Kapitel 1
Arcors Sicht - Untergrund
Ein kleines Wesen von zarter Gestalt versteckte sich in den Schatten der Häuser, musterte mit kläglichen Blick die Umgebung, um festzustellen, dass sie sich in Sicherheit befand. Sie beugte sich nach hinten, flüsterte ihrer Gefährtin etwas ins Ohr, bevor beide zurücktraten. Zwei rote Augenpaare durchstießen die Dunkelheit, als sie schließlich darin verschwanden.
Besorgnis kroch durch meinen gesamten Körper.
Ich wandte meinen Blick ab, richtete ihn auf den Rest meiner Umgebung – es gab sonst niemanden, der sich momentan an solch einem Ort aufhielt. Mit wachen Ohren und einem aufmerksamen Blick huschte ich wie ein Schatten auf die andere Straßenseite, suchte Schutz in einer dunklen Ecke der Gasse, indem sich vor wenigen Sekunden noch die Mädchen versteckt gehalten hatten. Ungesehen, ja fast unsichtbar, durchschritt ich die düstere Nacht, hoffend, bald den Ort zu erreichen, dessen Geschehen bereits bis zur Menschenwelt vorgedrungen war.
Ich befand mich in einer kleinen Stadt südlich der großen Mauer, die das Königreich Liliths umschlungen hielt. Cósanya nannte man diese Region oder auch die Stadt des Verfalls, ein Ort umwunden von Ruinen.
Winzige Regentropfen fielen wie gläserne Perlen vom Himmel hinab. Sie verwandelten die Wege in ein schlammiges Geläuf und prasselten lautstark gegen die schmutzigen Fensterscheiben. Die Nässe zog sich durch den dicken Stoff meines Mantels. Mürrisch – ich verabscheute Regen, wo er doch so wohltuende Dinge für die Natur tat – zog ich mir die Kapuze tiefer ins Gesicht und ignorierte die vereinzelten Tropfen, die an meinem Gesicht hinunter wanderten. Sie bahnten sich ihren Weg in ineinander verschlungenen Rinnsalen an meinem Hals entlang.
Mit einem mulmigen Gefühl in der Magengrube spähte ich um die Ecke des Gebäudes, suchte nach hungrigen Vampiren oder angriffslustigen Dämonen, doch das Schauspiel, welches sich einige hundert Meter vor mir abspielte, zog die gesamte Aufmerksamkeit auf sich. Aller Hand von Wesen sammelten sich dort, grölten oder verfielen mit geschärften Krallen einer Auseinandersetzung.
Abseits von der aufdringlichen Masse erblickte ich einen Werwolf. Er drückte seine Klauen in den Boden, schnaufte gefährlich und hinterließ einen weißen Nebel um seine Schnauze herum. Daneben lehnte eine Dämonin an der Wand. Tätowierungen bedeckten ihre gesamte Gestalt, auch die kleinen Hörner – sie lugten auffällig unter ihrem hellen Haar hervor – erkannte man sofort.
Dämonen jeglicher Herkunft lauerten in den verschiedensten Ecken, Ghule tarnten sich mit Hilfe des Schlammes. Selbst eine Sirene versteckte sich auf einem der Dächer, wo diese Rasse das Festland doch mied, sich eher zu den Küsten hingezogen fühlte.
Obwohl die Meisten sich versteckt hielten, strahlte jeder von ihnen etwas Bedrohliches aus. Hier war es nicht sicher. Weder für mich, noch für Ihresgleichen.
Das Licht einer einzigen Laterne – das grelle Leuchten flackerte bereits gefährlich – bot mir eine gute Sicht, ließ die scharfen Reißzähne in der Dunkelheit funkeln.
Mit kalten, zittrigen Fingern zog ich eine alte Taschenuhr aus meiner Manteltasche, starrte auf den kleinen Zeiger, der auf der Zwei verharrte. Ich wusste, dass ich nicht noch länger warten konnte.
Also zog ich meine schwarzen Stiefel aus dem Matsch – der Schlamm fesselte den Schuh wie Ketten einen Strafgefangenen – und näherte mich dem Geschehen, in der Hoffnung, unentdeckt zu bleiben.
Je näher ich den Geschehnissen kam, desto glitschiger wurde der Boden, zeigte mir deutlich, wie viele Personen hier bereits vorbeigegangen sein mussten. Es erleichterte meine Schritte etwas – ich würde nicht ständig meine Füße aus der festen Masse ziehen müssen –, dennoch lief ich Gefahr, auszurutschen und dadurch meine Tarnung zu verlieren. Deswegen bewegte ich mich langsam fort, dennoch so schnell, um keinerlei Aufmerksamkeit zu erregen und in den Augen der anderen unwichtig zu erscheinen.
Das Gerede der übernatürlichen Wesen schallte durch die Straßen, hallte und verfing sich in meinen Verstand, wo ich sie auseinander zu halten versuchte. Mir kam sofort in den Sinn, mir einige von diesen Gesprächen einzuprägen, ihre Worte zu entschlüsseln, doch stattdessen ließ ich jede Stimme miteinander verschmelzen, um den Lauten zu entkommen, die grässliches Piepen in meinen Ohren hinterließen.
Ich hasste den Untergrund, verachtete das Zuhause der Dämonen und Vampire, die Geburtsstätte aller Werwölfe und Banshees. Meine Welt befand sich auf der Erde, ruhte in jeder einzelnen Blume, die im Sonnenlicht ihre Blüten entfaltete und Schönheit präsentierte. So etwas gab es an diesem Ort nicht, dessen Größe der Menschenwelt glich. Hier lebte man für Tod und Verderben, geboren um zu kämpfen und Familien zu verteidigen. Frieden gab es keinen – würde hier wahrscheinlich niemals herrschen. Dazu gab es zu viel Böses, dass sich sofort auf Liliths Seite schlug, sollte die Herrscherin aus ihrem grausamen Schlaf erwachen.
Bosheit regierte diese Welt und der Thron gehörte demjenigen, der zum Meucheln geboren wurde, die Hände benetzt mit dem Blut Unschuldiger. Der Versuch, mit diesem Abschaum zivilisiert umzugehen, würde scheitern, sodass man sich bereits von vornherein sicher sein konnte, dass jemand, der dieses Ziel verfolgte, nicht lange an der Macht bleiben würde.
Regeln gab es in dieser Welt nur an den seltensten Orten. Natürlich gab es Monster, deren Hauptanliegen nicht das Töten anderer Menschen war, doch diese überlebten nicht lange, entschlossen sie sich, diesem Weg zu folgen. Niemand von ihnen, denn hier zählte nur die Stärke und die ausgebauten Fähigkeiten im Kampf. Bei einem Angriff konnten wohlmeinende Worte niemanden retten, denn hier siegte die Kraft, nicht der Verstand.
Und deswegen verachtete ich dieses Volk von Dieben, Mördern und Vergewaltigern.
Nicht einmal vor mir, dem hochrangigen Mitglied des Rates der vier Kreise, würden sie Halt machen, weswegen ich mich in den Schatten bewegte und mein Gesicht unter einer Kapuze verbarg.
Diese Monster zollten dem Rat keinerlei Respekt, behandelten uns wie Frischfleisch, etwas, das man vernichten musste. Unsere Anwesenheit konnte an keinem Ort unerwünschter sein, denn die Regeln, die wir aufstellten, galten in dieser Welt nicht. Nur das königliche Geschlecht war in der Lage, diesem Blutbad ein Ende zu bereiten und die Kontrolle zu übernehmen. Selbst die Engel, eines der mächtigsten Geschöpfe, taten sich in dieser Welt schwer, denn niemand hegte auch nur ein Fünkchen positiver Gefühle für sie.
Im Gegensatz zu den gefallenen Engeln, die hier wahrlich Willkommen waren und dessen Nähe jeder freudig suchte.
Bei diesem Gedanken schäumte ich vor Wut, hielt den Ärger jedoch zurück, um nicht aufzufallen und womöglich meinen Frust an dem nächstbesten Dämon auszulassen.
So etwas tat man als Vorbildfunktion und Ratsmitglied nicht.
So etwas sollte generell niemand tun – ob Vorbild oder nicht.
Der Regenguss verstärkte sich, zog sich durch meinen Mantel und sickerte in meinen Pullover, dessen feuchter Stoff unangenehm über meine Arme rieb. Eine Gänsehaut überfuhr meinen fröstelnden Körper, doch ich versuchte es auszublenden.
Ich näherte mich dem Geschehen, stoppte jedoch hinter einem stark gestikulierenden Dämon. Er fluchte über einen Vampir in seiner Muttersprache, die der Blutsauger nicht zu übersetzen wusste. Dieser stand lässig daneben und versuchte den Worten des anderen keine Beachtung zu schenken. Auch die tätowierte Dämonin flüsterte in der Sprache der Toten, packte einen Gestaltwandler am Arm und zerrte ihn grob mit sich.
„Friss sie!“, brüllte ein Ghul dem Werwolf zu, der dessen Ruf zähnefletschend quittierte.
Zwei Vampire lachten heiser auf, als sich ihre Blicke auf die Leichen richteten, um die herum sich die Schaulustigen drängten.
Diese perversen Schweine, fluchte ich innerlich. Ergötzen sich am Ableben anderer.
Niemand zeigte Trauer, Mitgefühl oder gar Bedauern. Sie schämten sich nicht einmal dafür, dass sie sich in einer regnerischen Nacht zwischen den Gebäuden tummelten und Tote beobachteten, deren Mörder bereits verschwunden war. Nein, es wurden Späße gemacht, das Vorgefallene ins Lächerliche gezogen.
„Er hätte das Geld bezahlen sollen“, kicherte ein schmächtiger Blutsauger, dessen Grinsen sich breit durch das gesamte Gesicht zog. „Man legt sich eben nicht mit den Kriegern an, fertig.“
„Den Kriegern? Nennen sie sich so?“, erkundigte sich sein Partner, der dem Ganzen offenbar skeptisch gegenüberstand. „Das ist ein äußerst lächerlicher Name.“
Sein Gegenüber grunzte, was wohl ein Lachen darstellen sollte, bevor er sich umsah.
„Sag das lieber nicht zu laut, sonst bist du der Nächste.“
Seine roten Augen weiteten sich, bevor er nach hinten trat, fest gegen die Brust einer Succubus stieß, die ihre Krallen tief in seinem Magen versenkte. Die junge Frau beschimpfte ihn, stieß ihn ohne Reue zu Boden und leckte sich das schwarze Blut von den Krallen. Ihre Begleitung lachte, als man dem Vampir half, sich aufzurichten, um im nächsten Moment mit seinem Freund zu verschwinden.
Wie sehr ich dieses Volk verachtete, die das Verlangen in mir auslösten, jeden von ihnen den Tod zu bescheren. So wie diese Monster es gegenseitig taten.
Still, hoffentlich unauffällig, trat ich an der Succubus vorbei, quetschte mich durch die breite Masse, bis ich schließlich vor dem Massaker hielt. Ihr tragischer Tod war noch nicht allzu lange her, was man deutlich an ihren Körpern erkennen konnte. Blut besudelte den feuchten, hässlichen Untergrund, ihre Kleidung war zerrissen, zeigten sie, wie Gott sie schufen – vollkommen nackt. Selbst die Glieder hatte man durchtrennt. Derjenige, der dies getan hatte, handelte unkontrolliert und mit einer unfassbaren Wut.
Es konnte unmöglich das Werk der Gefolgsleute Liliths sein.
Solch einen Hass verspürten ihre Untertanen nicht. Außerdem wurde es Lilith nicht gutheißen, wenn man ihre Sklaven tötete.
Doch wer, zum Teufel nochmal, war dann für dieses Schlamassel verantwortlich?
Nachdenklich betrachtete ich die Toten, musterte all die Zerstückelungen, die übrigen gelassenen Teile des Körpers, die unversehrt geblieben waren. Dabei handelte es sich um die Handflächen und Oberschenkel. Alles andere wurde von Wunden bedeckt, ja selbst das Gesicht war verunstaltet.
Eine grausame Tat, die mir ganz und gar nicht zusagte.
Gleichgültigkeit übermannte mich, als ich die verstümmelten Leiber erblickte. Ich lebte nun schon seit etlichen Jahrhunderten, erlebte bereits Schlimmeres als das. Dennoch, obwohl ich dieses Desinteresse an ihrem Tod verspürte, begann etwas in meiner Brust zu schmerzen. Mir wurde schlecht. Ich verspürte auf einmal den Drang, meinen Blick von ihnen abzuwenden.
Bis mir plötzlich etwas ins Auge stach, was für mich wie ein Muster aussah. Man konnte es in den brutalen Verletzungen erkennen. Ich wusste nicht genau, wie ich es gefunden hatte, doch jetzt, wo ich erkannte, wonach ich suchte, sah ich es ohne große Anstrengungen. Meine Hexersinne schlugen Alarm. Doch mir erschloss nicht, was es bedeutete und ohne Magie, die zeigen könnte, wo der Mörder die Waffe zuerst angesetzt hatte, kam ich hier nicht weiter.
Unauffällig sah ich mich um, suchte nach Monstern, die mich sehen und entblößen könnten, doch niemand schien mich wahrzunehmen. Stattdessen starrten sie auf die beiden Dämonen, es war sowohl ein Mann als auch eine Frau. Sie lachten über die brutale Kastration des Mannes und suhlten sich in dem Blut, all dem Hass, den man hier vorfand.
So ein schrecklich erbärmliches Volk!, dachte ich und verzog angewidert das Gesicht.
Nervosität stieg in mir auf, vermischte sich auf meiner Zunge mit dem Geschmack der Galle, bevor ich mir langsam den Handschuh von der rechten Hand zog. Das Leder knirschte unter meinen Bewegungen, als ich ihn in meiner Manteltasche verschwinden ließ. Anschließend streckte ich alle fünf Finger auseinander, richtete sie unauffällig auf die beiden Toten.
Mir war bewusst, dass diese Kraft nicht unentdeckt bleiben würde, doch dieses Risiko nahm ich nun in Kauf.
Meine Aufgabe bestand darin, Unschuldigen das Leben zu retten und ihnen Frieden zu schenken. Auch, wenn der Rat im Untergrund keinerlei Rechte besaß, wollte ich diese Personen nicht ungeschützt lassen. Es gab Missgestalten, sowie Böses, das man bekämpfen musste, doch selbst hier – wenn auch sehr, sehr selten – gab es Personen, die Hilfe benötigten. Und diese würde ich ihnen nicht verwehren. Selbst wenn es mich mein Leben kosten sollte.
Ich spürte die Magie, die wie eine Droge durch meinen Körper schoss und sich in meiner Hand sammelte, dort ein angenehmes Kribbeln hinterließ. Ich benötigte all meine Konzentration, um in diesem wunderbar ansteigenden Gefühl nicht einfach genussvoll die Augen zu schließen.
Ein leises, wohliges Seufzen entfloh mir, als meine Magie ihren Höhepunkt erreichte, sich gleichzeitig in die toten Körper schlich, um mir das grausame Schauspiel zu präsentieren.
Mir wurde schwindelig – meine Iriden veränderten sich zu einer weißen, klaren Fläche, so, wie sie es immer bei dieser Art von Magie taten –, mein Magen rebellierte, doch ich kämpfte gegen den Brechreiz an. Widerliche, grausame Bilder schossen durch meinen Kopf, zeigten mir die Ermordung des Dämonenpärchens.
Ich erkannte eine Hand – sie umfasste den Schaft eines Katanas, schwang es wie ein einfaches Messer –, die sich gegen die Opfer richtete, die Spitze in das Fleisch des Mannes drückte. Sein verzweifelter Schrei hallte durch die stille Nacht.
Der Mörder zeichnete etwas in seine Brust, eine Art Stern, was ich jedoch nicht richtig erkennen konnte. Die Frau kreischte, flehte panisch um das Leben ihres Geliebten.
„Ich habe einen Sohn“, brüllte sie mit kratziger Stimme. „Verschone mich, bitte!“
Doch die Person, die die Waffe voller Leichtigkeit schwang, interessiert das Leben des Kindes nicht. Man sah, wie sich der Körper des Fremden entspannte, zu wippen begann. Er lachte. Die Frau wusste in binnen weniger Sekunden, dass er sie nicht gehen lassen würde. Sie warf ihrem Gatten einen verzweifelten Blick zu, bevor sie sich von der Untat abwandte und die Flucht ergriff. Doch der Psychopath erriet ihren Gedanken, durchtrennte mit einem sauberen, einfachen Schnitt ihr Bein. Die schluchzende Mutter fiel.
Keuchend zwang ich mich, meine Augen offen zu halten, dass Geschehen weiter mitanzusehen. Ich erkannte dieses Muster, wusste, dass dieses Pärchen nicht seine ersten Opfer gewesen war. Nein, Erinnerungen an vier weitere Morde sammelten sich in meinem Verstand, befahlen mir, mich sofort von hier zu entfernen und dass Weite zu suchen. Doch ich konnte nicht.
Nicht solange ich den Rat der Hexer vertrat.
„Pass doch auf, Arschloch!“, fauchte ein Mann laut, als er gegen mich stieß.
Seine Hand streifte die meine, ließ mich erschrocken aufschreien. Magie floss durch uns hindurch, sammelte sich ebenfalls in dem Fremden. Erinnerungen schäumten über, zeigten mir Millionen von Bildern. In meinem Schädel pochte es.
Ich erblickte blutrote Kirschbäume, tote Körper umhüllt von fleischlosen Knochen. Männer standen um ein meterhohes Feuer herum, musterten die nackte Frau, die darinstand. Schreiend. Sterbend.
Der Brechreiz verschlimmerte sich, als ich es endlich schaffte, mich von ihm zu lösen. Ich taumelte nach vorne, hielt mir angestrengt den Kopf, dessen Schmerzen unerträglich wurde. Meine Augen normalisierten sich, nahmen ihr vertrautes blau entgegen, als man mich grob zu Boden stieß.
Keuchend landete ich im Matsch, schüttelte benommen mein Haupt und versuchte mich vergebens wiederaufzurichten.
Lachen, das zuvor noch die Nacht durchschnitten hatte, erstarb. Schluckend blickte ich hinter mich, bemerkte zu spät, dass meine Kapuze mir keinen Schutz mehr bot, mein Gesicht offenlegte.
„Ein Hexer!“, brüllte die Succubus, starrte mich mit großen, purpurnen Augen an. „Tötet ihn!“
Plötzlich verlief alles unglaublich schnell.
Bevor ich überhaupt realisieren konnte, was geschah, stürmten dutzende übernatürliche Wesen auf mich zu. Mit geschärften Krallen und erhobenen Fäusten jagten sie mich. Ich schaffte es, mich auf die Seite zu rollen und der ersten Welle zu entkommen, doch sie ließen keinen Ausweg zu. Ohne wirklich über eine andere Möglichkeit nachzudenken, warfen sie sich ein zweites Mal auf mich. Wut und Hass funkelten in ihren Augen, als sie ihre Zähne entblößten und mit erhobenen, spitzen Klauen nach mir schnappten.
Schluckend erstarrte ich für einen Moment, während ich realisierte, dass mich die Anwendung dieser bestimmten Magie mehr mitgenommen hatte, als ich zugeben wollte.
Ein zweites Mal schaffte ich es, mich zu erheben. Ich wusste, dass kämpfen keinen Sinn machen würde. Wenn wir in der Menschenwelt gewesen wären, hätte ich mit einem Sieg rechnen können. Doch hier befand sich meine Macht auf einem Level, dass von einem gut trainieren Kämpfer überschritten werden konnte. Ich musste von hier verschwinden – auf der Stelle!
Ein lautes, angestrengtes Keuchen entfloh mir, als ich beim Aufstehen erneut in den Schlamm sank. Es kostete mich eine unglaubliche Anstrengung, mich noch einmal zu erheben und einen Fuß vor den anderen zu setzen. So schnell ich konnte – der Matsch machte es unmöglich schnell zu rennen, ohne den Halt zu verlieren – raste ich die Straße entlang, wissend, die Verfolger nicht einfach abhängen zu können.
Sie kannten diese Welt in und auswendig. Ich hingegen, jemand der sich nur hier aufhielt, wenn es wirklich sein musste, wusste nicht einmal, wohin die nächste Gasse führte. Doch einen Vorteil besaß ich, schließlich wusste ich von einem Portal in die Menschenwelt, dass vor den anderen verborgen in den Schatten lag. Dieses Portal würde nur mir dienen, jedem anderen das Betreten verwehren.
So schnell ich konnte bog ich in die nächste Gasse, hörte, wie meine Verfolger im Dreck versanken. Doch mir blieb keine Zeit, mich darüber zu freuen. Stattdessen beschleunigte ich meine Schritte, sprang über die kleinen, kniehohen Ruinen eines Gebäudes. Wärme breiteten sich in mir aus, so angenehm wie die Flammen eines Feuers, als ich das helle Schimmern wahrnahm – den Durchgang in eine vollkommen andere Welt. Ich raste darauf zu – plötzlich blieb mir die Luft weg – streckte meine Hand danach aus, wissend, dass ich es nur zu berühren brauchte.
Es waren nur noch wenige Zentimeter!
Bis der Schweif einer Succubus meinen Fuß umfasste und mich nach hinten schleuderte – weg von meiner Zuflucht. Ein stummer Schrei erklomm meine Kehle, als ich hart gegen die Ruine schlug, wie ein Stein auf dem Boden aufschlug. Meine linke Seite schmerzte und ich wusste, dass man mir die Rippen gebrochen hatte – eine Wunde, die durch meine Unsterblichkeit jedoch ohne weiteres verheilen würde.
„Tu es! Vernichte den Verräter.“
Bevor ich die Worte wahrhaftig realisierte, packte mich jemand an meinen Mantel und zog mich in die Luft. Im nächsten Moment spürte ich scharfe Zähne, die sich wie Messerklingen in meine Schulter bohrten. Erneut schrie ich – dieses Mal jedoch lauter, gequälter.
Mir wurde schwarz vor Augen, doch das Licht kämpfte gegen die Dunkelheit an, sodass ich bei Bewusstsein blieb. Derjenige, der mich biss, spuckte verächtlich zu Boden, als er sich von mir löste und mich sinken ließ. Schallendes Gelächter brach aus.
„Sieh dir das an! Und dieses Ding soll die Menschenwelt verteidigen. So jemand stellt Regeln auf. Das ich nicht lache!“, grunzte eine Frau. „Er ist eine Schande für alle übernatürlichen Wesen!“
„Oh, siehst du das so?“, kicherte ein anderer. „Ich finde, er gehört nicht einmal zu uns. Er ähnelt viel zu sehr der unteren Nahrungskette, wenn du verstehst.“
Sie gackerten wie wild gewordene Teenager, traten mich, bohrten ihre Krallen in mein Fleisch.
Doch ich verspürte keinerlei Schmerzen. Der Biss steckte mich unter Storm, brachte meinen Körper dazu, sich der Schwerelosigkeit hinzugeben und die Pein von sich zu stoßen.
Dennoch fühlte ich mich nicht gut, eher betäubt, wie ein wildes Tier, dessen Fell man für sich gewinnen wollte.
„Tötet ihn endlich“, brüllte ein Mann mit dunkler Stimme. „Setzen wir dem Rat ein Zeichen!“
Ich konnte nichts sehen, denn Nebel bedeckte meine Sicht, ließ nicht einmal zu, dass ich meinem Mörder in die Augen blickte. Stattdessen hörte ich seine Schritte, schwer und laut.
Die Geräusche von fallendem Regen und schnellen Schritten hallten in meinem Verstand wider, erweckte ein weiteres Mal Brechreiz in meinem Magen, dem ich dieses Mal nachgab. Ich beugte mich zur Seite und übergab mich, bis ich mich noch schlechter fühlte als zuvor.
Das Gelächter wurde lauter, gehässiger.
Auf einmal umfasste mich ein angenehmes, warmes Gefühl. Ein Wall, gefüllt von wunderbarer Magie, umschloss meinen verletzten Körper und stieß den Feind von mir. Ich erkannte das helle, blaue Schimmern, die Kuppel die sich um mich gelegt hatte.
Die Laute der Wesen erstarben, als jemand Neues sich näherte. Ich erkannte ihren Duft, obwohl der Regen ihn zu verwischen drohte.
Meine geliebte Karda.
„Ihr werdet ihn nicht weiter anrühren, habt ihr verstanden? Wenn ihr weiterhin gegen die Regeln verstößt, werdet ihr mit einer angemessenen Strafe rechnen müssen! Geht nun! Los, verschwindet!“
Scham überflutete meinen gebrochenen Körper, ließ mein Herz mit gewaltiger Wucht gegen meinen Brustkasten donnern. Ich verlangte danach aufzustehen und diesen Widerlingen den Schädel von den Schultern zu reißen, mich vor meiner Frau zu behaupten, doch ich schaffte es nicht einmal, einen Finger zu heben.
Ich spürte, dass die Wesen nicht verschwinden wollten. Sie zollten Karda ebenso wenig Respekt wie mir, doch der Schutzwall, den meine Frau erschaffen hatte, hielt sie von uns beiden fern. Sie wusste ebenso gut wie ich, dass sie allein keinerlei Chancen besaß.
Sanft berührte Karda meine Wange, nahm mein Gesicht in ihre zarten Hände. Zu gerne würde ich ihr nun in die wunderschönen, goldenen Augen blicken, ihr sagen, wie gut es mir doch ginge – was ich jedoch nicht konnte.
„Diese Barbaren“, fauchte Karda leise, verschränkte unsere Hände miteinander. Scharf zog sie die Luft ein, als ihre Finger vorsichtig über die Bisswunde strichen. Karda fluchte. „Verdammt, Gift! Ich muss dich sofort von hier wegschaffen.“
Die Biester wollten nicht aufgeben, warfen sich mit voller Wucht gegen den Wall, der ihren Attacken jedoch standhielt. Bei jedem Stoß leuchtete unser Schutz bläulich auf. Obwohl keinerlei Risse entstanden, die zeigten, dass ihre Brutalität Funken schlug, warfen sie sich weiterhin dagegen. Karda war eine talentierte, starke Hexe und niemand – wirklich niemand! – würde es jemals schaffen, eine ihrer Barrieren zu durchbrechen.
Ihre rosigen Lippen legten sich auf meine Hand und obwohl ich die Berührung kaum spürte, erschauderte mein gesamter Körper. Er schien die Taubheit in ihrer Nähe zu vergessen.
Mit einem verschwommenen Blick sah ich sie an, erkannte ihre kurzen, blonden Haare, die ihr durch die Nässe im Gesicht klebten.
„Ich bringe dich zu einem Heiler, Liebster. Er wird sich um dich kümmern.“
Die Magie um uns herum verstärkte sich, knisterte in der Luft und erschuf ein elektrisierendes Gefühl. Mit einem Mal verschwanden die angriffslustigen Stimmen, es herrschte absolute Stille. Karda hatte ihre Fähigkeiten genutzt, um uns aus dem Untergrund zu befreien.
Ich roch die süße Luft, die es nur im Schloss gab, dass die Hexer ihr Zuhause nannten.
Sonnenstrahlen bedeckten meinen schwachen Körper, zauberten mir ein sanftes Lächeln auf die Lippen. Ich fühlte mich in Sicherheit, geborgen in den Armen meiner Geliebten.
Türen wurden aufgestoßen und Schritte donnerten über den steinigen Weg.
„Was ist geschehen?“, keuchte eine Frau erschrocken. Jupiter.
„Wir brauchen sofort ärztliche Versorgung! Er wurde gebissen.“ Karda.
„Schaffe ihn hinein! Ich werde den Heiler herbeirufen, er wird sein Leben retten.“ Ilex.
Man hörte, wie sich der Rest des Rates näherte, andere verschwanden wieder. Laut donnerten die großen Flügeltüren des Schlosses, als die Hexer mich meiner Geliebten abnahmen und sich meine Wunden besahen. Sie fluchten, sprachen aufgebrachte Worte, die meine Ohren nicht übersetzen konnten.
Auch ihre Gesellschaft meiner Freunde nahm ich nur vereinzelnd wahr, spürte kaum, wie mich jemand auf eine Trage legte und von diesem schönen, warmen Ort davontrug. Stattdessen nistete sich Dunkelheit in meinem Herzen ein, umschlang gleichzeitig meinen Verstand.
Und plötzlich, auf der ein zur anderen Sekunde, löste sich die Taubheit und ließ den Schmerz frei, den er zuvor aufgehalten hatte. Er umfasste mich wie eine Welle, wild und erbarmungslos.
Ich bäumte mich auf und brüllte, bis ich auf einmal das Bewusstsein verlor.
Kapitel 2
Zweieinhalb Jahre
Als Angel das tanzende Paar erblickte, leuchteten ihre Augen wie am jährlichen Weihnachtsabend. Sie drückte die Hand ihrer liebreizenden Mutter, zog sich auf die Beine – wackelig stand das kleine Mädchen nun da, geblendet von der Schönheit der Tänzer – und musterte die Beiden. Ihr Mund stand offen, als sie mit der freien Hand nach ihnen griff, einen Fuß vor den anderen setzte.
Die Musik verzauberte das Mädchen, ließ sie in eine Welt gleiten, die sie zuvor nicht gekannt hatte. Ihr kleines, aufrichtiges Herz schlug hart gegen ihren Brustkasten, als das Pärchen sich voneinander löste. Sie teilten einen sinnlichen Kuss, bevor sie sich dem Publikum zuwandten und eine Verbeugung andeuteten.
Angels Quietschen zauberte ihrer Mutter ein Lächeln ins Gesicht, wurde gleichzeitig jedoch von der Frau vernommen, die das Mädchen zuvor in ihren Bann gezogen hatte. Auch sie begann zu strahlen, kam dem Kind immer näher. Angel schluckte. Man konnte deutlich erkennen, wie nervös sie wurde. Schließlich sprang sie immer wieder ungeduldig von einem Fuß auf den anderen.
Michelle, so nannte Angels Mutter die tanzende Schönheit, lächelte ihre Bekannte an und reichte deren Tochter ihre manikürten Finger. Zuerst glitt der Blick des kleinen Mädchens zu ihrer Mutter, die ihr einverstanden zunickte. Also griff sie nach der freien Hand, um sich auf die Tanzfläche ziehen zu lassen.
Man musste kein Hellseher sein, um zu erkennen, wie viel Freude Angel das Tanzen bereitete. Obwohl sie gerade erst das Laufen erlernt hatte, stellte sich heraus, dass sie eine Begabung besaß, die nur Wenigen zu Teil wurde. Ihre Bewegungen ähnelten einem Pfau – grazil und voller Eleganz. Michelle war nicht die erste Person, die diese Besonderheit in dem Kind erkannte, doch die Person, die ihr zeigte, wie man sie auslebte.
Zusammen glitten sie über das Parkett, als wären sie dafür geboren worden.
Irgendwann setzte die Musik aus und Applaus hallte durch den gesamten Saal. Angel leuchtete über das ganze Gesicht, bemerkte so erst jetzt, dass das Klatschen ihr und Michelle galt. Ihre Gefühle überschlugen sich, verwandelten sich in wunderschöne Schmetterlinge, deren Flügelschläge in ihr kitzelten.
Noch am selben Abend kaufte ihre Mutter Angel neue, wunderschöne Tanzschuhe, die das Mädchen in Ehren halten würde. Noch nie war sie glücklicher gewesen.
Drei Jahre
Für Angel schien jeden Tag die Sonne, vor der sie ihre neuen Tanzschritte präsentierte und ihre Nachbarn zum Applaudieren bringen konnte. So oft sie durfte, trug sie ihre rosa Tanzschuhe, zeigte ihr Können allen Schaulustigen und liebte die Komplimente, die man ihr entgegenbrachte.
An ihrem dritten Geburtstag schlichen sich zum ersten Mal Träume in ihren Verstand, die ihr eine Zukunft voller Musik und zauberhaften Tänze zeigten. Grund war das Geschenk ihrer Eltern, das sie mit Freuden entgegengenommen hatte. Karten fürs Ballett.
Zuvor hatte sie solch ein Meisterwerk nur im Fernsehen gesehen oder auf Bildern, was ihr so unwirklich vorgekommen war. Nun erfüllte sich ihr sehnlichster Wunsch – Angel durfte Schwanensee miterleben. Die Geschichte dahinter verstand das Mädchen nicht, was sie jedoch nicht sonderlich störte. Alles was sie wollte, war den schönen Klängen zu lauschen und die Schritte zu beobachten, die sie nicht beherrschte.
Obwohl der Abend wundervoll verlief – Angel konnte ihr Glück kaum fassen, was man an ihrem andauernden Grinsen deutlich erkannte –, verspürte sie Neid. Auch sie wollte sich so wundervoll bewegen. Das Ballett verzauberte sie so sehr, dass sie ihre vorigen Schritte, die Tänze zu den schnellen Klängen, beiseiteschob. Sie wollte ein Schwan sein, weswegen sie ihre Mutter um Tanzstunden bat.
Es dauerte nur zwei Tage, bis ihr Wunsch in Erfüllung ging.
Viereinhalb Jahre
Angels Talent zeigte sich deutlich, als sie den ersten Tanzwettbewerb gewann. Mit feuchten Augen stand sie auf der Bühne und drückte die kleine Trophäe an ihre Brust, hinter der ihr Herz laut und schnell pochte. Der verträumte Blick glitt zu ihren Eltern, die in der ersten Reihe saßen und dem Mädchen hunderte Küsse zuwarfen. Tränen kullerten – vergossen vor Freude – über die Wangen und Angel wusste, wie stolz die beiden auf sie waren.
Als das Mädchen endlich gehen durfte, rannte sie schnurstracks auf ihre Mutter zu, um sich in ihre Arme zu werfen. Angels Dad küsste ihren Kopf, während er mit zittrigen Händen die Kamera hielt, mit der er den großen Auftritt seiner Tochter aufgenommen hatte. Diese Erinnerung würde er stets in Ehren halten.
Angel wurde von allen Seiten beglückwünscht. Jeder wollte mit ihr sprechen, selbst die eifersüchtige Amy, die ebenfalls am Wettbewerb teilgenommen hatte. Die beiden Kinder umarmten sich, lachten und kuschelten miteinander.
Angel wusste, dass so ein Preis etwas Schönes war, doch die Aufmerksamkeit, die sie durch den Sieg ergatterte, gefiel ihr sogar etwas mehr. Sie wollte, dass die Menschen wegen ihr erschienen, nur, um ihr beim Tanzen zuzuschauen. Angel war sich bewusst, dass Tanzen glücklich machte, weswegen sie versuchte, damit auch andere zum Lächeln zu bringen. Sie wollte Gutes tun, wenn auch auf eine vollkommen andere Weise.
Als das Mädchen das nächste Mal bei einem Wettbewerb teilnahm, schaffte sie es erneut, die Jury von sich zu überzeugen. Und als Angel in die vielen lachenden Gesichter sah, wusste die Tänzerin, dass es die richtige Entscheidung gewesen war.
Fünfeinhalb Jahre
Die kleine Tänzerin gewann Preise, sowie sie nur auf eine Bühne schritt und einen Fuß vor den anderen setzte. Sobald das Kind ihre Augen schloss und sich zur Musik bewegte, schien die Welt stillzustehen. Der Funke sprang über, egal ob ihr ein Fehler unterlief oder ob sie ihre Performance fehlerfrei ausführte. Angel war der Star des Kinderballetts, ein Mädchen, von der man Großes erwartete.
Es wurde bereits spekuliert, andere schworen, dass Angel den Sprung zum echten Sternchen schaffen würde. Menschen sahen sie bereits auf einer großen Bühne, in dem Kostüm des schwarzen Schwanes.
Angel hingegen dachte nicht an solch einen großen Auftritt. Im Gegenteil, sie tat es, weil es ihr Spaß bereitete. Die Idee, andere damit glücklich zu machen, verfolgte sie noch immer, doch nun konzentrierte sie sich mehr auf das, woran sie Gefallen fand.
So kam es auch, dass Angel schließlich Geigenunterricht nahm. Das Ballett vernachlässigte sie nicht, so, wie ihre Eltern es erwartet hatten. Stattdessen bastelte die leidenschaftliche Tänzerin sich einen Zeitplan, obwohl sie davon noch nicht sonderlich viel verstand. Heimlich bat Angel ihren Vater um Hilfe, der ihr mit Rat und Tat zur Seite stand.
Als sie jedoch entschied, auch in dieser Kategorie bei einem Wettbewerb anzutreten und haushoch verlor, schwand das Interesse an der Geige. Angel ertrug das aufmunternde Lächeln ihrer Mutter nicht, wo sie das Strahlen in ihren Augen doch so unbeschreiblich liebte. Kaum war der Abend des Wettstreites beendet gewesen, wand Angel sich wieder dem Tanz zu, der ihre Trauer aus dem aufrichtigen Herzchen verdrängte.
Doch weil sie noch immer ein Kind war, verschwand die Niederlagen wieder und alles was zählte, waren ihre rosa Tanzschuhe.
Sechs Jahre
Angels blonden Haare klebten wir Kaugummi an ihrem Gesicht, niedergedrückt von dem prasselnden Regen, der die Kinder jedoch nicht daran hinderte, im Garten herumzutollen. Nein, stattdessen genossen sie die Möglichkeit im Schlamm hin und her zu springen, sich gegenseitig damit zu bewerfen.
Heute, an diesem regnerischen, dunklen Tag, sollten sie eigentlich in Angels Zimmer sitzen und mit ihren geliebten Puppen spielen. Doch der Nachbarsjunge Matt hatte die gesamte Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Angel mochte ihn, weswegen sie ihm keinen Wunsch abschlagen konnte. Ja, man würde sogar meinen, dass sie ein klein wenig verliebt war.
Mit seinen roten Gummistiefeln sprang er in eine Pfütze, lachte und zeigte den Mädchen, wie viel Spaß ihm sein Tun bereitete. Sie standen am Fenster, als Matt ihnen zuwinkte und gleichzeitig aufforderte, ebenfalls heraus zu kommen. Dieses Angebot nahmen die Mädchen sofort an und obwohl Angels Mutter ihnen das Spielen im Regen verboten hatte, schlichen sie sich durch die Hintertür nach draußen. Eingepackt in einer Regenjacke und etwas zu großen Gummistiefeln rannten die Mädchen auf Matt zu. Dieser warf einen Ball vor Angels Füße, wobei er sie auffordernd angrinste.
Ein Spiel entbrannte, das daraus bestand, den Ball so zu schießen, dass der andere ihn nicht erreichen konnte. Obwohl keiner von ihnen verlieren wollte, fanden sie mehr Gefallen an der Tatsache, dass sie bei ihren Schüssen durch den Matsch ausrutschten und zu Boden plumpsten.
Es wurde gelacht, gekickt und mit Dreck geworfen, als Matt den Ball plötzlich Richtung Straße schoss. Angel keuchte erschrocken, als sie hinterher hastete und somit verhinderte, dass der Ball auf die Fahrbahn rollte.
Matt und ihre Freundinnen jubelten, warfen die Hände über den Kopf. Bis Melissa, eine enge Freundin Angels, vor Lachen taumelte und in eine dreckige Pfütze stolperte. Die Rufe verhallten, doch dann brachen sie erneut in schallendes Gelächter aus. So sehr, dass ihre Bäuche zu schmerzen begannen.
Angel schloss ihre Augen, während sie sich die Hände gegen die Hüfte drückte, den stechenden Schmerz auszublenden versuchte.
Plötzlich durchschnitt ein lautes Hupen den Spaß der Kinder. Regentropfen schlugen wie Kugeln gegen die Fensterscheibe eines Autos, das geradewegs auf Angel zusteuerte. Der Fahrer versuchte das Lenkrad herumzureißen, doch der Untergrund war zu feucht, um der Tragödie entkommen zu können.
Alles was Angel erblickte, waren zwei helle Lichter, die sich in ihren Verstand brannten und sie schließlich in eine gewaltige Dunkelheit zogen.
Sieben Jahre
Angels Mutter weinte, als sie ihre Tochter in die Arme schloss. Sie hatte lange geschlafen – zu lange. Die Ärzte teilten den trauernden Eltern mit, dass die Möglichkeit des Aufwachens zu gering sei, um die Geräte noch eingeschaltet zu lassen. Dass sie nicht mehr aufwachen würde. Doch wie ein Wunder öffneten sich noch an diesem Nachmittag ihre kleinen, wunderschönen Augen – die Sonne schien für die überglücklichen Eltern so hell, wie schon lange nicht mehr.
Das Kind konnte sich an den Unfall nicht mehr erinnern, sah in ihrem geistigen Auge jedoch zwei funkelnde Lichter, die schnell auf sie zu rasten. Trotzdem fühlte sie keine Furcht.
Tapfer nannten sie die Ärzte.
Als Angel in dem Bett lag, in dem weißen Raum ohne Farben, fantasierte das Mädchen von ihren Auftritten. Erinnerungen schossen durch ihren Verstand, doch sie wollte das Gefühl verspüren, wenn sie einen Tanz beendete und Applaus durch den Saal hallte.
„Ich will aufstehen und tanzen“, waren die ersten, krächzenden Worte, die sie zustande brachte.
Worte, die ihre Mutter erneut in Tränen ausbrechen ließen. Angel verstand ihre Reaktion nicht, wo sie doch wusste, dass ihre Mutter ihre Aufführungen liebte.
Sie merkte erst spät, dass ihr das Aufstehen nicht gelang. Obwohl Angel es versuchte und versuchte. Ihre Beine rührten sich nicht, als hätte das Mädchen sie nicht mehr unter Kontrolle.
In ihren Augen sammelten sich heiße Tränen, die sich langsam ihren Weg über die Wangen bahnten. Im Inneren begriff Angel bereits, was mit ihr los war, doch das Kind in ihr – ein Mädchen, dass noch immer an den Tanz und die herrliche Musik dachte – verdrängte dieses Wissen und versuchte sich aus dem Bett zu zerren. Auch als ihre Mutter sie fest an die Brust drückte, ihr leise ins Ohr flüsterte, es werde doch alles gut, sträubte sich die leidenschaftliche Tänzerin daran zu glauben.
Es handelte sich um Angels kleine, heile Welt, die in Nullkommanichts in Scherben zerbrach.
21 Jahre
Regentropfen suchten sich ihren Weg durch das geöffnete Fenster und donnerten wie Hagelkörner auf das Laminat. In Rinnsalen floss das Wasser über die breite Fensterbank, kletterte an der Heizung hinunter, um sich schließlich auf dem Fußboden zu sammeln.
Kalter Wind, Nässe umhüllte die zischenden Laute, durchschoss jeden einzelnen Zentimeter meines Schlafzimmers, hinterließ dabei eine ungeheuerliche Gänsehaut auf meinem Körper. Ich fröstelte, wagte es jedoch nicht, nach einem dicken Pullover oder einer Decke zu greifen. Stattdessen genoss ich die Kälte, ließ das unangenehme Gefühl zu und ignorierte die Tatsache, dass sich die harten Tropfen in den Stoff meiner Kleidung sogen.
Stumm starrte ich nach draußen, musterte den dunklen, von Blitzen umhüllten Himmel. Donnergrollen brachten mich zum Zusammenzucken, zwang mich, meine Augen zu schließen.
Ich konnte es vor mir sehen. Zwei helle Lichter, umschlossen von Feuchtigkeit und Schlamm. Lautes Hupen hallte durch meinen Verstand, brachte mein Herz dazu, um das Hundertfache schneller zu schlagen. Desto länger ich meine Augen geschlossen hielt, desto fester umschlangen mich die alten Erinnerungen, packten mich wie Ketten und verursachten Schmerzen. Alte Wunden rissen, deren Heilung doch weit fortgeschritten zu sein schienen.
Ein Wimmern schlich durch meine Kehle, füllten meine Lungen mit eiskalter Luft, die mich innerlich zum Erfrieren brachte. Das Zittern meines Körpers war unkontrollierbar, die Tränen nicht haltbar.
Etwas zog an meinen Armen, zwang mich dazu, in die Tiefe zu sinken, dessen Grund ich nicht erkennen konnte. Pein und Verzweiflung hielten mich in einer Umarmung gefangen, nicht gewillt, mich wieder gehen zu lassen. Es forcierte mich dort zu bleiben, an diesem schwarzen, hässlichen Ort, von dem ich alleine nicht entkommen konnte.
Es war eine Qual und alles was ich tun konnte, war darin zu versinken.
Bis das laute Donnergrollen plötzlich verhallte und der Regen stoppte. Jemand packte mich an meinen Schultern, schüttelte mich und zwang mich, meine Augen zu öffnen.
„Bist du von allen guten Geistern verlassen?“, zischte Dean. Seine grünen Augen funkelten vor Entsetzen, bevor er eine Decke vom Bett riss und sie um meine Schulter legte. „Du holst dir noch den Tod, du dummes Ding. Was zur Hölle soll das?“
Blinzelnd schüttelte ich meinen Kopf, starrte ihn mit verschleierten Augen an. Tränen rannen über meine Wangen. Tränen, die ich nicht einmal bemerkt hatte. Ich wusste nicht, was ich sagen oder wie ich das Ganze erklären sollte. Auch als ich meine Lippen öffnete, in der Hoffnung, ihm etwas entgegen bringen zu können, entfloh mir kein Laut. Mein Hals fühlte sich geschwollen an. Fast so, als verwehrte man mir das Atmen.
Dean schien offensichtlich genau zu verstehen, was in mir vorging. Ohne etwas zu sagen, schlangen sich seine starken Arme um meinen fröstelnden Körper, hoben mich aus meinem Rollstuhl und trugen mich hinüber in mein eigenes Badezimmer. Vorsichtig, als könnte ich jede Sekunde zerbrechen, setzte er mich auf dem Klodeckel ab, wo Dean mir einen Kuss auf die feuchte Nasenspitze hauchte.
Ein sanftes Lächeln zierte seine Lippen, als er nach einem Handtuch griff. Er kniete sich vor mich, begann damit zärtlich meine Arme zu trocknen. Er gewährte meinen Tränen ihre Wanderungen hinunter zu meinem Kinn, obwohl ich danach verlangte, von ihm getröstet zu werden. Dean sollte mir nicht helfen, mich trocken zu reiben. Stattdessen wollte ich, dass mein Freund mich in seine Arme zog und meine Wange streichelte. Solange, bis die Tränen versiegten.
„Es tut mir leid“, schluchzte ich leise, als ich realisierte, wie kindisch ich mich benahm.
Wild blinzelte ich, um weitere Tränen von mir zu stoßen, was jedoch nur dazu führte, dass sich das Brennen in meinen Augen verstärkte.
Dean stoppte in seinem Tun, schüttelte traurig dreinblickend seinen Kopf und hauchte mir sanfte Küsse auf mein Knie, welche ich nicht zu spüren vermochte.
„Hör auf damit“, befahl er mit sanfter Stimme.
Schluchzend löste ich meinen Blick von ihm, starrte zum geschlossenen Badezimmerfenster. Die feuchten Spuren zogen sich über das gesamte Glas, verhinderten einen scharfen Blick nach draußen.
Mein Freund seufzte, als er mich zwang, ihn anzusehen. Mit dem Daumen fuhr er über meinen Mundwinkel, fing eine entflohene Träne auf, die sich ihren Weg nach unten suchte.
„Sieh mich an, Angel. Du bist in Sicherheit, hörst du? Niemand wird dir weh tun, solange ich an deiner Seite bin. Nichts und niemand kann dir etwas anhaben. Auch nicht der Regen, vor dem du dich so fürchtest. Es ist nur Wasser.“
Es war nicht die Flüssigkeit, vor der ich mich fürchtete. Nein, die Erinnerung an diesen einen schicksalhaften Tag – ein winziger unbedeutender Moment in dem Leben eines kleinen Mädchens – verursachte eine unheimliche Panik in meinem Inneren. Kaum verdunkelte sich der Himmel, schossen Bilder durch meinen Verstand, die mich zum Erstarren brachten.
Beklommenheit umschlang mich, mit dem Willen, mich nie wieder loszulassen. Zumindest schien es mir so, bis sich der Himmel lichtete und der Sonne den Vortritt ließ. Erst dann löste sich die Anspannung, befreite mich von dem Dunkel, dass mein Herz bedrohte.
„Sieh mich an!“, wiederholte Dean laut, lenkte meine Aufmerksamkeit auf sich.
„Das tue ich“, flüsterte ich leise, als ich den Klos in meinem Hals hinunterschluckte. „Ich sehe dich an.“
„Und was siehst du?“ Seine Worte durchzuckten mich wie Blitze, ließen mich zusammenfahren. Dennoch änderte er seine Haltung nicht, behielt den bestimmenden Ton bei.
„Ich sehe dich“, antwortete ich zögernd. Die Tränen verhinderten einen freien Blick auf meinen Geliebten, während sie sich erneut einen Weg über mein glühendes Gesicht suchten. Beinahe hätte ich meinen Blick abgewandt, um mir heimlich die brennenden Tränenspuren von der Haut zu reiben. Doch Dean griff nach meinen Händen, hielt sie so fest, dass es leicht zu schmerzen begann.
„Und warum siehst du mich, Angel? Warum bin ich hier bei dir?“ Als ich nicht antwortete, rückte er etwas näher an mich heran, verstärkte den Händedruck. „Angel, sag mir warum!“
„Weil du für mich da bist“, schluchzte ich leise, wissend, dass nun die Mauer brach, die sich wie ein Schutzwall um mein Herz geschlossen hatte. „Das warst du schon immer, Dean. Egal was geschieht du bist an meiner Seite und hilfst mir.“
Mein Herzschlag verdoppelte sich bei jedem einzelnen Wort, brachten die Schmetterlinge in meinem Bauch dazu, aus ihren Verstecken zu kriechen. Wild flatterten sie durch meinen Oberkörper und waren schließlich auch der Grund dafür, dass die Tränen innehielten.
Eine neue, aber dennoch bekannte Hitze durchströmte die Umgebung um meine Nase, als ich schüchtern in Deans grünen Augen sah, die mich so sehr an Smaragde erinnerten.
„Und das werde ich auch immer, das weißt du doch.“
Ein naives, aber durchaus starkes Lächeln zierte seine Lippen, als er mich vorsichtig an sich zog. Dean wiegte mich wie ein Kind hin und her, brachte mich dazu, meine Arme um seinen Hals zu schlingen. Die Hände vergrub ich in seinen hellen Haaren, drückte mich so etwas enger an seine Brust.
„Es tut -.“
„Wenn du dich jetzt entschuldigst, wird das Konsequenzen mit sich ziehen, Fräulein.“
Ich brauchte ihn nicht anzusehen, um zu wissen, dass er grinste. Deans Tun, nein, seine gesamte Art brachte mich dazu, in leises Gelächter auszubrechen. In meinem Magen kribbelte es, als ich sein helles Gekicher vernahm. Seine Hände streichelten über meine Schultern, wanderten anschließend an meiner Wirbelsäule hinunter.
„Komm“, sagte er nach einiger Zeit. „Lass uns dich ins Bett bringen. Du brauchst etwas Ruhe, deine Eltern erwarten dich morgen frisch und ausgeruht.“
Ich kam nicht umhin, mit den Augen zu rollen. Dennoch, obwohl ich protestieren wollte, ließ ich mich erneut von ihm hochheben und zurück ins Schlafzimmer bringen.
Hier lag noch immer der kühle Hauch des Regens in der Luft, trotz des nun geschlossenen Fensters. Sie hinterließ eine unangenehme Gänsehaut auf meinem Körper, was von Dean sofort bemerkt wurde.
Als er mich schließlich ins Bett gelegt hatte – ohne ein Wort darüber zu verlieren, zog er mir meine Hose aus –, legte er die Decke über meinen frierenden Körper. Wie ein Vater tätschelte er meinen Bauch durch die dicke, warme Decke, lächelte dabei liebevoll.
„Brauchst du noch etwas? Willst du vielleicht etwas trinken oder reicht dir ein wenig Schlaf?“, fragte er mich, was mich fast zum Seufzen gebracht hätte. Dean war doch derjenige gewesen, der mich ins Bett geordert hatte und nun fragte er mich, wonach ich verlangte? Trotzdem schüttelte ich meinen Kopf und schmiegte mich an das kühle Kissen, bevor ich ihm ein dankbares Lächeln zuwarf.
„Danke, ich brauchte nichts.“
Anschließend erhob er sich, rollte den Rollstuhl auf seinen nächtlichen Platz und schritt hinüber zur Tür. Erneut warf er einen Blick auf mich, als überprüfe er, ob ich nicht doch etwas anderes wollte. Seine hellen Zähne blitzen im Licht, als er mir erneut eines seiner entspannenden Lächeln zeigte. Dean löschte schließlich die Lampe und schritt hinaus in den Flur.
Noch einmal hielt er inne, drehte sich ein weiteres Mal zu mir um.
„Ich liebe dich, Angel. Das weißt du, oder?“
Mit zittrigen Fingern umklammerte ich den flauschigen Stoff meiner Decke, bevor ich sie über mein Kinn, hinauf zu meiner Nase zog. Mit einem starren Blick sah ich hinauf an die Wand, begann nervös auf meiner Lippe zu kauen.
„Ich weiß, Dean. Ich... ich weiß -.“
„Ist in Ordnung.“ Er stoppte mich, noch bevor ich meinen Satz beenden konnte. „Du musst es nicht sagen. Weder heute, noch nach solch einem Tag. Ruh dich aus, mein Schatz. Morgen wird die Sonne scheinen, nur für dich. Das verspreche ich.“
Deans leises Lachen hallte in meinem Verstand wider, als er schließlich die Tür schloss und in den breiten Fluren des Hauses verschwand.
Augenblicklich verschwanden die Schmetterlinge in meinem Bauch, drückten sich zurück in ihre Kokons und verschlossen den Eingang mit Fäden der Furcht. Angst, die sich bis zu meinem Verstand schlich und mich daran hinderte, meine Augen zu schließen.
Ich wusste, wenn ich nun schlief, mich den Träumen hingab, würde ich es sehen. Lichter, Schlamm, Regentropfen.
Fest drückte ich meine Hand auf den Mund, unterdrückte damit das laute Schluchzen. Heiße, salzige Tränen rollten über meine Wangen, trieben neue Spuren über meine gerötete Haut. Ich wollte aufheulen, nach Dean rufen und ihn bitten, die Nacht bei mir zu verbringen. Doch ich tat es nicht, blickte stattdessen hinüber zum Fenster, dass noch immer von Feuchtigkeit benetzt war.
Donnergrollen erschütterte die Nacht und ein helles Licht schockte die Dunkelheit, ließen mich wie ein verstörtes Kind zusammenfahren.
Einsamkeit erfüllte mein Herz, als ich es endlich schaffte, mir die Decke komplett über den Kopf zu ziehen und in den Schatten zu verschwinden.
Währenddessen rührte sich etwas in meinem Inneren, zog das passende Material hervor und begann erneut, die Mauer aufzubauen. Risse wurden gefüllt, Löcher gestopft. Man reparierte mich.
Als ich hier lag, verängstigt und äußerst verletzt, dachte ich über Deans Worte nach.
Morgen wird die Sonne scheinen, nur für dich.
Ich wusste, dass sie nicht für mich aufkommen und die Dunkelheit vertreiben würde, doch der Sinn hinter dieser Aussage stimmte.
Morgen würde tatsächlich alles anders sein.
Morgen würde ich wieder die alte sein.
Kapitel 3
Ich saß, in den Händen eines meiner Lieblingsbücher – fast 600 Seiten dick –, doch ich konnte mich einfach nicht konzentrieren, in den großen Schatten des einzigen Apfelbaumes.
Der Boden war feucht und ich spürte die Nässe durch meine Kleidung. Obwohl ich in meinen Beinen nichts fühlte, wusste ich, dass sie bereits von der Feuchtigkeit benetzt waren.
Trotz des heftigen Regenfalls, der uns letzte Nacht heimgesucht hatte, strahlte nun die Sonne hell vom Himmel hinab. Es war warm, fast schon sommerlich, trotz den gezählten Sommertagen, die bereits hinter uns lagen.
Es überraschte mich selbst. Vor allem wenn ich daran dachte, dass Dean so etwas erwähnt hatte. Kurz, bevor er mich alleine gelassen hatte. Glauben hatte ich ihm keinen geschenkt, schließlich war es jetzt an der Zeit, die Kälte und den Regen willkommen zu heißen. Auch, wenn ich dafür noch nicht bereit war.
Ich mochte den Herbst nicht sonderlich gerne. Mit dem Frühling konnte ich mich anfreunden, doch den Sommer verehrte ich. Warme Sonnenstrahlen, braun gebrannte Haut und entspannende Tage am Pool.
Oh ja, diese Tage waren mir eindeutig am Liebsten.
Mit einem ermüdeten Blick guckte ich nach oben in den Himmel, musterte die hellen, vereinzelten Wolken, die den blauen Himmel bedeckten. Sonnenlicht fiel wie Sternschuppenregen hindurch, schwängerten den Garten mit ihrer Helligkeit. Mürrisch hielt ich mir die Hand über die Augen, um nicht geblendet zu werden.
„Angel! Um Himmels Willen, was tust du denn hier draußen?“, erklang eine besorgte, weibliche Stimme. Katharina, meine persönliche Pflegerin, kam durch die Hintertür gerannt und stürmte mit einem Handtuch in den Händen auf mich zu. „Du wirst krank, wenn du dort sitzen bleibst. Wieso hast du nicht Bescheid gegeben, dann hätte ich dir eine Decke zurechtgelegt.“
Ich kam nicht umhin, mit den Augen zu rollen. Katharina ging nicht auf meine genervte Haltung ein – wenn sie es überhaupt bemerkt hatte –, um mir schließlich das Handtuch um die Schultern zu legen.
„Es ist in Ordnung“, lächelte ich sanft. „Ich komme zurecht.“
„Offensichtlich nicht“, sagte sie in einem tadelnden Ton. „So fängt es an: Zuerst denkt man, alles wäre in Ordnung und schwups ist man krank. Ich kenne das von meinem Sohn. Er wollte auch nie auf mich hören!“
Wild gestikulierend wandte sie sich meinem Rollstuhl zu, der nur einen Meter neben mir seinen Platz fand. Sie wagte es nicht einmal zu fragen, weshalb ich nicht darinsaß und dort die warmen Stunden genoss, sondern löste die Bremse und reichte mir ihre Hand.
„Komm, ich bringe dich erst einmal hinein. Dann mache ich dir einen leckeren, heißen Tee mit Honig.“
Mein Herz machte einen Hüpfer, dennoch reichte ich ihr nur widerwillig meine Hand. Katharina schimpfte leise, während sie ihren Arm um meine Hüfte schlang und mir zurück in den Rollstuhl half. Als ich ihren verstimmten Gesichtsausdruck sah, fühlte ich mich schlagartig schuldig. Ich wollte nicht, dass sie Wut verspürte.
„Wie geht es eigentlich deinem Sohn? Er hat am Wochenende seine neue Freundin mitgebracht, nicht? Ist sie nett?“, fragte ich, um vom Thema abzulenken.
Es funktionierte, denn plötzlich erhellten sich ihre Gesichtszüge. Mit einem strahlenden Lächeln auf den Lippen schob sie mich zur Terrasse, über die Rampe hinein ins Wohnzimmer.
„Sie ist wunderbar“, schwärmte meine Pflegerin und Freundin, „und einen ausgezeichneten Geschmack besitzt sie auch noch. Ein Prachtfang! Mein Sohn kann sich wirklich glücklich schätzen.“
Während sie über ihre hoffentlich baldige Schwiegertochter zu schwärmen begann, rollte sie mich zum Ende der Treppe, die in den zweiten Stock führte. Daneben gab es einen kleinen Fahrstuhl, groß genug, um mich nach oben zu bringen. Ich verkniff mir ein Seufzen, als Katharina mein Gefährt losließ und das Gitter schloss, dass mich vor einem Fall schützen sollte.
„Also“, sprach sie schließlich, „ich möchte, dass du dich zu deinem Zimmer begibst. Solange setze ich Tee auf, dann komme ich und helfe dir aus den nassen Sachen. In Ordnung?“
Innerlich schüttelte ich den Kopf, wünschte mich zurück in den Garten, indem ich mich so wohl fühlte. Ich verlangte nach der wohlig warmen Sonne, die mein Gesicht wie eine Maske bedeckte und mir ein angenehmes Gefühl vermittelte. Stattdessen befand ich mich wieder in einem Haus, dass einem Gefängnis ähnelte.
All das wollte ich ihr entgegenwerfen, sie anflehen, mich trotz den feuchten Kleidungsstücken zurück nach draußen gehen zu lassen. Stattdessen nickte ich und schenkte ihr ein sanftes Lächeln.
„Verstanden. Ich werde mir schon mal eine neue Hose heraussuchen.“
„Oder einen Rock“, schlug Katharina vor. „Vielleicht sogar ein Kleid? Das Mittagessen wird bald fertig sein und deine Eltern würden sich bestimmt über einen hübschen Anblick freuen.“
Sie lachte kokett, was ich mit einem gespielt freundlichen Lachen quittierte. Dann drückte sie auf den roten Knopf an der rechten Seite des Fahrstuhles, der daraufhin zu wackeln begann. Er brachte mich in die zweite Etage.
Währenddessen konnte ich Katharina summen hören, voller Freude und Glückseligkeit.
Wie schaffte es diese Frau, so ausgeglichen und glücklich zu wirken?
Ein lautes Piepen erklang, was mir noch einmal deutlich machte, dass ich in der nächsten Etage angekommen war. Ich schob das Gitter zur Seite, löste die Bremsen an meinem Rollstuhl und rollte den Flur entlang. Mein Zimmer lag nur wenige Meter rechts von der Treppe. Normalerweise befand sich mein Zimmer am Ende des Ganges, doch meine Eltern hielten es zu unsicher und wollten mich näher an der Treppe wissen, wo sie mir sofort zu Hilfe eilen konnten, falls diese benötigt werden sollte.
Obwohl ich es für recht unsinnig hielt, liebte ich die Beiden für diese Entscheidung umso mehr. Nicht, weil das alte Schlafzimmer meiner Eltern größer war, sondern weil dieses Zimmer als einziges einen Balkon besaß. Dieser ermöglichte mir eine Fluchtmöglichkeit, wenn ich mich in diesem Raum zu eingeengt fühlte. Außerdem konnte ich dadurch hinunter in den Vorgarten blicken und alles beobachten.
Gott, bei diesem Gedanken fühlte ich mich wie eine alte Lady, die den gesamten Tag nichts anderes tat, als hinter den Vorhängen zu lauern und darauf zu warten, dass eines der Kinder in der Gegend einen Fehler machte. Nur um sie daraufhin bei ihren Erziehungsberechtigten anzuschwärzen.
Hoffentlich würde ich niemals so enden.
Kopfschüttelnd begab ich mich ins Zimmer und rollte hinüber zum Kleiderschrank. Praktisch, dass der kleine Schrank lediglich aus verschieden großen Schubladen bestand. Ohne wirklich über die Auswahl nachzudenken, griff ich nach einer schwarzen, gefütterten Leggins und einem grauen Longshirt. Ich mochte das Shirt, obwohl es für meinen Geschmack etwas zu viel Ausschnitt besaß. Doch die flauschigen Ärmel, die an den Enden weiter wurden, ließen mich das kleine Detail vergessen.
Das Buch, dass ich zuvor auf meinem Schoß mit mir herumgetragen hatte, legte ich auf die Kommode, bevor ich mich mit den neuen Kleidern dem Bett näherte. Als ich den Stoff auf der Decke ablegte, erhaschte ich einen kurzen Blick in den Spiegel.
Ich verharrte erschrocken, bevor ich erneut in die Richtung meines Schminktisches blickte.
Graue, unglückliche Augen trafen auf eine blasse, müde aussehende Gestalt.
Unsanft biss ich mir auf die Lippe, als ich mich dem Spiegel näherte und mit den Fingern über die kühle Oberfläche strich. Ich sah schrecklich aus, fast wie ein Geist.
Meine Haut war unheimlich blass und mein Haar hing spröde, ganz glanzlos an meinem Gesicht hinunter. Meine Augen waren die reinste Katastrophe. Dunkle Augenringe. Kein Glanz.
Ich erkannte mich nicht wieder. Doch ich erinnerte mich an die anderen Male, die ich in den Spiegel geschaut und einen Schreck bekommen hatte. Stürmische Stunden machten mich kaputt und das Schlimme war, dass ich es vor niemandem verstecken konnte. Meine Eltern würden die Schatten unter meinen Lidern sehen, erkennen, dass es mir letzte Nacht nicht gut ergangen war.
Sie würden sich Sorgen machen – schon wieder.
Ich wollte ihnen das Ganze nicht mehr antun, meinen Eltern endlich das schenken, was sie verdienten. Ruhe und Entspannung.
Meine Anwesenheit in diesem Haus machte das nicht sonderlich einfach.
Hastig schüttelte ich meinen Kopf, rieb mir fest über das Gesicht, als könnte ich so das Negative von mir wischen und blickte meinem Selbst entgegen. Sofort streckte ich meinen Rücken durch, zog den Bauch ein, um mein Spiegelbild im nächsten Moment zu einem echten Lächeln zu zwingen.
In den letzten Jahren hatte ich mich so gut verbessert, dass mir kaum jemand ansah, wann ich mich nicht gut fühlte. Zumindest solange mein Körper mitspielte. Ich konnte meine Lippen zu einem Lächeln zwingen, meine Augen jedoch nicht zum Strahlen.
„Du solltest damit aufhören. Sie werden dir dein Schauspiel eh nicht abkaufen.“ Erschrocken fuhr ich zusammen, starrte durch den Spiegel zur Tür, an der Dean stand. Er hielt ein Tablett mit Tee in den Händen. „Ich soll dir beim Umziehen helfen und dir den Tee bringen. Katharina kämpft gerade mit dem Essen. Offenbar hat sie es im Ofen vergessen. Sie wird ja richtig schusselig.“
Verwirrt hob ich meine Brauen, drehte mich gleichzeitig in seine Richtung.
„Essen? Ich dachte Mama kocht für uns.“
„Das hat sie“ Er nickte mir zu, als er auf mich zu geschritten kam. Dean stellte das Tablett auf den Tisch, bevor er mir die Tasse reichte. Ich bedankte mich leise, bevor ich den heißen Dampf von mir blies. „Du kennst deine Mum doch. Sie hat alles vorbereitet und Katharina sollte den letzten Schliff übernehmen. Beten wir, dass alles überlebt.“
Dean grinste breit, als er sich meiner Kleidung zuwandte. Mein Freund musterte sie skeptisch, als wäre irgendetwas verkehrt mit ihnen. Statt ihn darauf anzusprechen, drehte ich mich wieder um und musterte erneut mein Gegenüber.
Es war zum Verrückt werden.
„So wirst du sie nicht überzeugen können“, seufze er leise.
„Ich muss“, antwortete ich bestimmt. „Und ich werde.“
Sein frustriertes Stöhnen wurde überhört, bevor Dean sich auf mein Bett fallen ließ. Währenddessen stellte ich meine volle Tasse zurück auf das Tablett. Mir war die Lust darauf vergangen.
„Du weißt, dass du das nicht tun musst. Angel, sie sind deine Eltern und lieben dich, egal ob hier oder an einem anderen Ort.“
Schnaufend senkte ich meinen Blick.
„Es geht nicht um ihre Liebe. Ich weiß, wie sie für mich fühlen, Dean. Hierbei geht es um mich. Um meine freie Entscheidung.“
„Angel ...“
„Nein!“ Ernst umfasste ich den Greifreifen, brachte mich vor meinen Freund in Position. „Wir haben das doch besprochen und du warst auf meiner Seite. Dean, du wolltest mir doch helfen.“
„Ich weiß.“ Auf einmal klang er furchtbar nervös. „Aber ich habe darüber nachgedacht. Ich halte es für keine gute Idee ...“
Mein Selbstvertrauen sank und der Mut, noch einmal das Wort zu erheben, fehlte. Traurigkeit erhob sich in mir, ließ Tränen in meine Augen steigen. Doch ich zwang sie zurück, verschloss mein schmerzendes Herz und ignorierte das unangenehme Gefühl in meinem Körper.
Ein leichtes, gut gespieltes Lächeln kehrte auf meine Lippen zurück. Es fühlte sich fast so an, als würde es dorthin gehören.
„Angel, es tut mir leid ...“, fing er an, doch ich schüttelte mein blondes Haupt.
„Schon in Ordnung“, log ich. „Ich verstehe dich und du hast irgendwie auch Recht. Es war eine blöde Idee.“
Plötzlich herrschte zwischen uns eine bedrückende Stille, die von dem erfreuten Ruf meiner Pflegerin durchbrochen wurde. Offenbar hatte sie es geschafft, dass geliebte Essen meiner Mama zu retten. Wenigstens etwas, worüber ich mich freuen konnte.
Im selben Moment hörte man ein Auto vorfahren. Es parkte direkt vor der Tür. Dean raffte sich auf und hielt mir das graue Shirt entgegen.
„Deine Eltern sind eingetroffen. Es wird Zeit, dass du dich umziehst. Darf ich...?“
Nickend betätigte ich die Bremse und ließ mich von Dean aus dem Rollstuhl heben.
*
„Da ist ja mein Mädchen“, schmunzelte mein Vater, als er die vollen Taschen zur Seite stellte und mich fest in seine Arme zog. Anschließend drückte er mir einen kurzen Kuss auf den Haaransatz. Er wirkte besorgt.
Ich wusste sofort, worüber er nachdachte und es gefiel mir ganz und gar nicht.
„Wie war eure Fahrt? Ihr kommt ziemlich spät.“
Mein neugieriger Blick huschte kurz über die Taschen, die zu meinem Missfallen von meiner Mutter Richtung Küche geschoben wurden. Offenbar durfte ich den Inhalt nicht sehen.
Innerlich betete ich darum, dass es keine Geschenke für mich waren.
„Wir haben Tante Betty besucht“, lächelte meine Mutter. Dann folgte sie dem Beispiel meines Vaters und schloss mich in eine innige Umarmung. Einige Küsse später bemerkte ich, dass mein Dad zusammen mit den restlichen Taschen verschwunden war. „Ich soll dir liebe Grüße ausrichten und sie bittet dich, das nächste Mal mitzukommen.“
„Das werde ich“, versprach ich, obwohl ich eigentlich gar nicht wollte.
Ich mochte Tante Betty nicht sonderlich gerne. Sie war zwar eine sehr freundliche Person, doch in ihrer Gegenwart fühlte ich mich nicht wohl. Sobald ich zu Besuch kam, behandelte mich Tante Betty wie eine zerbrechliche Statue, die nur in Knisterfolie durch die Wohnung getragen durfte. Auf keinen Fall durfte sie zerbrechen!
Dass ich jedoch auf mich alleine aufpassen konnte, verstand die Frau nicht. Obwohl, ich konnte mir vorstellen, dass Betty wusste, wie gut ich es schaffte, auf mich selbst zu achten. Dennoch kam ich nicht darum, wie ein kleines Kind behandelt zu werden.
Manchmal kostete es all meine Nerven, um mich nicht sofort aus ihren Klauen zu befreien und ihnen zu beweisen, dass ich bereits ein großes Mädchen war.
Doch ich brachte es nicht übers Herz, ihnen diese Illusion zu nehmen.
„Komm, Liebling“, lächelte meine Mutter, trat hinter den Rollstuhl und begann ihn zu schieben. „Hast du nicht auch so unglaublichen Hunger wie ich?“
Meine Mum lachte, doch sie konnte niemanden damit täuschen. Auch ihr waren meine Augenringe nicht entgangen. Trotzdem sagte sie nichts, behielt ihre Sorgen für sich, um mich nicht noch mehr zu belasten.
Seufzend ließ ich zu, dass meine Mutter den Rollstuhl ins Esszimmer schob, wo wir den bereits gedeckten Tisch vorfanden. Deans Blick wanderte in meine Richtung, bevor er in die Hände klatschte.
„Ich helfe Katharina beim Servieren“, sagte er laut, worauf Dad den Kopf schüttelte.
„Quatsch. Setz dich hin und lass mich die Arbeit erledigen. Du hast genug getan.“
Dankbar setzte sich Dean auf einen Stuhl, der bereits zu seinem Stammplatz geworden war. Meine Mum parkte mich daneben und betätigte die Bremse. Dann huschte sie ebenfalls in die Küche.
Dean griff nach meiner Hand, verschränkte unsere Finger miteinander. Lächelnd drehte ich meinen Kopf in seine Richtung.
„Alles in Ordnung?“, erkundigte ich mich, als er das Lächeln nicht erwiderte.
„Vielleicht sollten wir doch -.“
„Hier kommt das Essen“, sang Katharina, als sie mit vollen Händen das Esszimmer betrat. „Schaut euch diese Köstlichkeiten an! Ein wahr gewordener Traum!“
Zusammen mit meinen Eltern stellte sie die Schüsseln auf den Tisch, stemmte anschließend zufrieden die Hände gegen ihre Hüfte, um uns freudestrahlend anzusehen.
„Entschuldige, dass wir dich heute als Köchin missbrauchen mussten“, entschuldigte sich mein Vater, bevor er sich setzte. „Das gehört nun wirklich nicht zu deinen Aufgaben.“
„Oh, schon in Ordnung“, widersprach Katharina. „Das habe ich gerne getan. Außerdem war Dean ja noch hier und hat sich rührend um Angel gekümmert.“
Ich überging ihre Worte, zwang meine Lippen jedoch, sich zu einer freundlichen Grimasse zu ziehen. Sie sprachen über mich, als wäre ich gar nicht hier und das gefiel mir nicht. Trotzdem ließ ich mir nichts anmerken und tat so, als wäre das Ganze vollkommen in Ordnung.
Ich wollte keine Probleme verursachen, außerdem machte Katharina einen wunderbaren Job. Sie arbeitete nun schon seit etlichen Jahren für uns, in denen sie sich wunderbar um mich gekümmert hatte.
Katharina konnte man einfach nur lieben. Sie war intelligent, weise und wunderschön. Etwas, dass man an ihr zu schätzen wissen sollte.
Solange der Charakter nicht stimmt, bringt dir ein hübsches Aussehen nichts, hatte sie einmal gesagt, als ich sie auf ihren fehlenden Partner angesprochen hatte. Der Vater ihrer zwei Söhne verstarb vor einigen Jahren. Seitdem ließ sie keinen anderen Mann mehr an ihre Seite. Sie brauche das nicht, meinte sie einst. Laut ihrer Aussagen hatte sie genug um die Ohren und brauchte keinen Kerl, der ihr die Freizeit stahl.
Manchmal wirkte sie deswegen unheimlich traurig auf mich. Einmal hatte ich einen Verkupplungsversuch gestartet, doch dieser war leider in die Hose gegangen. Sie hatte den Fremden für einen Stalker gehalten, da er ihr durch mich immer einen Schritt voraus gewesen war.
Das Ganze endete in einem Desaster, woran sie nie wieder erinnert werden wollte.
Katharina gehörte bereits zur Familie, verbrachte fast den gesamten Tag in unserem Haus. Sie blieb nicht nur wegen mir – auch wenn sie durch mich ihr Geld verdiente – nein, sie belegte bei meiner Mutter den Platz der engsten Vertrauten. Das war auch der einzige Grund, weshalb sie mich betreuen durfte.
Mama ließ nur ungern Fremde in mein Leben, wo ich doch nun so unglaublich verletzlich war.
„Riecht es nicht äußerst verführerisch?“, fragte mich Katharina, die an meiner freien Seite Platz gefunden hatte. Ich nickte sofort, häufte mir etwas von den Kartoffeln auf den Teller.
„Natürlich. Mamas Kochkünste sind perfekt.“
Oh, jetzt trägst du aber etwas zu dick auf, meine Liebe.
Die Angesprochene errötete, blicke verlegen zu ihrem Mann, der bloß lachte. Die Stimmung lag beim Höhepunkt. Es wurde geschäkert, getratscht und Komplimente verteilt. Ich genoss das Mittagessen, die Atmosphäre in der wir uns befanden. So glücklich hatte ich meine Eltern schon lange nicht mehr erlebt. Sie wirkten ausgefüllt, fast schon entspannt.
Sofort wünschte ich mir ein leeres Glas, indem ich diesen Moment auffangen und verwahren konnte. Es war so unheimlich friedlich, dass mir ganz warm ums Herz wurde.
Ja selbst Dean, der von der gestrigen Nacht wusste, sie miterleben musste, schien glücklich zu sein. Wir erinnerten an eine Familie aus der Cornflakes Werbung.
Deswegen verstand ich nicht, wieso mein Mund schneller handelte, als mein Gehirn. Ich wollte die Worte nicht aussprechen, doch ich konnte sie nicht mehr verhindern. Sie sprudelten einfach aus mir hinaus.
„Mama, ich würde gerne ausziehen.“
Plötzlich wurde alles ganz still am Tisch. Katharina verschluckte sich an ihrem Fleischstück, sodass ihr Husten das Einzige war, das man hörte. Mum ließ ihre Gabel fallen und ihr Lächeln verblasste, wobei ihr Mund offenstand.
Ein Donnerwettererwartend, schluckte Dean. Ich spürte seinen Blick auf mir – das machte mich unglaublich nervös –, den ich jedoch zu ignorieren versuchte. Mein Dad hingegen blinzelte einige Male, als glaubte er sich verhört zu haben.
„Wie bitte?“, stotterte meine Mutter schließlich.
Ihr Gesicht nahm plötzlich dieselbe rote Farbe wie ihr Haar an und das braun ihrer Augen begann zu leuchten. Jedoch schien sie nicht wütend, sondern eher besorgt zu sein. Wild schüttelte sie den Kopf, als ich meine Worte wiederholte.
„Ich würde gerne alleine wohnen.“
Die Worte sprudelten nur so aus ihr heraus: „Das kommt nicht in Frage! Angel, wir können nicht für dich sorgen, wenn du dir eine eigene Wohnung zulegst. Es ist unmöglich. Nein, nein. Vergiss diesen Gedanken lieber, bevor du dir irgendwas zusammen spinnst.“
Nun lag es an mir, verwirrt zu sein. Das waren ihre Argumente, um meinem Vorhaben ihre Zustimmung zu verweigern?
„Papa, was sagst du dazu?“
Vielleicht stand mein Dad auf meiner Seite und könnte dafür sorgen, dass sich Mama etwas beruhigte. Das schaffte er meist am besten von uns beiden. Man würde ihm einfach nichts abschlagen können, hatte er einmal lachend gesagt.
Nun hoffte ich, dass er Recht behielt.
„Dein Vater denkt genauso“, antwortete meine Mutter, noch bevor ihr Ehemann zur Antwort ansetzen konnte. „Es wäre unverantwortlich von uns, dich einfach gehen zu lassen.“
Unverantwortlich, wie bitte?
„Hast du darüber nachgedacht, was das für dich bedeutet?“, mischte sich nun auch Katharina ein. Zum ersten Mal wünschte ich mir, dass sie den Mund und sich aus Angelegenheiten heraushielt, die sie nicht zu interessieren hatten. Ihre Meinung konnte doch vollkommen egal sein – auch wenn sie bereits zu uns gehörte –, hier ging es um etwas, dass nur meine Familie und mich betraf!
„Ich bin mir den Schwierigkeiten bewusst“, antwortete ich selbstsicher. „Außerdem habe ich gründlich mit Dean darüber gesprochen und wir sind zu dem Entschluss gekommen, dass ich das hinbekommen würde.“
„Mit Dean also, ja?“, wiederholte meine Mutter.
Sie warf einen Blick auf meinen Freund, dessen Finger immer nervöser zuckten. Dean legte den Löffel zur Seite und begann mit der Serviette zu spielen. Irgendwie kam es mir so vor, als würde er sich vor etwas drücken wollen. Ich blickte von ihm zurück zu meiner Mutter. Laut seufzte sie.
„Du bist doch noch viel zu jung“, klagte Katharina. „Wie willst du für dich sorgen?“
„Ich bin einundzwanzig Jahre alt!“, verteidigte ich mich.
„Wenn du mit ihr gesprochen hast“, unterbrach mich meine Mutter, „was hältst du dann von dem Ganzen, Dean?“
Die aufkommende Stille fühlte sich unheimlich drückend an. Jeder wartete auf eine Antwort von unserem Gast, dem Jungen, dem ich einst mein Herz schenkte. Er ließ von der Serviette ab, bevor er sich zurücklehnte und meinen Blick auffing. Mir wurde sofort schlecht, als ich den traurigen Glanz in ihnen erkannte.
Er richtete sich gegen mich.
„Eigentlich halte ich es für keine gute Idee“, sprach er langsam. Mein Gehirn ratterte, suchte nach einer passenden Reaktion. „Wir könnten in ein paar Jahren darüber nochmal nachdenken, doch solange Angel ihre Ängste nicht im Griff hat, würde ich mir viel zu viele Sorgen um sie machen.“
Er entschuldigte sich stumm bei mir, ich konnte es in seinen Augen lesen. Doch ich akzeptierte es nicht, hasste, dass er mir gerade in den Rücken fiel.
So oft hatte mir der Mut gefehlt, ihm von meiner Idee zu erzählen und nun, wo die Möglichkeit bestand, gehört zu werden, entschloss er, meinem Wunsch keine Achtung zu schenkten. Wie konnte man nur so egoistisch gegenüber seiner Liebe sein?
„Da hörst du es, Kindchen“, seufzte Katharina mit einem sanften Lächeln auf den Lippen. „Niemand hält es für eine gute Idee, nicht einmal dein Freund.“
In meinen Ohren klangen ihre Wörter wie Beleidigungen, böse Beschimpfungen gegen das arme Mädchen im Rollstuhl. Natürlich war ich mir bewusst, dass sie nur mein Bestes wollten und um meine Sicherheit besorgt waren, doch das ging zu weit.
Auf einmal kümmerte es mich nicht mehr, ob ich gegen die Regeln verstieß und mich nicht wie das brave, liebe Mädchen von nebenan benahm. Ruckartig löste ich die Bremse meines Rollstuhles und fuhr etwas zurück, um im nächsten Moment aus dem Raum zu flüchten.
„Angel, bitte warte doch“, konnte ich Dean frustriert rufen hören. Doch seine Stimme verblasste, als sich meine Mutter an ihn richtete und sagte, dass er mir etwas Zeit schenken sollte.
Ich brauchte keine Zeit, sondern ein eigenes Leben. Privatsphäre. Einen Ort, den ich mein Eigen nennen konnte.
Mit Tränen in den Augen rollte ich die Rampe zum Vorgarten hinunter. Ich stoppte, schnappte aufgebracht nach Luft. Mein Brustkorb schmerzte und ließ mich unwohl fühlen. Obwohl ich solch ein Gefühl nicht zum ersten Mal verspürte, schien es vollkommen neu zu sein. Es umfasste meinen Körper und hüllte mich in einen tranceartigen Zustand. Noch bevor ich es wirklich realisierte, öffnete ich das Gartentor und rollte die Straße entlang.
Freundliche Nachbarn, die mich mit einem Lächeln begrüßten, nahm ich nicht wahr. Kindern fuhr ich so gut es ging aus dem Weg. Außerdem versuchte ich von Bekannten nicht erkannt zu werden.
Und als ich meinen Kopf hob, mich mit dem Gedanken auseinandersetzte, mich der Versöhnung willen, bei meinen Eltern zu entschuldigen, bemerkte ich, dass ich mich an der Kreuzung mitten in der Stadt befand.
Was zum Teufel …?
Überfordert sah ich mich um, keuchte erschöpft. Erst jetzt bemerkte ich den Schmerz in den Armen, der durch die gewaltige Anstrengung entstanden war. Meine Finger kribbelten, als ich sie von dem Metall löste.
Kühler Wind umschlang meine Gestalt und eine Gänsehaut überkam mich wie eine gewaltige Welle. Schlotternd schlang ich meine Arme um meinen Oberkörper, versuchte die Kälte damit zu vertreiben.
Jemand legte mir plötzlich eine Jacke über die Schultern. Erschrocken und gleichzeitig überrascht sah ich nach oben und blickte in das Gesicht einer jungen Frau. Fasziniert starrte ich in ihre hellen, blauen Augen, bevor ich den Kopf schüttelte, um wieder klar denken zu können.
„Danke schön“, murmelte ich leise, krallte mich für den Moment an dem Stoff fest.
Die junge Frau lächelte, bevor sie mir Hand reichte, die ich ohne zu zögern annahm.
„Wie ist dein Name?“, fragte sie höflich.
Verwirrt stellte ich fest, dass der Schmerz, der zuvor mein Herz geplagt hatte, in ihrer Gegenwart verschwand. Verlegen richtete ich mich etwas auf, als sie mich fragend anblickte – noch immer auf eine Antwort wartend.
„Angel. Mein Name ist Angel.“
„Mein Name ist Skylar“, lächelte sie. „Freut mich dich kennenzulernen.“
Lektorat: Noch unlektoriert!
Tag der Veröffentlichung: 07.10.2017
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