I. Ein Weg
Tja, was soll man sagen zur Schule, zu unserer Schule, aus der wir hervorgingen, an der wir wuchsen, die uns erwachsen machte, wo manche lernten, andere nicht, die mancher als strahlender, prächtiger Knabe betrat und als armer Wicht wieder verließ, wo mancher als sturzlangweiliger Dörfler hinein und als verpeilter, aber lustiger Typ hinausfand, die manch schüchternes Mädchen zur angesehenen Schaufensterpuppe, manch unbescholtenes zur geilen Sau machte, die manche aufsteigen, andere fallen ließ, manche abdrängte, manche begrub, der eigentlich und im Grunde nur einige entkamen? Im Grunde haben ihre Geschichten uns doch alle geprägt – witzige Geschichtchen, über die man auch später noch was zu lachen hat, wenn man schon längst Maschinenbauer, Bankangestellter oder Einzelhandelskauffrau ist. Wie die Schule selbst, so prägen doch auch diese Geschichten ein Leben, denn es sind Geschichten über das Leben, über die Welt, die doch nie wiederkehren.
Mit Verdruss merken dann die Bankkaufrau, der Einzelhandelsangestellte und sogar der Maschinen-Automobil-Production-Manager, dass die Geschichten fertig erzählt und am Ende sind. Sie denken dann unwillkürlich an eine Zeit zurück, die ihre große Chance gewesen ist, an einen Weg, der vorgezeichnet war durch einen ganzen Schilderwald, und den doch mancher nicht fand. Und hätten sie ihn finden wollen?
II. Physik
„Der elektrische Schwingkreis“, wollte Susanne Rebert-Franzel ihrem 12er-Physikkurs beibringen, „schwingt der eigentlich gedämpft oder ungedämpft - was meinen Sie?“
Der zukünftige Ingenieur oder Maschinenbauer Mark B. hob die Hand; nicht aber ohne zuvor schon nervös das Bein unter dem Tisch zittern und ausschlagen zu lassen, dass es beständig klapperte wie wild.
„Ja – kommt drauf an“, sprach er endlich mit seiner rauen und tiefen Stimme, „kommt drauf an, ob Sie da noch einen Ohmschen Widerstand mit drin haben. Wenn ja, dann gedämpft, wenn nein, dann ja eigentlich ungedämpft, oder?“
„Richtig“ sprach die Lehrerin und wies auf die vor ihr aufgebaute Versuchsanordnung, „Also, hier hab ich jetzt keinen Widerstand drin, also schwingt er ungedämpft. Aber wie Mark schon richtig gesagt hat, mit Ohmschem Widerstand wird die Schwingung gedämpft – kann vielleicht mal jemand den Beamer anwerfen? Dann könnt ich es ihnen nochmal besser zeigen.“
Der Ingenieur oder Maschinenbauer, der hoch und stämmig war, stand auf und betätigte mit einem Stift den Knopf des an der Decke aufgehängten Beamers.
„Wir beschäftigen uns zunächst einmal mit der ungedämpften Schwingung“, sagte Frau Rebert-Franzel und setzte auf dem Computer eine Simulation in Gang, welche selbst einen angezeigten elektrischen Schwingkreis zum Schwingen brachte.
Man konnte jetzt nachverfolgen, wie der Strom sich zwischen den Platten des Kondensators entlud und in die Spule floss, dort eine Selbstinduktion stattfand, der Strom zurückging in den Kondensator, auf die andere Platte sich entlud, von der anderen Seite nun der Spule sich annäherte, welche ihn nach der Selbstinduktion in ebenjene Richtung zurückwarf, und so dann immerfort, in einem gar unendlichen Pendelschwung. Und Zahlenwerte, Messergebnisse, die sich dem Reaktionsverlauf gleichmäßig änderten, die mal stiegen, mal fielen, mal rot, mal grün gefärbt waren, standen an der Seite vermerkt und gaben Aufschluss über die Energie, welche augenscheinlich unsichtbar und ewig durch das Geschehen floss; ja, eine ewige Energie war es, wie es ein Art Säulendiagramm zeigte, das die sich verändernde Gewichtung von magnetischer und elektrischer Energie verdeutlichte, wobei die eine, grün angezeigt, mal stieg und die andere, rot angezeigt, verdrängte, dann wieder fiel und ihrerseits vom Rot verdrängt wurde; ein ewiger Kreislauf tat sich dann auf, ein ewiges Hin- und Herströmen der Energien, der lebendigen Energien, wie man sie bald in der Luft vibrieren zu spüren glaubte, einer einsamen und doch mächtigen Energie, jawohl, welche nach der ungedämpften Ewigkeit griff.
„Aber – des is doch eigentlich nur theoretisch, oder?“, warf der zukünftige Elektro-techniker Sebastian M. ein, „in Wirklichkeit gibt’s des doch gar nich – nichts kann doch irgendwie einfach - “ - und dabei machte er bewegte Gesten - „einfach ewig schwingen, sich ewig bewegen, des geht doch gar nich. Oder seh ich des jetz falsch?“
„Ja gut“, sagte die Lehrerin, „im Grunde ham‘ sie recht. Alles wird irgendwie ge-dämpft, stimmt schon, die ungedämpfte Schwingung, die wir hier im Unterricht kennenlernen und mit der wir rechnen, muss man natürlich immer auch als Theoretikum sehen. Aber ohne das kann man eben auch die Praxis nicht verstehen, das heißt hier: die gedämpfte Schwingung. Sie ham‘ natürlich im Grunde recht, Sebastian, gut, dann will ich ihnen auch gleich mal die gedämpfte Schwingung zeigen – warten Sie einen Moment.“
Sie setzte die Simulation an den Anfang zurück und betätigte per Mausklick den Schalter für „mit ohmschem Widerstand“.
„Mit der Energie – Wissen Sie eigentlich, was mit der dann is? Geht die verloren, bleibt sie gleich?“
„Ja ne“, sagte der Ingenieur oder Maschinenbauer, „es gilt ja eigentlich noch der Energieerhaltungssatz. Die Energie wird ja nur umgewandelt.“ „Umgewandelt in was?“
„In Wärme“, sagte da jemand, der hier eigentlich gar nichts zu suchen hatte, den Frau Rebert-Franzel aber doch ganz gern hatte. Nun aber verzog Sie schon leicht das Gesicht.
„Wärme“, sagte Sie plötzlich etwas unbeholfen, unentschlossen, „Wärme – ja gut, eigentlich Wärme, stimmt schon, aber Wärme nennen wir das hier eigentlich nicht, wir nennen das“, sie überflog mit den Augen die Reihen der Schüler, jemanden suchend, der willig war, ihr das Wort abzunehmen; „ja, Sebastian?“
„Innere Energie
“, sagte der Elektrotechniker, der sich schnell gemeldet hatte.
„Richtig. Innere Energie. Das heißt: die Energie ist eigentlich noch vorhanden – nur dem Schwingkreis geht sie verloren. Sie wird innere Energie
. So, am besten zeige ich Ihnen das mal gleich.“
Und sie setzte den simulierten Schwingkreis wieder in Gang. Am Anfang schwang er gar gewöhnlich und der Kreislauf, der sich beim ersten Mal schon aufgetan hatte, zeigte sich zum Neuen. Die Energiebalken des Säulendiagramms schwankten wie vorher auf und ab – doch gegebenerweise war nicht alles gleichgeblieben.
Bald, mit schleichender Genauigkeit, setzte sich nämlich ein wachsender, tiefschwarzer Balken ans untere Ende des Diagramms, wuchs immer weiter hinauf.
„Innere Energie“, nannte das Schwarz die Legende.
Und alles schwächelte – Der Schwingkreis schwang immer schleppender, immer mäßiger waren die Entladungen des zirkulierenden Stromes, immer gehauchter die Selbstinduktion. Und unaufhörlich, in einem ungehemmten, zielgerichteten Streben, dem nichts den Weg kreuzte, kletterte das Schwarz am Säulendiagramm empor. Die Bewegungen wurden langsamer. Die gedämpfte Sinuskurve ging gegen null. Grün löste Rot ab und Rot Grün. Doch ihr Territorium war beengt. Schwarz kam herauf. Das Schwarze nahm ihren unteren Rand ein. Das Schwarze löste Grün und Rot ab. Und der ganze Balken war schon schwarz, auf dem Schwingkreis keine Bewegung mehr, alles ruhte und schwieg.
So also wurden magnetische und elektrische Energie zu „Innerer Energie“. Hab‘ ich noch nie von gehört. Interessant allemal.
III. Timo
Timo war kein unbedingt schweigsamer, eher ein teilnahmsloser Kerl, eher schlafend als in sich versunken, wenn er sich abkehrte, eher als mit Menschen zusammen am Computer, wenn er Freizeit hatte; seine weit gestreckten dunklen Augen füllte in manchen Momenten eine fremde, gänzlich undurchdringliche Leere, die sich durch sein ganzes Wesen zu ziehen schien, die fest in ihm verankert saß und die jeder selbst verzweifelt und in sich erfahren musste, wenn er versuchte, sie aus diesen Augen zu vertreiben. Solche Momente gab es, wie man glaubte, immer häufiger, es war, wenn er kurz „ausspannen“ wollte vom anstrengenden Unterricht, sich an irgendeine einsame Wand lehnte, gerade so, dass ja keiner diese Einsamkeit bemerke, sich eine Zigarette ansteckte, den Kopf zurücklehnte, die leeren Augen teilnahmslos gegen die Decke pendelten und er sich zum neuen der ihn umschließenden Welt entzogen hatte.
Wenn dann das Ende der Pause läutete, schüttelte er den Kragen seiner groben Jacke zurecht, setzte sich langsam in Bewegung, schwätzte mit seinen Kumpels, riss ein paar grobe Scherze und war schon im Unterrichtsraum verschwunden, an dessen weitem Ende er Platz nahm und bei Möglichkeit ein kleines Nickerchen hielt.
Aber was habe ich mit dieser einsamen Existenz zu tun? Nun, ich hatte freitagnachmittags mit ihm zwei Stunden gemeinsamen Sportunterrichts und schon davor, in der Französischstunde, erkundigte ich mich zuweilen bei ihm, ob der Sportunterricht stattfinde, worauf er knappe, aber nicht unfreundliche Antworten gab. Doch wie der arme Kerl mir immer leerer vorkam, wie der Funke des Seelenfeuers in ihm mehr und mehr verschwand und das niemand zu bemerken schien, da sprach ich ihn immer öfter an, ging geradewegs auf ihn zu, rüttelte ihn aus seinem alten Schlaf:
„Und Timo, haben wir heute Sport?“
„Ja, denke schon, wieso nicht?“
Da schlief er fast schon wieder ein.
„Was haben wir letztes Mal denn so gemacht?“
„Weiß nich“, sagte er, und plötzlich am Gedanken anteilnehmend:
„was war denn da, ah, ich weiß: ham‘ wir nicht Volleyball gespielt?“
„Stimmt“, sagte ich dann regungslos, stand noch eine Weile da und sah ihm zu, bis es läutete und ich mich auf den Weg machen musste.
Doch der Weg führte mich wieder zu Timo, immer wieder und wieder.
„Und Timo, haben wir heute Sport?“ kratzte ich ihn dann auf. In mir rumorte es, und dieses Rumoren wollte auf den Kerl, der da unten saß, überspringen, prallte aber immer wieder ab. „Wenn Erregerfrequenz und Eigenfrequenz gleich sind“ sagte meine Physiklehrerin in meinem Hinterkopf, „wird die Schwingung übertragen und die Eigenschwingung verstärkt. Dass nennt man Resonanz.“
„Ja ich denke schon“, sagte Timo jetzt, „warum fragst du?“
„Ich weiß nicht“, sagte ich, „sag mal, verstehst du eigentlich was von Resonanz?“
Ja, ich konnte mich noch gut daran erinnern, wie auf dem letzten Schulkonzert er mit gesenktem Haupt und seinen das ganze Gesicht verdunkelnden, herabhängenden Haaren in der Schulband einen dunklen, monotonen E-Bass gespielt hat. Ein wenig muss er ja verstehen von Musik.
„Ja“, sagte er, „war das nicht das, wenn so eine Schwingung so ein anderes Ding auch zum Schwingen bringt, warum?“
Ich zuckte mit den Achseln.
„Konnte es da nicht“ sprach er mit hellen Augen fort, „zu so ner Resonanz-Katastrophe kommen? Ich fand das Wort immer so geil.“
Ich sah ihn nur starr an. Ein wenig legte mein Gesicht sich schief.
„Nur weg“, dachte ich.
Doch ich kam nicht von ihm los. Immer wieder erschien er vor mir, sodass seine Stille und seine Leere, als wären sie Schwere und Schall, auf der ganzen Weite meines Gemüts lasteten. Dann stürmte ich auf ihn los.
„Und, Timo, haben wir heute Sport?“
„Ja, ich denke schon“
So vergingen Wochen und Jahre. Mir schien, als hebe sich bei jeder Ansprache sein Kopf ein Stückchen schwerer, als brauche der Schall jedes Mal ein Stück länger, um in ihn vorzudringen, als sei sein mich müde durchschwimmender Blick jedes Mal ein Stückchen leerer, wenn er zu mir heraufsah. Ich verdoppelte meine Anstrengungen, denn es war ja sonst niemand mehr da; ich griff ihn fest, ließ ihm weder Ruhe noch Halt, tauchte vor ihm auf, so plötzlich, wie er früher vor mir erschienen war, suchte ihn beständig heim.
„He, Niko, haben wir heute Sport“ atmete ich bebend.
„Ich heiß Timo“ hat der sitzende dann gesagt und sich langsam und bedrohlich von seinem Stuhl erhoben.
„Alter“, sprach er und hat mich so fest angesehen, dass ich glaubte, das Nichts seiner Augen söge mich ein; doch diesmal haben die Augen gewallt, gezittert die dahinter pochenden Venen.
„Alter“ sprach er und hat mit Gewalt seinen leeren Stuhl an den Tisch zurück geschoben, dass es einen Krach gegeben hat. „Nein“, sprach er, „wir ham heute kein Sport.“
Er ist schon an mir vorüber gewesen, ist mit Macht aus dem Raum geschritten, hat hinter sich die Tür zugeknallt, ist schon im Gang gewesen und hat sich eine Zigarette angesteckt. So ist es gewesen.
Aber das kann nun einmal nicht sein. Natürlich haben wir heute Sport.
Ich gehe hin, finde aber tatsächlich niemanden. Weder Lehrer, noch Schüler, noch den Sportunterricht selbst kann ich finden, ich sehe mich in der offenen Wüste dieser weiten Gänge und um mich steht die Leere an den kargen weißen Wänden. Es gibt keinen Sportunterricht.
Seltsam, denke ich, will wieder die Treppe hinauf, zu Timo, da ich sonst niemanden treffe, doch die Treppe ist im Verfall; und ich sehe den Raum bloß noch als ebene Weißfläche, unter der das ewige Dunkel seiner Augen liegt
Tag der Veröffentlichung: 05.08.2010
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