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Wasser

Schon immer hatte er sich auf eine geradezu abartige Weise vor dem Wasser gefürchtet. Seine Mutter war nicht müde geworden, immer wieder davon zu erzählen, wie er sich mit Händen und Füßen und lautstarkem Gebrüll bereits als Baby vor dem Waschen gefürchtet, beim Anblick der Badewanne in regelrechte Panikattacken ausgebrochen war.
Man hatte dieser Eigenart schließlich Rechnung getragen und sich damit begnügt, ihn lediglich mit einem feuchten Waschlappen zu säubern. Ebenso gewöhnten seine Eltern sich an, ihm die Haare stets bis an die Grenze zur Nichtexistenz abzuschneiden, einzig zu dem Zwecke, damit auch hier die soeben erwähnte Reinigungsmethode ausreichte.
Auf Vergnügungen, denen sich andere Kinder hingaben, wie das Plantschen in offenen Gewässern, oder auf das lediglich barfüßige Waten durch sanft dahinplätschernde Wellen, verzichteten sie sehr bald. Gedanken an Schwimmen lernen, Urlaub am Meer oder in Badeparadiesen kamen erst gar nicht zur Sprache.
Felix vermisste Vergnüglichkeiten dieser Art nicht im Geringsten. Im Gegenteil, für die begeisterten Berichte seiner Klassenkameraden, oder deren sommerliche Verabredungen in Freibädern oder am Badesee, zeigte er nur ein verächtliches Lächeln.
Nach seiner Ansicht war der Mensch nicht dafür geboren, sein Leben im oder auch nur am Wasser zu verbringen. Die Sehnsucht der meisten seiner Mitbürger nach dem Anblick der unendlich blauen Fläche, dem unverkennbaren Geruch nach Algen und Seetang, verstand Felix nicht einmal ansatzweise.
Wuchsen ihm etwa Schwimmhäute zwischen den Fingern und Zehen, oder war es ihm gegeben, mit Kiemen ausgestattet unter Wasser zu überleben?
Mit Sicherheit nicht, und Felix war davon überzeugt, dass in diesen Vorgaben der Natur ein Sinn lag und eine Anweisung, der er nicht plante, sich zu widersetzen.
Nein, er hielt es mit den weisen Naturvölkern, die sich von ihren Gewässern fernhielten, bedachte dabei allerdings nicht, dass diese aus guten Gründen, wie dem Wunsch zu Überleben handelten.
Beinhalteten die mit dem Wasser verbundenen Gefahren doch ekelhaftes und unberechenbares Getier, wie nur als Beispiel erwähnt Krokodile oder Schlangen. Viel schlimmer und furchteinflößender stellten sich ihm die Möglichkeiten dar, die sich jedem Parasiten bot, der sich auf einen nichtsahnend in die verseuchte Flüssigkeit steigenden und nur allzu verwundbaren Körper stürzen konnte. Angefangen mit Blutegeln, machten die Horrorgeschichten auch nicht vor dem widerlichsten Gewürm Halt, das sich durch jede Körperöffnung Einlass verschaffen und sein zerstörerisches Werk beginnen konnte.
Es blieb dabei, Wasser war ein zu unabwägbares Risiko, als dass man allzu leichtfertig damit umgehen sollte.
Als Felix älter wurde, gewöhnte er sich an, auch bei dem, was er aufnahm und nicht nur bei der Umgebung, der er seinen Körper aussetzte, genauestens auf seine Sicherheit zu achten.
Wasser, das er zu trinken beabsichtigte, musste gründlich abgekocht werden, mindestens zehn Minuten, bestenfalls über einen Zeitraum von zwanzig Minuten.
Da Felix zu dieser Zeit gerade mitten in wichtigen Prüfungen steckte, nahm seine Mutter die Mühe gerne in Kauf und sorgte dafür, dass jede Flüssigkeit, die ihr Sohn aufzunehmen beabsichtigte, auch die gewünschte Zeit sterilisiert wurde.
Immerhin – sicher war sicher – und im Grunde konnte es auch kein Fehler sein, auf seine Gesundheit zu achten.
Und gesund blieb Felix, das musste jeder in seiner Umgebung zugeben. Als würden die Keime einen Bogen um ihn machen, so erkältete er sich so gut wie nie, blieb von geradezu nervtötender Gesundheit.
Ein wenig anstrengender, aber immer noch akzeptabel wurde es in ihren Augen, als Felix beschloss, dass auch zum täglichen Putzen der Zähne und dem ohnehin schon sparsam ausgeführten Ritual der Körperpflege nichts anderes, als bereits abgekochtes Wasser akzeptiert werden konnte.
Die Prüfungen gingen vorbei, und Felix begann sein Studium. Er entschied sich in der nahegelegenen Großstadt zu studieren, um das Geld für die Unterkunft zu sparen. Nicht nötig war es dabei zu erwähnen, dass es ihm in jeder anderen Umgebung, außerhalb der seiner Eltern, kaum möglich gewesen wäre, sein Tagespensum zu erfüllen.
Dieses beinhaltete neuerdings zu dem Abkochen jeder Flüssigkeit, auch noch die dreifache Wiederholung des Vaterunsers, begleitet von einer genauestens ausgeklügelten Abfolge gymnastischer Übungen, die er sich bereits vor Jahren zusammengestellt hatte.
Diese bezweckte eine ausgewogene und wiederholte Anspannung und darauffolgende Entspannung sämtlicher Muskelpartien, eine Möglichkeit, wie er sie sah, um den Körper zu reinigen von den schädlichen Einflüssen, denen er während der Fahrt zur Uni ausgesetzt war.
Sein Pech wollte es nämlich, dass diese Fahrt direkt an einem Gewässer vorbeiführte.
Zugegeben, er sah dieses nur durch die trüben Scheiben eines Zugfensters, doch allein das Wissen um die Existenz, um die unmittelbare Nähe mit der Gefahr, erweckte in Felix unangenehmste Gefühle. Diese schienen ihm am ehesten noch mit denen vergleichbar, die ihn bereits während Kindheit in ein nervliches Wrack verwandelt hatten.
Er sprach nicht über sein Leiden. Wenn ihm doch eine Bemerkung herausrutschte im Beisein eines Menschen, dem er genug Vertrauen schenkte, als dass er sich soweit öffnen konnte, so führte sie zumeist zu ähnlichen gutgemeinten, wenngleich unnötigen Ratschlägen.
Da war zum Beispiel der Vorschlag, doch den Führerschein zu machen und mit Hilfe eines Autos der so verhassten Zugfahrt aus dem Weg zu gehen.
Felix nickte nur höflich zu Ratschlägen wie diesem und bedankte sich nach allen Regeln des Anstands.
Tief in sich konnte er jedoch nicht anders, als heftig den Kopf zu schütteln über die Naivität einer solchen Denkungsart.
Bedachten all die wohlmeinenden Personen doch weder, dass der Besitz eines Autos die zwangsläufige Reinigung desselben zur Folge hatte. Und weder hatte Felix vor, sich mit eimerweise abgekochten Wasser an das Polieren eines Haufen Blechs zu begeben, noch zog er auch nur den Bruchteil einer Sekunde die Möglichkeit der Waschanlage in Erwägung. Allein ein Anblick eines solchen Gebildes ließ Felix bereits erschauern.
Doch der Schwerwiegendste aller Gründe lag in dem Rinnsal von Bach, das sich direkt um die einzige Fahrschule des kleinen Vorortes schlängelte.
Ein Bach, der immer noch groß genug war, als dass Felix, sobald er in dessen Nähe kam, gezwungen war, sein Ritual der Vaterunser und der rhythmischen Übungen auszuführen.
Nicht selten erntete er dabei schräge Blicke von zufällig Vorbeigehenden, doch im Laufe der Zeit gewöhnte er sich an diese Unannehmlichkeit und bemühte sich, darüber hinweg zu sehen.
Andere Menschen verstanden nicht, was er verstand. Sie sahen die Gefahren nicht, denen er täglich ausgesetzt war. Und manchmal beneidete Felix sie, beneidete sie um ihre Leichtfertigkeit, ihre Gedankenlosigkeit, ihr oberflächliches Treiben über die klaffenden Abgründe der Welt hinweg, vorbei an hungrigen Monstern und unsichtbaren Gefahren.
Nur er sah sie, sah jedes Monster in jeder erschreckenden Einzelheit, erkannte jede Gefahr in ihrer ganzen Ausprägung, ihrem fürchterlichen Grauen.
Und so blieb es seine Aufgabe, die Drohungen des Unvorhersehbaren in Schach zu halten, seine Aufgabe, mit all seinen Möglichkeiten dagegen anzukämpfen, dass das Böse die Überhand gewann, dass der Schrecken die Kontrolle übernahm.
Er hatte keine andere Wahl, als seine Übungen auszudehnen, als seine Einschränkungen genauer zu definieren.
Bald sah man ihn fast ausschließlich mit unermüdlich sich bewegenden Lippen. Ständige Vaterunser entströmten seinem Mund, verstummten nur, wenn die Anstrengung des Trainings ihm die Puste nahmen.
Denn seinen Körper zu stählen, abzuhärten, sah Felix als einzigen Ausweg aus dem Dilemma der immer größer werden Risiken, die ihn umgaben.
Er musste Umwege nehmen, joggte durch mehrere Querstraßen, vor und zurück, um von dem Brunnen auf dem Marktplatz den größtmöglichen Abstand zu halten.
Dazu kamen die unvorhergesehenen Notwendigkeiten, wie zum Beispiel gerade im Sommer die zunehmende Anzahl offen herumstehender Wasserflaschen, Gießkannen oder noch schlimmer: laufender Gartensprenganlagen.
Felix sprach bald nicht mehr, nichts Anderes als sein zum Mantra gewordenes Gebet. Zu sehr waren seine Lippen damit beschäftigt, die Worte des Vaterunsers zu formen.
Die Übungen, die er mittlerweile um einige Kniebeugen und Liegestützen erweitert hatte, nahmen ihn zu sehr in Anspruch, als dass er noch den Aufgaben des Studiums nachkommen konnte.
Unnötig zu erwähnen, dass seine Eltern sich hilflos fühlten. Schon seit langem war jede Ansprache an ihn ungehört verhallt. Zu lange hatten sie sein Verständnis vorgaukelndes Kopfnicken als positives Zeichen gewertet und nicht als das gesehen, was es war: Die Möglichkeit, sie für den Moment loszuwerden und sich ihrer unnötigen Mittäterschaft zu entledigen.
Der Priester, den sie aufgrund seiner unzerstörbaren Vorliebe für die Worte des Herrn holten, brachte sie nicht weiter, begnügte Felix sich doch damit, ihn mit Missachtung zu strafen, woraus jener unweigerlich schloss, dass es sich hierbei um kein kirchliches Problem handelte und sich umgehend empfahl.
Es überraschte also nicht wirklich festzustellen, dass den lieben Eltern von Felix die Belastung über kurz oder lang zu viel wurde. Nun – sie selbst überraschte es vielleicht und auch Felix. Obwohl Felix im Grunde zu abgelenkt war, um die Veränderungen um ihn wahrzunehmen.
Seine Eltern zogen sich auffallend zurück, nicht unbedingt absichtlich, sondern mehr aus Gründen der Notwendigkeit, besser gesagt aus Gründen der puren Selbsterhaltung.
Sie gingen Felix aus dem Weg, soweit ihnen dieses möglich war und sie ignorierten sein Verhalten mit all der verbleibenden Kraft, die ihnen zur Verfügung stand.
Unglücklicherweise handelte es sich bei dieser Kraft nur noch um einen spärlichen Rest dessen, was sie einst als junge Eltern ausgezeichnet hatte. Die jahrzehntelange Beobachtung, das Hegen und Pflegen einer Pflanze, die in keine Richtung wuchs, die sich im Kreis drehte und keine Anstalten unternahm, ihrem eigenen ewig verzweifelten Rundlauf ein Ende zu bereiten, hatten sie bis zu einem Punkt erschöpft, an dem kein Ausweg mehr zu existieren schien.
Sie liebten Felix, liebten ihn wirklich, und vielleicht war auch das der Grund, warum sie beschlossen, ihn und damit auch sich selbst von dem Elend, das sie eingeholt hatte, zu befreien.
Gerichtsverhandlungen, psychiatrische Sitzungen und Gefängnisstrafe ertrugen sie ohne zu klagen. Ruhig und stoisch saßen sie ihre Zeit ab, unterließen unnötige Verteidigungsmaßnahmen, leere Rechtfertigungen.
Denn sie waren sich einig, wie stets in den wichtigen Fragen ihrer Ehe, einig, dass es die Opfer wert war, endlich frei zu sein.
Und es war leichter gewesen, als erwartet. Kam ihnen der geschwächte Zustand ihres Sohnes doch zu Gute. Selbst wenn sie einen Moment befürchtet hätten, ihn mit ihren vereinten Kräften nicht unter dem Kissen festhalten zu können, so wussten sie doch, dass der tropfende Eimer Wassers neben seinem Bett, die erforderliche Lähmung zur Folge hatte, die eine Schrecksekunde, die sie brauchten.
Ihre Trauer hielt sich aus den erwähnten Gründen in Grenzen, und das erste, was sie unternahmen, nachdem ihre Freiheit ihnen wieder geschenkt worden war, bestand in einem Ausflug an die See. Wasser soweit das Auge reichte. Wasser und sonst nichts mehr.

Gift

Es stand auf dem Tisch, das Wasserglas. Sauber und klar. Durchscheinendes Glas und darin verlockend das Wasser. Erfrischend lockte sein Anblick jeden, der es erblickte. Obwohl jeder doch wusste, wie fatal es sein konnte, der Verlockung nachzugeben, mit dem Inhalt die Zunge zu benetzen, das brennende Verlangen in der Kehle zu stillen. Sie alle schlichen um den Tisch, auf dem es wie eine Trophäe aufgebaut war, herum. Sie alle wussten, welch ein grausames Schicksal die Prüfung von ihnen forderte. Denn die augenscheinliche Reinheit trog. Was sich wirklich in dem Glas befand war zu fein, zu winzig, als dass ihre bloßen Augen es erkennen konnten. Neben den Mineralstoffen, die zu erwarten waren, den kleinen Partikeln von Schmutz oder Staub, die sich mit der Bewegung der Luft um den Standpunkt des Gefäßes auf die Oberfläche der Flüssigkeit senkten, befand sich noch so vieles mehr in dem durchsichtigen Behälter. Schwammen Teile, Hüllen, Formen und Farben darin, die niemand jemals zu Gesicht bekam, die nur erahnt werden konnten und auch das nur mit dem äußersten Maß an Vorstellungskraft.
Regenbogenfarbene Ovale, die sich mit Hilfe von Geißeln durch sanften Widerstand trieben, begegneten und begegneten nicht den kristallenen Gebilden, die nicht lebend und nicht tot ihre Existenz selbst bezweifelten. Und die dennoch eine fatalere Wirkung auf den Organismus ausübten, der sich ihnen näherte, als jener zu glauben wagte. Kleine Härchen schlugen, schwebten. Schnüre glitten, Perlen schwammen und seufzten, hingen nebeneinander wie Ketten. Das klare, reine Wasser füllte sich mit Wesen aus einer anderen Welt, mit Gestalten, die ohne den magischen Blick geschliffener Linsen, ohne die unglaubliche Bewegung noch winzigerer Elektronen niemals auch nur vermutet wurden. Nicht von ihnen, nicht von denen, die das Glas immer noch umrundeten. Denen ihr eigenes Wasser im Munde zusammenlief, deren Durst sich steigerte von Schritt zu Schritt.
Oh ja, sie wussten es, wussten von dem schleichenden Tod, der in dem Glas lauerte. Doch wer von ihnen besaß den Mut oder die Verzweiflung ihm zu trotzen? Wer von ihnen erwies sich als irrwitzig genug, um den Schluck zu nehmen, das letzte Wagnis einzugehen? Keiner von ihnen hatte etwas zu verlieren und doch verloren sie mit jedem Schritt mehr.
Der junge Mann blieb stehen. Ermunternde Blicke flogen ihm zu. Das Wasser lockte. Köstlich schwappte es von links nach rechts, floss gegen die Rundungen des kühlen Glases. Sie alle schmeckten es, fühlten seine Klarheit, das Stillen eines unstillbaren Durstes. Der Inhalt eines Glases reichte nicht, reichte nie, nicht für einen von ihnen. Und doch waren sie alle befreit, wenn der eine das Opfer brachte. Der junge Mann verneigte sich. Er berührte mit zitternden Fingern die glatte Oberfläche. Er versuchte, das Wasser, sein Wasser durch das Glas hindurch zu fühlen. Es prickelte auf der Zunge. Winzige Tropfen stiegen auf, gleich Wasserdampf drangen sie in seine Nase. Ein Zurück war unmöglich, ein Zögern keine Option. Er hob das Glas und trank. Der Jubel brandete hoch. Die Dankbarkeit umfloss ihn weich, so wie die Flüssigkeit seinen Hals benetzte. Es schmeckte bitter und mit dem ersten Schluck sah er die Seuche vor sich. Er sah sich auf dem armseligen Strohlager, das ihm blieb. Wie er dahinvegetierte, wie er sich um seinen letzten, röchelnden Atemzug quälte.
Doch nicht einmal dies Elend war ihm vergönnt. Denn nun war es zu spät, er konnte den Fluss nicht mehr aufhalten, sah das Leben an sich vorüberziehen, sah wie seine Welt endete.
Das Wasser rann, es gelangte in die falsche der Kehlen und er hustete, spuckte einen Teil wieder aus, schluckte wieder. Es gab kein Zurück. Bis auf den letzten Tropfen trank er, leerte den Becher, bis der aus seinen entkräfteten Fingern mit einem Klirren zu Boden stürzte. Und er neben ihm auf die Knie sank, den Kopf in die Hände stützte. Er wusste es, sie alle hatten es gewusst. Reinheit existierte nicht, sie war eine Lüge und er verdammt zu seinem letzten Gang.
Er krümmte sich. Der Schmerz verzerrte sein Gesicht. Seine Muskeln zuckten in Krämpfen. Keine Zeit abzuwarten, keine Zeit der Inkubation. Die Dichte unsichtbarer Erreger inmitten der lockenden Klarheit riss ihn hinab. Zeit schnellte zusammen, schrumpfte und dehnte sich gleichermaßen, als er den Horizont erblickte, als seine Gelenke anschwollen, seine Eingeweide rissen und bluteten, während das verseuchte Wasser in ihm tobte, seine Zellen durchdrang, vergiftete und eine nach der anderen tötete. Keine Zeit für Reue, keine Zeit, seine Entscheidung in Frage zu stellen. Letzte Gedanken wirbelten durch den verwüsteten Verstand, letzte Erkenntnis öffnete ihm die Augen.
Doch befreite sein Opfer die Gefangenen Die Wahl fiel auf ihn und als er starb, starb er als Held und in dem Wissen, dass sein Mut die Rettung für andere bedeutete, dass er allein die Lüge in der Reinheit offenbarte.

Planet

Ich habe immer geglaubt, dass es auf die Perspektive ankommt.
Dass unsere Realität so leicht von dem abweicht, was wir vor uns sehen, gehört nur zu einem der vielen Hindernisse, die sich zwischen das denkende Wesen und seinen Versuch zu begreifen stellen. Denkende Wesen, das sind wir, das ist es, wozu uns die Evolution geschaffen hat. Erschaffen, um zu forschen, um den Blick zu schärfen, das endgültige Sein einzufangen. Ob in Worten, Taten oder abstrakten Gebilden, in Analysen, die den Anspruch auf Vollständigkeit erheben, spielt keine Rolle, denn darauf ziele ich letztendlich nicht ab. Nicht meine Aufgabe, nicht meine Leidenschaft.
Ich bin ein Beobachter. Und ich beobachte die Welt um mich. Wie sie sich verzerrt, dehnt, ihre Konturen wachsen und wieder verschwimmen. All das während ich dahingleite in schwebender, ewiger Existenz. Mein Bericht wird geprägt sein von Farben und Formen, von der Bedeutung, die ich diesen verleihe. Ich gebe ihnen Namen, ich kategorisiere und ordne.
Wenn ich mich um mich selbst drehe, dann verändert sich alles. Wenn ich einen Schritt vorwärtsschwebe, dann stoße ich an meine Grenzen. Glasklar sind sie und kalt. Doch kann ich sie dereinst passieren, dann fließe ich in neue Freiheit, ergieße mich in die Welt, über die Welt, an der ich bis zu diesem Moment nur als ein Zuschauer teilhabe. So bin ich gezwungen zu warten und zu lauschen. Auf die gedämpften Geräusche, die wie durch einen Filter an mein Gehör dringen. Mal gluckernd, mal kichernd, doch nie wirklich.
Aber ich kann warten. Was ich um mich sehe, wird nicht auf ewig von mir getrennt bleiben. Ich kann in mir sehen, wie ich mich mit der Außenwelt vereine, in sie hineinfließe und mich darin auflöse. Wie sich Milliarden von Atomen miteinander vermischen, Moleküle zu Kunstwerken verknoten, deren Anfang und Ende ähnlich unbekannt bleiben wie ihr Daseinszweck. Alles wird eins. Ob ich aufsteige, die Schwere verliere und in winzigen Bläschen gen Himmel fliege, mich in lebensspendenden Funken verteile oder tiefer sinke an den Grund, um abzuwarten bis über mir Schicht nach Schicht verdampft, mich austrocknet und freilegt – es bleibt alles eins. Ich existiere, um es zu sehen und davon zu erzählen.
Denn das Schiff wird kommen, mich aus meiner Position zu lösen und meiner endgültigen Bestimmung zuzuführen. Ich spüre, dass es sich nähert, als die Welt um mich herum erbebt. Fest wird frei und hart zu weich. Die fließenden Bewegungen um mich breiten sich aus, werfen mich in Schräglage, verändern meine Sicht. Ich sehe, dass sie kommen, die Wesen, die mich verstehen, zu denen ich gehöre, denen ich Rede und Antwort stehen werde und will. Aus dem anderen Universum, dem Raum um mich ziehen sie mit ihren unsichtbaren Fäden, reißen mein Gefäß, das Glas, das mich schützt in die Höhe. Ich wirble um mich selbst, verliere mich im Strudel, als sich alles seitwärts lehnt, als mich der Strom weiterhinauszieht, aus meiner illusorischen Sicherheit befreit. Ich schwebe, schwimme und werde vorwärts getrieben, paddele hilflos an der Oberfläche, suche nach Luft, nach Atem. Je länger ich nach ihm suche, desto weniger finde ich ihn, desto schwieriger erscheint mir meine Pflicht. Nicht so wie gedacht, nicht wie geplant nähere ich mich einem Ziel. Ich steige nicht hinauf in eine Unendlichkeit, die mich nach Hause führt. Ich fließe hinab. Die Schwerkraft, die mich losließ und in die Höhe wirbelte, zieht mich nun tiefer, zieht mich in eine warme Hölle. Die rote Höhle, die mir nun, da ich so kurz davor stehe, von ihr verschluckt zu werden, zum ersten Mal ohne die täuschende Verzerrung des Glases gegenübersteht, sich in ihrer ganzen Hässlichkeit und ihrem realen Schrecken offenbart. Welcher Illusion saß ich nur auf? Welch einer Verzerrung meiner Wirklichkeit? Nun, da ich mich aus der fließenden Substanz befreie, von Sauerstoffatomen durchpumpt werde, die heiße Hölle vor Augen mich von dem kühlen Nass verabschiede, weiß ich über das Ausmaß meines Irrtums. Niemals werde ich durch den Weltraum fliegen. Niemand kommt mich zu befreien, niemand interessiert sich für die Beobachtungen, die ich so sorgfältig gespeichert habe. Ich bin allein und war es immer. Ausgeliefert dem Hunger einer Welt aus Warmblütlern. Einer Welt, die fern der kalten Analyse, von ihrem Trieb beherrscht wird. Die mich verschluckt, verdaut, vernichtet. Und nur vielleicht entlässt, wenn ich in meine Einzelteile gespaltet, zu Staub und Schmutz mutiert, am äußersten Rand des Fegefeuers wieder zu mir komme und feststelle, dass ich nicht einmal hier das Ende finde. Dass sogar das Ende Illusion bleibt. Dass alles eine Frage der Perspektive ist und auf ewig sein wird.

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Tag der Veröffentlichung: 16.06.2013

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