Das Schlimmste, was in meinem Leben je passiert ist?
Endlich kam der Arzt. Ich stand auf und sah erwartungsvoll zu ihm. Er sagte nichts. Er konnte nicht. Ich hatte immer gedacht, Ärzte gewöhnten sich irgendwann daran, doch es schien nicht so zu sein. Er brachte es nur fertig, mit dem Kopf zu schütteln. Die Welt brach zusammen.
Manchmal passieren uns Dinge, die wir nicht erwarten. Oder besser gesagt, die wir nicht erwarten wollen. Unser Unterbewusstsein ist so viel schlauer, als wir selbst. Es kennt die nackte Wahrheit, ob wir sie nun sehen oder nicht.
Er sah so friedlich aus, wie er in dem Sarg lag, die Hände gefaltet und ein leises Lächeln auf den Lippen. Doch trotzdem, oder gerade deswegen, war es so schwer, dass ich mich nur schwer vom Weinen abhalten konnte. Ich legte meine Hand auf seine. 'Lebwohl, mein Liebster', flüsterte ich.
Wenn ich abends allein am Fenster sitze, denke ich oft an die Vergangenheit. Die meiste Zeit schaffe ich es, weiterzuleben, als wäre ich darüber hinweg. Doch wenn ich allein bin und es dunkel ist, dann kann ich nicht anders, als zurückzudenken.
Es hatte mich umgehauen, als ich in diese strahlend blauen Augen blickte. 'Pardon, Madame', sagte er, in einem französischen Akzent. 'Avez-vous vous blessée?' Verwirrt starrte ich ihn an. Es musste ziemlich dämlich aussehen, wie ich da lag und er mir die Hand hinhielt, um mir aufzuhelfen, ohne dass ich darauf reagierte. 'Ähm... Wie bitte?' 'Oh, pardon', wiederholte er, 'Spreschen Sie kein Frasösisch? Pardon, Madame. 'Aben Sie sisch verletzt?' 'Ähm, nein... Ich denke nicht...' Ich nahm seine Hand und er half mir auf. 'Oh, mon dieu, Ihr schönes Kleid!' Er war untröstlich, weil mein Kleid aufgerissen war. 'Pardon, es tut mir so leid, Madame.' 'Das macht doch nichts...' Ich wurde leicht rot, weil er mich unentwegt ansah, und er sah wirklich umwerfend aus. Dann noch dieser französische Akzent… Ohne es zu wollen spürte ich, wie es zwischen meinen Beinen ein wenig warm wurde. 'No, no, Madame! Isch werde Ihr 'übsches Kleid natürlisch bezahlen! Und vor'er - darf isch Sie auf einen Café einladen?' 'Eigentlich habe ich noch zu tun...' Ich blickte auf die Uhr, dann wieder zu ihm. 'Aber... Ach, was soll's, okay.'
Wenn ich an den Tag unserer ersten Begegnung denke, muss ich lächeln. Ich habe mich damals wirklich zum Deppen gemacht. Dabei war er es gewesen, der mich im wahrsten Sinne des Wortes umgehauen hatte, indem er in mich rein lief, als er um die Ecke kam. Damals habe ich nicht nur mein Lieblingskleid verloren, sondern auch noch mein Herz. Sein Name war Alexandre, er hatte leicht gebräunte Haut, dunkle Haare und diese strahlend blauen Augen. Dann hatte er noch dieses charmante Lächeln, mit dem er mich immer wieder um den Finger wickeln konnte. Er war einfach ein Traummann. Und das Beste an ihm war, er liebte mich mit einer Leidenschaft, die mir noch kein Mann zuvor entgegenbrachte.
‚'At es dir gefallen, mon cherie?', schnurrte Alexandre und legte seinen Arm um mich. Ich spürte seine nackte Haut an meiner und schauderte wohlig. ‚Und wie', flüsterte ich. ‚Das freut misch…' Er streichelte zärtlich über meinen Rücken. ‚Du bist so wunderschön, cherie…' Ich wurde leicht rot. ‚Lass uns für alle Zeit zusammen bleiben…' Ich schmiegte mich an ihn und schlief in dieser Nacht sicher und geborgen.
Nach zwei Jahren Beziehung machte Alexandre mir einen Heiratsantrag. Es war sehr romantisch, er führte mich in ein schickes Restaurant aus und machte danach einen Spaziergang im Mondschein mit mir. Als wir den Weiher erreichten und uns auf einer Bank niederließen, ging er vor mir auf die Knie und bat mich um meine Hand. Ich war überglücklich und natürlich sagte ich ‚Ja'. Unsere Hochzeit war der schönste Tag in meinem Leben, ein Traum, der Wirklichkeit wurde. Alexandre organisierte eine Hochzeit, wie sie im Bilderbuche steht und wie jedes Mädchen es sich erträumt. Ich lernte seine Familie kennen, die wirklich entzückend war und mich sofort ins Herz schloss, als wäre ich eine verschollene Tochter. Wir zogen nach Südfrankreich, wo er ursprünglich herkam, nahe am Meer in ein schönes Haus. Ich lernte Französisch und arbeitete als Hotelfachfrau, während Alexandre Bücher schrieb. Er war ein fantastischer Autor, seine Bücher handelten von wundervollen Fantasiewelten, wie man sich kaum zu erträumen wagte. Nach einem Jahr Ehe wurde unser Glück noch größer, als ich von meinem Frauenarzt erfuhr, dass ich schwanger war. Wir konnten es gar nicht fassen, wie gut das Leben zu uns war.
Doch dann kam der Tag, an dem sich alles änderte.
Alexandre kam später nach Hause, da er noch eine Routineuntersuchung beim Arzt hatte. Ich bereitete gerade das Abendessen zu, als er rein kam. Er umarmte mich von hinten und strich über meinen Bauch, in dem unser gemeinsames Kind heranwuchs. ‚Cherie', flüsterte er in mein Ohr, ‚Wir müssen reden.' ‚Was ist denn, mein Schatz?' Ich drehte mich zu ihm um. Ich bekam etwas Angst, als ich sein Gesicht sah. Er war blass und hatte Sorgenfalten auf der Stirn, wie ich sie noch nicht bei ihm gesehen hatte. ‚Was ist los?' Er seufzte. ‚Es ist so schwer', sagte er. ‚Liebling, ich habe einen Gehirntumor.' Ich fiel aus allen Wolken. ‚Was..?' Er ergriff meine Hände. ‚Hab keine Angst, cherie, der Arzt sagt, es gibt noch Hoffnung. Ich muss morgen in die Klinik. Alles wird gut, Engel.' Ich schluckte, dann nickte ich langsam.
Doch es wurde nicht wieder alles gut. Alexandre machte eine Therapie nach der anderen, doch es half nicht. Im Gegenteil. Es ging ihm immer schlechter, die Therapien machten ihn kaputt und der Tumor wuchs weiter. Es zog sich immer weiter hin.
Dann bekam ich meine Wehen. Zwei Wochen vor dem errechneten Termin brachte ich einen Jungen auf die Welt, einen entzückenden Jungen. Es war das erste Mal seit langem, dass ich Alexandre aufrichtig lächeln sah, als er den Kleinen in seinen Armen hielt. Er gab ihm den klingenden Namen Adrien.
Ich zog Adrien auf, während sein Vater im Krankenhaus immer schwächer wurde. Wir besuchten ihn jeden Tag über zwei Jahre. Alexandre sah um Jahre gealtert aus. Trotzdem brachte er ein Lächeln zustande, als er mich und seinen kleinen Sohn, der erst laufen gelernt hatte und gerade erst einige Worte sprach.
Doch natürlich konnte Alexandre nicht ewig kämpfen.
Ich hatte Adrien bei seiner Großmutter gelassen und Alexandre im Krankenhaus besucht und seine Hand gehalten. Er blickte mich an und hatte denselben liebevollen Blick, wie er ihn immer hatte, wenn er mich sah. ‚Du bist so schön, Cherie', sagte er leise. Mir standen die Tränen in den Augen. ‚Ich kann nicht mehr', flüsterte er. ‚Ich werde sterben, Kleines. Gott wird mich zu sich holen…' Ich schüttelte den Kopf. ‚Nein, du wirst nicht sterben, Alexandre', sagte ich. ‚Du wirst wieder gesund.' Er legte seine andere Hand auch noch auf meine. Er lächelte. ‚Sei mir nicht böse, cherie. Ich kann nicht mit dir alt werden.' Ich weinte, doch auch ich lächelte. ‚Ich bin nicht böse, Liebster…'
‚Wir haben einen wundervollen Sohn, nicht wahr?' Er drückte meine Hand leicht. ‚Ich würde ihn gern aufwachsen sehen, doch ich kann nicht… Aber du musst für ihn da sein, Kleines… Du wirst eine wundervolle Mutter sein…'
Nur ein paar Tage danach setzte Alexandres Herz aus. Ich fuhr sofort ins Krankenhaus, doch ich konnte nicht zu ihm, da die Ärzte versuchten, ihn zu rehabilitieren. Sie konnten nichts mehr für ihn tun. Er starb.
Das ist nun zehn Jahre her. Adrien ist inzwischen dreizehn Jahre alt. Er sieht genauso aus wie sein Vater, die dunkle Haut, die schwarzen Haare, die blauen Augen, selbst sein Lächeln sind identisch. An einem Abend fragte Adrien mich, wie sein Vater gewesen war. Und ich erzählte ihm, wie wundervoll er gewesen war. Wie gütig, liebevoll und herzlich er gewesen war. Alexandre hatte gewollt, dass ich ihn in Erinnerung halte, wie er vor seiner Krankheit gewesen war. Diesen Wunsch halte ich in Ehren, auch wenn es immer noch sehr schwer für mich ist, ohne ihn zu leben.
Adrien ist mein Sonnenschein und der Grund, warum ich niemals aufgegeben habe. Er soll ein wunderschönes Leben haben.
Manchmal spreche ich mit Alexandre, wenn ich des Nachts am Fenster sitze. ‚Siehst du, Alexandre?', sage ich, ‚Siehst du, wie unser Sohn langsam zu einem prächtigen Mann heranwächst?' Und ich sehe ihn in den Sternen. Er lächelt mir zu. Und ich weiß, er ist immer bei mir.
Tag der Veröffentlichung: 27.10.2011
Alle Rechte vorbehalten