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Es war die letzte Nacht des Novembers.

Eine große und ungesagte Dunkelheit, die sich irgendwo aus den oberen Sphären des Himmels schälte, senkte sich von Dämmerung zu Dämmerung schon dichter und weiter über die an der Erde kauernden Städte; und das Licht der Straßenlaternen funkelte plötzlich trüber durch die Nacht, wie vereinsamt, hilflos und doch unbehelligt lag es da, unsichtbar in der Luft und über der Dunkelheit, fern vom Himmel - und die letzten toten Blätter wankten und rieselten sacht geschüttelt von den aufkommenden Winden auf den nassen Boden, der schon auf den ersten Frost wartete, und wo sie gegebenerweise in diesen Tagen schon plattgetreten wurden von den hunderttausend Schuhsohlen der Vorübereilenden. Ihre goldene Färbung blich zum gelben, dann zum gewöhnlichen fahlen Braun und Grau des Winters hin. Und wahrlich, es war die Farbe eines neuen und gleichzeitig uralten, mächtigen Winters, der hinter den Fassaden, über dem gelben Stadthimmel der Nacht und tief in den vereinsamten Gassen schlief oder zu schlafen schien, der aber doch seinen großen Auftritt vorbereitete, endgültig hinaufzukommen mit seiner weiten, tiefschwarzen Fratze über den Himmel, um die ganze Welt zu erfassen, zu ergreifen, zu umklammern und sie hinein zu bannen in das Licht seiner kurzen und dunklen Tage.

„Der Winter kommt“, dachte sich Martin König, als er auf dem Nachhauseweg mit seinen schwarzen Sohlen einen Haufen verwelkter Blätter zur Seite schob, ging dann weiter, wusste schon ein paar Minuten später nichts mehr von dem Vorfall.

Der Dezember schließlich kam ohne Schnee. Kein Frost überzog den nassen Boden, eine milchige Lauwärme lag tagsüber in der Luft, nur gegen Abend hin fegten heftige und bitterkalte Winde durch die breiten und entvölkerten Straßen der sich verdunkelnden Stadt. Martin König, der es eilig hatte, seine S-Bahn noch zu erwischen, wanderte schnell über die finsteren Bürgersteige, sah von Zeit zu Zeit ein paarmal auf seine Armbanduhr, ohne sich jedoch nachher recht erinnern zu können, was sie angezeigt hatte. Er grinste dazu. Irgendwie ein witziges Phänomen.

„Die Blätter sind weniger geworden“, dachte er sich dann plötzlich im Vorübergehen, als er den Rest der nassen Herbstblätter zusammengekehrt an den Straßenrändern langsam verfaulen sah.

Da kam ein Vöglein geflogen, setzte sich gleich vor ihm auf einen niedrigen Straßenpfeiler und sah Martin lange ins Gesicht.
„Die Blätter sind weniger geworden, weil ihr sie vernichtet“, zirpte es ihm zu. Einen Moment später war es schon wieder verschwunden.

Martin war stehen geblieben wie angewurzelt, besann sich aber bald wieder auf seine S-Bahn, grinste plötzlich über sein ganzes Gesicht, schüttelte den Kopf und ging weiter.


Später, wie er in der Bahn in einem vereinsamten Vierersitz saß und unter dem schwarzen Fenster zur vorbeirauschenden Nacht, da dachte er kurz nach, ob ihm heute was Besonderes passiert sei. Das machte er seit einiger Zeit so, denn seine Freundin hatte ihm versichert, das sei ein guter Trick, um mehr von den Tagen zu haben, auch in den Arbeitszeiten. Doch jetzt fiel ihm prompt nichts mehr darauf ein, sodass er gleich nach abgeleisteter Geistesarbeit zu seinem I-pod griff, sich die Ohren zustöpselte und sich unter der Musik abwesend zurücklehnte. Es dauerte schließlich eine ganze Weile bis Milbach raus, wo er wohnte.

Und als die S-Bahn dann in den Milbacher Bahnhof einfuhr und der Zugführer ihn mit den Worten „Ausstieg in Fahrtrichtung rechts“ weckte, er allmählich aufsah, musste er plötzlich merken, dass irgendwie seine Hände leuchteten. Nicht so grell, dass es irgendwem außer ihm aufgefallen wäre, nicht so hell, dass es überhaupt noch richtig sichtbar gewesen wäre, nur irgendwie halt, unterschwellig. Mehr hätte er dazu nicht sagen können. Er sah bloß seine Hände in diesem tiefen und feinen Glanz leuchten und rätselte darüber. Als aber die ersten der paar vorüberziehenden Gestalten ihn befremdet beäugten, wie er dastand und beharrlich auf seine Hände starrte – sie konnten offenbar ihr Leuchten nicht erkennen – da lächelte Martin sie an, zwar etwas unbeholfen und grob, aber nicht unfreundlich, nahm die Hände herunter und ging los. Es war kälter geworden und seine Atemzüge wurden in der dünnen Luft schon zu weit gestreckten, weißen Wölkchen; er ging gebeugt, zusammengekauert in seinem dicken schwarzen Wintermantel, aus dem hinten noch der Schal hing, schlang die Arme enger um den Körper, steckte die Hände in die Manteltasche. „Puh, ist das kalt“, dachte er „hätt ich doch auf Sabine gehört und meine Handschuhe mitgenommen.“

Da bemerkte er, dass seine Hände auch durch die dick gepolsterten Manteltaschen noch leuchteten. „Was wolln die denn?“ fragte er sich, zog sie heraus und betrachtete sie. Dass sie irgendetwas von ihm wollten, soviel schien ihm klar zu sein, und plötzlich kam er auf die Idee, er könne doch mal die Ohrstöpsel wieder herausziehen. Kaum erledigt, da verlosch auch schon der Glanz seiner Hände, wie als hätten sie ihre Aufgabe erfüllt. „Hä, was fürn Scheiß“ dachte er grinsend, „Was denn für ne Aufgabe?“

Und jetzt, wo seine Ohren vollständig frei waren, glaubte er die Kälte noch heftiger auf ihrer zarten, schon geröteten Oberfläche zu spüren. „Scheiße“ dachte er schon wieder, „Die friern mir jetzt schon wieder ab, die kleinen Scheißteile“

Und da hörte Martin zum ersten Mal den Gesang.


Und als er am nächsten Morgen in der verdichteten Dunkelheit seiner Matratze unter dem feindlichen Piepen des Weckers aufstand, ins Bad eilte, duschte, in die Küche ging, sich zwei Scheiben Weißbrot toastete, seine schon sitzenden Freundin flüchtig zur Begrüßung auf die Wange küsste und eigentlich in wenigen Minuten schon wieder in der äußeren Dunkelheit und gehüllt in seinen Mantel durch Milbach eilte, zum Bahnhof hin, auch da konnte er sich, entgegen seiner Gewohnheit, noch gut an den Gesang erinnern. Ein filigraner, zärtlicher, sehr leiser, gleichzeitig aber starker und ergreifender Gesang war es gewesen, der irgendwo aus der Nacht und gleichzeitig aus seinem tiefsten Innersten zu ihm herauf gedrungen war, dessen schwacher Widerhall ihm auch nun fast noch im Gehirn herumgeisterte. Genauso wie am Vortag schüttelte er den Kopf dazu, hüllte sich tiefer in den Mantel und beschleunigte seinen Schritt.

„Ich weiß ja, was des is“ sagte er sich leise, „irgendein Scheiß is des“

Doch es war sehr früh am Morgen, die Straßen vor ihm waren rein und leer; und er eilte zum Bahnhof. Als er wie zufällig eine Turmuhr mit der eigenen verglich, merkte er, dass er das blöde Teil immer noch nicht gestellt hatte. Eigentlich war er sogar noch zu früh dran. Und die Erleichterung über diese Entdeckung ließ ihm sogleich den Weg angenehmer werden.
„Na du“ sagte er zu einem kleinen Eichhörnchen, das vor ihm auf den hölzernen Zaun zu einem privaten Garten geklettert war, und ging vor ihm leicht in die Hocke. „Na du, gehörst du nicht eigentlich in den Wald oder so?“

„Du wirst den Wald bald selbst kennenlernen, Kerl“, antworte es ihm schlagfertig.
„Ach ja? Was soll ich’n da? Im Wald war ich doch letzten Sonntag erst mit Sabine und Bekannten. Na und?“
Doch da war das Eichhorn schon irgendwo in den Garten verschwunden. Martin sah ihm noch kurz nach, dann erhob er sich, schüttelte wieder leicht den Kopf.
„Unbeholfen“, sagte er, „jetzt wollen die mich doch wirklich nur noch verrückt machen. Ham‘ die eine Ahnung von mir!“ Sprach’s und ging, den Aktenkoffer in der Hand, wieder langsam auf den Bahnhof zu. Und in der Tat, auch die Bahnhofsuhr zeigte ihm an, dass er noch eine ganze Viertelstunde zu früh sei. Er ergriff die Gelegenheit und stellte gleich seine Uhr nach der des Bahnhofs, lehnte sich dann gegen eine Wand und stand eine Weile nutzlos herum. Was sollte er auch mit dieser komischen freien Viertelstunde anfangen? Ihm passierte das ja nicht so häufig.


Und er sah vom Bahnhof aus eine S-Bahn nach der anderen hinauslaufen, irgendwo in die Nacht hinein, dorthin, wo sich schon die Gleise verirrten und verloren, von wo kein Schall mehr kam und wohin auch kein Schall mehr dringen könnte – und er stand bloß da, in der hellen Lichtinsel seiner matten Straßenlaterne hier in der festen Dunkelheit, und fühlte sich plötzlich einsam – er stand doch im hellen Schein der Laterne, von der Nacht umschlossen, wo in den weiteren Feldern um ihn herum diese Nacht noch dichter und dunkler wurde, bis hin zu anderen kleinen Lichtfeldern und Laternenschimmern – Und er war doch allein;

„Von wegen, Gleise verirren und verlieren und Bahnen verschwinden in der Nacht und so“ dachte er entschlossen und klopfte die nun behandschuhten Hände mehrmals aufeinander, „Die eine Linie geht noch bis Bonsenheim raus, die andere geht in die Stadt rein, wo mein Chef und meine Kollegen sind; von wegen allein. Bin ich hier doch auch nich. Was is nur dieser ganze philosophische Scheiß“

Da musste er aber schon wieder die ersten Leute, die vorbeikamen, und ihn befremdet beäugten, wie dort allein und nutzlos an der Wand herum stand, unbeholfen und etwas verlegen anlächeln, fast wie um sich bei ihnen zu entschuldigen; er nahm seinen Koffer wieder auf und ging schnell mit ihnen mit, stieg in seine S-Bahn, setzte sich in einen leeren Vierer, zeigte dem vorüberkommenden Kontrolleur seine Monatskarte und stieg „Lessingstraße“ aus. Und da war er schon wieder bei seinem Chef und seinen Kollegen, worunter sogar ein paar ganz nett waren – und war schon nicht mehr allein.

Auf dem Nachhauseweg nahm er sich dann vor, den nächsten, der irgendwo nutzlos herumstand, ebenso befremdet zu beäugen, wie die Leute es in letzter Zeit häufiger mit ihm gemacht hatten. „Ich mein, ham‘ die denn nichts Besseres zu tun? Könn‘ die gerne von mir zurück haben.“ Er notierte sich das auf einem kleinen Zettel, den er aus der Innentasche seines Mantels zog, um es nicht wieder zu vergessen.
Es war kalt und der Wind kam wieder auf; weiche Böen zogen beständig und ohne abzuflauen um ihn herum, umwirbelten seine Gestalt, zogen ihm durch das Gehirn, dass ihm im der Kopf davon fror und er sich seine Mütze tiefer zog. Es half nichts. Die Winde tanzten, zogen, trieben auf ihn ein, schienen sogar in sein innerstes Wesen greifen zu wollen. „Gar nichts greift ihr“, sagte sich Martin verbittert, „außerdem findet ihr da drin nichts als einen leeren Magen, eine Raucherlunge und eine Leber, die dabei ist, drei Bier zu verdaun."
„Aber darum geht es nicht, Martin“, flüsterte der Wind ihm ins Ohr, „dein Inneres ist die Ewigkeit. Ich habe sie gesehen Martin, diese Ewigkeit, in dir wie in fernen Welten und fernen Zeiten. Soll ich dir davon erzählen?“


„Wenn du nichts besseres zu tun hast“, sagte Martin, „dann machs aber kurz, in zwanzig Minuten muss ich zur S-Bahn“
Der Wind, nur noch das Wort „Ewigkeit“ auf den eisigen Lippen, tanzte noch einige Male um seine Gestalt, war bald verschwunden, tauchte wieder hinab in die Tiefen, aus denen er gesprochen hatte.
„Jetzt reichts“, sagte Martin, „Jetz‘ is des ja nur noch ein schlechter Horrorfilm hier“

Und in der Luft war kein Hauch mehr zu spüren, als ob sie eingefroren wäre und stillstand; Martin atmete auf, lockerte seine Mütze und stieg bald in seine S-Bahn. Dort wiederholte er die Geistesübung, die ihm half, mehr von den Tagen zu haben, auch in den Arbeitszeiten, doch auch diesmal kam nicht viel dabei herum. In Milbach angekommen, fand er eine Frau, die offenbar ein Problem mit ihrem Fuß hatte, sich gegen eine Wand lehnte, ihren einen Schuh ausgezogen hatte und eine schmerzvolle Grimasse schnitt. Martin sah sie von weitem und blieb stehen. Er dachte nach. „War da nich was?“ fragte er sich.

Dann fiel ihm der Zettel in der Manteltasche ein, den er rasch hervorzog und einlas. Er grinste, ging, erleuchtet von dieser Erkenntnis, an der Frau vorbei, starrte sie von vorne bis hinten befremdet an, so befremdet, dass die Frau ihm verblüfft und eingeschüchtert nachsah, wie er alsdann gleichgültig weiterging. „Da habt ihr“, dachte sich Martin nur noch.


Da hörte er zum zweiten Mal den Gesang.

„Vielleicht soll ich dem jetzt folgen oder so“, dachte sich Martin, „aber ne, mach ich nich, könnt ihr vergessen. Ich muss jetz‘ schlafen, morgen muss ich wieder früh raus.“


Und abermals erwachte er in der Finsternis seiner Matratze durch das Piepen des Weckers; abermals toastete er sich ein paar Scheiben Weißbrot, gab Sabine einen Kuss auf die Wange und war abermals in die äußere Dunkelheit verschwunden. Nun schlich er aber, taumelte schon fast durch die Bitterkälte, die sich aus dem Himmel löste und um ihn herum in der Erde versank. Diesmal strichen die Winde krachend über die auf den verwaisten Gassen Milbachs kauernden und schon zugefrorenen Pfützen; und die Winde drangen auf ihn ein, brausten durch das Wollgeflecht seiner Mütze, durch den schweren Wintermantel, durch jede Lücke und Öffnung hindurch. Martin schlang die Arme um den Körper, kniff die Augen zusammen, aus denen schon Tränen hervorsickerten, torkelte weiter. Verloren blickte er wild nach rechts und links.

Auf den Pfeilern hatten sich Vögel angesammelt, auf den Zäunen Eichhörnchen, und beständig flogen und hopsten andere Tiere heran. Feldkaninchen stellten sich an die Straßenränder, ihre Ohren aufgestellt, und sahen her zu ihm; Krähen landeten auf den Dächern, Maulwürfe krochen aus der Erde, Füchse kamen um die Häuserecken geschlichen, selbst Dachse und Marder gesellten sich hinzu. Sie alle beobachteten ihn, in allen Straßen, durch die er kam, standen auf beiden Seiten lange Reihen von Tieren und starrten ihn schweigend an. Er kniff mehrmals die Augen zusammen, öffnete sie wieder, nur um erneut auf die Heerscharen der Waldgeschöpfe zu blicken, die sich wie zu einer feierlichen Zeremonie um ihn versammelt hatten.
„Was wollt ihr“ hustete er mit seiner verschnupften Stimme, rannte weiter, durch die harten Böen hindurch, die auf ihn einschlugen, wie als wären sie von fassbarer Substanz, und die Tiere wichen nicht von der Stelle, er wand sich durch eine nicht enden wollende Zeremoniengasse von Tieren hindurch, die ihn schweigend beobachteten.

Er floh in die S-Bahn, war erleichtert, als die Tür sich automatisch verschloss und er die Tiere nicht mehr sehen konnte. Und als die Bahn losfuhr, lehnte er sich in seinen Sitz zurück, kramte demonstrativ seinen I-pod aus der Manteltasche, stellte sich irgendeine Musik ein und stöpselte sich die Ohren zu, zog sich darüber noch seine Mütze tiefer. So richtig warm war es in der S-Bahn aber auch nicht, irgendwer musste vergessen haben, die Heizung anzustellen, so musste er wieder die Arme verschränken, sich zusammenkauern, und noch immer verließ der Atem in weißen Wölkchen seine wundgefrorenen Lippen.

„Puh, was für’ne Scheißkälte“ sagte er, als er im Büro seinen Koffer auf den Schreibtisch fallen ließ, gerade so laut, dass man denken könnte, er spräche zu irgendjemandem oder als höre ihm auch nur irgendwer zu. Er drehte die schon glühende Heizung bis zum Anschlag auf.


Auf dem Weg von der Arbeit zur Bar rückte sich Martin dann, entsetzt von der noch immer vorherrschenden Kälte, seinen dicken Mantelkragen zurecht, zog seine Mütze an und kramte seine Zigaretten hervor. Irgendwann in seiner Schulzeit hatte er schon angefangen zu rauchen, wann genau konnte er nicht mehr sagen. An die Schulzeit konnte er sich sowieso nicht mehr so recht erinnern. Es war eigentlich nicht richtig spannend gewesen, sowie wenn man im Auto sein Navi einschaltet eben. Sicher, aber aufregend halt irgendwie nicht.

In der Bar trank er zwei Bier, bestellte noch eins. Chris konnte leider nicht kommen, der machte Überstunden, also schwätzte er mit Max ein bisschen. Max erzählte, dass er und seine Frau erwogen, sich einen Hund anzuschaffen, um es ihrem kleinen Sohn gerecht zu machen, der Hunde mochte. Martin nickte ausdruckslos und nahm vom Wirt das Bier entgegen.

Auf dem Weg zur S-Bahn schwieg der Wind; alles ruhte und lag still, als würde alle Bewegung der Welt zum Erliegen gekommen sein. Bitterkalt war es allemal, bestimmt noch ein paar Grad kälter als am Morgen.
„Von wegen keine Bewegung“, sagte Martin im Anschluss an den „philosophischen Scheiß“ des Vortages, „Ich bewege mich doch noch“

Es ist wahr, die Leute aus seiner Clique hatten zur Schulzeit manchmal belustigt bemerkt, dass er, Martin, manchmal echt philosophische Momente hatte. „Diese Flasche …“, soll er mal mit ernster Miene auf einer Saufparty gesagt haben, „…is der Ausdruck unseres gesteigerden Seins …“, worüber natürlich gleich herzlich gelacht wurde.


Nun ging er aber auf den Bahnhof zu. Er wartete auf den Wind, um ihn zu verhöhnen, doch der Wind kam nicht. Nichts regte sich in der Luft, als wäre plötzlich der Himmel eingefroren. Martin bekam ein wenig Angst vor dieser Stille, sah bald um sich, sah niemanden auf den Straßen, beschleunigte bald seinen Schritt – plötzlich hoffte er, die Tiere vom Morgen wiederzusehen, vielleicht nur, um ihnen wieder schlagfertige Bemerkungen nachzuwerfen, vielleicht auch aus anderem Grund, er konnte es nicht sagen. Doch kein Vogel kam geflogen und sprach mit ihm.

Auch die S-Bahn war weitgehend leer, und was er sonst mit Gleichgültigkeit begegnet war, erfüllte ihn jetzt mit einem fremden Unwohl; schon stellte er sich seinen Aktenkoffer auf den Schoß, sah ängstlich in mehrere Richtungen; auch der Zugführer, wenn es überhaupt einen gab, ließ diesmal nichts von sich hören, nicht mal ein flüchtiges „Ausstieg in Fahrtrichtung rechts“ oder so. Nur rauschte und krachte und polterte die Bahn, eine tote Maschine, durch die Nacht, fuhr manchmal in lange Tunnel hinein, sodass die Tunnelbeleuchtungen die Wagen der Bahn in ein hohles gelbes Licht tauchte, das immer wieder aufblitzte und wieder verlosch, das Schatten lang und bedrohlich über Martins Gesicht zogen um sich hinter ihm, irgendwo in einem Winkel des Wagons wieder mit dem Schwarz der Nacht zu vereinigen. Es war auch dort im Wagon kalt, vielleicht noch kälter als am Morgen, sosehr, dass Martin am ganzen Körper schlottern und beben musste wie elend – er musste hier nur raus, dachte er sich und schnell weiter, nur weiter…

Und die S-Bahn hielt nicht an, sie fuhr polternd fort, in den sonstigen Haltestellen Eckheim und Ingendorf öffneten die Türen sich nicht, die Bahn blieb nicht einmal stehen, rauschte und polterte einfach weiter. Martin sah durch das Fenster Leute auf dem Bahnsteig stehen, die hatten aber offenbar kein Interesse daran, in diesen Zug einzusteigen, schienen ihn nicht einmal wirklich wahrzunehmen – und schnell entfernte sich dann wieder die helle Lichtinsel der Station, der Zug glitt wieder in die Nacht hinein. Martin stand auf; setzte sich wieder; ihm war nun angst und bange, hier konnte irgendwas nicht stimmen, er wurde zunehmend unruhig. Die Nacht um ihn verfinsterte sich noch mit jeder Minute, die Schatten in den Winkeln des Wagons schienen sich noch zu verdichten. Sie zogen näher, wurden länger – Martin stand auf, ging durch den Zug, setzte sich in einen anderen Vierer – stand dann wieder auf, entschlossen, einfach stehen zu bleiben, ging unruhig herum. Er musste hier raus, aber der Zug hielt nicht, wurde sogar noch immer schneller, krachte und ruckte durch die Finsternis hindurch, einsame Laternen schimmerten manchmal noch von weit draußen matt in ein Fenster hinein, nur um in Sekundenschnelle wieder verschwunden zu sein – und Martin war doch selbst einsam, so einsam; er klammerte sich verloren an eine Stange, presste sein Gesicht dagegen, vergrub sein so erwachsenes Gesicht in seinem schweren Mantelkragen – und war den Tränen nahe. Er war fast soweit, zu weinen anzufangen wie ein blödes Kind, das man alleingelassen hatte. Das war ihm noch nie passiert, er schüttelte den Kopf, strich sich mit der Faust über die Haare, mit der flachen Hand über das Gesicht, doch die Angst ließ sich aus dessen tiefen Furchen nicht herauswischen.

Dann kam urplötzlich die S-Bahn im Milbacher Bahnhof zum Stillstand. Alle Ma-schinen schienen herunterzufahren, alle Motorengeräusche verstummten völlig, selbst die Lichter erloschen, wie als würde dieser Zug niemals mehr weiterfahren.
„Na bitte“, sagte Martin mit einem nun wiederaufkommenden, noch etwas vorläufigen Gefühl der Sicherheit und trat aus dem Zug auf die Plattform der Station, ging rasch weiter, lugte in alle Richtungen, ob nicht doch die Tiere irgendwo wieder zu finden seien. Und kaum war er aus dem Bahnhof heraus, siehe da, da standen sie wieder alle versammelt, luden ihn schweigend in die breite Gasse ein, die sie erneut gebildet hatten. Es schien ihm fast, als wären das noch weit mehr als morgens, die sich dort so feierlich aufgestellt hatten, in jedem Hauswinkel, in jedem kleinen Mauerloch, auf jedem Zaunpfahl, über jedem Dachziegel standen und saßen diese mannigfachen Geschöpfe der Natur und starrten ihn an.

„Ah, da seid ihr ja wieder“ sagte er, vorerst etwas unsicher, verzog dann leicht grinsend den Mund und betrat mit langsamen Schritten die Zeremoniengasse.


Und er wusste nicht so recht, was er denken sollte, als er durch die Reihen der Tiere ging. Vorerst schwieg er, bemerkte dann, dass diejenigen, die er schon hinter sich gelassen hatte, begannen, sich aus ihren Reihen zu lösen und ihm langsam zu folgen, sodass die Gasse sich hinter ihm schloss. Er versuchte, den Tieren auf beiden Seiten freundlich zuzulächeln, was aber erneut nur etwas unbeholfen zustande kam.

„Ich hatt schon die Angst gehabt, euch gar nicht mehr zu sehen“, sagte er zu ihnen, „Wollt ihr nich mal wieder en bisschen plaudern, He?“

Sie schwiegen.

„Ich versteh schon, ihr müsst schweigen, nich, sonst wär des ja alles gar nich so dramatisch. Keine Sorge, versteh ich, ich sag ja schon nichts mehr“
Da umsausten wieder weiche Böen in geschwinden Fahrten sein Ohr, flüsterten ihm leise zu:
„Es ist schon spät, Martin, es wird schon kalt, geh nur, geh weiter, immer wei¬ter“

„Ich geh ja, ich geh ja, wie gesagt, keine Sorge“ sagte Martin.

Doch die Winde wurden wieder härter, brausten nun wieder mit einer so großen Gewalt auf ihn ein, dass sein tiefinnerstes davon erbebte. Ihm wurde schwarz vor Augen, er konnte fast nichts mehr sehen, er zitterte wie ein Verrückter – und die Kälte erreichte jetzt Ausmaße, die er sich nie auch nur hätte vorstellen können, schmerzte in jeder Faser seines Körpers, schien wie mit Knüppeln auf ihn einzudreschen und gleichzeitig mit Dolchen ihn zu zerstechen und zu zerfleischen.

Die Tiere hinter ihm kamen immer näher – er ging schneller, ging kaum mehr als er hinkte, überwarf sich selbst, stolperte fast über die eigenen Füße. Wie wahnsinnig kniff er die Augen zusammen, verdeckte sie noch fest mit den Händen, aus denen die Wärme schon langsam entwich, konnte nichts mehr denken, so beutelten die Winde seinen Kopf und sein armes Gehirn, das ja schon schwanken und schaudern musste wie ein Kahn im Sturm – und er wusste nicht mehr, wo er war, hatte alles aus den Augen verloren, stürmte drauf los, war in jener Phase der blinden Verzweiflung, in der man nicht mehr weiß, was man tun noch wohin man gehen solle – und er war doch zu keinem Gedanken mehr fähig, überließ sich einem Lauf, den er als absolut zwecklos eingeschätzt hätte, wenn er noch hätte schätzen können. Denn die Wärme wich aus seinem Kopf;

Und da hörte er zum dritten Mal den Gesang.


Er blieb stehen, erhob langsam sein Haupt, öffnete behutsam die krampfhaft zugekniffenen Augen; und da sah er sie, irgendwo am Ende einer Straße stehen und singen; Ein junges Mädchen schien es ihm zu sein, aber schöner, als er es sich jemals hätte vorstellen können, ja so schön, dass sie eigentlich fast gar nicht mehr von dieser Erde sein konnte, überhaupt mehr Gespenst als Gestalt; und in ihrer Ferne schien ein wundervoller Schein sie zu umglänzen, der mächtig war und doch so dünn und sacht, ein Zauber, ein alter Zauber lag über diesem Bild, der bannte, der zog, gespensterhaft lockte. Und sie sang doch mit einer Stimme, wie er nie eine schönere gehört hatte -

Da merkte er, dass die Tiere sich nun alle um ihn versammelt hatten und ihn fest ansahen.
„Ich soll ihr folgen, nich wahr?“, sagte Martin mit gebrochener Stimme, drehte sich um und ging langsam los, auf den Geist zu, der am Rand seiner Sicht auf der Erde schwebte und doch stand. Er ging beständig hinterher, so schnell, wie das Bild vor ihm zu weichen schien, und je schneller er ging, desto schneller floh auch das Bild. Doch Martin konnte nicht mehr stehen bleiben, jetzt nicht mehr, rannte wieder; „Ein Engel!“ widerhallte in seinem Kopf tausendfach, wie als hätte eine fremde Macht ihm dieses Wort in den Kopf gesetzt.


Und da war er nun, öffnete sacht die Augen.


Birken hingen tief in die dämmrige Luft der Abendstunde hinab, spannten mit ihren Zweigen ein finsteres schwarzes Geflecht weit noch über Martins Kopf, schwiegen einen alten, schon in der Trübe ihrer Wipfel verblassenden Traum, standen still, ihre schlanken und weißen Stämme von tiefen und weiten Schneedecken umgeben; eine weite Landschaft tat sich auf von tiefen, vereinsamten Birkenwäldern, mal durchsetzt von durchwilderten, verschneiten Nadelhölzchen, die sich dicht über die Böschungen drängten wie Getriebene – mit ihren verschatteten Gesichtern herabsahen auf Martin, wie er durch den Schnee irrte, mal hinauf, mal hinunter, mal hier, mal dorthin, vorbei an den Spuren der Vögel, die wie er durch den Schnee wandeln müssen, um schon, fern, hinter seinen schon verwehten Schritten, die Flügel auszuspannen und sich weit in die Lüfte zu erheben – und vor ihm ging der Geist, stets voran, durch die immer tieferen Wälder hindurch, bald über Hügel, bald über Berge, an Abgründen vorüber, die schwarz an mancher Seite hervor aus ihren finstern Tiefen lauern mussten, bald über Bachläufe, die sich durch fahle, von Schnee zugehäufte Steine wanden, einsam plätscherten – und er strebte ihr nach, fast wie ein Irrer, er verlor sie nicht, und verlöre er sie, so würde er doch nicht mehr zurückfinden – er sah, wenn sie in Wäldchen und über flache Waldeskämme verschwand und er sie nicht mehr auffinden konnte, doch ihre schmale Fußspur vor ihm noch durch den Schnee sich ziehen, er verfolgte, er eilte, und wollte und konnte sie nicht verlieren.


Und als er in den niederen Feldern angekommen war, schienen sich rätselhafte und zugleich zauberhafte Bänder schwach schimmernden, blauen Lichts um die weißen Birkenhälse zu ziehen, langsam, wie Dunstfiguren, und auch oben in den Wipfeln hing der magische Dunst tief unter den Zweigen – Martin taumelte darunter durch, den befangenen Blick nach allen Seiten werfend, lächelte, grinste, eilte weiter, beschwingt, stürmte los auf die schmale Spur im Schnee, eilte dem Geist hinterher – und noch immer war sie gleich vor seiner Sicht, von ihm abgewandt, ging langsam, bedächtig, legte ihre schmale, weiße Hand sachte auf manche Bäume, duckte sich langsam und bedacht unter manchen tiefhängenden Zweigen hindurch, strebte weiter, stets hin durch den Schnee; ihr dunkles Haar, das Martin von hinten sehen konnte, lag auf ihrem weißen Kleid wie der Schatten einer fernen Dämmerung.


Und sie kamen zu einer Stelle, wo hohe Nadelbäume, mit ihren Zweigen ein stilles Gewölbe öffneten, einen schweigenden Eingang von geraden, dünnen Stämmen, die noch im Zwielicht dieser fahlen Niederung standen; ein hoch gewölbtes schwarzes Tor, wie versteinert gesäumt von schweren Nadelkronen, hinein in einen Wald, in den kein Licht mehr dringt.

Die holde Gestalt blieb an einem der Stämme stehen, legte ihre Hand darauf, schien einen Moment sinnend zu verweilen – kehrte sich dann langsam zu Martin um, legte ihren Blick auf ihn – einen Blick, der ihn im tiefsten traf, ihm alle Knochen zu erweichen schien, dem er – ergeben – fast hingesunken wäre, hinein in den tödlichen Schnee, um die Welt zu vergessen. Und sie verschwand im schwarzen Tor - und kurz nur war ihr weißes Kleid noch vor der dunklen Öffnung auszumachen.

Martin näherte sich der Öffnung und blieb irgendwann schweigend davor stehen. Es gab für ihn weder die frierende Luft mehr, noch den eisigen Schnee, noch eine Welt, die ihn greifbar umgab; und er stand lange Weilen vor dem Tor, wie versteinert, sah hinein wie in das Schiff eines fensterlosen Domes.

Und da kam langsam die Nacht, die davor doch noch über einem erstarrten Dämmer gelegen hatte, nun fiel sie sacht hernieder, bedeckte die Schneedecken rings um ihn, kletterte an dem finsteren Gezweig der Bäume hinab, scheuchte in der Ferne die letzten Tiere in ihre Bauten, hüllte den ganzen Wald in eine ewige Schwärze.

„So ist das also“ murmelte Martin, sah in verschiedene Richtungen, über verwaiste Hänge, in fahle Auen hinein; doch alles verfinsterte sich, überall hing doch schon die Nacht – und er konnte doch nirgendwo mehr hin.

„So is des also“, widerholte er, verzog leicht den Mundwinkel und schlenderte los, trat mitten hinein ins schwarze Tor.


Und noch während er durch den lichtlosen Korridor ging, einfach der Nase nach geradeaus, ihm die anderen Richtungen nunmehr auch egal waren, wo seine verklärten Züge sich bald sachte in eine gleichgültige Miene legten, da dachte er sich:
„Mensch, ich hätt es doch sehen sollen. Ich renne der nach wie ein Irrer, denke mir so manches wirres Zeug zusammen – und ich hätt es doch sehen sollen, dass das vielleicht ein bisschen zu absurd is um richtig ernst gemeint zu sein. Und sieh da, jetz is es soweit, ich gehe durch die absolute Schwärze.“
Er merkte dabei nicht einmal, dass diese mitnichten ewig, schwer und beständig war, vielmehr schwach und dünn über ihm flimmerte – da sah aber er den Geist wieder vor sich gehen, ihr weißes Kleid leuchtete ihm durch den schwarzen Gang, er ging ihr immer noch beständig hinterher, sah sie an einer Stelle kurz stolpern und schnell weitergehen. „Ho“ machte er, „immer sachte, was? Aber die is trotzdem nich schlecht, muss ich sagen, die is nich schlecht“
Und er folgte ihr weiter – irgendwann drangen, wie er glaubte, matte Lichtstrahlen aus der Ferne in die Mitte des Ganges hinein, bildeten bald vor seinem Blick eine strahlende weiße Wand, eine Öffnung gleich ins hellste Himmelslicht, das schon daraus drang und quoll, weit in die Dunkelheit des Korridors sich ergoss, alles erstrahlen und erglänzen ließ – und da öffnete sich mit einem Mal der Gang und Martin konnte das Tal vor ihm sehen.


Im Tal, ungeachtet der Nacht, die draußen herrschte, war es hell, heller noch als zuvor im Wald; es war das Licht eines frühen Sommerabends, das hier durch den lichten Wald floss, über die Haine sich legte, den Himmel hinter den Zweigen bis in das Rot der fernen Sonne sich öffnen ließ; und der Wald war grün und bunt, hatte hunderttausend Farben, glänzte in einem hellen Taumel der Sinne, strahlte in einer nie gekannten, vollen Pracht von Blumen, frischem Laub, weichen Moosbetten; herrliche Gärten gingen auf, streckten ihre Schönheiten in das milde Sonnenlicht, hängten freundlich ihre mannigfachen, süßen Früchte leicht greifbar über die hohen Grasmatten; und ein Meer verschiedener Düfte drang durch die Luft, hing tief über dem Boden, quoll aus allen Winkeln, kam aus jeder Pflanze – und vor der Sonne tanzten manche bunten Blätter, gemeinsam mit den verwehten Blüten der Bäume, sacht auf die weiten Böden herab.

Man konnte durch den lichten Wald auf die rätselhaften, bunten Figuren ferner Berge sehen, deren hohe Spiegelbilder sich tief in das schon orangefarbene Meer tauchten, das bis hin zu ihnen sich erstreckte, und noch weiter, bis an den roten Horizont, bis hin zum unerreichbaren Abendglanz ferner Inseln, und ja, auch an diesen noch vorüber;

„Oh“ sagte Martin entzückt, „hier is es ja sogar Sommer. Kann man sich denn mehr wünschen?“ Er schlenderte langsam hinunter ins Tal. „Hm“, machte er, als er eine Blume gebrochen und an ihr gerochen hatte, „riecht gut“ und warf sie zurück ins Gesträuche, nahm eine der ihm unbekannten, gelben Früchte in die Hand, wog sie kurz in seiner Hand, biss hinein. „Oho“, sagte er kauend, „nicht schlecht, gar nicht schlecht“

„Sag ruhig, was du mir sagen willst“, sagte er zu der weißen Gestalt, die ein Stück weiter unten im Talboden , noch von ihm abgewandt, stehen geblieben war, „Ich hör dir zu.“

Langsam kehrte sie sich abermals um – und hatte von ihrer Schönheit nichts eingebüßt; nein, ihre dunklen Haare, ihre schmalen Augenbrauen, die dunklen Augen darunter, der in einem ernsten Stolz gehaltene Mund, ihr ganzes weißes Gesicht schien in diesem fremden Licht einen zauberhaften Glanz zu bekommen.


„Martin“, sagte sie mit einer ebenso süßen Stimme, wie sie bei ihrem Gesang geklungen hatte, „Sieh dich um – du bist im Land deiner innigsten Sehnsüchte, deiner tiefsten Hoffnungen, deiner fernsten Träume – du hast den Wald durchquert, nun hast du dein Ziel erreicht, es steht dir offen, es liegt vor dir.“


„Weißt du“ sagte da Martin, noch immer die Frucht in der Hand, „des is ja alles schön und gut hier, Sommer, Sonnenschein, Strand, Früchte, herrliche Blütendüfte und so, wenn man dich gleich noch mit dazu haben kann, liebend gern, nur liebend gern. Wenn ihr mich nur en bisschen leben lassen würdet – aber ich weiß ja, was des is, draußen sin die Blätter schon längst abgefallen, darüber is Schnee gefallen, der jetz alles bedeckt, es is dunkel geworden, ja, da draußen is ja schon längst die Nacht da. Ich weiß ja was des hier is. Was wenn auch hier des blöde Laub runterfällt, was wenn’s hier anfängt zu schneien? Und wenn die rote Sonne dahinten plötzlich ganz untergeht? He? Was is dann? Ich weiß ja, was des is, oder eher, was des sein soll. Auch nicht mehr die neuste Idee überhaupt.“
Er biss in seine Frucht kaute ein wenig.

„Ne, ne, träumen kann ich auch zuhause, letztens erst von meinem Chef“, er grinste bei dem Gedanken leicht, „und des war mir schon weit genug, der hatte so ein Kopf wie ein Nashorn, hat mich ständig angeschnaubt und die Tische zerhauen. Am Ende is der glaub ich explodiert oder so. Macht er ja auch in Wirklichkeit alles. Fast. Ne, aber mal ehrlich, mal is des ganz nett, aber auf Dauer etwas störend. Und Sehnsüchte – ach, ich glaub nach diesem ganzen Gerenne sehn ich mich nur noch nach meinem Bett zuhause, is ja auch schon spät. Und hoffen tu ich auf den Posten in der Etage oben drüber, der Rest kann mir erst mal egal sein, dann hab ich nämlich ausgesorgt. Verstehst du?“ Er hob anerkennend mit der Hand die Frucht in die Höhe, wie um sie feierlich zu präsentieren. „Aber des muss ich sagen. Die Früchte hier sin wirklich der Wahnsinn.“


Eine Weile schwieg alles, was um die beiden herum war. Wenige Momente nur dauerte aber diese Stille, in der sich nicht ein Lüftchen regte, wenige kurze Momente nur, und da begann es zu schneien. Erst sacht, dann in immer größeren Flocken, mal von Eisregen durchmischt und durchtrennt, und siehe da, von den Bäumen viel plötzlich in immer größeren Stößen das mit einem Mal verwelkte Laub herab, die Früchte plumpsten überreif auf den nasskalten Boden. Über den Himmel zog eine tiefe, bleierne Gräunis, die bald auf die Berge im Hintergrund die Sicht versperrte, das Meer wurde schwarz, die Sonne selbst, die man eben noch rot am Himmel gesehen hatte, war schon herabgesunken, sank nun immer schneller, fiel schon fast, sowie als könnte sie sich am zerbröckelnden Himmel nicht mehr festhalten.
Die Frau sah um sich und schwieg.
„Ich hab’s dir doch gesagt“ meinte Martin, „Komm, lieber weg hier“


Sie sah ihn schweigend an, schlenderte dann langsam los und auf ihn zu, taumelte leicht, konnte sich kaum mehr richtig aufrecht halten, stolperte zusehends. Ihr strahlenweißes Gewand war schon vom Schnee und dem aus der Erde gelösten Schlamm von unten verdreckt, hatte auch sonst seinen Glanz eingebüßt – und die Flocken fielen ihr aufs Gesicht, setzten sich in den Haaren fest, legten sich auf die Schulten – Es war ein erbarmungswürdiges Bild, wie sie sich da durch den nassen Schnee tastete, und dabei das erste Mal seit Martin sie sah, zu frieren schien, sodass sie die Arme um den Körper zog, ihr Gesicht niederschlug, dass ihre Haare schon wild herabhingen.

„Warum ziehst du dich auch so dünn an“ sagte Martin. Sie aber kam zu ihm herauf, schloss ohne ein Wort die Arme um ihn, schmiegte sich an seine Brust, vergrub fast ihr Gesicht darin, weinte leise, dass Martin es kaum hören konnte. Er legte tröstend seine Arme um sie.
„Das wird schon wieder“ sprach er, „Das hier geht alles vorbei, und dann sind wir beide frei.“


Und der Himmel stürzte in sich zusammen, als wären die Schneeflocken die Trümmer, die sich aus seinem Gewölbe lösten und auf die Erde stürzten, dass man dahinter ein tiefes Schwarz schweigend hervorblicken sah; die Bäume schienen ihre Gestalt zu verlieren, die fernen Berge waren schon von der äußeren Schwärze verschlungen, alles fiel und krachte, dass Rauch aufstieg über die an der zitternden Erde verfaulenden Früchte, der Blumenduft hatte sich längst im Gestank von Schlamm und Rauch verloren. Und um die beiden flimmerte alles, in mehrere farbliche Abstufungen versetzt, wackelte die Welt um sie her, und alles begann zu wackeln, erst schwach, dann immer heftiger, so wie eine Illusion, die man ins Wanken bringt. Martin schloss die Arme fester um das Mädchen, welches in seiner Stellung verblieben war, kniff die Augen zu.
„Jetzt sind wir frei“ flüsterte er ihr ins Ohr.


Doch er kam nicht frei – kaum war der Abend der Nacht gewichen, kaum war der Himmel eingestürzt und diese falsche Welt gänzlich aus den Fugen geworfen, nachdem ein schweres Beben durch die aufgespannten, taumelnden Phasen derselben getobt war, da löste sich am Ende alles auf. Und der arme Martin fand sich in eine sich drehende Spirale von schwarz geworfen, unter der alles sichtbare verschwand – und längst konnte er nichts mehr fühlen, noch sehen oder hören, kaum konnte er noch denken, immer weniger und weniger Gedanken konnte er aufbringen, als söge das absolute Schwarz der Sphäre, in der er schwebte, sie zusehends auf - was sagte ihm am Ende noch, dass es ihn überhaupt noch gab?


Er konnte es nicht wissen, aber es war das alte Gefühl seiner Einsamkeit, dass zum neuen in ihm zur Geltung kam, sich ausbreitete, sein ganzes Wesen schleichend einnahm, welches darauf hindeutete, dass es ihn noch gab, dieses Gefühl, das das letzte war, was er als fühlender und erkennender Geist von sich noch wissen konnte – dieser letzte Umstand – dass er in einer ewigen Schwärze war, die nicht nur sein Wesen, nicht nur seine Gefühle, sondern auch sein Bewusstsein durchtränkte – und dass das letzte, was er dabei fühlen konnte, die Einsamkeit war, eine tiefgehende, schlimme Einsamkeit – und siehe da, gleichzeitig, wie sie von ihm das letzte war, zerrieb sie alles, was von ihm noch übrig blieb – bis am Ende auch sie verschwand.


„Wir sind frei“ widerhallte es vielleicht in einer ewigen Schwärze.


„Wir sind frei“ klang es abermals, als wäre es der imaginäre Klang von Worten in den verschlossenen Kammern des Bewusstseins, doch das Bewusstsein gab es nicht mehr. Aber gab es das Bewusstsein denn wirklich nicht mehr?


„Natürlich gibt’s das“ sagt Martin nun laut, als er mit einem schweren Ruck sich aufrichtet und aus seinen düsteren Träumen erwacht. Und sieh da – er ist wirklich wach, der Traum dämmert nur noch schwach an entfernten Rändern seines frischen Bewusstseins.
Und die Sonne fällt breit und hell in das großzügige Zimmer, als er die verdunkelnden Vorhänge beiseite zieht und auf den hellen Tag sieht, der sich davor auf den weit aufgespannten blauen Himmel ergießt – und es ist Hochsommer, es ist warm, kein Wölkchen steht am Himmel, und ein kleiner Sonnenstreifen fällt auf sein Gesicht. Er lächelt.

„Wir sind frei“ murmelt er noch einen Moment. „Ha! Dramatischer Unsinn!“ ruft er dann freudig aus, „so ein dramatisch tragischer Unsinn!“ Und rennt beschwingt durch die Glastür auf den mit weißen Fließen belegten Balkon, lehnt sich an das runde Metallgeländer und schaut hinab in den kleinen Garten seines Einfamilienhauses, wo auf dem grade neu gepflanzten, dünnen Rasen seine kleine Tochter mit einem Nachbarskind spielt. Er lächelt wieder. „Also hatt ich’s doch in die Etage oben drüber geschafft“, denkt er sich.

Da kommt Sabine hinter ihm auf den Balkon. „Guten Morgen“ grüßt sie ihn lächelnd, legt von hinten ihre Hand auf seine Schulter. Er lächelt sie an und gibt ihr einen Kuss. „Ich hab vom letzten Winter geträumt“ sagt er.

„Ach“, sagt Sabine, „träum doch nicht vom Winter. Jetz ist Hochsommer! Schau mal, was ich mitgebracht habe“ Sie zeigt ihm mehrere Stapel neuer Plastikblumenkübel und zwei große Pakete mit frischer Blumenerde. „Jetzt können wir auch hier oben noch Blumen hinstellen, und auf der Terrasse sowieso.“ Martin lächelt nur. „Bei welchem Baumarkt warst du denn“ fragt er.

„Bei demselben, wo wir auch den Rasen gekauft haben.“ antwortet Sabine, „Du weißt doch, der da oben bei der A7, Milbach – Ahnshofen, der neue da. Aber komm, jetzt pflanzen wir erst Mal die Blumen. Neue Samen hab ich auch gekauft.“ Sie wendet sich zum Gehen. „Wart mal kurz hier“ Er nickt, blickt dann über die weite Landschaft der Einfamilienhäuser mit ihren hellorangenen Dächern. Jedes von ihnen hat einen kleinen Garten.
„Da haben’s aber viele in die Etage oben drüber geschafft, merk ich grade“ sagt Martin, „aber mein Garten ist trotzdem der größte.“ Er dreht sich um, geht ins Haus, über den Flur, geht in die Küche, schaut aus dem Fenster auf die Straßenseite des Hauses.

Dort hat es geschneit.

Und bald darauf ist dieser Schnee durchmischt und durchtrennt worden von ganzen Schwallen von Eisregen, welche den überschneiten und überfrorenen Boden des Bürgersteigs aufgebrochen und zersetzt haben. Martin ist das Gesicht auf voller Breite abgerutscht, herunter vom gehaltenen Lächeln hin zu einer rätselhaften Verzerrung. Er hat noch einmal genauer hingeschaut. Dort hat es geschneit, dort lag Schnee, dort war es bitterkalt, und auf den Schnee regnete es. „Das gibt’s doch nich“ hat Martin gesagt, „is der immer noch nich verschwunden, der blöde Winter“ Er hat kurz das Fenster aufgezogen und, als die frierende Luft hineinströmte und die Küche schlagartig auskühlte, es schnell wieder zugeschlagen. Er hat gefröstelt, die Arme um seinen Körper gelegt. Er hat ja nur den Schlafanzug angehabt. Er hat aus einem Schrank seine Zigaretten und ein Feuerzeug gekramt und sich eine angesteckt, hat dann sich schweigend ans Fenster gestellt. Er beobachtete einen Mann, der, gekleidet in einen mächtigen schwarzen Mantel, die Straße hinunter ging, bald aber mehr taumelte als ging, bald zu irren und seinen eigentlichen Weg verloren zu haben schien. Da stolperte der Mann oder rutschte aus, fiel mit seiner ganzen Länge in den nassen Schnee, rappelte sich auf, schaute unter seinen wallenden, langen Haaren, die jetzt verklebt in mehrere Richtungen abstanden, wild hin und her, wusste den Weg nicht. Er erhob sich nicht mehr zu seiner ganzen Riesengestalt, ging gekrümmt und gebeugt, eilte, fand seinen Weg nicht, ging weiter, immer weiter durch den Schnee. Nur einmal hat er noch kurz aufgeschaut, vielleicht in Martins Richtung – doch, Martin hat geglaubt, einen Moment, einen kurzen Moment seinen Blick auf sich ruhen gespürt zu haben. Und doch war es niemand, der ihn dort anblickte

Da ging Martin in seinen Hochsommer zurück

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Tag der Veröffentlichung: 28.08.2010

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