestimmt nicht bereuen.“
Auch ich lächelte und bedeutete ihm, mir zu folgen. Gemeinsam gingen wir ins Wohnzimmer. Er setzte sich auf das Sofa, während ich in die Küche ging um uns jedem eine Cola zu holen.
„Hat Gabriel Dir auch diese 10 Jahre angeboten?“, rief ich von der Küche aus ins Wohnzimmer.
„Nein. Bei mir war es ein anderer Engel.“
„Und wie lange machst Du das jetzt schon?“
„Seit 12 Jahren.“
„Seit 12 Jahren?“ Ungläubig reichte ich ihm das Glas und setzte mich neben ihn.
„Nachdem die 10 Jahre um waren, hat man mich vor eine erneute Wahl gestellt. Entweder ich mache bis an mein Lebensende weiter, oder ich werde wieder ein ganz normaler Mensch.“
„Warum hast Du dich dazu entschieden weiter zu machen?“
„Ich fand es richtig, ganz einfach.“
Unzufrieden mit seiner Antwort drängte ich weiter auf ihn ein, doch er wollte nicht genauer darauf eingehen.
„Wenn Du auch soweit bist, wirst Du wissen, warum ich weiter gemacht habe.“
„Ich werde bestimmt nicht weiter machen.“
„Das habe ich am Anfang auch gedacht. Und nun sieh mich an.“
„Ich bin mir ziemlich sicher, dass ich nicht weiter machen werde. Es ist nicht richtig, kein Mitleid und keine Trauer empfinden zu können.“
Damon schwieg und nippte an seiner Cola.
„Bist du Amerikaner?“, fragte ich schließlich.
„Ja, ich komme aus Los Angeles. Wie kommst Du darauf?“
„Wegen deinem Namen. Aber sag mal, wieso kannst Du so gut Deutsch?“
„Das kommt Dir nur so vor. Ich spreche in Wirklichkeit Englisch. Das was Du hörst ist nur die Übersetzung. Das was Du auf Deutsch sagst, höre ich auf Englisch. Das ist so eine Todesengel-Gabe.“
Verwirrt starrte ich ihn an. Dann fiel mir etwas anderes auf.
„Heißt Du wirklich Damon?“
„Ja“, antwortete er grinsend. Erschrocken starrte er auf die Uhr und sprang auf.
„Tut mir Leid, ich muss gehen. Meine Mutter wartet auf den Einkauf. Wenn ich länger weg bleibe, mach ich einem anderen Todesengel neue Arbeit.“
Dann war er auch schon verschwunden.
Kopfschüttelnd sah ich auf die Stelle, auf der er gerade noch gestanden hatte. Irgendwas sagte mir, dass er ein ziemlich guter Freund werden würde.



Ich blickte ebenfalls auf die Uhr. 16:45 Uhr. Gemütlich ging ich wieder auf mein Zimmer und packte meine Tasche für die Nacht bei Florian. Eine dreiviertel Stunde später schloss ich die Haustür hinter mir ab und machte mich auf den Weg. Die Hände hatte ich sorgsam in Handschuhe gepackt und auf meinem Kopf thronte eine handgestrickte Zipfelmütze. Kalter Atem sammelte sich vor meinem Mund und erweckte den Eindruck als würde ich rauchen. Da die Temperaturen heute den ganzen Tag im minus Bereich geblieben waren achtete ich sorgsam darauf wo ich hintrat – ich hatte nicht vor, so schnell nach meinem zweiten Tod noch einmal zu sterben.
Florian wohnte mit seinen Eltern in einer ruhigen Vorstadtsiedlung. Kaum ein Mensch war auf den Straßen zu sehen; von Kindern ganz zu schweigen.
Das Haus in dem Florian mit seiner Familie lebte war ein typisches zweistöckiges Haus mit weißem Anstrich und großen Fenstern. Davor befand sich ein kleiner Vorgarten, der wegen des hartnäckigen Winters ziemlich heruntergekommen aussah. Als ich vor der Haustüre stand, drückte ich den Klingelknopf und wartete bis mir jemand die Tür öffnete. Irgendwo im Haus war hastiges Getrappel und ein freudiges Kreischen zu hören. Zwei Sekunden später wurde die Tür aufgerissen und ich blickte in Florians grinsendes Gesicht. Ich lächelte ebenfalls und trat ein. Aus dem Wohnzimmer, das sich am Ende des Hausganges befand, kam gerade seine Mutter gestiefelt. Sie war eine gut aussehende, blonde Frau in den mittleren Vierzigern. Lächelnd gab sie mir die Hand zum Gruß und ging dann weiter in die Küche, die sich direkt neben dem Wohnzimmer befand. Ich folgte Florian in sein Zimmer im oberen Stockwerk und legte meine Tasche ab.
„Also was ist los?“, fragte ich schließlich.
„Was soll los sein?“, erwiderte er mit einem Grinsen.
„Hör mal, ich kenne Dich jetzt schon lange genug um zu erkennen wenn Dir etwas auf dem Herzen liegt.“
„Stimmt. Du hast Recht. Ich habe mich endlich getraut!“
Ich sah ihn verwirrt an, doch dann kam mir ein verdacht. Sein verliebtes Grinsen bestätigte ihn
„Und wie war es? Was hat er gesagt?“
„Er fühlt genau so wie ich!“
Lächelnd stand ich auf und schlenderte zu Florian. Bei ihm angekommen, legte ich einen Arm um ihn.
„Und wann darf ich deinen Mr. Big kennenlernen?“
Florian hatte schon seit längerem einen Blick auf einen Jungen aus seinem Karatekurs geworfen. Seit dem durfte ich mir seine ewigen Schwärmereien anhören dürfen.
„Heute Abend schon. Er kommt zum Essen.“
„Ihr macht aber keine halben Sachen, oder?“
Florian lächelte verlegen. „Kann sein. Aber er ist so toll! Ich glaube ich werde ihn später einmal heiraten.“
So schwärmte er die nächste halbe Stunde vor sich hin. Mich schien er dabei völlig vergessen zu haben. Im selben Moment in dem Florians Mutter „Essen fertig“, rief klingelte es an der Haustür. Florian setzte sich rasch auf und lauschte wie seine Mutter die Haustüre öffnete. Ich beobachtete ihn grinsend.
„Hallo. Ich bin der Tim. Florian hat mich zum Essen eingeladen.“
„Hallo Tim. Ja, Florian hat so etwas schon angedeutet. Komm doch rein. Am besten gehst Du gleich ins Esszimmer, Florian und Leon kommen auch gleich.“
Florian starrte weiter an die Zimmertür, doch es war nichts mehr zu hören.
„Meinst Du nicht, wir sollten runter gehen?“
Er nickte nur und stand auf.
Im Esszimmer angekommen sah ich mir den Fremden neugierig an. Er hatte langes, blondes Haar und haselnussbraune Augen. Außerdem schien er einen ziemlich sportlichen Körper zu haben. Breit grinsend begrüßte er Tim. „Hallo Florian.“
Florian schien dahin zu schmelzen. Ich wandte rasch meinen Blick ab und setzte mich auf meinen Stuhl. Tim richtete seine Aufmerksamkeit nun auf mich. Hastig streckte ich ihm meine Hand entgegen und schüttelte die seinige. „Ich bin der Leon. Florian und ich sind beste Freunde.“ Ich hatte bewusst ein wenig schroff geklungen. Auch wenn ich ihn als Flos Freund akzeptierte, niemand würde sich jemals zwischen uns beide drängen.
„Du bist also der berühmte Leon. Florian hat mir schon viel über dich erzählt.“
Für einen Moment glaubte ich einen Hauch von Eifersucht in seiner Stimme zu hören.
In diesem Moment betraten Florians Eltern und seine Schwester das Esszimmer. Florians Vater war ein freundlicher, braunhaariger Mann Anfang 50, mit vielen kleinen Fältchen um den Mund herum. Doch mein Blick fiel auf Florians Schwester. Christina war nur ein Jahr jünger als er, und glich ihrer Mutter ziemlich stark. Sie hatte strahlend blaue Augen und ihr Körper zeigte bereits die ersten weiblichen Rundungen. Ihre Lippen waren leicht geschwungen und ihr Teint war leicht gebräunt.
„Vielleicht könntest Du uns deinen anderen Gast auch mal vorstellen?“, meinte seine Mutter.
Zum wiederholten Male beobachtete ich meinen besten Freund.
„Mum, Dad. Tim ist mein Freund. Wir kennen uns aus dem Karatekurs.“ Nervös kniff er die Augen zu.
„Schön Dich kennenzulernen, Tim. Dann gehe ich mal davon aus, dass wir Dich in Zukunft öfter an unserem Tisch willkommen heißen werden?“
Ich lächelte. Florian sollte eigentlich wissen, dass seine Eltern ihn nicht erschlagen würden.
Überrascht öffnete er die Augen und starrte seine Eltern an. „Ich bin froh, dass Du dich endlich getraut hast es uns zu sagen“, bemerkte seine Mutter noch, dann verteilte sie das Essen. Hungrig schaufelte ich eine Gabel in meinen Mund.
„Leonie war heute wieder auf der Arbeit“, sagte Florians Mutter plötzlich. Fragend sah ich Florian an.
„Leonie war die Mutter von diesem Mädchen, das am Hauptbahnhof gestorben ist“, erklärte er mir.
Nervös wartete ich darauf, dass seine Mutter weitersprach.
„Sie ist völlig fertig mit den Nerven. Jetzt versucht sie sich in die Arbeit zu stürzen. Die arme Frau. Und die Medien machen alles noch schlimmer, mit ihren Selbstmord-Gerüchten.“
Während die anderen über das schreckliche Schicksal des Mädchens sprachen, kehrten meine Gedanken zu dem Zeitpunkt zurück, als ich ihr das Licht geöffnet hatte. Wollte sie sich wirklich umbringen? Zumindest hatte sie nicht gerade unglücklich gewirkt. Im Gegenteil. Es konnte ihr gar nicht schnell genug gehen. Allerdings hätte das doch dann in dem Auftrag gestanden, oder nicht? Irgendwann, als ich alles aufgegessen hatte, standen Florian und Tim auf. Ich war allerdings so tief in Gedanken versunken, dass ich es nicht mitbekam. Florian tippte mir schließlich auf die Schulter. Erschrocken schreckte ich auf.
„Kommst Du? Wir wollen nach oben.“
Kaum zehn Minuten später wünschte ich mir, ich wäre unten geblieben. Das verliebte Pärchen saß eng umschlungen auf Florians Bett und genoss die Gegenwart des jeweils anderen. Irgendwann wurde es mir zu bunt und ich stürmte aus dem Zimmer. Da ich nicht wusste was ich machen sollte, setzte ich mich ins Esszimmer. Florians Eltern saßen gerade vor der Mattscheibe im Wohnzimmer und sahen sich CSI Miami an; seine Schwester befand sich vermutlich in ihrem Zimmer, so dass ich ganz alleine war. Wieder dachte ich an die beiden Seelen die ich bereits geerntet hatte.


Kapitel 5



Nachdenklich saß ich auf meinem Bett und starrte auf den Kalender. Ein halbes Jahr war es nun her. Vor sechs Monaten bin ich gestorben und wieder aufgewacht. Gabriel hatte mich gefragt, ob ich ein Todesengel sein wollte und ich hatte ja gesagt.
Gedankenverloren hob ich die Hand und ergriff das Pergament mit meinem neuen Auftrag. Ich erinnerte mich noch daran, dass es am Anfang aus Feuer entstanden war. Inzwischen erschien es einfach nur noch. Meine Instinkte waren stark genug, dass ich bereits ahnte wenn ein neuer Auftrag kam. Aufmerksam las ich mir das Schreiben durch.



Lukas Müller, Köln, Deutschland.
Geburtstag: 12. Mai 1995
Todestag: 1. Juni 2010 Uhrzeit: 1:23 Uhr, Köln, in seinem Bett
Todesursache: Ersticken
Erkennungsmerkmal: rote Boxershorts
Engel des Todes: Leon Winter




Stirnrunzelnd blickte ich auf die Uhr. Offenbar wurde das Schicksal des Jungen sehr kurzfristig besiegelt, denn der Junge hatte nur noch zwei Minuten zu leben.
„Auftrag, Lukas Müller.“
Im nächsten Moment stand ich in einer kleinen Wohnung, die schon lichterloh brannte. Da ich wusste, dass sie mir auf der Zwischenebene nichts anhaben konnten, folgte ich meinen Instinkten die mich geradewegs in ein Kinderzimmer führten. Der Junge lag tief schlafend in seinem Bett – er hatte von dem Feuer noch nichts mitbekommen. Verwirrt fragte ich mich, wo seine Eltern waren.
Ein leichtes Wimmern lies mich zusammenfahren. In einer Ecke des Zimmers stand ein kleines Bettchen mit Gittern. Vorsichtig ging ich darauf zu und blickte hinein. Geschockt starrte ich das Baby an, das kaum älter als vier Monate sein konnte.
Irgendwo war ein Rascheln zu hören, gefolgt von einem entsetzten Aufschrei.
Gerade als der Vater in das Zimmer stürmte, erwachte der Junge und setzte sich auf.
Als er den Rauch und die Flammen sah, legte er den Kopf schief.
Ich wusste, dass er sich bereits auf der Zwischenebene befand. Er war tot. Während der Vater zu dem Jungen rannte, holte sich die Mutter das Baby.
Seufzend ging ich auf ihn zu und reichte ihm die Hand.
„Komm Lukas. Ich öffne dir den Weg in das Reich der Toten.“
„Das Reich der Toten?“ Seine Stimme war ausdruckslos. Er nahm meine Hand und ich half ihm beim aufstehen.
„Warum sollte ich dort hingehen?“
Ich deutete auf seinen Körper, der noch immer auf dem Bett lag. Sein Vater beugte sich bebend über ihn.
Geschockt riss er die Augen auf. „Ich verstehe“, murmelte er schließlich.
Ich drehte mich um und konzentrierte mich darauf, das Tor zu öffnen.
„Moment“, unterbrach er mich. Er starrte auf seinen Vater, der den Leichnam des Jungen aus dem Zimmer schleifte. Die Mutter war bereits mit dem Baby verschwunden. „Wird meine Schwester überleben?“
Ich sah ihm in die Augen. „Sie gehört nicht zu meinem Auftrag“, antwortete ich ruhig.
„Darf ich mir denn noch etwas anziehen?“
Verblüfft sah ich ihn an. Erst jetzt fiel mir auf, dass er nur eine Boxershorts trug. „Ich weiß nicht, ob es funktioniert. Du kannst es ja mal versuchen.“
Als das Tor offen war und ich mich wieder nach ihm umsah, blickte ich in ein frustriertes Gesicht.
„Es hat nicht funktioniert.“
Ein leichtes Lächeln umspielte meine Lippen, dann trat ich von dem Tor weg. „Du kannst jetzt hindurch gehen“, erklärte ich ihm ruhig. Er nickte und verschwand anschließend in dem strahlenden weiß.


Kapitel 6



Eine einzelne Träne rann mir über meine Wangen. Heute war ich Flo in der Schule getroffen. Er hatte mich noch einmal gefragt, was los sei, doch ich konnte ihm nicht antworten. Ich durfte ihm nicht antworten! Danach hatte er mich nicht mal mehr eines Blickes gewürdigt, geschweige denn mit mir gesprochen.
Und ich konnte es ihm nicht mal übel nehmen. Seit ich ein Todesengel geworden bin, hatte ich mich immer mehr von ihm zurückgezogen. Statt Flo um Rat zu Fragen hatte ich mit Damon gesprochen.
Ein leichtes vibrieren in meiner Hosentasche holte mich aus meinen Gedanken zurück. Ich holte mein Handy hervor und starrte auf das Display.
Ich hatte eine SMS bekommen. In der Hoffnung dass sie von Flo wäre, drückte ich auf die Taste für Lesen. Enttäuscht legte ich das Handy auf meinen Schreibtisch. Es war nur eine jener Werbenachrichten von meinem Netzanbieter.
Als ich aus dem Fenster sehen wollte, schwebte ein Blatt Pergament vor mir in der Luft.

Anna Lancester, Plochingen, Deutschland
Geburtstag: 08. Oktober 1993
Todestag: 25. Juni 2010; 18:14 Uhr
Todesursache: Kokainüberdosis
E.d.T
Erkennungsmerkmal: blondes Haar mit lila Strähnchen
Engel des Todes: Leon Winter



Ohne einen weiteren Gedanken daran zu verschwenden, faltete ich das Pergament zusammen und schob es in meine Hosentasche.
Zwei Stunden später stand ich in einer kleinen zwei Zimmerwohnung irgendwo in Plochingen. Der Raum war nur sehr notdürftig eingerichtet. Ein heruntergekommenes Sofa, ein kleines Tischchen und eine Mikrowelle. Überall lagen Pizzaschachteln und überfüllte Aschenbecher herum. In einer Nische entdeckte ich eine Wasserpfeife und mehrere leere Bier- und Wodkaflaschen.
Auf dem Sofa saßen drei Personen, zwei Jungs und ein Mädchen. Einer der beiden Jungs und das Mädchen schienen gerade einmal um die 18 Jahre alt zu sein, während der zweite Junge schon auf die dreißig zu ging. Der jüngere der beiden Jungs beschäftigte sich gerade mit einem weißen Pulver.
Doch es war die Zwischenebene, auf die ich mich konzentrierte. Ein anderer Engel des Todes öffnete gerade dem Mann das Licht. Ich stellte fest, dass dieser das Tor auf eine andere Art wie ich öffnete. Statt die Hand zu heben, wie ein Priester, der seine Gemeinde segnete, zeichnete er mit seinen Fingern eine Türe in die Luft. Es öffnete sich und der Mann trat hindurch. Als es wieder erlosch, ging der andere Engel des Todes auf mich zu und ich erkannte ihn als Gabriel.
„Guten Tag, Leon. Was führt Dich her?“
Ich nickte respektvoll und erwiderte: „Ich soll das Mädchen holen“.
Dabei sah ich sie mir zum ersten Mal genauer an. Ihre lange goldene Haarmähne fiel über ihre Schultern; durchzogen von mehreren schwarzen und lila Strähnen. Ihre blauen Augen waren stark glasig und ihre Haut ungewöhnlich blass.
Da fiel mir etwas anderes ein. Ich zog den Auftrag aus meiner Hosentasche und hielt ihn Gabriel hin. „Was hat dieses >E.d.T.< zu bedeuten?“
Gabriel las sich das Schreiben durch. Als er mich wieder ansah, fingen seine Augen an zu Funkeln.
„Das steht für >Engel des TodesKapitel 7



Seit meinem Streit mit Flo war fast ein Monat vergangen und wir hatten immer noch nicht miteinander gesprochen. Da ich nicht vorhatte, länger in meinem Zimmer herumzusitzen und zu schmollen hatte ich mein Handy, meinen MP-3 Player und meinen Geldbeutel geschnappt und bin kurzer Hand in die nächste S-Bahn zum Hauptbahnhof gestiegen. Dort angekommen ging ich Zielstrebig auf die Königsstraße zu wo ich in den verschiedenen Geschäften stöbern wollte. Mein erstes Ziel war Starbucks in der Nähe vom Schloss. Ich war geradezu süchtig nach Starbucks-Kaffee. Als meine Sucht wieder für einige Zeit gestillt war, ging ich weiter. Dabei gelangte ich immer weiter in kleinere Gassen und Abzweigungen; während ich genüsslich meinen Caramell-Frappucino trank.
Schließlich gelangte ich in einen menschenleeren Park, weit weg von der Stuttgarter Innenstadt. Der strahlend blaue Himmel war inzwischen einem sternenklaren Nachthimmel gewichen.
Ich folgte einem kleinen Weg in das Herz des Parks. Um mich herum zirpten die Grillen vor sich hin. In der ferne konnte ich einen dunklen See erkennen, in dem sich die Sterne und der Mond widerspiegelten. Ein sanfter Wind wehte durch die Äste der Bäume und milderte die Hitze etwas ab.
Rauch stieg mir in die Nase und das knistern von Feuer drang durch die Stille. Am See angekommen konnte ich leises Stimmengewirr hören.
Ich setzte mich an das Ufer und starrte auf das ruhige Wasser. Meine Hände gruben sich immer wieder in die Erde und rupften etwas Gras heraus.
Plötzlich hörte ich hinter mir ein paar Schritte. Fast gleichzeitig verstummten die Stimmen. Dann hörte ich von dort eine sanfte, verspielte Melodie.
Ich spürte, dass hinter mir eine Person stand und mich beobachtete. Ich tat so, als würde ich sie nicht bemerken und rupfte weiter Gras.
„Wer bist Du?“, fragte schließlich eine männliche Stimme. Ich stand auf und drehte mich um.
Vor mir stand ein Junge, etwa in meinem Alter. Er hatte rabenschwarzes Haar und war dunkel gekleidet. Sein Gesicht konnte ich im Dunkeln nicht gut genug sehen um Einzelheiten erkennen zu können.
„Wieso willst Du das wissen?“
Mein Gegenüber zuckte nur mit den Schultern. „Einfach nur so“, antwortete er.
„Ich bin Leon“, erklärte ich schließlich und reichte ihm die Hand. Er erwiderte den Händedruck. „Ich bin Daniel. Was machst Du denn so alleine hier.“
„Ich habe einen Ort zum Nachdenken gesucht. Aber dasselbe könnte ich auch Dich fragen.“
„Ich bin nicht alleine hier“, erklärte er. Ein dunkles Schemen zeigte in Richtung des Feuers auf der anderen Seite des Sees.
Inzwischen hatten sich mehrere Stimmen in die Melodie gemischt.
„Scheint ja eine lustige Truppe zu sein“, meinte ich.
„Ja, das ist sie. Hast Du Lust mitzukommen? Wir haben bestimmt noch was zu Essen übrig.“
Ich dachte kurz nach und antwortete: „Warum eigentlich nicht?“
„Dann komm mit“.
Er ging los; dicht gefolgt von mir.
Auf einmal hatte ich wieder das „Gefühl“ und blieb stehen. Vor mir erschien ein neuer Auftrag. Ich nahm es in die Hand und sah mich um. Die Tinte leuchtete grün, weshalb ich die Daten auch im Dunkeln lesen konnte, doch ich sah nur auf das Datum und die Uhrzeit: 1. Juli 2010, 15: 35 Uhr.
Zufrieden packte ich den Auftrag weg.
Ich bemerkte, dass der Gesang auf einmal abbrach. Als ich aufblickte, sah ich zwei Mädchen und einen Jungen, die alle um das Feuer saßen.
Die Mädchen waren beide rothaarig und schlank. Ihre Gesichter waren von Sommersprossen übersät und ihre blauen Augen sahen mich fragend an. Der Junge war etwas kräftiger, mit braunem Stoppelhaar und einem leichten Bartansatz. Die drei saßen auf einem umgefallenen Baumstamm.
Daniel, der neben mir stand, hatte grüne Augen und eine lange Narbe, quer über das Gesicht. Erst wollte ich vor entsetzen zurückweichen, doch dann bemerkte ich, dass ihn die Narbe keinesfalls entstellte. Es schien, als würde sie schreien: „Hab‘ keine Angst!“
„Guten Tag“, brachte ich schließlich hervor, „ich bin Leon. Daniel hat mich eingeladen, Euch ein wenig Gesellschaft zu leisten“, erklärte ich.
„Hallo Leon. Ich bin Ina. Und das ist meine Zwillingsschwester Simone“.
„Und ich bin Christian, nett Dich kennenzulernen“.
Ich reichte allen die Hand und setzte mich hin. Neben Christian lag eine dunkelbraune Gitarre.
„Du spielst Gitarre?“, fragte ich neugierig.
„Ja, schon seit ich fünf bin“, erwiderte er stolz.
„Ich habe auch mal eine Zeit lang gespielt“, erzählte ich wehmütig. „Aber dann habe ich es irgendwie aus den Augen verloren.“
Wir unterhielten uns noch bis spät in die Nacht und mir wurde schnell klar, dass ich diese Leute sehr sympathisch fand. Es kam mir sogar so vor, als würde ich sie schon ewig kennen.
Irgendwann holte Christian wieder seine Gitarre hervor und stimmte eine melancholische Melodie an. Ina lauschte einen Moment, dann stimmte sie gesanglich mit ein. Fasziniert hörte ich den beiden zu, während meine Gedanken immer weiter abschweiften. Wieder dachte ich an Anna und an Flo.
Simone und Daniel schienen ebenfalls mit den Gedanken ganz wo anders zu sein.
„Ihr seid genial!“, platzte es plötzlich aus mir heraus.
Die Musik verstummte schlagartig.
„Danke“, antwortete Ina verlegen und lief leicht rot an.
„Wollt Ihr zu meinem Geburtstag nächsten Samstag kommen?“
„Du kennst uns doch gar nicht.“
„Das lässt sich ändern“, erwiderte ich.
Sie sahen sich kurz fragend an, dann nickte Simone. Ich gab‘ ihnen meine Adresse, das Datum und die Uhrzeit. Außerdem tauschten wir unsere E-Mail-Adressen aus.
Als alles erledigt war, verabschiedete ich mich von meinem neuen Freunden und machte mich auf den Heimweg.


Kapitel 8



Der nächste Morgen versprach ein angenehmer, sonniger Tag zu werden. Da Sonntag war, ließ ich mir besonders viel Zeit dabei, fit zu werden. Beim Gedanken an die vergangene Nacht musste ich lächeln. Lange hatte es so ausgesehen, als würde niemand zu meinem Geburtstag kommen können, sei es durch Streit oder weil keine Zeit war.
Ich linste kurz auf die Uhr und erschrak. Es war bereits 14 Uhr. Hastig schnappte ich nach meiner Hose und kramte in den Taschen herum bis ich den Auftrag fand. Ich faltete das Pergament auseinander und las.
Es dauerte fast eine halbe Stunde bis ich begriff, was dort stand. Irgendwo erklang ein heftiges Schluchzen. Unten in der Küche hörte ich lautes treiben und vor meinem Fenster mähte jemand seinen Garten. Doch all das war unwichtig.
Meine innere Uhr sagte mir, dass ich mich anziehen sollte und zu Anna musste. Widerwillig stand ich auf und verrichtete das nötigste an Morgentoilette.
Nachdem ich noch ein Glas Wasser getrunken hatte, verschwand ich auf die Zwischenebene. Den Auftrag noch immer in meiner Hand. Binnen weniger Sekunden stand ich in Annas Zimmer, die gerade an ihrem Schreibtisch saß und Schulaufgaben löste. Ich schnippte kurz mit den Fingern und holte sie auf die Zwischenebene. Diese fuhr überrascht zusammen.
„Kannst Du denn nicht vorher bescheid geben?“
Einen Moment schaffte ich es zu schmunzeln, dann wurde ich wieder Ernst.
„Da ich Dein Mentor bin, halte ich es für angebracht, dich mitzunehmen.“
„Mentor? Mitnehmen?“ Ihr Gesicht war eine einzige fragende Miene.
„Ich werde Dir zeigen, wie man eine Ernte einfährt.“
Noch immer sah sie mich fragend an. „Da Du nun ein Todesengel bist, wirst Du in Zukunft Seelen durch das Licht schicken müssen. Ich bin dein Mentor und werde Dir Rede und Antwort stehen. Heute möchte ich, das Du siehst, wie es geht.“
Ihre verwirrte Miene hellte sich blitzartig auf. „Okay“. Sie klang sehr nervös.
Ich schnippte kurz mit den Fingern, dann standen wir auf einem Gehweg. Vor uns befand sich eine stark befahrene Straße und gegenüber konnte man das Haus, in dem ich mit meinen Eltern lebte, sehen.
„Wo ist die Seele?“, fragte sie neugierig.
„Er wird gleich kommen.“
Ich reichte ihr den Auftrag, den ich noch immer in der Hand hielt.
„So sieht ein Auftrag aus.“
Sie las ihn sich konzentriert durch, während ich nach ihm Ausschau hielt.
„Wie mache ich das? Ich meine, ohne zu verzweifeln?“
Ich starrte sie kurz an. „Als Engel des Todes bist Du weder in der Lage Trauer noch Schmerz zu fühlen. Mitleid wird sehr schnell vergehen. Anfangs kann es vorkommen, dass Du dich ein paar Mal übergibst, aber das hört sehr schnell auf.“
Sie nickte. Eine Bewegung lenkte mich ab. Ich erkannte ihn sofort. Er stand an einer Ampel und wartete darauf, dass sie grün wurde.
„Das ist er“. Ich deutete auf einen Jungen mit schwarzem T-Shirt und einer karogemusterten Dreiviertel Hose. Er hatte seine Haare zu einer wilden Mähne gestylt und ein Skateboard auf seinen Rücken geschnallt. Als es endlich grün wurde eilte er über die Straße.
Da ich wusste was kam sah ich weg. Ich hörte nur ein quietschen und einen harten Aufprall.
Anna, die nicht damit gerechnet hatte, stieß ein wüstes Fluchen aus. Ich holte tief Luft und drehte mich wieder um.
Seine Arme standen in seltsamen Winkeln von ihm ab und auf der Straße sammelte sich das Blut, das aus seinen zahlreichen Wunden floss zu einer großen Lache. Das Skateboard rollte unbeschadet über die Straße und stieß schließlich gegen den Bordstein.
Der Junge stützte sich ab und stand auf; sein Körper blieb auf der Straße liegen.
Unsicheren Schrittes ging ich auf ihn zu; Anna folgte mir auf Schritt und Tritt. Er hatte mir den Rücken zugekehrt und starrte auf seinen toten Körper. In der Realität versuchte ihn gerade ein Mann einer Herzmassage verzweifelt wieder zu beleben.
Ein harter Kloß steckte in meiner Kehle fest. In dem Moment als ich ihn begrüßen wollte, wirbelte er zu mir herum und starrte mich aus großen Augen an.
„Leon! Was hat das zu bedeuten?“
„Du bist tot, Flo.“ Meine Stimme klang fest. Doch meine Gefühlswelt war Welten davon entfernt.
„Tot?“
„Ja. Ich bin hier, um Dir das Tor zu öffnen. Ich bin Dein Engel des Todes.“
„Du bist ein Engel des Todes?“
„Ja, seit fast einem Jahr.“
„War das der Grund, weshalb Du auf einmal so abwesend gewesen bist?“
Ich nickte. Mein Gesicht war von Tränen überströmt. Warum verspürte ich einen solchen Schmerz?
„Kannst Du mir verzeihen?“, fragte ich ihn.
„Ich hatte vor, diesen dummen Streit zu beenden. Ich wollte, dass wir wieder Freunde werden. Deshalb war ich auch auf dem Weg zu Dir.“
Schluchzend warf ich mich ihm um den Hals. „Ich werde Dich nie vergessen, Flo.“
„Danke Leon. Bitte kümmer dich um Tim.“
„Ich versprech es Dir.“
Ich ließ ihn los und trat einen Schritt zurück. „Wir werden uns wiedersehen. Irgendwann.“
Vor uns erschien ein kleiner, heller Punkt, der zu einem großen Tor heranwuchs.
„Da musst Du durchgehen“, erklärte ich ihm.
Zweifelnd blickte er auf das weiße Licht. Gerade als er durch das Tor schreiten wollte, erlosch es wieder.
Überrascht sah er mich wieder an.
Ich ballte die Hände zu Fäusten. „Ich kann das nicht. Du bist mein bester Freund.“
Hoffnung schlich sich in Flos Blick.
Doch bevor ich etwas tun konnte, erschien Gabriel neben mir und im selben Moment öffnete sich das Tor. Seine Miene zeigte einen Hauch von Zorn.
„Wenn Du nicht willst, dass deiner Seele der Weg ins Paradies verwehrt wird, solltest Du hindurchgehen.“
„Nein!“, schrie ich auf.
„Er kann nicht mehr in seinen Körper zurückkehren. Er ist TOD! Dein Freund würde auf ewig durch die Zwischenebene schweifen.“
Flo sah mich mit einem seltsamen Blick an. Ich wusste, dass er eine Entscheidung getroffen hatte. Heiße Tränen schossen mir in die Augen.
„Bitte geh nicht!“
Er schüttelte nur den Kopf. „Ich habe das Gefühl, dass es richtig ist zu gehen. Danke, das Du mein Freund warst“, dann verschwand er im Licht, welches gleich darauf erlosch.
Ich sank kraftlos in mich zusammen. Eine große, weite leere machte sich in meinem Inneren breit. Die Stimme meiner Mutter lies mich einen Moment aufhorchen. Sie war zur Haustür hinausgestürzt und rannte auf Flos Leichnam zu. Inzwischen waren die Sirenen eines Krankenwagens zu hören.
Gabriel sah mich noch einmal an, dann verschwand er.
„Ich dachte, wir können nicht trauern“, bemerkte Anna.
„Das dachte ich auch“, antwortete ich. „Damon!“
Ein „plopp“, dann stand er vor mir. „Was kann ich für Dich tun?“
Ich stand auf und starrte ihn an. Anna wich ein paar Schritte zurück.
„Warum hat man mir das angetan?“
Seine fragende Miene machte mich wütend. „Ich habe gerade meinen besten Freund durch das Licht geschickt! Warum?“
„Weil es Dein Aufgabenbereich ist.“ Für diesen einen Satz hätte ich ihn erschlagen können. Er war voller Kälte und Grausamkeit.
„Wer ist dieser herzlose Bastard der die Aufträge verteilt?“
Anna trat neben mich und legte eine ihrer sanften Hände auf meine Schulter.
Da er nicht den Anschein erweckte, er wolle antworten fragte ich weiter: „Gabriel hat gesagt, Todesengel trauern nicht um die Seelen, die sie ernten.“
„Das tun sie auch nicht“, erklärte er mir.
Mein Gesicht verzog sich zu einer gequälten Maske als ich dagegen ankämpfte ihm eine runter zu hauen.
„Er war dein bester Freund. Deshalb trauerst Du um ihn. Du hast Gefühle für ihn gehabt. Dein Todesengel-Dasein hat keinen Einfluss auf solch tiefgehende Gefühle“, fügte er noch hinzu.
„Das ist echte Trauer?“, fragte ich ungläubig.
„Na ja, ich kann nicht wissen was du fühlst, aber ich denke ja.“
Um uns herum herrschte einiger Tumult, doch der kümmerte uns nicht. Sanitäter und Polizisten eilten über die Straße und Schaulustige sammelten sich an den Gehwegen.
„Wo ist er hin?“, fragte Anna entgeistert. Damon war mal wieder von einem Augenblick auf den anderen verschwunden. Ich packte sie am Arm und brachte uns in ihr Zimmer zurück.
„Danke, dass Du dabei warst“, sagte ich noch, bevor ich sie zurück ins Diesseits schickte.


Kapitel 9



Ich holte noch einmal tief Luft und brachte mich dann, mittels eines Gedankens, zurück in mein Zimmer. Starr und regungslos stand ich in der Mitte des Raumes und starrte vor mich hin. Plötzlich hörte ich eilige Schritte. Kurz darauf wurde auch schon die Türe aufgerissen. Meine Mutter stürmte aufgebracht herein und warf sich um meinen Hals.
„Es tut mir so Leid für Dich, Leon.“
Da ich theoretisch noch gar nichts wissen konnte, legte ich eine verwirrte Miene auf. „Was ist los Mum?“
Wie ich es schaffte, dass meine Stimme fest klang, weiß ich nicht mehr.
Sie löste die Umklammerung soweit, dass sie mir ins Gesicht sehen konnte.
„Es geht um Flo. Er ist...“ Ihre Stimme stockte und ihre Augen fingen an zu tränen.
„Mum? Was ist mit Flo?“, fragte ich nervös.
„Er ist... Ich habe es nur krachen gehört und als ich aus dem Fenster starrte, lag er da. Oh Leon! Die Ärzte konnten nichts mehr für ihn tun.“
Geschockt sank ich zu Boden und ballte meine Hände zu Fäusten. „Flo ist tot?“
Der Schock stand mir sprichwörtlich ins Gesicht geschrieben – und er war nicht gespielt. Es war das erste Mal, dass ich es vollkommen bewusst ausgesprochen. Erst jetzt wurde mir klar, was das ganze bedeutete.
„Ich möchte bitte alleine sein“, murmelte ich schließlich. Meine Mutter sah mich widerwillig an, respektierte aber meinen Wunsch und verließ das Zimmer. Ich warf mich auf mein Bett und hämmerte auf die Kissen ein. Ich versank in Gedanken, dachte an Flo, der mich die meiste Zeit meines bisherigen Lebens begleitet hatte. Ich erinnerte mich lustige, traurige und schöne Momente. Aber auch an unseren letzten Streit.
Ich weiß nicht wie lange ich schon dalag, doch schließlich stand ich auf und zog mich an. Ich lugte kurz ins Wohnzimmer, wo Mum gerade mit Dad diskutierte. Das Gespräch brach abrupt ab, als sie mich sahen.
„Ich suche Tim“, erklärte ich und eilte aus dem Haus. Mir war das Versprechen, mich um Tim zu kümmern, dass ich Flo gegeben hatte, wieder eingefallen. Und ich würde dieses Versprechen auch einhalten.
Flo hatte mir einmal sehr deutlich erklärt, wo Tim wohnte, falls ich ihn mal nicht bei sich zu Hause antreffen sollte. Es dauerte nicht lange, dann stand ich vor dem Haus seiner Eltern und klingelte. Erst schien es als wäre niemand zu Hause, doch dann öffnete sich im ersten Stock ein Fenster und das Gesicht einer alten Frau erschien.
„Was wollen Sie?“, fragte sie.
„Guten Tag. Ist Tim da?“
„Nein, tut mir Leid. Der ist zum Skaten in den Park gegangen.“
Ich bedankte mich bei der Frau und machte mich auf die Suche zum nächsten Park. Es dauerte nicht lange, da konnte ich auch schon das fröhliche Geplärr spielender Kinder hören. Ich überquerte die Straße und erblickte einen kleinen Park.
Direkt am Eingang befand sich ein kleiner Spielplatz von dem die Kinderstimmen kamen.
Ich folgte einem schmalen Weg, der sich durch ein kleines, ruhiges Wäldchen schlängelte, bis ich plötzlich einen lauten Schrei hörte worauf unmittelbar ein heiserer Fluch folgte.
Neben einer kleinen Rampe sah ich Tim, der mit nacktem Oberkörper und Dreiviertelhose im rot-grünen Karomuster daneben saß. Obwohl ich nicht auf Jungs stand, war mir klar, warum sich Flo in ihn verliebt hatte. Kurz hinter ihm kam ich zum stehen.
Da ich nicht wusste, was ich sagen sollte, räusperte ich mich nur.
„Flo?“ Als er mich erkannte, gefror sein strahlendes Lächeln zu einer kalten Maske.
„Hallo Tim“, grüßte ich vorsichtig. Mir war gerade klar geworden, dass er noch gar nichts wusste.
„Ist das arrogante Arschloch also endlich aus seinem Versteck gekrochen, um sich bei Flo zu entschuldigen, ja? Nun, tut mir Leid, Dir das sagen zu müssen, aber er ist nicht da.“ Es fehlte nicht viel, bis er mich anschreien würde.
„Ich habe nach Dir gesucht, Tim.“
„Ach und weshalb?“, hakte er zähneknirschend.
„Es ist wegen Flo – er“, wie zuvor bei meiner Mutter, brach auch mir die Stimme. Am liebsten würde ich davon laufen, einfach nur weg. Irgendwo an einen verlassenen Ort an dem ich leise vor mich hinsterben konnte. Alles was ich wollte, war IHN wieder zu sehen.
Tim war gerade im Begriff zu gehen, als ich endlich meinen ganzen Mut fasste. Ich beschloss es schnell zu machen. „Flo ist tot!“
Tim blieb ruckartig stehen. Sein ganzer Körper bebte.
„Er war auf dem Weg zu mir, als ihn das Auto kurz vor meinem Haus erfasste und tötete“, erklärte ich mit tränenerstickter Stimme.
Ich ging einen Schritt auf Tim zu, doch er rührte sich nicht. Er stand einfach nur da und blickte ins Leere. Verzweifelt dachte ich darüber nach, ob ich etwas für ihn tun konnte. Doch im Grunde war ich selber viel zu sehr betroffen um anderen Trost spenden zu können.
„Danke dass Du mir das gesagt hast“, sagte er nach einiger Zeit.
Ohne ein weiteres Wort verließ er den Park; lies mich alleine zurück.

Verzweifelt setzte ich mich auf den Boden und rollte mich zusammen. Das fröhliche Geschrei der Kinder war immer noch zu hören und auch die Sonne hatte nicht an Kraft verloren, obwohl es bereits auf 18 Uhr zu ging. Doch das alles interessierte mich nicht. Die Tränen rannen mir in Strömen über die Wange und immer entwichen mir einzelne Schluchzer. Ich war in dem Glauben hierhergekommen um für Tim ein tröstender Ansprechpartner zu sein. In Wahrheit habe ich aber nur jemanden gesucht, der für mich da war.
Ich spürte sofort, dass ein anderer Engel in der Nähe war, doch ich hatte keine Lust zu reagieren. Erst als ich den wohltuenden Duft nach Jasmin wahrnahm, wurde ich aufmerksam.
Eine sanfte Hand legte sich auf meine Schulter und zog mich hoch. Anna stand vor mir und lächelte mich mit ihrem wunderschönen lächeln an.
„Ich habe es ganz alleine geschafft, dich zu finden. Ein einzelner Gedanke hat schon ausgereicht“, erklärte sie stolz.
„Ist irgendwas passiert? Hast Du deinen ersten Auftrag bekommen?“, fragte ich sofort.
Sie schüttelte den Kopf. „Ich dachte mir nur, na ja, Du könntest vielleicht etwas Gesellschaft gebrauchen“, murmelte sie verlegen.
Ihre Worte ließen mich ein wenig Hoffnung schöpfen. Offenbar hatte sie etwas für mich übrig, denn sonst wäre sie nicht gekommen.
„Danke, Anna. Du hast Recht. Ich glaube, etwas Gesellschaft wäre gar nicht so schlecht.“
Sie setzte sich auf die nächste Rampe und klopfte auf den Boden neben sich. Ich folgte ihrer Aufforderung nur zu gern. Es dauerte nicht lange, bis sie mich in den Arm nahm und mir tröstend den Rücken tätschelte. Kurz kam ich mir wie ein kleines Kind vor. Doch dann genoss ich es, ihr schlagendes Herz zu hören; das Heben und Senken ihres Brustkorbes zu spüren und den Jasminduft ganz tief einzuatmen. Wir sagten kein Wort; es war einfach nur diese trostspendende Umarmung, die mehr sagte als tausend Worte.
Erst als es bereits anfing zu dämmern, entdeckte ich Tims Skateboard, welches noch immer an einer der Rampen lehnte. Dankbar sandte ich Gott ein Stoßgebet, weil er mir eine Möglichkeit gegeben hatte, noch einmal mit Tim zu reden.
Unwillig löste ich mich aus der Umarmung und bedankte mich bei ihr. „Ich kann Dir gar nicht genug danken, Anna.“
Ich ging auf das Skateboard zu und nahm es auf. Als ich mich wieder zu Anna umdrehen wollte, stand sie direkt vor mir. Ihr Gesicht erschien in dem hellen Mondschein ungewöhnlich blass. Ich sah direkt in ihre wunderschönen Augen und wünschte mir nichts mehr, als sie einfach nur zu küssen. Erst dachte ich, ich hätte meinen Wunsch laut ausgesprochen, doch dann verwarf ich den Gedanken schnell wieder. Sie trat auf mich zu und ich legte ihr meine Arme auf die Hüften. Es schien als wäre das alles einfach nur ein Traum. Unsere Münder näherten sich einander bis ich ihr einen langen, zärtlichen Kuss gab. Alles um uns herum verschwamm zu einer unwirklichen Welt. Alles was ich sah, alles was ich wahrnahm war SIE. Zufrieden schloss ich die Augen und sie drückte sich mir entgegen. Nach einer halben Ewigkeit lösten wir uns von einander.
„Eigentlich ist das ja nicht meine Art“, flüsterte sie wohlig.
„Was denn?“ Ich strich mit einer Hand durch ihr Haar.
„Einen Jungen zu küssen, den ich kaum kenne“, murmelte sie.
Ich lächelte. „Dann werten wir das mal als ein Zeichen.“
Sie nickte nur. „Ich muss jetzt gehen. Mein Bruder bringt mich um, wenn ich zu spät nach Hause komme.“
„Sehen wir uns wieder?“
„Morgen?“
Zur Antwort gab ich ihr nochmal einen Kuss. Noch während des selbigen löste sie sich in Luft auf und verschwand.
Mein Hochgefühl dauerte noch ein paar Sekunden mehr an, bevor es wieder der tiefen Trauer um Flo, meinem besten Freund, wich.


Impressum

Tag der Veröffentlichung: 27.12.2009

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Dieses Buch widme ich alljenen, die immer schon mal wissen wollten, was Nachts in meinem Kopf vorgeht

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