Kapitel 1
Lachend rannte das kleine Mädchen die knarrende Treppe hinunter. Ihr kurzes, gelocktes, braunes Haar fiel ihr sanft über die Schultern, hüpfte durch ihre zierlichen Bewegungen immer wieder auf und ab, kitzelte sie manches Mal an der Nase. Ihre Wangen waren leicht gerötet, während sich ihre Lippen zu einem breiten Lächeln verzogen.
Die Augen des Mädchens waren blau wie das kühle Meer im Sommer. Das Funkeln in ihnen strahlte so hell wie die Sonne und schien niemals getrübt werden zu können. Ihr Lachen war hell und außergewöhnlich zart. An ihre Haut schmiegte sich lediglich feine Unterwäsche und ein kurzes, hellblaues Kleid, welches mit Blumen bestickt war. Auf der Brust tanzten kleine, braune Bären, während auf ihrem Rücken eine dunkelblaue Schleife ihren Platz fand.
„Bleib' stehen“, grummelte der Haushälter James.
Trotz seiner anscheinenden schlechten Laune lächelte er und verlangsamte seine Schritte. Diesen Spaß wollte er dem Mädchen dann doch nicht verderben. Als sein Blick kurz über den Spiegel wanderte, strich er sich seinen glatt gebügelten Anzug zurecht und fuhr sich schnell durch sein kurzes, nach hinten gegeltes, helles Haar.
„Nein, nein“, lachte das kleine Kind, gerade mal sieben Jahre alt, rannte schneller und versteckte sich schließlich hinter einer Statue. Diese war aus harten Stein gemeißelt, stellte einen aufgerichteten, starken Drachen dar. Der Hausherr liebte diese Fabelwesen. Er war vernarrt in alles, was aus einer anderen Dimension kommen könnte, sammelte täglich verschiedene Exemplare dieser Kreaturen.
Als der Butler an der Statue vorbei huschte, kicherte das Mädchen, bevor sie sich das kleine Spielzeug in ihrer Hand ansah. Es war eine winzige Spieluhr. Die Hülle bestand aus einem seltenen, gold schimmernden Metall, in das komische Hieroglyphen eingraviert waren. Für das Mädchen lediglich eine Verschönerung, die sie nicht verstand. Einzig allein das Schimmern der Glyphen interessierte sie, weckte in ihr eine Faszination. Zudem mochte sie die Melodie, die beim Öffnen des Kästchens in ihre Ohren drang.
„Skylar? Kleine, wo bist du?“, erklang die Stimme von James, während das Mädchen ihre Wangen schmollend aufzublasen begann. Sie mochte es nicht, als klein abgestempelt zu werden. Skylar fand, dass sie bereits ein großes, tapferes Mädchen war.
Plötzlich erklang ein Donnern und weitere merkwürdige Geräusche folgten. Verwirrt, doch zugleich neugierig hob das Mädchen ihren Blick, packte das Kästchen in ihre kleine Tasche, die sich ebenfalls an ihrem Kleid befand, und kletterte zügig aus ihrem Versteck. Ein Schrei erklang und ließ sie erschrocken zusammen fahren.
Skylar kannte diese Stimme, sie war ihr mehr als bekannt. Mit winzigen, dennoch hastigen Schritten marschierte sie hinüber, hinter einer weiteren Säule entlang und blieb vor dem Schlafzimmer ihrer Eltern stehen.
„Was machen sie denn da?“, fragte sich das Mädchen und wollte gerade die Tür öffnen, als ihre Hand von James gepackt wurde. „Geh' zurück! Geh' sofort nach unten!“
Doch sie verschwand nicht. Wohin sollte sie auch? Verlangte James etwa von ihr, im Salon auf ihn zu warten? Der Blick von dem Haushälter machte ihr für einen Moment Angst, bevor sie sich an den Tunnel hinter dem Bild erinnerte. Meinte er vielleicht, sie solle sich dorthin begeben?
„Warum?“, erkundigte sie sich mit einer zuckersüßen Stimme.
So unschuldig. So rein. Wieder erklang das Geschrei ihrer Mutter, bevor die Tür ruckartig geöffnet wurde. Mit einer schnellen Bewegung zog James sie an sich, drückte seine Hand fest gegen ihre feuchten Lippen. Panisch wollte sie sich wehren, doch der Haushälter schüttelte nur seinen Kopf. Sie konnte die Angst in seinen Augen sehen, Angst, die sie plötzlich ebenfalls verspürte, jedoch aus einem ganz anderen Grund.
Eine junge Frau, gerade einmal Ende dreißig, humpelte aus dem Schlafzimmer. Ihr normalerweise beigefarbenes Nachthemd war an den Enden etwas zerrissen und mit einer roten Farbe bekleckst. Farbe, die einen schrecklichen Geruch in die Nase des Mädchens trieb. Ein ekelhafter Geruch. Blut. Die Augen von Skylar weiteten sich, bevor sie vollkommen erstarrte. Etwas war ihrer Mutter gefolgt. Doch wo war ihr Vater? Wo war der Mann, der gerade eben noch bei ihrer Mutter gewesen war? Wo war er?
Zitternd wollte sich Skylar von James losreißen, zu ihrer Mutter rennen und sie in den Arm nehmen. Sie wollte nicht, dass sie weinte. Plötzlich erhob die Mutter zitternd ihre Stimme, bevor sie einen silbernen Dolch hinter ihrem Rücken hervor holte.
„Verschwinde!“, stotterte sie weinerlich, „Hau ab! Du... Du Monster.“
Etwas schrie, nein, kreischte. Es war ein ohrenbetäubendes Geräusch, hatte sich genau in das Gehör des Mädchens gebohrt. Sie wollte schreien, sich winden und einfach nur rennen.
„Renn'! Los! Du weißt, wohin du gehen musst“, flüsterte James ängstlich.
Er schluckte den Kloß in seinem Hals hinunter, bevor er Skylar los ließ und in die andere Richtung schubste. Dann drehte er sich wieder um. Doch sie rannte nicht. So sehr sie diesem Gefühl auch nachgehen wollte, sie konnte nicht. Etwas in ihr hielt sie zurück.
„Mami“, flüsterte sie zerbrechlich und streckte ihre Hand nach ihrer treuen, liebevollen Mutter aus. Diese hatte James und ihre Tochter schon bemerkt. Sie wollte nicht, dass ihre Tochter so etwas sah, nicht in diesem Haus und vor allem nicht in diesem Leben.
Wieder erklang das Gekreische und die Gänsehaut, die sich nun über die Haut des Mädchens zog, ließ sie noch mehr erstarren als vorher. Skylar spürte ihre Beine nicht mehr. Die Kontrolle über ihren Körper schien sie vollkommen verloren zu haben.
Etwas Schreckliches trat aus dem Zimmer. Sie erkannte die Gestalt nicht, sah nur die schwarze Hülle des Monsters. Es sprang mit einer gezielten Bewegung auf die ängstliche Frau zu, rammte seine scharfen Zähne in ihre Genick und durchtrennte ihren Hals. Mit einer ruckartigen Bewegung fiel der Kopf zu Boden, hinterließ einen See von roter Farbe. Skylar schrie.
„Mami. Nein! Mami.“
Das Monster drehte seinen Kopf zu dem jungen Mädchen, brüllte erneut.
„Verschwinde! Ich sagte, dass du gehen sollst“, schellte James und zeigte mit der Hand auf die gegenüberliegende Tür. Mutig stellte er sich vor das Mädchen, hielt schützend seine Arme hoch.
„Du wirst sie nicht bekommen. Nicht, so lange ich lebe.“
Das Monster schien dies als eine Einladung zu verstehen. Für einen kurzen Moment glaubte James, es lächeln gesehen zu haben.
Unmöglich!, stellte er fest und trat einen Schritt nach vorne.
„Los! Geh'!“
Sie zögerte, gehorchte jedoch schließlich. Zitternd rannte sie die Treppe hinunter, bog anschließend nach rechts und stürmte hinab in den Keller. Angst durchfuhr ihren Körper, ließ sie nur noch schlimmer zittern. Unsanft biss sie sich auf die Lippen, als sie schließlich bemerkte, dass sie weinte. Stumm liefen ihr die heißen, salzigen Tränen die Wangen hinunter. Schluchzend wischte sie sich mit dem Handrücken über die geröteten Wangen, bevor sie das Bild nach rechts schob.
Hinter dieser wundervollen, friedlichen Landschaft, die ebenfalls einen wunderschönen blauen Drachen zeigte, erschien ein kleines Loch, groß genug für einen Erwachsenen. Sie hatte diesen Geheimgang schon so viele Male benutzt und doch plagte sie nun eine unverständliche Panik, was wäre, wenn sie sich nun verirren würde. Es existierten mehrere Gänge, die ineinander verliefen. Wenn man sich nicht aus kannte, konnte man sich sehr schnell verlaufen.
Erneut erklangen laute Schreie, die das Mädchen vor Schreck zucken ließen. Fast zehn Minuten dauerte das Klettern durch den schmutzigen Tunnel, bis sie schließlich am Ende ankam.
Erleichtert stellte sie fest, dass sie sich nicht verlaufen hatte. Sie lag richtig. Hastig, noch immer mit zitternden Fingern, kletterte sie aus dem Tunnel und rannte. Geschickt schlüpfte sie durch das Gebüsch, bis plötzliche eine Explosion ihr den Atem raubte. Etwas packte sie, riss sie grob zu Boden und biss sie. Sie spürte einen stechenden Schmerz, während sie noch mehr Tränen verlor. Kreischend versuchte sie, sich zu wehren, doch gegen dieses Monster war sie einfach zu schwach. Sie war doch noch ein Kind!
Er jedoch nicht. Der junge Mann, der das Monster von dem Mädchen zerrte und das Ding immer wieder zum Brüllen brachte. Es verstummte schließlich und der fremde Mann legte vorsichtig die Hand auf ihre bebende und blutende Schulter. „Kleines? Alles in Ordnung?“ Bevor sie antworten konnte, erkannte sie, dass das Monster sich aufgerafft hatte. Es hob seine Klauen und...
Schweißgebadet erwachte ich aus meinen tiefen Träumen, keuchte heftig. Ich versuchte, mich zu beruhigen, was nicht sehr gut zu funktionieren schien, da sich mein Puls stärker beschleunigte.
„Schon wieder dieser Albtraum“, murmelte ich, bevor ich mir genervt und zugleich müde durch mein feuchtes, langes Haar fuhr. Es war kaum auszuhalten. Seit nun schon fast fünfzehn Jahren litt ich unter diesen schrecklichen Albträumen, die meine Vergangenheit immer verschwommener widerspiegelten. Es kam sehr häufig vor, dass ich, genauso wie heute, schweißgebadet erwachte und meine Kehle sich so trocken anfühlte, als wäre ich ein paar Stunden ohne Verpflegung durch die Wüste spaziert.
Es war nicht immer der selbe Traum. Manchmal träumte ich nur von dem Mann, der mich, das hilflose, verletzte Mädchen, rettete. Doch niemals erkannte ich sein Gesicht.
Zum Glück gab es jedoch auch Tage, an denen ich mich so wohl fühlte, wie ein schlafendes Baby. An solchen Tagen ließen mich die dunklen Träume in Ruhe und schenkten mir Hoffnung, das sie bald enden würden. Doch man scherzte mit meinem Verstand, denn nur eine Nacht darauf, holen mich die Ängste wieder ein und umschlungen mich, wie eine wild gewordene Ranke.
Zitternd richtete ich mich auf, schlüpfte in meine gelben Simpsons Hausschuhe und schleifte mich in das gegenüberliegende Zimmer, die Küche.
Sie war recht bescheiden, fast schon kahl. Die Wände in einem schlichten Weiß gehalten und der Fußboden von beigen Kacheln bedeckt. Meine Küchenzeile war simpel, nicht gerade groß, aber dennoch groß genug für mich, um mir einen Snack zu machen. Ich konnte zwar kochen, tat das jedoch nicht sehr oft. Die meisten Abendessen verbrachte ich in Restaurants oder kleinen Bistros.
Der Kühlschrank, der auf der linken Seite stand war sehr alt und man konnte den Lack sehen, der sich langsam aufzulösen drohte. Wenige Zettel wurden mit Magneten auf der Hülle des Schrankes gehalten, während neben dem Gerät ein kleiner Kalender hing.
Gähnend öffnete ich das Küchenfenster einen Spalt und sog die frische Luft tief ein. Der Geruch von gemähten Rasen schoss mir in die Nase, woraufhin ich wohlig seufzte. Ich mochte diesen Geruch, da er mich immer an mein altes Zuhause erinnerte.
Wieder seufzte ich, schüttelte jedoch anschließend meinen Kopf. Mürrisch wechselte ich den alten Filter von der Kaffeemaschine und tauschte ihn mit einem neuen. Schnell legte ich den Kaffee dazu und goss das Wasser in den danebenstehenden Behälter, bevor ich auf on drückte. Anschließend öffnete ich den Kühlschrank, allerdings nur, um festzustellen, dass ich nichts Essbares mehr im Haus hatte.
„Na ganz toll“, meckerte ich unzufrieden und ließ mich auf den knarrenden Stuhl fallen.
Noch immer bescherte mir dieser Traum eine unangenehme Gänsehaut. Er machte mir keine Angst, zumindest nicht immer. Doch in keinem meiner Albträume konnte ich dieses Monster richtig erkennen. Entweder bestand es aus einer schwarzen Hülle, so, wie auch in dieser Nacht, oder es wurde durch einen gesichtslosen Menschen ersetzt.
Nachdenklich schloss ich meine müden Augen, versuchte, mich angestrengt an das Gesicht meines Retters zu erinnern. Doch wieso wollte ich dies überhaupt? Konnte ich nicht einfach mit meiner Vergangenheit abschließen? So, wie es auch mein ehemaliger Butler James getan hatte? Ein leises Lachen entfloh mir, als ich an meinen Butler dachte.
Ja. So wie er, stöhnte ich innerlich und dachte an den Tag zurück, an dem ich ihn nach langer Zeit in der Psychiatrie besucht hatte. Die Ärzte meinten, er sei vollkommen verrückt.
„Er denkt, er habe einen Dämonen gesehen“, hatten die Ärztin in ihren weißen, engen Kittel gesagt.
„Dieser Mann glaubt tatsächlich, ein Fabelwesen hätte ihn angegriffen.“
So einen Mist. War ich dann nicht auch verrückt? Ich hatte dieses Geschöpf doch auch gesehen, es jedoch nicht für einen Dämonen gehalten. Zudem ist mein Gedächtnis nicht das Beste. Heute, nach fünfzehn Jahren, konnte ich mich nicht mehr genau an die Gestalt erinnern.
Sie hatten James für den Täter gehalten, ihn jedoch als nicht zurechnungsfähig erklärt.
„Der Mann ist krank, geistesgestört. Beinahe hätte er selbst den Schatz der Familie umgebracht, die Tochter“, hatte die Reporterin damals im Fernsehen gesagt.
Ich erinnerte mich daran, als wäre es erst gestern gewesen.
Mürrisch blies ich mir eine Strähne aus dem Gesicht.
„Diese Idioten. Sie wissen nicht einmal, was sie mit ihren Reportagen anrichten.“
Die Erinnerungen an den Tag der Urteilsverkündung suchten sich einen Weg zurück in meine Gedanken. Ich hatte weinend und ängstlich auf dem Platz neben dem Richter gesessen, der komische Frage gestellt hatte, die ich damals nicht verstehen konnte. Heute jedoch wusste ich, was all dieses Geschwätz bedeutete. Obwohl mein Gedächtnis nicht das Beste war, konnte ich mich noch genau an den Tag erinnern.
„Ich weiß, es macht dir Angst, Skylar, aber du musst bitte ehrlich antworten“, hatte der Richter mit sanfter Stimme gesagt. „Wen hast du alles gesehen?“
Da hatte ich wirklich nicht lange überlegen brauchen.
„Meine Mami und James. Da war auch noch so eine komische Gestalt. Sie sah aus wie ein Monster.“
Sie hatten mir nicht geglaubt. Wie gesagt, ich war noch ein Kind und wie wir wissen, haben Kinder eine menge Fantasie. Der Richter war der Meinung, dass diese Illusion, die ich als Monster
diagnostiziert hatte, nichts weiter als meine Angst war, die ich zu dieser Zeit verspürt hatte.
„Wie hat dieses Monster denn ausgesehen?“, erkundigte sich der Richter und versuchte nicht einmal, seinen Argwohn gegenüber dem Ding, welches uns angegriffen hatte, zu verstecken.
Ich hatte damals nur kurz mit den Schultern gezuckt, da ich für diese Kreatur keine Worte gefunden hatte.
„Ich weiß nicht. Es war einfach nur schwarz. Ich kann mich nicht mehr ganz daran erinnern.“
Ab da an hatten weder der Richter, noch die Anwälte mir länger zugehört. Sie hatten ihr Urteil bereits gesprochen. Stumm.
„Hat James dir wehgetan?“, hatte er fast schon desinteressiert gefragt, fast so, als würde er die Antwort genau kennen. Durch das stürmische Kopfschütteln hatte mir der Kopf geschmerzt.
„Nein! Er hat mich beschützt und mich weg rennen lassen.“
„Es war also ein Spiel? Dieses perverse, kranke Schwein!“, hatten die Zuschauer geflüstert.
Sie waren sich ebenfalls darüber einig geworden, verurteilten den Butler.
„Durch den Tunnel, den wir gefunden haben? Und dann? Was ist dann passiert?“
Ich hatte von meiner Angst erzählt, von der Panik, die mich übermannt hatte. Auch von dem lauten Geschrei erzählte ich. Der Richter hatte mich nicht einmal überrascht angeblickt. Es schien, als wollte er eigentlich gar nichts mehr wissen. Er machte dies nur, weil es sein Job war.
„Anschließend wurdest du also zu Boden geworfen. Mr. Brown hat dich schließlich gefunden. Verletzt. Wer hat dir diese Schmerzen zugefügt?“
„Ich weiß es nicht, Sir. Ich habe die Person nicht gesehen.“
Das waren die Worte, die James endgültig als Täter an den Pranger stellte. Mir saß die Schuld, dass er meinetwegen in der Klinik saß, noch immer tief in den Knochen.
Ich hatte ihn besuchen wollen, doch niemand war gewillt gewesen, mich zu begleiten. Auch die Pflegefamilie, in der ich kurzzeitig untergekommen war, wollte keinen Schritt in die Klinik setzen. So musste ich auf meinen achtzehnten Geburtstag warten und als ich schließlich alt genug war, beschloss ich, ihm einen Besuch abzustatten.
Den Papierkram auszufüllen, war recht einfach gewesen, James dann aber im Garten sitzen zu sehen, sein Blick starr nach vorne und das Lächeln, welches mich als Kind erfreut hatte, erloschen, brach mir das Herz. Ich machte auf dem Absatz kehrt und verschwand. Seitdem war ich nicht wieder dort gewesen – auch wenn ich wollte.
Kurz schüttelte ich meinen Kopf, tauchte aus meinen Gedanken auf und war wieder in meiner Küche. Der Kaffee war fertig. Etwas durcheinander schnappte ich mir eine Tasse und füllte sie mit dem schwarzen, heißen Getränk.
Als ich das Geräusch der Türklingel vernahm, zuckte ich für einen Moment zusammen.
„Sky? Hey, bist du da?“, erklang eine weibliche Stimme und sofort wusste ich, wer dort vor meiner Tür wartete.
Kurz nippte ich an meinem Kaffee, bevor ich mich mit meinen gelben Latschen an die Tür begab.
„Mensch Sky, mach' doch auf“, quengelte die junge Frau, bevor ich die aus Holz bestehende Tür öffnete. Das Scharnier quietschte leicht, was dem Mädchen vor der Tür nichts auszumachen schien. Mit einem breiten Grinsen begrüßte ich meine beste Freundin.
Ihr Name war Cherry Broderick und sie arbeitete in der gleichen Modeagentur wie ich. Während ich die Sekretärin unser Chefin war, kümmerte sich meine Freundin um Interviews und um die Magazine, die von uns gedruckt wurden.
„Man, Sky. Wie oft soll ich dir noch sagen, dass du erst fragen sollst, wer vor der Tür steht? Es könnte ein Krimineller sein“, meckerte sie und schritt an mir vorbei in die Küche.
Jeden Morgen dasselbe.
„Vergiss nicht, dass du nach mir gerufen hast. Ich wusste, dass du es bist.“
Ich verdrehte meine Augen und sah, wie sich meine Freundin nachdenklich auf die Lippe biss.
„Du hast Recht, das habe ich nicht bedacht, aber vergessen wir das mal. Ich habe Brötchen, Schinken und Salami mitgebracht. Ich dachte, du willst vielleicht etwas essen.“
Sanft lächelte ich, bevor ich mir eine Haarsträhne hinter das Ohr strich und drei saubere Teller aus dem Schrank nahm.
„Es ist schön, dass du gekommen bist“, sagte ich, als ich die Wurst schön auf einem der Teller verteilte. Cherry lachte.
„Es ist schön, das jeden Morgen von dir zu hören.“
Sie kicherte und wandte sich dem Besteck, sowie einer eigenen Tasse Kaffee zu.
Schmunzelnd betrachtete ich meine Freundin. Ihr blondes, glattes Haar hatte sie heute zu einem hohen Zopf gebunden. Einige Strähnen, die die Sprangen nicht halten konnten, fielen lose in ihr Gesicht.
Ihre giftgrünen Augen wurden heute durch einen kleinen Fleck Tusche verstärkt und sahen so nur noch schöner aus. Abgesehen von Tusche und wenigen anderen Produkten für ihre Augen benutzte sie keinerlei Make-up. Selbst ungeschminkt war sie eine Augenweide.
Schlank, rein und wunderschön.
Manchmal verglich ich sie mit einem Engel, jedoch nur bis zu dem Teil, an dem sie zu meckern oder generell zu reden begann. Sobald sie den Mund aufmachte, tauchte der Teufel in ihr auf.
Mich störte das überhaupt nicht, da ich an ihre Stimmungsschwankungen gewöhnt war. Auch wenn sie das ein oder andere Mal recht nervtötend sein konnte, besaß sie einen unglaublich guten Geschmack, der komplett von ihrem Gerede ablenkte.
Mein Blick fiel auf das Kleid, das meine beste Freundin trug.
Es war schlicht, schwarz und am Saum mit ein paar Rüschen verziert.
Sie liebte diesen kindlichen Look und er stand ihr hervorragend. Egal, wohin wir zusammen gingen, überall erblickte meine Freundin etwas, was sie wollte, beziehungsweise mochte.
Ich war in dieser Hinsicht etwas anders. Ich gab kaum etwas von meinem Geld aus und wenn, dann nur für das Nötigste. Die größte Einkäuferin war ich wirklich nicht und obwohl es immer hieß, Frauen würden Shopping lieben, hasste ich diesen Rummel in Geschäften, in denen sich jeder um ein Kleidungsstück bekämpfte.
So schlicht wie ich auch war, manchmal gönnte ich mir doch etwas, denn ich konnte es mir leisten.
Auch wenn es schrecklich klang, durch die Ermordung meiner Eltern wurde ich zur Alleinerbin und hatte das ganze Vermögen, zusammen mit dem riesigen Grundstück, welches mein ehemaliges Zuhause darstellte, geerbt. Doch dieses hatte ich nur selten genutzt.
Nun stand das Anwesen leer und auch, wenn ich daran dachte, dorthin zurückzukehren, konnte ich es nicht.
Von dem Geld hatte ich nur ein einziges Mal Gebrauch gemacht, für ein Auto. Mein eigenes Auto, auf das ich sehr stolz war.
Mehr zu nehmen, hatte ich mich nicht gewagt.
Traurige Erinnerungen hingen an diesem Geld. Das Geld, das auf meinem Konto lagerte und nur darauf wartete, ausgegeben zu werden. Ich konnte das einfach nicht tun. Sobald ich auch nur einen Cent von diesem Erbe ausgab, plagten mich tagelang Schuldgefühle, als würden meine Eltern mir den Umgang mit meinem eigenen Vermögen verbieten.
Mein Blick fiel lächelnd auf die Halskette meiner Freundin. Es war eine kleine Kirsche, die perfekt zu ihrem Namen passte. Cherry.
Ihre verstorbene Mutter hatte ihr diesen Spitznamen gegeben, nachdem sich herausgestellt hatte, dass sie Kirschen über alles liebte. Es klang vielleicht komisch, aber es war die Wahrheit.
Cherry mochte Kirschen.
Wie ihr richtiger Name lautete, wussten nur die Wenigsten, denn jedermann nannte sie Cherry.
Kichernd nippte ich an meinem Kaffee.
„Was ist denn so witzig?“, erkundigte sie sich und blinzelte mich fragend an.
„Ich habe nur gerade an deinen Namen gedacht.“
Plötzlich verzog meine Freundin das Gesicht, woraufhin ich sie verwirrt musterte.
„Ist was?“
„Du hast eindeutig noch nicht geduscht und wir müssen bald los. Ich will nicht wieder zu spät kommen.“
Augenrollend legte ich das Messer zu Seite.
„Dann fahr' du schon mal los. Ich werde nachkommen.“
„Das kommt gar nicht in Frage. Ich lasse mich heute von dir fahren.“
Seufzend erhob ich mich aus meinem Stuhl, legte meinen verkrümelten Teller in die Spüle.
„Ich kann dich aber nicht nach Hause fahren. Das ist dir doch sicherlich bewusst, oder?“
Sie nickte schnell. „Derek wird mich fahren.“
Überrascht hob ich meine gezupften Brauen.
„Derek? Der Fotograf des Unternehmens in dem wir arbeiten? Dieser Derek?“
Cherry nickte, während ihre Wangen einen rötlichen Ton annahmen. Ab diesem Moment musste ich nicht mehr weiter fragen, ich wusste sofort Bescheid.
Dennoch überraschte es mich ein wenig. Derek, der unauffällige Typ von nebenan, der, so ganz und gar nicht, in ihr übliches Beuteschema passte, ging mit meiner Freundin aus?
Die Männer, die Cherry das ein oder andere Mal datete, waren alle recht muskulös gewesen. Sie füllten das Klischee des weltbekannten bösen Jungen. Derek hingegen war nicht sonderlich stark und besaß, soweit ich wusste, keinerlei Tattoos, ebenso wenig Piercings. Er brachte meiner Freundin Blumen, kaufte ihr überteuerten Schmuck, was einer ihrer bösen Jungs niemals getan hätte.
In meinen Augen passten die beiden nicht ein bisschen zusammen, aber vielleicht täuschte ich mich.
Ich richtete mich schließlich auf und bevor ich ins Badezimmer verschwand, drehte ich mich noch einmal zu meiner Freundin.
„Mach' es dir gemütlich, Cherry. Ich werde mich solange fertig machen.“
Cherry nickte, bevor sie sich in mein recht kleines Wohnzimmer setzte und die Kiste, die ich Fernseher nannte, einschaltete. Kurz darauf hörte man die Stimme einer Reporterin.
„Zeugen zu urteilen wurde eine Gestalt gesichtet, die das Unglück ausgelöst haben soll. Wir wissen noch nicht wer...“
„Blödsinn“, zischte ich, konnte mir bereits denken, um was es sich bei dieser Reportage handelte und verschwand anschließend in mein sauberes Badezimmer.
Kapitel 2
Kaum eine Stunde später stoppte ich meinen geliebten Audi, den ich vorsichtig und gekonnt eingeparkt hatte, steckte den Schlüssel in meine schwarze, große Handtasche und blickte zu meiner besten Freundin. Cherry fummelte an ihrem Handy herum, bevor sie sich grinsend zu mir drehte.
„Danke nochmal.“
„Gern geschehen.“
Du wolltest doch gefahren werden, dachte ich schmunzelnd und ignorierte das Gefühl, seufzen zu müssen.
Noch bevor Cherry ihr Handy in ihrer Tasche verschwinden lassen konnte, erklang ein bekanntes Geräusch, welches ich als eine Kamera identifizierte.
„Hallo? Miss Broderick?“, erklang die Stimme eines Mannes, der auf uns zustürmte.
„Oh nein“, murmelte die Blondine, bevor sie ihm ein gespieltes Lächeln schenkte.
„Was kann ich für Sie tun?“, erkundigte sie sich freundlich, worauf ich ein unangebrachtes Kichern unterdrückte.
Der Reporter begann, irgendwas von einem Umschlag zu reden und anschließend versuchte er tatsächlich, sie um ein Interview zu bitte, was jedoch nicht neues war.
Cherry gehörte schließlich zu Pressesprechern für das Modeunternehmen, indem wir arbeiteten. Sobald eine neue Kollektion angekündigt wurde, stürzten sich die Journalisten auf meine Freundin, um die erste Zeitschrift zu sein, die über die neusten Informationen in Kenntnis gesetzt waren, denn unsere Chefin war niemand anderes als die große Miss Bennett, die Modeikone schlechthin.
Melissa Bennett führte hunderte Modeläden und ihre Entwürfe waren stets angesagt.
Erfolgreiche Stars liebten ihre Kleider, auch, wenn sie dafür eine Menge Geld bezahlen mussten.
Ich hasse Paparazzi.
Ich zwinkerte Cherry aufmunternd zu, bevor ich einen Blick auf meine Uhr riskierte, um im nächsten Moment festzustellen, dass ich, wenn ich jetzt nicht die Beine in die Hand nahm, zu spät kommen würde. Schnell schlang ich meine Handtasche um meine Schulter und trat durch die Glastür des riesigen Gebäudes.
Sofort drückte sich die stickige, warme Luft von drinnen gegen meinen Körper, erhitze mich und brachte mich leicht zum Husten. Ich verfluchte die Handwerker, die noch nicht in der Lage dazu gewesen waren, die Klimaanlage zu reparieren.
Hastig verdrängte ich meine unnötigen Gedanken und stieg in einen der Aufzüge.
„Ziemlich leer heute“, murmelte ich leise, da niemand mit mir im Aufzug war. Normalerweise war er randvoll.
Stirnrunzelnd lehnte ich mich gegen das Glas und blickte erneut auf meine schimmernder Uhr. Ich würde es tatsächlich noch pünktlich schaffen.
Ein triumphierendes Lächeln legte sich auf meine feuchten Lippen, nachdem ich kurz mit meiner Zunge darüber gefahren war.
„Stockwerk 5“, erklang die Roboterstimme, die aus den Boxen an der Ecke kam.
Der Fahrstuhl öffnete seine Türen und ließ einen Mann herein, der mich zuerst keines Blickes würdigte und gelassen seinen Platz neben mir suchte.
Augenblicklich blieb mir die Spucke weg, als ich den Blick über den Mann streifen ließ. Bei seinem Anblick beschleunigte sich automatisch mein Puls. Fast hätte ich das Atmen vergessen.
„Guten Tag“, sprach er freundlich, lächelte kurz.
Seine Augen musterten mich ebenfalls, jedoch nicht so lange, wie ihn die meinen. Er drehte sich mit dem Rücken zur Glaswand, lehnte sich lässig dagegen.
Seine Hände vergrub er in den Hosentaschen seiner schwarzen Jeans, an der ein Calvin Klein Gürtel steckte und half, die Hose auf ihrer Position zu halten. Er trug ein weißes, normales Hemd, das er jedoch nicht in die Jeans gesteckt hatte.
„Guten Morgen“, stotterte ich leise und verlegen.
Sein Haar war fast schon schwarz und war vorne nach oben gegelt worden. Und, oh Himmel, sein Gesicht war einfach makellos. Die Lippen voll und verführerisch, seine Nase gerade und seine Wangenknochen perfekt. Schon sehr lange war mir kein Mann mehr über den Weg gelaufen, der derart sexy wirkte.
Ich erwischte mich beim Starren und wandte meinen Blick sofort von ihm ab.
Ein freches Grinsen umspielte seine einladenden Lippen.
„Es muss Ihnen nicht unangenehm sein. Das passiert mir öfters“, sagte er schließlich und rollte dabei verführerisch mit seiner Zunge.
„Kann ich mir gar nicht vorstellen“, antwortete ich ohne nachzudenken. „Keine Sorge. Einbildung ist auch eine Bildung.“ Innerlich verfluchte ich mich für diese dämliche Antwort. War ich zu dämlich um auf einen kleinen Flirt einzugehen? „Sie halten anscheinend wirklich viel von Ihnen“, setzte ich gleich nach, erhaschte einen Funken Belustigung in seinen Augen.
Die arrogante Art ignorierte ich gekonnt, während ich mir eine störende Strähne aus dem Sichtfeld strich.
Arschloch!
„Um ehrlich zu sein nein, aber die Tatsache, dass ich es bin, lässt es nicht besser werden.“
Hatte er sich indirekt als Frauenschwarm betitelt? Flirt hin oder her, auf solch eingebildete Typen konnte ich verzichten! Zickig blickte ich ihm entgegen.
„Sie sollten sich nicht so aufspielen“, sprach ich und versuchte, so gleichgültig wie möglich zu klingen, „So gut sehen Sie jetzt auch nicht aus.“
Er lachte leise, als hätte ich einen Witz gemacht und blickte zu mir hinunter. Erst jetzt bemerkte ich, wie groß er eigentlich war. Der Schönling überragte mich um fast eineinhalb Köpfe.
„Ach, finden Sie?“
„Finde ich, ja.“
„Dann habe ich mir Ihre anzüglichen Blicke also nur eingebildet?“ In seiner Stimme lag ein Hauch von Amüsement, der mich fuchsig werden ließ. „Gehört lügen zu ihrem täglichen Vergnügen?“
Was sollte diese bescheuerte Frage?
„Ich lüge nicht.“
Er kicherte: „Das sehe ich vollkommen anders.“
„Sie kennen mich nicht“, knurrte ich, ballte meine Hand zu einer Faust.
Wieso konnte er mich so leicht provozieren? Wieso erlaubte ich ihm, mit mir zu spielen?
Weil er verdammt scharf aussieht!
Ich verstand die Situation nicht. Selbst dann nicht, als er seine Hand um mich herum an die Wand drückte und mich grinsend musterte. Platz um zu fliehen gab es keinen und eine Chance auf Erlösung, in der ein weiterer Gast hinzu steigen würde, konnte ich leider nicht erwarten.
Das dachte ich mir zumindest.
Ein leichter Rotschimmer legte sich auf meine Wangen, als er sich zu mir hinunter beugte. Bevor er mich berühren konnte, traf meine Hand auf seine Wange.
Überrascht hob er seinen Kopf, wich so etwas zurück. Die Röte breitete sich aus, während ich mich schnell aus seinem Griff entfernte, mich so in Sicherheit brachte.
„Bilden Sie sich ja nichts darauf ein. Nicht alle Frauen kann man als Spielzeug benutzen.“
„Aber dennoch lassen es die meisten zu“, antwortete er schlicht, noch immer etwas benommen.
Anscheinend hatte er nicht mit solch einer Reaktion gerechnet. Wenn ich ehrlich war, tat es mir irgendwie leid. Normalerweise war ich niemand, der Ohrfeigen verteilte.
Ich hätte zu gerne von seinen prachtvollen Lippen gekostet.
Schnell schüttelte ich meinen Kopf. Was sollte das? Sonst dachte ich auch nicht über solche Dinge nach. Zumindest nicht von einem Fremden, der anzügliche Gesten mir gegenüber zeigte. Zu meinem Glück erklang die Stimme des Fahrstuhls und die Tür öffnete sich ein zweites Mal.
„Schönen Tag noch“, murmelte ich, bevor ich den beengten Raum verließ und schnurstracks zu meinem Schreibtisch marschierte.
Auch, wenn ich den Drang verspürte mich umzudrehen, verzichtete ich. Meine Schritte wurde
langsamer, bis ich schließlich ganz stehen blieb. Ein unbekannter Druck breitete sich in meiner Brust aus, von Sekunde zu Sekunde, schien auf den richtigen Moment zu warten, um zu platzen. Er bombardierte mich wie eine Ladung Sprengstoff und drohte in mir zu explodieren, wenn ich mich nicht umdrehen würde, um noch einen seiner Blicke einzufangen.
Mein Stolz verbat es mir, versuchte mich heimlich in einer unsichtbaren Mauer festzuhalten.
Doch die neu gewonnene Neugier war zu stark. Mit einer eleganten Bewegung drehte ich mich zum Fahrstuhl, blickte jedoch nur in das kühle Silber der geschlossenen Türen.
Etwas enttäuscht schnaufte ich, strich mir durch das Haar und machte Platz für den Postfahrer, der ungeduldig darauf wartete, von mir vorbeigelassen zu werden. Sein Blick war grimmig, seine Stirn von tiefen Falten durchzogen und seine Lippen glichen einer schmalen Linie. Über seinem Bierbauch spannte eine gelbe Uniform.
Es schien mir, als wurde er all dieses Gedrängel und die Nörgelei im Fahrstuhl, ganz zu schweigen von den schlecht gelaunten Menschen um ihn herum, verachten.
Ich war mir sicher, dass er am heutigen Morgen bereits mehrere Male gestoppt hatte, um zu schauen, ob er nicht in irgendeine Aufstand geraten konnte, um endlich mal etwas Abwechslung zu erleben. Laut seines verbissenen Gesichtes schien das wohl nicht geschehen zu sein.
Mit zitternden Händen umfasste er einige Briefumschläge – einige dicker, manche kaum so dünn wie ein Blatt Papier – verteilte diese mit kaum zeigenden Emotionen an meine Kollegen und warf anschließend einen Stapel Umschläge auf den Schreibtisch, der der meine war.
Kurz schloss ich meine Augen, atmete tief durch und setzte meinen Weg fort. Ich ging die paar Schritte zu meinem Schreibtisch durch die Empfangshalle, wie ich sie nannte, und ließ mich auf meinen gemütlichen Drehstuhl fallen.
Wenigstens hatte ich bei diesem ein gutes Los gezogen.
„Sie sind wieder einmal zu spät“, erklang eine säuerliche Stimme, knallte einen zweiten Stapel Akten auf den schon bald überfüllten Arbeitsplatz.
Oh nein. Nicht schon so früh am Morgen.
„Sie irren sich, Miss. Ich bin heute sogar eine Minute zu früh hier gewesen.“
Ein abfälliger Laut entfloh der etwas älteren Dame, die ihre frisch gefeilten Klauen hob und arrogant über die längst getrocknete Farbe pustete. Daraufhin folgte ein belustigtes Gekicher.
„Den Sinn für Humor haben Sie wohl in Ihrem stillen Kaff gelassen, das meiner Meinung nach viel zu überschätzt wird, dennoch bringt es mich nicht dazu, Ihr Gehalt zu erhöhen oder Ihre Arbeit zu übernehmen. Wenn Sie nun endlich mit der Arbeit beginnen wurden, wenn Sie schon mehrere Minuten mit Starren verbringen können, wäre ich Ihnen sehr dankbar.“
Mit einer schwungvollen Drehung entfernte sich die Frau, verschwand in das hintere Arbeitszimmer, ließ die Glastür lautlos ins Schloss fallen.
Nett, wie eh und je.
Ich stöhnte auf und biss mir unsanft auf die Lippe.
Ohne einer weiteren Verzögerung, umfasste ich das Werk an Arbeit, welches mir am frühen Morgen in die Hände gelegt worden war und startete den Computer. Er begann leise zu piepen, fuhr anschließend hoch.
„Coleman! Wo bleibt meine große Tasse Kaffee?“, vernahm ich die Stimme meiner Chefin, rappelte mich auf und schritt hastig hinüber zum Pausenraum.
Schnell griff ich nach einer beliebigen Tasse. Ein kleiner Spruch zierte das wertvolle Porzellan: Take me to wonderland.
Eindeutig das Falsche für die alte Schreckschraube, die sich wahrscheinlich irgendwelche Dinge im Internat ansah – nicht, dass es mich etwas anging, was meine Chefin tat oder vorhatte zu tun, schließlich war sie ein Genie in ihrem Gebiet und konnte tun und lassen was sie wollte, solange sie die gewünschten Ergebnisse erzielte –, erwartete jedoch von uns anderen hundert Prozent. Während all ihre Mitarbeiter arbeiten mussten, verbrachte sie die meiste Zeit mit Faulenzen – zumindest wenn keinerlei Kunden in der Nähe waren – und doch hielt sie jeden Abgabetermin pünktlich ein.
Seufzend griff ich nach der Kanne Kaffee, füllte die Tasse und balancierte sie anschließend durch die engen Gänge hinüber zum Büro der Sklaventreiberin.
Mit der freien Hand klopfte ich, trat, nachdem ich die zornige Stimme vernommen hatte, ein und stellte die gefüllte Tasse auf den Tisch.
„Geht das nicht etwas schneller? Ich arbeite, was auch Ihren Aufenthalt hier erklären sollte.“
Sie fauchte, bevor sie einen großen Schluck des frisch gebrühten Kaffees trank.
Ohne ein Wort zu erwidern, drehte ich mich um und verließ das Büro, hastete hinüber zu meinem Arbeitsplatz, wo ich schließlich begann, die verschiedenen Akten zu sortieren.
„Langweilig, öde, hässlich“, murmelte ich leise, während ich immer wieder einen Blick in die Akten warf. „Alt, scheußlich, total unmodisch und die hat zu dicke Beine.“
Genervt lehnte ich mich zurück, warf einen Blick auf die sich öffnende Tür.
Zehn junge, bildschöne Frauen betraten den Raum, sahen sich gähnend um und kamen schließlich auf mich zugelaufen. Nun, eigentlich liefen sie nur in meine Richtung, stark mit dem Hintern wackelnd an mir vorbei und huschten elegant in das Büro meiner Chefin.
Skeptisch kräuselte ich meine Lippen, beobachtete die knochigen Mädchen und verdrehte anschließend meine Augen.
Die lockigen und strahlenden Haare der Besucherinnen flogen durch die Luft und für einen kurzen Moment schien es, als würde alles in Zeitlupe ablaufen. Gruselig.
„Ich hasse Models“, grunzte Cherry, die plötzlich neben mir auftauchte und mir eine Zuckerstange entgegen hielt. Dankbar nahm ich die Süßigkeit an, begann daran zu knabbern.
„Warum arbeitest du hier nochmal?“
„Weil ich mir gerne diese dünnen, hirnverbrannten Weiber anschaue und sie amüsanter Weise in Punkte einteile“, kicherte Cherry, bevor ich belustigt ihrem Beispiel folgte. „Und weil ich es lustig finde, wie jedes dieser Mädchen die Beine breit macht.“
Sie hatte vollkommen Recht.
Alle diese Mädchen kamen irgendwann an einen Punkt, an dem sie in ihrem Beruf nicht mehr weiter kamen. Entweder behaupteten ihre Manager, dass sie zu dick waren und so nie wieder einen internationalen Auftrag bekamen oder keine einzige Zeitschrift fand Platz für eine der Schönheiten.
In diesem Fall verhüllten sie bestimmt Stellen kaum mit Stoff und statteten dem obersten Chef ihrer Agentur einen Besuch ab.
Fast eine ganze Stunde verbrachten die Mädchen in seinem Büro, schrien sich wahrhaftig die Seele aus dem Leib und dies nur, um sich nackt vor eine Kamera legen zu dürfen.
„Sieht so aus, als würde Miss Ich-lasse-alle-glauben-mein-blond-wäre-echt müsste unserem Boss bald einen Besuch abstatten“, schmunzelte Cherry, blätterte belustigt durch eine Frauenzeitschrift.
„Wie kommst du darauf?“ Sie lachte.
„Hast du ihre Oberschenkel nicht gesehen? Eindeutig Orangenhaut. Das wird unserer Zicke gar nicht gefallen.“
„Ihr solltet aufpassen, wie ihr von unserem Boss sprecht“, knurrte plötzlich eine weibliche, sehr bekannte Stimme.
Gelangweilt hob ich meinen Kopf, schenkte der Besucherin einen undefinierbaren Blick. Ich wusste, dass Cherry und ich dasselbe dachten: Schlampe.
Vor uns stand die größte Petze und Arschkriecherin der gesamten Agentur. Den Standpunkt dieser Frau konnte man ganz leicht in Erfahrung bringen. Sie war die reinste Folter und das Schoßhündchen der Dame, die sich nun mit den Models herumschlagen musste. Soweit ich wusste, konnte sie keiner leiden. Nicht wegen der Tatsache, dass sie unbedingt nach einer Beförderung verlangte, sondern weil keinem gefiel, wie sie zu dieser kommen wollte.
Die Dame besaß schwarzes, ihr bis zum Kinn reichendes Haar, mausgraue Augen und sehr schmale Lippen. Cherry nannte sie immer das Froschgesicht, obwohl ich sie für das Gegenteil hielt.
Der Name dieses Froschgesichtes war Serena Hatake, eine stolze Japanerin. Das war auch der Grund, weshalb sie in allem besser sein wollte als ihre Kollegen. Dieses Klischee ging nicht nur Cherry und mir auf die Nerven. Es wurmte selbst Serenas Freunde.
Miss Hatake hob ihr Haupt, schenkte ihren Kolleginnen einen missbilligenden Blick und verschränkte die Arme vor der Brust.
Ihre ovalen Nägel waren schwarz lackiert, während sich ein etwas zu enges Kleid an ihren schlanken Körper schmiegte. Unauffällig verlagerte sie ihr Gewicht von dem einen auf den anderen Fuß, seufzte nostalgisch.
„Ihr solltet eure Zungen wirklich hüten. Nicht, dass ihr zufälligerweise gefeuert werdet.“
„Und das sollten wir warum?“, erkundigte sich Cherry desinteressiert, schenkte ihrer Freundin einen lustlosen Blick.
„Wer weiß. Vielleicht bemerkt sie endlich, was für hinterhältige Schlangen ihr seid.“
Ein kleines Grinsen zierte ihre schmalen Lippen, welches ich jedoch einfach ausblendete. Nachdenklich kaute ich auf meiner Süßigkeit, die bereits zur Hälfte in meinem Magen verschwunden war, sortierte währenddessen unwichtige Akten und versuchte meine Gedanken auf die Arbeit vor mir zu richten. Das jedoch war schwerer als erwartet.
Immer wieder kam mir dieser fremde Mann in den Sinn. Es war wie ein Fluch. Ich konnte es mir nicht richtig erklären und auch, wenn er mir völlig fremd war, ging er mir einfach nicht aus dem Kopf. Seine funkelnden Augen, doch vor allem seine Überheblichkeit.
Was wollte er überhaupt an diesem Ort? Ein leises Lachen entschlüpfte mir, ließ mich vor den anderen etwas dümmlich wirken. Solch eine Frage war einfach beantwortet.
So gut wie dieser Mann aussah, war er wahrscheinlich ein Model. Einer unserer Vertreter musste ihn wohl angeworben haben.
„Wenn du schon einmal dabei bist, kannst du meine Papiere gleich mit bearbeiten“, schmunzelte Serena gehässig.
Ihre leicht gelben Zähne blitzten im Licht der Tischlampe, bevor sie sich provokant von uns wegdrehte und anschließend an ihren Platz marschierte, der sich zum Glück am Ende des Flures in einem anderen Zimmer befand.
„Was war das denn?“, erkundigte ich mich, blickte meiner engsten Vertrauten verwirrt in die Augen. „Ich hab' keinen blassen Schimmer, aber wer bitte versteht schon dieses Weib?“
Sie zuckte leicht mit ihren Schultern.
„Was ist denn nun mit der Party am Samstag? Ich bin schon richtig heiß darauf.“
Ein Lachen entfloh mir.
„Du glaubst doch nicht wirklich, dass ich diese Party verpasse. Immerhin muss doch jemand auf dich aufpassen.“
Empört zog sie den Rest ihrer Zuckerstange in den Mund und begann darauf zu kauen.
„Wie unfair“, schmollte sie, drehte ihren Kopf gespielt beleidigt zur Seite. „Ich bin doch kein kleines Kind.“
„Stimmt. Kinder dürfen keinen Alkohol trinken und können sich so auch nicht in den Ruin treiben“, schmunzelte ich belustigt, verkniff mir ein weiteres Lachen.
Irgendwie erinnerte es mich an das vergangene Jahr. Cherry und ich waren zusammen auf einer Geburtstagsfeier gewesen. Am Anfang war alles noch gut, doch dann war Jeff, ein alter Freund von Cherry, auf der Bildfläche erschienen und hatte ihr einen Drink nach dem anderen angeboten. Kaum eine Stunde später musste ich ihr die Haare halten, da sie sich vor der gesamten Mannschaft übergeben hatte. Fast zwei Tage verbrachte sie damals keuchend und wimmernd in ihrem Bett.
Wenn ich ehrlich war, verspürte ich nicht den Wunsch, dieses Erlebnis zu wiederholen.
„Das war ein Ausrutscher“, verteidigte sie sich, schmiss die gelesene Zeitschrift in den Mülleimer und musterte mich bedrückt.
„Ach, komm schon. Hör' auf zu schmollen“, bat ich sie und sortierte drei Akten in die unterste Schublade meines Schreibtisches. Von weitem konnte man die lauten, zickenden Stimmen der schlecht gelaunten Models hören. Offenbar war nicht alles nach ihrer Zufriedenheit, die mich gerade überhaupt nicht interessierte.
„Na gut“, antwortete Cherry schließlich und gab nach. „Ich werde mich zusammenreißen. Aber nur, wenn du mich begleitest.“
„Ich sagte doch bereits zu.“
„Ach, ich liebe dich“, kreischte sie, schlang stürmisch ihre Arme um meinen Hals. Ich lachte.
„Schön, dass sich die Damen amüsieren.“
„Wie ich sehe hatten Sie Recht, Miss Hatake“, sprach die neben ihr stehende Chefin, leckte sich genüsslich über die Lippen und zeigte uns ihre kalte Schulter. „Wenn die Damen sich endlich an Ihre Arbeit machen und das Geschwätz unterlassen würden, könnte ich nachts in Ruhe schlafen.“
Wie, zum Teufel, konnte mir entgehen, dass Serena das Hauptbüro aufgesucht hatte? War sie nicht in ihrem Büro verschwunden, oder halluzinierte ich bereits?
„Es tut uns leid, Miss Bennett“, entschuldigte ich mich, während sich meine Freundin von mir löste. „Wir entschuldigen uns beide für unser Verhalten“, erklärte Cherry sachgerecht, verbeugte sich etwas und lächelte freundlich.
„Das will ich auch hoffen“, zischte Serena, worauf die Chefin jedoch ihre Hand hob.
„Wir lassen das hier bei einer Verwarnung. Noch einmal will ich dieses Pläuschchen nicht sehen, verstanden?“
Wir nickten.
„Gut und nun los. Sie werden nicht fürs Herumsitzen bezahlt.“
Mit eleganten Schritten und hochgezogener Nase entfernte sie sich von uns. Anschließend setzte sie sich wieder in ihren persönlichen Käfig und wandte sich daraufhin abermals an die verärgerten Models.
„Ich hasse dich“, zischte Cherry, zeigte Serena den Mittelfinger und verschwand in die Richtung des Fahrstuhls. Ihr Büro war nur einen Katzensprung entfernt, in einem Abteil, den ich von meinem Platz aus leider nicht sehen konnte. Die Angesprochene kicherte nur, winkte ihrer Kollegin gespielt freundlich nach und ging, ohne mir auch noch einmal Beachtung zu schenken.
„Wie im Kindergarten“, murmelte ich leise, bevor ich mich mit meinem Passwort in mein Netzwerk einloggte und mit der richtigen Arbeit begann.
*
Wenige Stunden später, die Uhr schlug fast halb acht, verließ ich zusammen mit ein paar Kollegen das Gebäude. Wir verabschiedeten uns, während manche noch blieben, um sich zu unterhalten und zu rauchen. Da ich weder rauchte, noch nach einer Konversation verlangte – ich war wirklich erschöpft –, hob ich meine Hand zur Verabschiedung und huschte über den Parkplatz zu meinem geliebten Wagen.
Dort angekommen kicherte ich leise, als ich, nur ein paar Parkplätze weiter, Cherry zusammen mit dem Fotograf Derek erblickte. Er hielt ihr die Tür auf und benahm sich wie der perfekte Gentleman. Cherry lächelte, als sie mich erblickte und hob ihr Telefon in die Höhe. Ich verstand sofort.
Offenbar wollte Cherry etwas Wichtiges mit mir besprechen.
Kopfschüttelnd stieg ich in meinen Wagen, startete den Motor und machte mich auf den Weg nach Hause.
Während eine leise Melodie aus meinem Radio erklang, ließ ich den Tag noch einmal Revue passieren. Der heutige Tag war wirklich anstrengend gewesen. Nicht nur, dass die Models, die am Morgen das Büro meiner Chefin aufgesucht hatten, unzufrieden und sehr unkooperativ gewesen waren, Serena hatte mir schließlich noch mehr Arbeit aufgebrummt, die sie eigentlich erledigen sollte. Ihr erging es heute jedoch noch schlechter als mir.
Serena war auserwählt gewesen, zusammen mit Mister Bennett, der zusammen mit seiner Frau die Agentur leitete, nach Berlin zu fliegen, doch der Flug war gestrichen worden, was der Japanerin gar nicht gefallen hatte. Laut einer Kollegin habe sie extra drei Kilo abgenommen, um auf ihren geschäftlichen Terminen Top auszusehen. Jetzt war das offenbar nicht mehr nötig.
Sie war am Boden zerstört gewesen, was sie jedoch nicht daran hinderte, ihre Wut an jedem anderen ausgelassen. Vor alle an mir, da sie versuchte, den Rest ihrer Akten auf meinen Schultern abzuladen, doch zum Glück war mir eine Freundin und Kollegin beigestanden, die den Rest ohne zu zögern übernommen hatte. Ohne sie wäre ich vor zehn wahrscheinlich nicht nach Hause gekommen.
Seufzend parkte ich mein Auto auf meinem regulären Parkplatz, welches sich vor meinem Wohnblock befand, stieg aus und näherte mich dem Gebäude, welches ich Zuhause nannte.
Es war groß, sehr anschaulich, aber unglaublich hässlich.
In diesem großen Haus befanden sich ungefähr zwanzig Wohnungen, die alle recht klein und billig waren.
Dies war der erste Ort gewesen, der mir nach meiner letzten Pflegefamilie zugeteilt worden war. Man hatte mich nicht mehr vermitteln können und da die Heime überfüllt gewesen waren, waren die Sozialarbeiter auf die Idee gekommen, mich alleine leben zu lassen. Sie beteiligten sich bei der Suche und fanden auf meinen Wunsch hin eine kleine, kostengünstige Behausung.
Damals war ich noch recht zuversichtlich gewesen.
Das hier wird nicht lange dein Zuhause sein, dachte ich damals. Hier wirst du nur ein oder zwei Jahre wohnen. Dann suchst du dir eine wunderschöne, große Wohnung in einer hübschen Gegend.
Leider war es nicht so gekommen, da ich sehr gut in meiner Wohnung zurecht kam. Gedanken hatte ich mir deswegen nicht mehr gemacht, da ich der Meinung gewesen war, dass ein Umzug zu dieser Zeit nicht wichtig wäre. Obwohl ich bereits mit einigen Freunden darüber gesprochen hatte, so auch mit meinem katzenverrückten Nachbarn, der gerade eine neue Wohnung suchte, konnte ich mich nicht dazu überwinden, mein trautes Heim zu verlassen. Auch, wenn es so ein schmuddeliges Haus war mit Menschen darin, denen man bei Nacht nicht begegnen wollte. Dennoch, obwohl manche von ihnen recht unheimlich wirkten, war noch niemand unhöflich oder respektlos gewesen.
Meine Wohnung befand sich hinter der letzten Tür in der zweiten Etage. Vor meiner Tür lag eine blaue Fußmatte, die meine Gäste Willkommen hieß.
Erschöpft öffnete ich meine Haustür, schmiss den Schlüssel in ein kleines Schälchen, welches auf einer Kommode stand und schloss das Holz hinter mir. Meine Schuhe fanden ihren Platz auf einer weiteren Fußmatte rechts von der Tür, die Jacke auf dem entsprechenden Kleiderständer.
Auch, wenn diese Wohnung sehr klein war, versuchte ich sie ordentlich zu halten und jeden Platz zu nutzen, den es gab.
Als ich anschließend auch meine Tasche abgestellt und verstaut hatte, folgte meine Abendroutine. Diese bestand aus einem Gang in mein winziges Badezimmer, woraufhin ich den Fernseher laufen ließ und mir in der Küche etwas zum Abendessen machte, falls etwas im Haus war, welches heute aus den restlichen Brötchen vom heutigen Morgen bestand.
Es dauerte nicht lange, bis ich das letzte Stück meines Brötchens verspeist und mich auf die Couch gesetzt hatte. Dann seufzte ich.
Draußen war es finster, nur der Schein des Mondes, der durch das Fenster im Flur kam, flutete den Gang mit hellen Strahlen. Mein Blick glitt von der Erhellung nach rechts, dann wieder zurück und nach links. Zum ersten Mal kam mir diese Wohnung unglaublich verlassen vor, einsam.
Normalerweise fühlte ich mich hier wohl, geborgen und sicher, doch seit einigen Tagen schwanden diese Gefühle. Ich blickte mich häufig um, suchte nach Dingen, von denen ich nicht einmal wusste – vollkommen irre. Das Benehmen, welches ich neuerdings an den Tag legte, verstand ich nicht. Niemand hatte mir etwas getan und nichts hatte sich großartig verändert und doch schien es, als würde mein Verstand sich gegen etwas wappnen und meinen Körper darauf vorbereiten.
Wie bescheuert klingt das denn? Total verrückt!
Es war sogar so komisch geworden, dass ich meine Symptome im Internet eingegeben und nach einer Lösung gesucht hatte. Tatsächlich war ich fündig geworfen.
„Sie fühlen sich in Ihrem Zuhause nicht mehr wohl“, schrieb jemand in einem Forum. „In diesem Fall ist es das Beste, wenn man sich nach einer neuen Wohnung umsieht. Im Unterbewusstsein verlangen Sie nach einem neuen Wohnort und das versucht ihr Verstand Ihnen mitzuteilen.“
So komisch das auch klang, so langsam drängte ich diesen Gedanken nicht mehr von mir.
„Ein Umzug, hm...?“
In diesem Moment klingelte es an meiner Haustür. Der schrille Laut ließ mich schreckhaft werden. Schluckend schlich ich zur Tür, keine Ahnung davon habend, wieso ich mich plötzlich verfolgt fühlte, setzte leise einen Fuß vor den anderen.
Es folgte ein Donnern, jemand klopfte wild.
„Sky? Bist du da?“, erklang die wütende Stimme meiner besten Freundin.
Augenblicklich fiel dieses unschöne Gefühl von meinen Schultern, wie eine Last, die ich nun nicht mehr zu tragen hatte. Ich musste mir diesen Verfolgungswahn nur ausgedacht haben.
Mit einem Lächeln auf den Lippen öffnete ich ihr die Tür, wich sofort zur Seite aus, da die Blondine in die Wohnung stürmte. Cherry verzog ihr Gesicht, schmiss ihre Schuhe unordentlich auf die Matte und ging ohne ein Wort zu sagen geradewegs in meine Küche.
Was um alles in der Welt ist ihr denn über die Leber gelaufen?
Kopfschüttelnd richtete ich ihre Schuhe, bevor ich ihr folgte.
In meiner Küche hatte sie sich bereits ausgebreitet. Sie holte zwei große Schüsseln aus dem Regal, fülle diese mit verschiedenen Kugeln Eis, die sich mitgebracht hatte und verstaute die halb leeren Packungen in meiner Gefriertruhe. Seufzend zog ich zwei Löffel aus der Schublade und trug eine der Schüsseln, die offenbar für mich bestimmt war, ins Wohnzimmer.
Dort stellte ich den Ton des Fernsehers leise und ließ mich zusammen mit dem Berg von Eis in die Kissen sinken.
„Was ist passiert?“
„Derek ist passiert“, spuckte Cherry, während sie es sich neben mir gemütlich machte.
Überrascht hob ich meine Braue. Ich konnte mir wirklich nicht vorstellen, was Derek getan haben sollte, dass sie so sauer geworden war. Schließlich hatte sie vorhin für mich recht glücklich gewirkt, er ebenfalls. Ich hatte Derek als einen liebenswerten, klugen Mann kennengelernt, der nicht viel Wert darauf legte, Fehler zu begehen. In meinen Augen war er ein Perfektionist.
Es sprudelte einfach nur aus ihr heraus.
„Wir wollten eigentlich etwas essen gehen und er versaut alles. Zuerst fanden wir keinen Parkplatz, worauf der Streit bereits begann, und dann, als wir endlich im Restaurant ankamen, waren unsere Plätze besetzt, da der werte Herr vergessen hat zu reservieren.“
So viel zum Perfektionisten.
„Ihr hättet doch auch irgendwo anders essen können, oder nicht? Das kann doch mal passieren.“
Sie schwieg für einen Moment und ich bemerkte sofort, dass sie über ihre nächsten Worte gut nachdachte.
„Cherry?“
„Er war ein Idiot. Fertig. Können wir es dabei belassen und das Eis genießen?“
Ihre abweisende Antwort machte mir Sorgen. Normalerweise erzählte sie mir alles bis ins kleinste Detail und jetzt, ganz plötzlich, wollte sie schweigen. Es verwirrte mich.
„Hat er dir weh getan, Cherry, dich geschlagen?“
Sie verschluckte sich an ihrem Eis, als sie lachte.
„Oh, Süße. Nein hat er nicht. Ich möchte nur nicht mehr darüber sprechen.“
Mit einem Nicken zeigte ich ihr, dass ich verstand. Trotzdem ließ es mich nicht in Ruhe, denn wenn sie nicht darüber reden wollen würde, dann wäre sie hier nicht aufgetaucht. Ich kannte sie nun schon viele Jahre und wusste genau, wann sie jemanden brauchte oder nicht und heute, genau jetzt, brauchte sie mich, ihre beste Freundin.
„Cherry...“
„Was schaust du da eigentlich?“, wechselte sie stur das Thema und zeigte mit dem vollen Löffel auf den Fernseher, auf dem gerade Werbung lief.
Obwohl mein Verstand mir zubrüllte, ihre Frage zu ignorieren, murrte ich und antwortete.
„Eigentlich lief eine Dokumentation über Bären, aber offenbar ist die jetzt vorbei.“
„Skylar Coleman! Du bist ja richtig spießig geworden. Was ist aus den Weltuntergangsfilmen geworden?“
„Ich muss mir so etwas nicht jeden Tag anschauen. Außerdem waren die Bären süß.“
Sie lachte erneut, schnappte sich die Fernbedienung, so wie an jedem Mädelsabend, und zippte durch die Kanäle, doch nichts schien ihr zu gefallen – bis sie schließlich stoppte.
„Schau' dir das mal an“, grinste sie, „Du kannst ja mal anrufen und dir die Karten legen lassen.“
Es handelte sich um eine dieser Sendungen, in denen man armen Menschen das Geld von der einen zu anderen Sekunde aus den Taschen zog. Das Thema heute: Wahrsagerei.
Damit kennst du dich ja aus.
Hastig schüttelte ich meinen Kopf, verzog mein Gesicht bei den Worten der Frau.
„Oh, Melissa, Liebes. Deine Zukunft sieht nicht gut aus. Der Mann an deiner Seite findet gefallen an jemand anderem und sie...“
„Komm wir rufen auch mal an, einfach aus Spaß. Ist bestimmt lustig.“
Plötzlich wirkte sie nicht mehr wütend und der bedrückte Ausdruck in ihren Augen war verschwunden. Ihr sollte doch bewusst sein, dass sie vor mir die Maske nicht zu tragen brauchte.
Eine Maske? Bist du dir da sicher? Vielleicht verheimlicht sie dir etwas.
„Sky? Alles okay?“
Schluckend winkte ich ab, wandte mich wieder meinem Eis zu, das bereits schmolz.
„Spielt die innere Lady wieder mit dir? Was sagt sie denn?“, erkundigte sie sich neugierig.
Verlegenheit umschmeichelte meine Wangen, ließ sie einen rötlichen Ton annehmen. Ich mochte es nicht, über dieses Thema zu sprechen. Nicht, dass es sich um etwas schlimmes handelte, aber viele verstanden es nicht.
Meine innere Lady, so wie Cherry sie gerade nannte, war eine Stimme in meinem Kopf, die nach dem Umzug in meine erste Pflegefamilie aufgetaucht war. Sie sprach mit mir, antwortete auf jetzige Situationen und warf manches Mal auch unnötige Kommentare in den Raum, die wirklich niemand gebrauchen konnte. So zum Beispiel auch während des Treffens im Fahrstuhl mit dem arroganten Schönling.
Diese Stimme war der Grund gewesen, weshalb mich die Pflegefamilie fort geschickt hatten. Zuerst hielten sie es für einen imaginären Freund, die viele Kinder in diesem Alter projizieren. Doch es dauerte nicht lange, bis sie mich zu einem Therapeuten schickten, der diese Stimme nicht für einen Freund hielt. Schizophrenie nannte er es. Mit so etwas konnte die Familie nicht umgehen, worauf ich in ein Heim abgeschoben wurde. Schnell realisierte ich damals, dass solch eine Stimme nichts Gutes verhieß. Also entschloss ich, aus der Lady ein Geheimnis zu machen – bis ich Cherry kennenlernte.
Die Freundschaft zwischen uns beiden war stark und sie war die erste Person, bei der ich mich nach dem Tod meiner Eltern Zuhause fühlte. Ich erzählte ihr davon, auch, wenn sie lachte, scheuchte sie mich nicht davon. Im Gegenteil. Cherry nannte sie meine innere Lady, da sie mich auf eine Art und Weise erwachsener und reifer machte und laut meiner Freundin benahmen sich lediglich Ladys so.
Natürlich besaßen wir zu dieser Zeit noch keine Ahnung von der wirklichen Bedeutung des Erwachsenwerdens, doch auch wenn wir heute anders über dieses Thema dachten, nannten wir sie noch immer so. Diese Stimme verband uns miteinander.
Du bist irre und das nicht auf eine positive Art!, stöhne sie laut.
Und, oh Himmel, sie konnte wirklich nerven.
„Nichts Wichtiges“, antwortete ich schließlich. „Ich bin einfach nur erschöpft. Der Tag war wirklich anstrengend.“
Sie verzog ihre Miene, als hätte sie vergessen, dass wir heute arbeiten gewesen waren.
„Tut mir leid Sky, ich wollte dich wirklich nicht vom Schlafen abhalten.“
„Das tust du nicht. Das weißt du doch.“
„Zu gut“, schmunzelte sie, bevor sie sich aufraffte und mir die Schüssel aus der Hand nahm.
„Was hast du vor?“ Ich folgte ihr in die Küche.
„Wir gehen den menschlichen Gelüsten nach. Lass' uns schlafen gehen.“ Als ich nicht antwortete, sprach sie weiter. „Was hältst du davon?“
Eigentlich wollte ich wach bleiben und weiter mit ihr quatschen, um irgendwann zu erfahren, was passiert war. Doch ich kannte sie und wenn sie sich etwas in den Kopf setzte, brachte man sie nicht so schnell wieder davon ab. Ich würde es für diese Nacht sein lassen. Morgen war schließlich auch noch ein Tag, den ich dazu nutzen konnte, mich um meine beste Freundin zu kümmern.
Einverstanden nahm ich ihre Hand, drückte sie sanft und nahm sie anschließend für einen Augenblick in den Arm.
„Das klingt wunderbar.“
Kapitel 3
„Jetzt hör' doch mal auf! Nein! Cherry, bitte. Ich habe genug Kleider in meinem Schrank. Dafür hast du doch gesorgt. Was? Nein, verdammt! Weshalb sollte ich? Stopp! Cherry!“
Mit einem einzigen Knopfdruck beendete ich das Gespräch, schmiss mein Handy in meine Handtasche und fuhr mir überfordert über die Stirn, die ich in tiefe Falten zog. Diese Frau war manchmal die reinste Hölle!
Du brauchst unbedingt ein neues Kleid Sky, hatte sie gesagt. Wir wollen den Männern doch den Kopf verdrehen.
Diese Frau!
Im Moment schwirrten andere Dinge durch meinen Kopf, die nicht unbedingt an einem Kleid interessiert waren. Für die Männerwelt hatte ich gerade so gut wie keine Zeit und die brauchte man, wenn man jemand kennenlernen wollte. Zudem lag mir meine letzte Beziehung noch schwer im Magen, die nicht sonderlich nett endete. Gut, ich musste zugeben, dass ich an der damaligen Situation nicht unschuldig gewesen war, dennoch hätte es anderes enden können.
Dann mache es zu einer einmaligen Sache, riet Cherry mir am Telefon. Nimm dir den Besten für eine Nacht.
Doch so etwas wollte ich nicht. Ich konnte so etwas nicht leiden und mir gefiel die Vorstellung nicht, mit jemandem zu schlafen, den ich erst seit vielleicht einmal zwei, drei Stunden kannte.
Hektisch drehte ich meinen Kopf, sah mich nach einem Auto um und hastete anschließend über die freie Straße.
„Sie schlechtes Vorbild!“, rief eine Mutter, die ihrer Tochter die Augen zu hielt.
Augen verdrehend ignorierte ich diese Bemerkung. Es gab schlimmeres.
Ohne weiter darüber nachzudenken schritt ich durch die überfüllten Straßen. Wer, um Gottes willen, kam auch auf die Idee, sich um diese Uhrzeit im Zentrum der Stadt aufzuhalten?
Zähneknirschend blickte ich auf meine Armbanduhr. Es war kurz vor sieben. Meine Schritte wurden schneller.
„Passen Sie doch auf, wohin Sie gehen“, fauchte ein Mann, als ich seine Schulter streifte. Mit einer ernst gemeinten Entschuldigung schritt ich schließlich durch eine kleine Gasse.
Der Anruf von Cherry hatte mich aus dem Konzept gebracht – nicht zum erste Mal. Zu oft rief sie mich aus unsinnigen Gründen an und begann ein Gespräch über etwas, von dem ich nicht einmal wusste, um was es eigentlich ging. Meist sprach sie von irgendwelchen Partys, Geburtstagseinladungen oder wie im heutigen Fall: Klamotten.
Hastig zwängte ich mich durch die Masse, bevor ich endlich vor dem Laden ankam, den ich dringend aufsuchen musste. Eine Apotheke. Mit einem erschöpften Lächeln auf den Lippen betrat ich das Geschäft.
Eine schrille Klingel ertönte.
Ohne auf den anderen Gast zu achten, griff ich nach einer Tüte Traubenzucker und versteckte mich hinter dem breiten Rücken des Mannes, der bereits an der Kasse wartete.
Jetzt, wo ich hier war, konnte ich es kaum erwarten, wieder zu verschwinden.
Ich griff in meine Tasche, zog den braunen Geldbeutel, sowohl die Liste meiner gewünschten Medikamente hervor, die von einer Freundin stammte, die leider nicht die Zeit besaß, in einer Apotheke vorbeizuschauen.
„Verfolgen Sie mich?“, erklang eine männliche und anscheinend belustigte Stimme. Oh nein.
Überrascht hob ich meinen Blick, starrte in das Gesicht des Schönlings. Der Typ aus dem Fahrstuhl! Ich öffnete langsam meinen Mund, um etwas auf seine Worte zu erwidern. Jedoch entwischte mir nichts anderes als heißer Atem.
Er lachte. Mein Körper erschauerte, während sich eine angenehme Gänsehaut auf mir ausbreitete.
Man, war sein Lachen das letzte Mal auch so schön gewesen?
Der Schönling legte zwei Finger unter mein Kinn, schloss mit einer sanften Bewegung meinen Mund, was ich jedoch zu spät realisierte und seine Hand weg stieß, als er sie bereits von mir entferne.
„Machen Sie sich keine Sorgen“, feixte er. „Vielen Frauen stockt bei mir der Atem.“
Arroganter Schnösel!
„Ich bin aber nicht wie andere Frauen“, antwortete ich kess, verstärkte den Druck auf meinen Geldbeutel und versuchte das komische Gefühl in meiner Brust zu ignorieren.
Seine weißen Zähne blitzten, als er seine Lippen zu einem breiten Grinsen verzog.
„Das ist mir nicht entgangen.“
Schnell wanderte mein Blick seinen Körper hinunter, blieb an seinen Schuhen hängen.
Nicht schlecht. Italienisch.
„Ich sehe, Ihnen gefallen meine Schuhe“, änderte er das Thema.
Ohne etwas darauf zu erwidern, hob ich meinen Blick und starrte stumm an ihm vorbei.
„Sie ignorieren mich?“ Er schien belustigt. „Das kränkt mich aber.“
Gespielt verletzt legte er sich die Hand auf sein Herz, lehnte sich gegen die Theke und senkte seinen traurigen Blick. Ich versuchte darauf nicht einzugehen.
Ungeduldig tapste ich von dem einen auf den anderen Fuß, versuchte, an irgendetwas anderes zu denken. Als ich wieder nicht antwortete, blieb er stumm. Anscheinend hatte er es endlich verstanden. Dennoch behielt er die Haltung des verletzten Jungen.
Mürrisch ging ich einen Schritt an ihm vorbei, drückte vorsichtig auf die kleine Klingel und läutete. Ich wusste zwar, dass der Mann vor mir bereits bedient wurde, klingelte aber trotzdem, da ich so schnell wie möglich wieder gehen wollte. Das schrille Geräusch hallte in einem überraschenden Laut wieder, ließ mich zusammenfahren. Was war das?
Erschrocken starrte ich zu dem Schönling, beobachtete seine Reaktion. Ob er diesen Druck auf den Ohren gespürt hatte? Doch anscheinend schien ihm das nichts ausgemacht zu haben, da er lediglich
lachte, mir erneut seine Zähne zeigte.
„Sie erschrecken sich bei dem Klang einer Klingel?“, erkundigte er sich, woraufhin ich vor Scham
am liebsten im Boden versunken wäre. Ich spürte die Röte auf meinen Wangen, wandte meinen
Blick sofort wieder von ihm ab.
„Schwachsinn!“
„Oh, tatsächlich? Für mich sah das ziemlich eindeutig aus.“
„Halten Sie den Mund“, fauchte ich peinlich berührt, stellte mich wieder in die Reihe und hielt meine Hände dicht neben meinem Körper. Meine Finger zitterten, während die Gänsehaut immer schlimmer wurde. Gott, was war das nur für ein Gefühl? Plötzlich spürte ich seine Hände. Die Rechte umfasste meine Schulter, die andere meinen Arm.
„Na, na, na. Wir wollen doch nicht frech werden, oder?“
Er zog eine Grimasse, während sein Gesicht dem meinen immer näher kam. Verdammt nochmal, was trieb dieser Mann hier mit mir? Und wieso ließ ich zu, dass er mich als Spielzeug missbrauchte?
„Wissen Sie denn nicht, was man mit bösen Mädchen wie Ihnen macht?“
Ich erschauderte und plötzlich fühlte ich eine längst verlorene Hitze in meinem Körper. Mein Verstand verabschiedete sich für einen Augenblick und das Pochen meines Herzens verstärkte sich. So etwas war mir schon lange nicht mehr passiert und hier und jetzt hatte ich nicht damit gerechnet.
„Dieses schöne Gesicht ist wirklich eine Verschwendung“, hauchte er verführerisch.
Ich spürte seinen heißen Atem an meiner Haut. Es löste ein Ziehen in meinem Unterleib aus, riss meine innere Lady aus ihrem Tiefschlaf und ließ sie mit einem Mal scharf werden. Ich konnte sie deutlich kreischen hören.
„Schnapp' ihn dir“, rief sie laut, zwängte sich in Dessous, die sie seit Monaten nicht mehr getragen hatte. Ich schluckte. Wenn mir niemand half, würde das böse enden!
„Koen! Lass' doch das arme Mädchen in Ruhe!“, erklang eine weibliche, schrille Stimme.
Kichernd drehte sich der Genannte von mir weg, schritt hinüber zur Kasse und ließ mich einfach stehen. Himmel sei Dank. Ich entschloss, der Dame einen Präsentkorb zukommen zu lassen.
Noch immer etwas erschrocken versuchte ich meinen Puls zu normalisieren, das verlangende Pochen in meinem Unterleib zu unterdrücken. Die gereizte Lady in meinem Inneren schrie und pöbelte, bewarf die Verkäuferin mit vulgären Worten.
Tief schnappte ich nach Luft, schloss für einen kurzen Moment beruhigend meine Augen.
„Ich habe keine Ahnung, von was du sprichst“, sprach der Schönling, dessen Name anscheinend Koen war.
Koen. Mir gefiel der Name und erinnerte mich an einen alten Western. Ich hatte mir schon einmal zusammen mit meinem Exfreund, der ein richtiger Fan davon gewesen war, solche Filme angesehen. Soweit ich mich erinnerte, gab es auch dort einen Koen. Nur war dieser nicht halb so gut aussehend wie der Schönling hier.
Rasch schüttelte ich mein Haupt, verdammte diese Gedanken aus meinem Kopf und strich mir eine störende Strähne aus dem Gesicht. Anschließend stellte ich mich wieder hinter den Mann, tat so, als wäre nichts gewesen.
„Du böser, böser Junge“, kicherte die Angestellte, reichte ihm zwei Tüten, die für mich ziemlich verdächtig aussahen.
„Wie viel bekommst du?“
„Nichts. Es ist bereits alles geklärt.“
„Ah, Gerrit hat bereits bezahlt?“
Sie nickte, schenkte ihm ein wunderschönes Lächeln.
Erst jetzt kam ich dazu sie genauer zu mustern. Langes braunes Haar, gebunden zu einem hohen Zopf und helle, braune Augen. Sie trug ihre normale Arbeitskleidung, die aus einem schlichten schwarzen, kurzen Rock und einer weißen Bluse bestand. Die Knöpfe an ihrer Bluse waren bis oben hin geschlossen, während sich ein dünner Schal um ihren Hals schlang.
Mein Blick löste sich von der recht hübschen Frau, legte sich auf die vollgepackten Tüten. Antibiotika und Schmerzgel konnte ich durch das dünne Plastik erkennen. Darunter lagen weitere große Medikamentenpackungen, die ich jedoch nicht identifizieren konnte.
Das geht mich doch gar nichts an!, rief ich mir in Erinnerung, legte dennoch meinen Blick auf die zweite Tüte und ihren Inhalt. Jedoch erkannte ich auch dort nicht sehr viel. Eine Menge Zeug, das mir nicht einmal bekannt vorkam. Ob er krank war oder besorgte er die Sachen für einen Freund?
Er lachte, als er an mir vorbei schritt und meine Schulter streifte.
„Neugier kann manchmal ziemlich tödlich sein“, raunte er leise, bevor er den Laden verließ und mich vollkommen verdattert zurück ließ.
Er hatte mich beim Starren erwischt!
„Machen Sie sich nichts daraus. So ist er immer“, erklärte die Verkäuferin, schenkte mir ein aufmunterndes Lächeln und winkte mich zu sich.
„Was brauchen Sie denn?“
Hastig reichte ich ihr meine zerknitterte Liste mit zwei aufgelisteten Medikamenten.
„Ihren Ausweis, bitte.“
Nachdenklich nickte ich, reichte ihr meine Karte. Wieso musste der Schönling seine Karte nicht vorzeigen? Sie schienen sich zu kennen, aber es war doch immerhin ihr Job! Ob man ihm sein Alter ansah? Gerne hätte ich erfahren, wie alt der Schönling war und wie viel Unterschied zwischen uns lag.
Schnapp' ihn dir. Los! Folge ihm und lade ihn auf einen Kaffee ein, schrie die Lady in mir, hatte den kleinen Funken Erotik in ihrem Blick verloren und die Nerdbrille zurecht geschoben.
Um Himmels Willen.
„Ist das dann alles, Miss?“ Ich nickte und bedankte mich.
Die Frau wandte sich von mir ab, verschwand für einen kurzen Moment im hinteren Zimmer und kam anschließend mit zwei Medikamenten zurück. Der Rest verlief ziemlich still und sachgerecht. Sie packte meine Ware in eine kleine Tüte, während ich ihr das Geld reichte.
„Ich bedanke mich für Ihren Einkauf“, sagte die Dame, hob freundlich ihre Hand und winkte zum Abschied. Im Gegenzug erhielt sie von mir ein Lächeln, während ich es ihr gleich tat und die Geste erwiderte.
„Auf Wiedersehen.“
Anschließend verließ ich den Laden, schnappte nach Luft und beschloss, das Lächeln auf meinen Lippen zu behalten.
Ein kindlichen Kichern entfloh mir, als sich zwei kleine Kinder in meiner Nähe zu knuddeln begannen. Das dunkelhaarige Mädchen schrie erfreut auf, als ihre Freundin ihr ein Stoffhäschen reichte.
Wie niedlich!
Mein Blick wandte sich jedoch schnell wieder von ihnen ab, senkte sich hinunter zu meiner Armbanduhr.
„Shit“, fluchte ich laut. „Ist es schon so spät?“
Hastig, ohne wirklich auf meine Umgebung zu achten, stürmte ich los, schickte weitere Flüche in den Himmel, als die Ampel kurz vor meinem Erscheinen zu seiner roten Farbe wechselte.
„Mist. Mist. Mist!“
Natürlich musste mir so etwas passieren. Nicht, dass ich sowieso schon spät dran war, nein, nun musste selbst der Verkehr gegen mich sein, um mir die restliche, verbleibende Zeit zu stehlen. Das war ja mal wieder typisch.
Plötzlich erstarrte ich, als ich auf die gegenüberliegende Straßenseite blickte.
Dort stand er, stierte mir entgegen und grinste. Der Schönling.
Er wartet auf dich! Das ist deine Chance, schrie die Lady in mir, leckte sich über die Lippen und das Nerd-Dasein verschwand auf der Stelle. Ein unheimlicher Schauer jagte über meinen Rücken, als sich sein Blick durch den meinen bohrte.
Schluckend wich ich einen Schritt zurück, während ich das Pochen meines Herzens deutlich spüren konnte. Es klopfte so stark und so laut, dass ich für einen Moment Panik verspürte. Ob die Menschen in meiner Umgebung ebenfalls etwas hörten?
Seine Lippen zogen sich etwas höher, während er seine Zähne zeigte. Seine muskulösen Arme hatte er vor seiner Brust verschränkt, lehnte sich dabei lässig an die Hauswand hinter sich.
Irgendetwas regte sich in mir. Etwas Neues und Unvorstellbares.
Schnurstracks wandte ich meinen Blick von ihm ab, machte kehrt und rannte.
Auch wenn ich mich wie ein kleines Kind benahm, irgendetwas in meinem Inneren wollte verschwinden. Es war dieses Gefühl, das mich zu dieser Tat trieb. Mein Verstand sagte mir, dass ich das Richtige tat, mein Herz jedoch, es wirkte plötzlich unnormal aktiv, verfluchte mich.
Mir war plötzlich sogar egal, ob ich nun zu spät kommen würde oder nicht.
So schnell ich konnte kehrte ich, auch, wenn es sich um einen riesigen Umweg handelte, zu meinem geliebten Auto zurück und setzte mich hastig hinters Steuer. Kaum steckte der Schlüssel, drückte ich aufs Gas.
Schneller!
Fast schon panisch stoppte ich irgendwann den Motor, stieg aus meinem Wagen und verschanzte mich nur wenige Minuten später in meiner Wohnung.
Ohne wirklich darüber nachzudenken, entschied ich, auf das heutige Treffen, das meine Freunde veranstalteten, zu verzichten und abzusagen.
Das verräterische Kribbeln verschwand langsam, machte die Sache jedoch nicht besser.
Ich spürte deutlich, dass sich das Pochen meines Herzens verdoppelte und das trieb mich regelrecht in den Wahnsinn, sodass ich mir für einen Moment sicher war, dass ich den Schönling vermisste. Und das machte mir noch mehr Angst als die Tatsache, dass ich mir wünschte, dass er mir gefolgt
wäre.
Was, zum Teufel, war nur los mit mir? Ich verstand mein Verhalten einfach nicht. Normalerweise rannte ich vor niemandem davon, egal ob uns ein unheimlicher Zufall zusammentreffen ließ. Doch heute verlor ich die Fassung ohne wirklich zu verstehen, wieso. Schluckend griff ich nach meinem Handy, wählte die Nummer meiner besten Freundin.
„Ja?“, erklang ihre müde Stimme. Dann gähnte sie leise.
„Cherry!“, spuckte ich förmlich. „Du musst sofort herkommen! Auf der Stelle!“
Sofort war sie hellwach und dabei gewesen, aus ihrer Wohnung zu flüchten, um mein Zuhause aufzusuchen. Als ich aufgelegt und das Handy auf den Tisch im Wohnzimmer gelegt hatte, fühlte ich mich überhitzt, unheimlich komisch.
Ich zwang mich, nachdem meine Beine zu schlottern und mein Magen zu brennen begonnen hatte, etwas Wasser zu trinken, ehe ich mich zur Beruhigung zwang. Eine warme Decke legte ich um meine Schultern, versuchte die Kälte, die ganz plötzlich durch meinen Körper fuhr, zu bändigen. Mir wurde schlecht und die Narbe im Nacken, die Stelle, an der mich dieses mysteriöse Etwas verletzt hatte, kribbelte.
Als Cherry schließlich an meiner Tür klingelte und meine Symptome wie ein Wunder einfach verschwanden, wusste ich, dass mit mir irgendetwas nicht stimmte.
Doch so sehr ich auch darüber nachgrübelte, ich wusste einfach nicht was. Selbst die darauf folgenden Gespräche mit meiner Freundin halfen mir nicht.
Kapitel 4
Erheitert stand meine beste Freundin nur zwei Tage später vor ihrem riesigen Spiegel, richtete ihre Haare und schenkte mir anschließend einen belustigenden Blick.
„Du denkst noch immer darüber nach oder? Mensch, Süße. Es war doch nur ein komisches Gefühl.“ Mürrisch blicke ich ihr entgegen. Offenbar waren meine Bemühungen, dieses Thema abzuhaken und mir meine Verwirrung nicht anmerken zu lassen, gescheitert.
„Es macht mir zu schaffen, okay? Ich habe so etwas noch niemals zuvor verspürt“, gestand ich ihr ein weiteres Mal.
Stundenlang hatten wir in dieser Nacht geredet und dennoch waren wir zu keinem richtigen Entschluss gekommen. Sie hielt es lediglich für eine Übertreibung, einen Gefühlsausbruch, der davon kam, dass ich seit längerer Zeit keinen Mann mehr an meiner Seite gehabt hatte. Das es direkt an Koen liegen könnte, bezweifelte meine Freundin.
Das Kribbeln meiner Narbe und die übertriebenen Symptome verschwieg ich ihr – sie zu belügen gefiel mir nicht, doch nach der ersten Reaktion wusste ich nicht, ob sie mir Glauben schenken würde –, was ich mir selbst irgendwie nicht erklären konnte. Normalerweise hegte ich keine Geheimnisse gegenüber Cherry, doch darüber hatte ich an diesem Abend einfach nicht sprechen können und eine weitere Gelegenheit fand sich leider nicht.
„Sky. Jetzt mal ganz ehrlich. Vielleicht stehst du auch einfach auf ihn.“
Empört blickte ich ihr entgegen. Schon wieder dieser Vorwurf, der mir aus irgendeinem Grund total gegen den Strich ging. An solch eine Möglichkeit wollte ich gar nicht denken!
„Auf diesen Vollidioten? Nein! Pff. Sicher nicht. Außerdem kenne ich ihn gar nicht!“
„Und dennoch hältst du ihn für einen Idioten.“
Ich wusste nicht, was ich darauf antworten sollte. Also hielt ich meine Klappe, ließ mich erneut auf das Bett fallen und starrte an die Decke.
„Mensch, Mäuschen. Du zerstörst so doch deine ganze Frisur“, schüttelte sie herablassend ihren Kopf.
„Ist doch egal. Ich werde eh niemanden aufreißen.“
„Warum denn nicht? Vielleicht tut dir ein Mann ganz gut.“ Genervt starrte ich sie an.
„Ich hab' es ja verstanden“, grinste sie, drehte sich zu mir herum und musterte mich neugierig. „Und? Wie sehe ich aus?“
„Großartig. Einfach wunderschön.“
Sie lächelte, zwirbelte eine Locke um ihren Finger. Sie sah einfach fantastisch aus.
„Na, dann komm, ansonsten sind die ganzen heißen Typen weg, bevor wir ankommen.“
Augen verdrehend rappelte ich mich auf, strich mein Kleid glatt und schenkte meiner Freundin einen missmutigen Blick.
„Ich sagte doch, dass ich niemanden aufreißen will.“
„Das werden wir schon noch sehen, Kindchen.“
„Wer bist du? Meine Mutter?“
Sie antwortete nicht, sondern zeigte lediglich auf die geöffnete Tür. Ich verstand sofort und schlenderte an ihr vorbei. Es war still zwischen uns, während wir zu ihrem Auto liefen, uns hinein setzen und los fuhren.
Sie drückte auf einen kleinen Knopf, ließ die CD im Inneren wirbeln und startete ihre Lieblingsmusik. Die Melodie von Sunshine umhüllte uns, brachte meine Freundin dazu, noch mehr Freude als zuvor zu fühlen. Sie vergötterte diese Band, denn es handelte sich um niemand Geringeres als Forever eighteen. Wenn sie jemals auf ein Konzert gehen würde, dann auf eines von ihnen.
Ihr Kopf bewegte sich leicht zum Lied, während sie leise den Text murmelte. Ich kannte diese Situationen, gleich würde sie wie ein verrücktes Luder zu singen beginnen. Man sollte sie dabei wirklich nicht stören, denn in dieser Zeit befand Cherry sind in ihrer eigenen Welt. Jedoch machte ich mir deswegen keine Sorgen. Das Lied endete, worauf sie aufgeregt noch einmal auf den Zurück-Button drückte.
„Das macht dir doch nichts aus, oder?“, erkundigte sie sich, worauf ich meinen Kopf schüttelte. „Quatsch. Hör' es nur, solange du willst.“
„Ach, ich liebe dich“, lachte sie, worauf sie erneut eine Strähne ihres schönen Haares um ihren Finger wickelte.
„Ich weiß“, schmunzelte ich. „Ich dich doch auch. Das weißt du ja.“
„Aber es ist immer schön, das zu hören.“
Sie errötete leicht, dann starrte sie mich an. Jedoch ließ sie dabei den Verkehr aus den Augen, wodurch sie das Lenkrad etwas in die falsche Richtung drehte. Anscheinend bemerkte sie das nicht, da sie erneut zu trällern begann und mich dabei mit einem glücklichen Gesicht musterte. Keuchend beugte ich mich zur Seite, ignorierte den Gegendruck des Gurtes und drehte das Lenkrad nach rechts.
„Geht's noch? Pass' gefälligst auf“, fauchte ich erschrocken, worauf ihr Lachen etwas lauter wurde. Offenbar gab es genügend Gründe, um mir doch Sorgen machen zu müssen.
„Du bist komisch“, murmelte ich, lehnte mich daraufhin zurück und schloss für einen kurzen Moment meine Augen. Dann wurde es wieder still. Cherry hatte die Lautstärke der Musik etwas gedrosselt und schien sich tatsächlich mal auf die Straße zu konzentrieren.
Es dauerte nicht lange, bis sich meine Augen wieder öffneten und die Landschaft begutachtete.
„Wohin fahren wir? Das war jetzt schon die zweite Kreuzung. Wenn wir in dem Tempo weiter fahren, kommen wir bald an der Stadtgrenze vorbei“, wandte ich mich an meine Freundin.
„Keine Sorge. Wir bleiben in der Stadt. Das Haus ist nur etwas außerhalb.“
„Wer wohnt denn bitte so weit am Rand?“, fragte ich mich selbst.
„Er mag es eben.“ Sie bog plötzlich nach links ab, steuerte ihren Wagen in die nächste Parklücke. Offenbar machte ich mir zu viele Gedanken, denn wir schienen endlich angekommen zu sein. Irgendwie freute mich mich, obwohl ich es innerlich abstritt. Meine Laune war zwar nicht die Beste, aber tanzen wollte ich auf jeden Fall.
„Dürfen wir hier stehen bleiben?“
„Mach' dir keine Sorgen Sky. Ich darf das.“
Erneut kicherte sie. Diese Frau war manchmal nicht zum Aushalten. Kaum war das Auto zum Stillstand gekommen, stieg ich aus und streckte meine Glieder. Bereits jetzt war die Musik der Party deutlich zu hören.
„Die ist echt laut.“
„Mach' dir keinen Stress. Die Nachbarn haben damit kein Problem. Höchstwahrscheinlich tummeln sich diese ebenfalls irgendwo dort herum. Also haben wir freie Bahn.“
Sie hob ihren Daumen. Woher sie all das wusste, wollte ich gar nicht erst wissen.
„Komm schon.“
Lachend griff sie nach meinem Arm und zog mich hinter sich her.
Die Party fand fast einen Block entfernt statt. Wieso wir nicht viel näher geparkt hatten, konnte ich mir zwar denken, hielt es jedoch irgendwie für unbedeutend.
Wie sollte ich dieses Mädchen später – in einem betrunkenen Zustand, musste man dazu sagen – zurück zum Auto bekommen? Das war so gut wie unmöglich. Ich staunte nicht schlecht, als wir das Haus endlich in Augenschein nehmen konnten. Das Gebäude war unheimlich groß, sodass ich zum Schluss kam, dass dort mehrere Familien wohnen mussten. Da ich jedoch von meiner Freundin etwas anderen gehört hatte, staunte ich nicht schlecht. Der Kauf musste sicherlich teuer gewesen sein.
Obwohl ich gefallen an dem Haus fand, musste ich feststellen, dass es überhaupt nicht in die Straße passte. Überall standen rötliche, kleine Häuser, die sich recht ähnelten. Doch dieses hier, in dem die Party statt fand, besaß eine weiße Wandfarbe, sowohl einen Vorgarten, der den anderen fehlte.
Da mochte wohl jemand die Aufmerksamkeit der Menschen.
„Das wird so geil“, rief ein junger Mann, streckte seine Hände in die Höhe, „So viele heiße Chicks auf einmal.“
Er klatsche bei seinem etwas kleineren Freund ein, bevor sie die Stufen hinauf trabten und im Haus verschwanden. Schon verschwand die letzte Lust auf den heutigen Abend und der Drang tanzen zu gehen, verzog sich ebenfalls.
„Na super“, schnaufte ich. „Und schon begegnen uns Idioten.“
„Du kennst sie doch noch gar nicht“, feixte Cherry, harkte sich bei mir ein und zog mich ebenfalls die Treppen hinauf.
„Ich will sie auch nicht kennen lernen.“
„Nicht so pessimistisch, Süße. Vielleicht triffst du ja die Liebe deines Lebens. Zumindest, wenn dein geheimnisvoller Idiot ebenfalls hier ist.“
Erschrocken schnappte ich nach Luft und wollte mich auf der Stelle verteidigen, doch Cherry drückte lediglich ihre Lippen auf meine Wange.
„Ja, ja. Ich weiß. Du stehst nicht auf ihn.“
Sie warf ihren Kopf zurück und als sie schließlich einen Freund erblickte, löste sie sich von mir.
„Ich bin gleich wieder da. Schau' dich doch schon einmal um.“
Mit diesen Worten verschwand sie in der Masse und ließ mich zurück, doch das war schon in Ordnung. Ich würde mich zurecht finden, schließlich war ich kein kleines Kind mehr.
Neugierig sah ich mich um. Überall standen Menschen, sprachen miteinander, tanzten oder reichten sich Becher mit hochprozentigen Alkohol. Wie konnten sie ihre Freunde durch diese Lautstärke überhaupt verstehen? Ich schüttelte leicht mit dem Kopf, bevor ich mich an die Bar begab. Nun, Bar war der falsche Ausdruck. Es handelte sich lediglich um einen langen Tisch, auf dem verschiedene Arten Alkohol standen. Meiner Meinung nach war es ziemlich gefährlich. Hier konnte dir jederzeit irgendjemand etwas in deinen Becher kippen. Trotz dieser Tatsache – natürlich war mir klar, dass das vollkommen unverantwortlich und dumm war – schenkte ich mir einen Becher Punsch ein und nahm einen Schluck. Er schmeckte wirklich köstlich. Unauffällig sah ich mich um, während ich mich gegen die Wand lehnte. Ich verspürte den Drang zu verschwinden, mich mit einem heißen Kakao auf die Couch zu setzen und mich einem Film zu widmen.
Ich mochte Partys und ich war auch gerne unter Leuten. Es war also nicht so, dass ich es nicht genoss, zu tanzen und mich mit guter Musik berieseln zu lassen. Selbst ich wollte manchmal den Alltagsstress von mir schütteln und etwas Spaß haben. Doch dieser Mann schwirrte noch immer in meinen Gedanken herum – machte mich vollkommen konfus. Wie sollte ich mich auf irgendetwas anderes konzentrieren, wenn ich nicht einmal diesen Schnösel loswerden konnte?
Es war zum Verrückt werden!
„Bist du öfter hier?“, erklang auf einmal eine männliche Stimme.
Verwirrt blickte ich zu dem Neuankömmling. Mich hatte doch tatsächlich jemand angesprochen.
„Hat es eigentlich weh getan, als du vom Himmel gefallen bist, mein Engel?“, schleimte der Kerl, streichelte mir über die Wange.
Ein Schauer überkam mich, ließ Übelkeit in mir aufkommen. Es war nicht nur seine Gestalt: Unrasiert, fettig und nach Alkohol stinkend. Es waren die billigen Sprüche die mir auf die Nerven gingen.
„Entschuldige. Kein Interesse“, sagte ich vorsichtig, schenkte ihm ein Lächeln.
Immer schön freundlich bleiben, riet ich mir in Gedanken. Ohne ein weiteres Wort zu verlieren, stieß ich mich von der Wand ab und schlenderte durch den Raum hinüber in den nächsten. Hier befand sich wohl das Zentrum des Ganzen. Es roch nach Schweiß und Alkohol, was jedoch kein Wunder war. Überall tanzten Personen, schmiegen sich aneinander, machten sich gegenseitig scharf.
Mensch, kannte hier keiner mehr das Wort Privatsphäre? Rechts neben der großen Anlage hatten es sich zwei Partygäste etwas gemütlicher gemacht als die anderen. Der junge Mann hatte sie auf eine kleine Box gehoben und während sie seine Hüften fest mit ihren Beinen umschlungen hielt, küsste er sie so intensiv, dass es mich kurz an zwei ausgehungerte, wilde Tiere erinnerte.
Gut, ich musste meine Prioritäten eindeutig etwas hinunter schrauben, vor allem, weil wir auf einer Party waren.
„Jetzt warte doch mal!“, erklang erneut diese dunkle Stimme.
Der Mann von vorher packte mein Handgelenk und zog mich mit einer unglaublichen Wucht an sich. Erschrocken weiteten sich meine Augen. Sein Geruch hatte sich verändert, dennoch konnte ich ihn nicht beschreiben. Es war einfach nur widerlich und brannte in meiner Nase.
„Was wollen Sie von mir?“, erkundigte ich mich etwas hysterischer als erwartet, entriss mich ihm. „Ich lasse mich nicht einfach so abspeisen. Du wirst heute Nacht meinen Namen schreien.“
Er grinste breit und kam meinem Gesicht immer näher.
Entsetzt und gleichzeitig durch seine schlechte Anmache angewidert, hob ich meinen Fuß und trat ihm so fest ich konnte auf die Zehen. Er verzog nicht einen Muskel.
„Kein Interesse“, wiederholte ich schluckend, dieses Mal jedoch außer Atem, denn meine Kehle fühlte sich an wie zugeschnürt.
Bildete ich mir das nur ein oder hatten sich die Augen des Mannes für einen kurzen Moment rot gefärbt?
Hastig schüttelte ich meinen Kopf, stürmte an ihm vorbei. Ich hatte genug von diesem Abend, obwohl ich doch gerade erst hier aufgetaucht war.
Lange hielt ich nach meiner besten Freundin Ausschau, bis ich sie schließlich knutschend im Nebenzimmer fand. War ja klar. Augen verdrehend entfernte ich mich von ihnen. Ich würde einfach die U-Bahn nehmen und anschließend das kleine Stück zu meiner Wohnung laufen. Das würde kein Problem werden. Um Cherry nicht zu verunsichern, entschloss ich, ihr in der Bahn eine SMS zu schreiben, sodass sie wusste, dass mit mir alles in Ordnung war.
Noch einmal sah ich mich um, hoffend, dass mir dieser Typ nicht noch einmal über den Weg laufen würde und hatte Glück.
Eilig verließ ich das Haus – ich achtete gut darauf, nicht von diesem komischen Mann gesehen zu werden –, entfernte mich von der lauten Musik und den alkoholisierten Menschen. Auch die angehende Schlägerei, an der ich vorbei kam, entging ich schnellen Schrittes.
Tief schnappte ich nach Luft, nahm die frische Nachtluft in mir auf, bis ich das Geräusch der läutenden Kirchenglocken vernahm. Es war Mitternacht. Es überraschte mich, dass ich tatsächlich eine ganze Stunde auf der Party damit verbracht hatte, an der Bar zu stehen und an einem Becher Punsch zu schlürfen.
Ein Seufzen entschlüpfe mir, während ich langsam die Hauptstraße entlang ging. Sie war so gut wie leer. Die einzigen Leute, die jetzt noch hier draußen herumschlenderten, waren die Menschen, die den Weg nach Hause oder zu ihrem Auto nahmen. Sie hatten wohl auch genug von der Party, die für mich nicht gerade ein Brüller gewesen war. Es lag nicht an der Party selbst – eher an den dort streunenden Menschen.
Leise stöhnend – diese hochhackigen Schuhe brachten mich um den Verstand! – strich ich mir eine Strähne aus dem Gesicht und blickte mich einige Male um, bevor ich meinen Weg fortsetzte. Ich bog nach rechts in eine Seitengasse ein und lächelte erleichtert, als ich die lauten Geräusche der U-Bahn vernahm. Das bedeutete, dass ich nicht mehr weit gehen musste. Ich hatte mein Ziel fast erreicht.
„Hey!“, schrie jemand.
Zuckend drehte ich mich um, sah jedoch niemanden. Die Gasse war vollkommen leer. Ich beschloss, meinen Weg etwas schneller fortzusetzen, was auch der Grund, wieso ich plötzlich zu rennen begann. Jedoch war das auf meinen hohen Schuhen keine gute Idee. Nachdem ich einige Meter hinter mir gelassen hatte, stolperte ich und fiel zu Boden.
Innerlich verfluchte ich den Hersteller dieser bescheuerten, aber wunderschönen Schuhe!
„Oh nein“, flüsterte ich leise, bevor erneut die Stimme des Fremden erklang.
„So schnell kommst du mir nicht davon“, brüllte der Mann, den ich sofort wiedererkannte.
Es handelte sich um den Widerling von vorhin. Die Flasche Alkohol, die er gerade noch in den Händen gehalten hatte, warf er von sich und stürmte anschließend auf mich zu.
Panik übermannte meinen Körper, brachte mich dazu, mich hastig und etwas unvorteilhaft aufzuraffen und weiter zu rennen. Doch es dauerte nicht lange, bis mich der Streuner eingeholt und gepackt hatte. Fest umschloss er mein Handgelenk, zerrte mich mit einer unglaublichen Kraft zwischen die Mülltonnen und schenkte mir ein schiefes Grinsen.
„Wohin willst du denn, Schnecke?“, raunte er mir in mein Ohr, hinterließ eine unangenehme Gänsehaut, „Ich weiß doch ganz genau was du willst.“
Mutig erhob ich mein Knie, versuchte es dem Kerl zwischen die Beine zu rammen – vergebens. Trotz der Tatsache, dass der Mann offenbar vollkommen betrunken war, schienen seine Reflexe noch genauso gut wie vorher zu funktionieren. Mit einer groben Bewegung umfasste er meinen Oberschenkel, stoppte somit meine Verteidigung und nutze diese Stellung aus, um mich noch etwas fester an die kalte Hauswand zu drücken.
„Du willst es also auf die harte Tour, ja, Schlampe?“, spuckte der Fremde, bevor er seine freie Hand um meinen Hals legte. Erschrocken weiteten sich meine Augen, als er sich langsam an meinem Kleid zu schaffen machte. Seine Finger versuchten den Stoff über meine Schenkel zu schieben, was jedoch mit einer Hand nicht besonders einfach zu sein schien.
„Scheiße.“
Er fauchte laut, bevor er mich an den Haaren packte, mich aus der Ecke drängte und zu Boden warf. Keuchend versuchte ich den Schmerz an meiner Hüfte zu ignorieren, der mir durch den Aufprall zugefügt worden war.
„Wenn du nicht gefickt werden willst“, säuselte er, „wirst du eben ausgesaugt.“
Verwirrt blinzelte ich, bevor ich vor Schreck zusammen sackte. Der Mann öffnete seinen Mund, zeigte mir seine gelben Zähne, die sich langsam veränderten. Seine Eckzähne wuchsen und verformten sich zu einem spitzen Ende. Sie erinnerten mich an ein bekanntes Fabelwesen, doch das konnte nicht möglich sein. Hemmungslos schüttelte ich mit dem Kopf, als würde ich damit das Gesehene logisch erklären können
„Oh Gott.“
Die Panik, die mich zuvor innerlich zum Erfrieren gebracht hatte, machte sich nun auch über meinen Körper her. Ich erstarrte und obwohl ich von hier verschwinden wollte, konnte ich mich nicht einen Zentimeter rühren. Es war wie verhext.
„Das wird ein Festmahl“, lachte der Fremde, bevor er sich auf mich stürzte. So laut ich konnte schrie ich, schlug mir irgendwie die Arme vors Gesicht und wartete auf irgendeine Art Schmerz. Doch dieser kam nicht. Stattdessen vernahm ich komische Geräusche, die zuvor nicht zu vernehmen gewesen waren. Neugier keimte in mir auf, die vollkommen fehl am Platz war.
Der Mann röchelte, wimmerte für einen Moment und prallte gegen die Mülltonnen. Überrascht, doch zu ängstlich, um die Flucht zu ergreifen, öffnete ich meine Augen und starrte auf den Neuankömmling. Das konnte nicht wahr sein.
Koen, ein ständiger Begleiter in meinen Gedanken, stand schützend vor mir und fletschte seine Zähne.
„K... Koen?“, stotterte ich leise, nicht wissend, wie ich reagieren sollte.
Das war das einzige Wort, welches ich aus mir herauspressen konnte. Er antwortete nicht, blickte lediglich für einen kurzen Moment zu mir hinab und erneut erstarrte ich. Seine Augen leuchteten in einem dunklen Rotton, brachten das unangenehme Gefühl auf meine Haut zurück. Verdammt, was war hier los? Schnell wandte er seinen Blick wieder von mir ab, richtete diesen auf seinen Gegner.
„Was bildest du dir ein, du Made?“, brüllte der Angreifer und zog ein Messer aus seiner Tasche.
Für einen minimalen Augenblick glaubte ich, ein winziges Schmunzeln auf den Lippen meines Beschützers zu erkennen. Doch ich musste mich irren.
„Kleine Ratten wie du“, fing Koen langsam an zu sprechen, bevor er seine Hände zu Fäusten ballte, „sollten ihre Beißerchen lieber versteckt halten.“
Mit diesen Worten stürmte er nach vorne, was den anderen jedoch zum Lachen brachte.
Der Fremde umfasste fest den Griff der Klinge, richtete es angriffslustig auf Koen.
„Pass auf!“, keuchte ich unter Schock, schlug mir anschließend die Hände vor die Augen. Ich konnte es nicht mit ansehen. Meine innere Lady versuchte mich zu zwingen, meinen Blick zurück auf das Geschehen zu richten, wollte, dass ich an Koens Seite war. Wenn auch nur als Zuschauerin.
Stille kehrte ein, die lediglich durch eine laute Sirene und dem Piepen einer Ampel ganz in der Nähe kam, unterbrochen wurde. Sie erschütterte mich, ließ mich unkomfortabel fühlen. Das Nichts schien mich zu erdrücken.
Noch immer hielt ich meine Augen bedeckt, zu viel Angst hatte ich, um wieder auf das Geschehen zu blicken.
„Sky! Oh Gott, Skylar!“, rief plötzlich meine beste Freundin, worauf ich mich doch entschied, meine Augen zu öffnen. Vorsichtig lugte ich durch meine Finger, beobachtete Cherry dabei, wie sie sich vor mir auf die Knie warf. Das ihr Kleid dabei zerriss, kümmerte sie nicht im geringsten.
„Ich habe mir solche Sorgen gemacht! Wieso bist du einfach verschwunden? Nein, sag' nichts. Lass' uns einfach nach Hause gehen.“
Sanft legte sie ihren Arm um meine Schulter und half mir auf die Beine.
„Was... Was ist passiert?“, murmelte ich leise, blickte hinüber zu dem gut aussehenden Mann. Dieser schmiss den Dolch, der sich vor wenigen Momenten noch in den Händen des Fremden befunden hatte, in eine der Tonnen, als wäre es Abfall. Ich versuchte einen Blick auf den verrückten Mann zu erhaschen, doch er war verschwunden.
„Mach dir keine Sorgen“, lächelte Cherry aufmunternd. „Alles ist gut. Komm, ich bringe dich hier weg.“
Sie zog mich mit sich, jedoch stoppte ich. Auch wenn mich das Verlangen packte, auf der Stelle von hier zu verschwinden, wollte ich Antworten auf etwas, das vollkommen irre erschien.
„Nein warte. Was ist mit diesem Mann passiert? Und was war mit seinen -.“
„Was soll mit ihm gewesen sein?“, fiel sie mir ins Wort.
„Seine Zähne, Cherry! Sie sahen aus wie die eines Vampirs. Sag mir bitte, dass ich träume.“
Sie schenkte mir ein sanftes Lächeln, bevor sie mir zärtlich über die Schulter strich.
„Du steigerst dich da in irgendwas hinein“, sagte sie. „Vampire gibt es nicht. Das weißt du doch.“
Sie sprach mit mir, wie mit einem dreijährigen Kind, was mich eigentlich wütend machen sollte. Ich wusste, dass all diese mystischen Wesen Hirngespinste waren, doch irgendwer musste sie doch von irgendwo her kennen, oder? Man konnte sich so etwas doch nicht einfach ausdenken. Schluckend und mit zittrigen Fingern strich ich mir eine lose Strähne aus dem Gesicht und versuchte, mich zu beruhigen. Leider erzielte ich nicht das gewünschte Ergebnis.
„Lass' uns jetzt gehen, ja Süße?“, lächelte Cherry, umfasste sanft meine Hand. „Ich bringe dich nach Hause und mache dir deinen Lieblingstee.“
„Der Tee ist alle“, antwortete ich trocken und ließ mich noch immer in Gedanken versunken, langsam mit schleifen.
„Dann mach' ich dir einen Kaffee. Irgendwas werden wir schon finden.“
Doch ich konnte nicht einfach so verschwinden, nicht nach dieser Aktion. Ich hielt inne und drehte mich erneut zu dem bildschönen Mann um, der gerade ein Taschentuch aus der Tasche zog, mit der er seine Hände säuberte. Zu deutlich erblickte ich die rötliche Flüssigkeit, hielt mir erschrocken die Hand vor den Mund. Erstach Koen den Fremden, doch wo war der Mann dann geblieben? Wurde er schwer verletzt und brauchte vielleicht Hilfe?
„Was hast du mit dem Mann gemacht?“, erkundigte ich mich zögerlich.
„Das ist nicht mehr Ihr Problem“, antwortete Koen trocken. „Er kann Ihnen nichts mehr tun.“
„Woher wusstest du, dass ich hier bin?“, erkundigte ich mich skeptisch, ignorierte die Tatsache, dass er mich siezte und behandelte, als wäre ich eine vollkommen Fremde.
„Sky, lass' den Mann einfach in Ruhe, ja?“, murmelte Cherry und zog an meinem Arm, worauf ich sie jedoch wieder abschüttelte.
„Und, was zum Teufel, war mit deinen Augen?“, fragte ich einfach weiter, wissend, dass ich verstört klang.
Keiner seiner Gesichtsmuskeln zuckte. Er blieb vollkommen ernst, fast wie versteinert.
„Du musst dir das eingebildet haben, Süße“, lächelte Cherry zögerlich, griff erneut nach meiner Hand. „Komm, gehen wir nach Hause.“
„Aber Cherry!“
Sie schüttelte leicht ihren Kopf, bevor sie den Druck an meiner Hand verstärkte und mich ein weiteres Mal mit sich zog. Als ich den kühlen Blick Koens auf meinem Rücken spürte, drehte ich mich noch einmal zu ihm herum, um dann jedoch festzustellen, dass er nicht mehr hier war. Verdammt, wohin war er so schnell verschwunden? Und wieso kümmerte er mich mehr, als der Angriff dieses fremden Mannes, der ebenfalls nicht mehr aufzufinden war?
„Aber ich bilde mir so etwas doch nicht ein“, murmelte ich erschöpft, während wir zusammen zurück zum Wagen gingen. Der Weg dorthin wirkte plötzlich unglaublich lang.
„Das ist der Schock“, versuchte mir meine Freundin einzureden. „Der Kerl hat dich angemacht und wollte dich verletzen. Da kommt es vor, dass man etwas sieht, was nicht real ist.“
Stumm musterte ich meine Freundin. Sie schien besorgt zu sein, fast schon panisch. Immer wieder sah sie sich um, als würde sie nach einem Verfolger Ausschau halten. War es, weil der Mann verschwunden war oder fürchtete sie sich vor Koen?
Cherry knabberte ununterbrochen an ihren geschminkten Lippen, obwohl sie dies nur selten tat, sodass die dunkle Farbe verblasste. So besorgt hatte ich sie noch nie gesehen. Das Gefühl, dass diese Besorgnis nicht durch den Angriff aufkeimte, kam in mir auf und brachte mich zum Nachdenken.
„Cherry?“
Sie reagierte nicht, verstärkte den Griff jedoch. Irgendwas stimmte hier nicht und es hatte etwas mit den roten Augen Koens und den Fangzähnen des verschwundenen Mannes zu tun, da war ich mir sicher. Auch, wenn ich noch immer nicht begreifen konnte, was überhaupt gerade geschehen war, wusste ich, dass etwas davon wahr gewesen sein musste. Es musste etwas Übernatürliches gewesen sein. Eine andere Erklärung gab es einfach nicht. Oder übersah ich etwas?
Kaum zehn Minuten später kamen wir an Cherrys Wagen an und stiegen ein.
„Du kannst ruhig deine Augen schließen und etwas ruhen wenn du möchtest“, verkündete meine Freundin, worauf ich jedoch meinen Kopf schüttelte und verneinte. Kaum hielt ich wieder still, ereilten mich starke Kopfschmerzen.
„Nein danke. Ich bin nicht sehr müde.“
„Du machst dir noch immer Gedanken, oder?“
„Würdest du das nicht? Cherry! Koen hat diesen fremden Mann erstochen! Ich habe das Blut gesehen. Was, wenn er verblutet und stirbt?“
Sie murmelte irgendwas, was ich jedoch nicht verstehen konnte. Kurz sah sie zu mir, bevor sie ihren Blick wieder auf die Straße richtete und den Motor startete. Den Gedanken, ob sie überhaupt fahren durfte, da sie bestimmt Alkohol konsumiert hatte, schob ich unbekümmert von mir.
„Du brauchst dir wirklich keine Sorgen zu machen. Ich habe den Mann weglaufen gesehen. Das Blut kam von einer kleinen Wunde am Arm“, berichtete sie und bog nach rechts ab.
Wieso glaubte ich ihr das nicht? Das konnte doch nicht der Wahrheit entsprechen! Es handelte sich lediglich um eine kleine Wunde? Meine innere Lady protestierte lautstark.
Vielleicht hatte meine Freundin Recht und ich überreagierte. Immerhin spürte ich noch immer den Schock in meinen Knochen, der meinen Körper zum Beben brachte. Ich verspürte Angst.
„Schlaf etwas“, forderte sie sanft, bevor ich mich entspannt nach hinten beugte.
Zuerst beobachtete ich die Landschaft, wie sie schnell an uns vorbei huschte, bevor ich doch entschloss, meinen Augen für einen Moment Ruhe zu schenken. Es dauerte auch nicht lange, bis ich tatsächlich in einen traumlosen Schlaf fiel.
Kapitel 5
Nur ein paar anstrengende Tage und Albträumen später stand ich im Einkaufsladen.
Ich versuchte die stressigen Stunden und das Gefühl, erneut diesem Mann, von dem ich nicht wusste, was aus ihm geworden war, gegenüber zu stehen, hinter mir zu lassen. Leider war das leichter gesagt, als getan. Jedoch zwang ich mich, all diese Dinge zu vergessen und mein Leben so fortzuführen, als wäre nie etwas geschehen. Auf eine gewisse Art und Weise funktionierte dieser Plan auch.. irgendwie.
Suchend blickte ich mich um, bevor ich zwei verschiedene Packungen Nudeln in meinen Einkaufskorb legte und anschließend meinen Weg fortsetzte. Dieser brachte mich zu einem Regal, gefüllt mit den verschiedensten Dingen. Ich suchte nach etwas Interessantem, doch ich fand nichts. Auf nichts von diesen Dingen hatte ich sonderlich Lust.
„Skylar?“, erklang plötzlich eine helle Stimme.
Überrascht drehte ich mich um, erkannte sofort das hübsche, weibliche Gesicht.
„Stella? Was machst du denn hier? Oh, doofe Frage.“
Sie lachte, worauf ich ebenfalls etwas zu kichern begann.
Bei der jungen Blondine handelte es sich um eine alte Schulkameradin. Ich hatte sie seit fast zwei Jahren nicht mehr gesehen und nun, jetzt, wo sie vor mir stand, konnte ich ihre Veränderung deutlich erkennen. Damals war sie etwas zu dick gewesen. Man hatte sie wegen des Doppelkinnes und den pummeligen Armen ausgelacht und gehänselt.
Doch im Vergleich zu heute war sie damals ein Nichts. Ihre blonden Zotteln waren bis zu den Brüsten gewachsen und offenbar hatte sie Gefallen an Locken gefunden. Das überflüssige Fett an ihrem Körper war vollkommen von ihr gewichen. Sie war schlank, schön, ganz anders als früher.
„Ja. Wenn die Jungs von damals mich jetzt sehen könnten, wären sie bestimmt neidisch“, grinste Stella, als wüsste sie ganz genau, worüber ich nachgedacht hatte.
„Tut mir leid“, sagte ich verlegen, „Aber du siehst toll aus. Wirklich, sehr hübsch.“
Mit einem breiten Grinsen nahm sie mich in die Arme, drückt mich sanft an ihren üppigen Busen.
„Ja, nicht? Ich habe wirklich hart an mir gearbeitet, aber genug von mir. Wie ist es dir ergangen?“
Als sie sich wieder von mir löste schenkte ich ihr ebenfalls ein Lächeln.
„Gut. Ich arbeite immer noch in der Modelagentur.“
„Du machst noch immer die Drecksarbeit?“
Ich schnaufte. „Nenne es, wie du willst, aber es macht mir Spaß. Ich kann eigentlich nicht klagen. Mir geht’s eigentlich recht gut.“
„Das freut mich. Du bist offenbar auch nicht mehr so schüchtern wie damals.“
Ich war nie recht schüchtern gewesen, jedoch hatte ich mich auch nicht zu den Frauen gesellt, die sich hemmungslos betranken und halbnackt auf Partys aufkreuzten. Und etwas dazwischen gab es für Stella nicht. Entweder du bist das Eine oder das Andere.
„Du hast dich aber auch verändert. Du bist aufgeschlossener geworden.“
„Natürlich“, antwortete sie sicher und hob ihren Kopf. „Jetzt fühle ich mich auch viel besser und das kann ich natürlich auch zeigen.“
Sie erzählte mir, was sie über unsere alten Klassenkameraden erfahren hatte. Offenbar verfolgte Stella das Leben der anderen recht interessiert. Das konnte ich ihr aber auch nicht übel nehmen. Diese Menschen hatten sie früher gedemütigt, da war es kein Wunder, dass sie nun sehen wollte, ob sie ihr Leben besser führten, als sie selbst.
Leicht schüttelte ich meinen Kopf, schnappte mir zwei Flaschen Eistee und legte sie ebenfalls in meinen Korb.
„Oh Gott. Tut mir echt Leid, Sky. Ich habe vollkommen die Zeit vergessen“, verkündete Stella und begann, in ihrer Tasche zu kramen. Sie zog eine kleine Karte hervor, die sie mir in die Hand drückte.
„Ruf' mich an, ja? Dann können wir uns treffen und etwas quatschen. Ich muss jetzt leider los.“
Mit diesen Worten verschwand sie, ließ mich vollkommen verlassen zurück. Mein Blick folgte ihr bis zur Kasse, bis ich leise zu kichern begann. Sie war schon immer eine sehr stürmische Person gewesen, auch, wenn sie das nicht jedem gezeigt hatte und vergesslich war sie auch. Sie wiedergesehen zu haben, machte mich plötzlich unheimlich glücklich.
Erfreut steckte ich die Karte in meine Hosentasche und drückte anschließend den Korb an mich. Obwohl mich die Begegnung aufmunterte, wurde ich das unbehagliche Gefühl nicht los, welches schon seit Eintreten des Einkaufsladens in meiner Brust ruhte. Kurz hatte ich daran gedacht, Stella danach zu fragen, tat es jedoch nicht, weil es mir furchtbar verrückt vor kam. Es war mein Problem, mit dem ich gerade kämpfte, und dieses wollte ich nicht auch noch auf meine ehemalige Klassenkameradin ausbreiten. Irgendwie würde ich damit schon fertig werden, selbst, wenn ich dazu noch einmal zu meiner ehemaligen Therapeutin gehen musste.
Da ich mir sicher war, beobachtete zu werden, sah ich mich vorsichtig um, wobei mein Blick auf eine rothaarige Frau fiel, die genau in meine Richtung starrte. Ich musterte sie. Sie musterte mich.
Ein penetranter Schauer rann mir über den Rücken, der mich jedoch nicht abschreckte, in ihre Richtung zu schreiten.
„Miss?“
Doch sie drehte sich plötzlich um, verschwand im nächsten Gang. Meine Schritte wurden schneller, bevor ich in den selben Flur einbog. Doch die Dame war weg. Spurlos verschwunden.
„Das habe ich mir doch nicht eingebildet, oder?“, murmelte ich leise, ignorierte die lose Strähne, die erneut in meinem Gesicht hing.
Ich war mir sicher, dass mich diese Frau beobachtet hatte und ich war mir auch vollkommen sicher, dass sie in diesen Gang abgebogen war. Doch wo war sie geblieben und weshalb war sie überhaupt verschwunden? Ich wollte ihr nichts Böses, ihr Starren hatte mich lediglich irritiert. Ob ich sie wohl von mir belästigt fühlte? Ich würde es ihr auf jeden Fall nicht verdenken. Niemand mochte es, von einer Fremden im Supermarkt angesprochen zu werden. Zumindest nicht meine Wenigkeit.
Ein lautes Piepen erklang und anschließend hörte man die Stimme eines Mitarbeiters, dass sich nun die zweite Kasse schließen würde. Kurz warf ich einen Blick in meinen Einkaufskorb und entschied, zu gehen. Für das heutige Abendessen mit Cherry hatte ich eindeutig genug.
Mit einem leichten Lächeln – innerlich hoffte ich, dass ich nicht so aufgewühlt aussah, wie ich mich fühlte – auf den Lippen begab ich mich an die Kasse, stellte mich in die kleine Reihe und legte meine Einkäufe auf das Band.
Hinter der Kasse saß eine freundlich aussehende, alte Dame. Durch das braun gefärbte Haar schimmerte der graue Ansatz, was sie offenbar nicht zu stören schien. Die Frau lachte, scherzte und sprach höflich und adrett mit den Kunden. Obwohl sie solch eine positive Aura ausstrahlte, fühlte ich mich nicht wohl. Ob es an ihr oder der gesamten Situation lag, konnte ich nicht ausmachen.
Das komische Gefühl verließ mich nicht, sodass ich mich reflexartig noch einmal umdrehte.
Irrte ich mich oder sah ich etwas Rotes aufblitzen? Während ich es ohne nachzudenken auf den Stress schob, kehrte die Erinnerung an die grausame Nacht zurück, die ich zu verdrängen versuchte. Koens Auftauchen, das blutverschmierte Messer und die glühenden Augen. Ich konnte mir noch immer nicht erklären, was ich gesehen hatte. Menschen konnte ihre Augenfarbe nicht binnen weniger Sekunden ändern, das war einfach unmöglich. War es dann vielleicht nur eine Reflexion gewesen?
Mit wirren Kopfbewegungen verbannte ich diesen Gedanken, bevor ich mich erneut darauf einigte, das Durcheinander in meinem Kopf auf den Stress zu schieben.
Die anstehende Modenschau zerrte an meinen Nerven. Meine Chefin wollte mich hier, dann wollte sie mich dort und plötzlich verlangte sie Papiere, die ich durch den Zeitdruck noch nicht holen konnte. Jegliche Anstrengung interessierte sie nicht, solange am Schluss alles zu ihrer Zufriedenheit war. Bei solchen Dingen konnte sie sehr herzlos sein. Also war es meine Aufgabe, entsprechend vorbereitet zu sein.
Nachdem ich bezahlte, nahm ich die volle Tüte entgegen und verließ den Supermarkt. Gemütlich ging ich die Straße entlang, vergaß für einen kurzen Moment alles um mich herum. Ab und zu blieb ich vor einem Schaufenster stehen, doch etwas Gutes fand ich nicht. Vielleicht interessierte es mich gerade auch einfach nicht.
Plötzlich erstarrte ich, blieb stehen und drehte mich um. Nichts. Doch ich könnte schwören, dass ich erneut diesen intensiven Blick auf mir gespürt hatte. Drehte ich langsam durch?
Nervosität stieg in mir auf. Irgendetwas stimmte hier nicht.
Ich erhöhte das Tempo meiner Schritte und durchquerte eine spärlich beleuchtete Gasse. Immer wieder schoss mein Blick zurück. Ich suchte nach dieser einen Person, doch ich erblickte sie nicht mehr, nicht einmal dieses auffällige, rote Haar. Es schien, als hätte sie sich in Luft aufgelöst und das jagte mir eine Heidenangst ein. Um ehrlich zu sein, wusste ich nicht einmal, wieso ich glaubte, dass diese Dame mich verfolgte. Doch der Gedanke daran machte mich ganz kirre.
Meine Hände begannen panisch zu zittern, als ich weitere Schritte vernahm, kleine Steine, die unter den Sohlen knirschten. Mit ruckartigen Bewegungen zog ich mein Handy aus meiner Tasche, entsperrte es und wählte die Nummer meiner besten Freundin.
„Komm' schon“, keuchte ich leise, während ich langsam zu joggen begann, doch Cherry meldete sich nicht. „Verdammter Mist.“
Die Angst in mir wuchs. Mit einem Schlag fühlte ich mich ausgeliefert und ungeschützt. Ich spürte deutlich das Stechen in meinen Fingerspitzen und die Nervosität, die an meinen Nerven zerrte. Das Bild von dem Mann in der Gasse, welches ich unbedingt ignorieren wollte, kehrte erneut zurück und brachte mich zum Schlottern. Mir wurde gleichzeitig heiß und kalt. Fast verlor ich mein Gleichgewicht, stieß gegen eine Feuerleiter die nach unten geschoben worden war.
Ich musste hier schleunigst weg!
Die Gasse endete schließlich und ich erreichte die stark überfüllte Straße, zwängte mich zwischen einigen Menschen hindurch und lehnte mich anschließend gegen die Ampelvorrichtung. Mein Herz hämmerte mir bis zum Hals und obwohl ich mir nicht einmal zu hundert Prozent sicher war, dass ich verfolgt wurde, hatte sich Panik in meinen Knochen eingenistet. Fest hielt ich den Beutel mit den Lebensmitteln umklammert, bevor ich erneut den Versuch wagte.
Warum, zum Teufel, geht sie nicht an ihr Telefon?
Erschrocken schnappte ich nach Luft, als ich eine Hand auf meiner Schulter spürte. Oh nein. Doch nicht etwa hier mitten in der Menschenmenge! Mein Verstand wirbelte umher, während ich mich langsam zu der Person herumdrehte. Fest biss ich mir auf die Lippe – innerlich versuchte ich mich an alle Selbstverteidigungsvideos zu erinnern, die ich mir im Internet angesehen hatte –, bevor ich erleichtert nach Luft schnappte.
„Was soll der Mist?“, fragte ich weinerlich, verpasste meiner besten Freundin einen Schlag gegen die Schulter. „Wieso gehst du nicht an dein Handy?“
Dort stand sie: grinsend und mit einer Flasche Rotwein in der Hand. Cherry Broderick.
„Hielt ich nicht für nötig“, kicherte sie unschuldig. „Ich habe dich ja gesehen.“
„Ich dich aber nicht! Du hast mir eine Heidenangst eingejagt.“
Ihr Blick veränderte sich. Sorgenfalten machten sich auf ihrer Stirn breit, die jedoch schnell wieder verschwanden. Warum wirkte es auf mich so gespielt?
„Angst? Süße, ist alles in Ordnung? Gott, du bist ja total verschwitzt. Komm, mein Auto steht dort hinten. Ich nehme dich mit.“
Verwirrt starrte ich sie an. Während sie vorging, betrachtete ich die Flasche in ihrer Hand. Sie konnte diese nur in einem der teuren Läden gekauft haben und dennoch war sie nun hier. Warum parkte sie ihr Auto fast fünf Blocks weiter? Außerdem meinte sie, mich gesehen zu haben. Wie sollte das möglich sein, wenn ich doch die Abkürzung durch die Gasse genommen hatte? Weder ihr Verhalten noch das was sie sagte, passten irgendwie zusammen.
Entging mir etwas Wichtiges?
„Was machst du eigentlich hier?“, fragte ich schließlich.
Sie antwortete nicht sofort.
„Wein holen und dann bin ich noch etwas durch die Stadt gebummelt.“
Normalerweise hinterfragte ich meine Freundin nicht, doch das schien selbst für mich merkwürdig zu sein. Sie öffnete die Türen und ich stieg in ihr Auto. Die volle Tasche stellte ich zwischen meine Beine, während ich meine kleine Handtasche auf meinem Schoß platzierte.
„Also“, begann Cherry, setzte sich hinter das Lenkrad, „warum bist du so aufgewühlt?“
Wieso verspürte ich das Gefühl, dass sie bereits Bescheid wusste? Das war doch unmöglich.
„Nichts Wichtiges“, antwortete ich schließlich, lehnte mich etwas zurück und hoffte etwas Entspannung zu finden. „Nichts Wichtiges.“
Mir entging nicht der kurze, besorgte Blick, den sie mir zu warf, bevor sie den Motor startete.
*
Nur zwei Abende später, war es soweit. Die wichtige Modenschau stand vor der Tür und wartete auf uns, die Models in Empfang zu nehmen und ihnen die Kleidungsstücke zu reichen, die zu ihnen gehörten.
Da sich meine Arbeit gehäuft hatte und alles zu hektisch verlief, um mich über das Vergangene nachdenken zu lassen, vergaß ich das komische Verhalten meiner besten Freundin und richtete meine gesamte Aufmerksamkeit auf die Kollektion, die ein voller Erfolg werden musste.
Leider schien Cherry nicht das Selbe zu denken, denn nur wegen ihr waren wir nun zu spät, an einem Abend, der unsere Karriere beenden könnte. Zu meinem Entsetzen nahm sie das jedoch lockerer als ich, machte den Anschein, als würde ihr plötzlich alles egal sein. Selbst die Tatsache, dass sie mit dieser Modenschau ihre Wohnung finanzierte, ließ sie kalt. Stattdessen hatte sie sich wichtigeren Dingen zugewandt, bei denen ich nur den Kopf schütteln konnte.
„Jetzt beeil' dich doch endlich, Cherry“, murrte ich genervt, woraufhin meine Freundin leise lachte.
„Entspann' dich, Süße. Wir sind fünf Minuten zu spät. Ihr wird es doch gar nicht auffallen.“
„Das denkst du“, schnaufte ich. „Bennett erwartet uns. Denkst du wirklich, die eigene Veranstalterin bemerkt nicht, wenn ihre Mitarbeiter fehlen?“
Cherry verdrehte ihre Augen, richtete den Lidstrich über ihrem Auge und drehte sich in meine Richtung. Anschließend steckte sie den kleinen Handspiegel wieder in ihre Handtasche.
„Du bist heute richtig langweilig, Sky.“
„Langweilig? Cherry! Ich versuche nur, meinen Job ordentlich zu machen.“
Sie wiederholte sich.
„Langweilig.“
Anschließend stapfte sie an mir vorbei, lächelte kokett und trieb mich in den Wahnsinn. Ihre heutige Laune, die pure Arroganz die sie ausstrahle, war kaum auszuhalten und das alles nur wegen einem bescheuerten Laufstegs, auf dem sich Models gegenseitig mit ihren Blicken töteten und nach dem besten Designer Ausschau hielten, um eventuell einen neuen Job an Land zu ziehen.
Heute war es endlich soweit.
Monatelang hatte man auf diesen Abend gewartet, Blut und Wasser geschwitzt und sich bis in die Nächte hinein nur um die Arbeit gekümmert: für das heutige Ergebnis. Der Abend an dem Miss Bennett endlich ihre neue Kollektion vorstellen würde.
Dieser verdammte Abend war der Grund, weshalb uns Miss Bennett die letzten Wochen wie aufgescheuchte Hühner von einem Punkt zum anderen gehetzt hatte.
Mir war dieser Job wichtig, schließlich bezahlte ich mit ihm meinen Unterhalt. Ich wollte das Ganze nicht aufs Spiel setzen, nur, weil die Dame vor mir unzufrieden mit ihrem Make-Up war. Schließlich war Cherry kein Model, die in gefährlich hohen Schuhen über den weißen Steg laufen musste, nein. Sie kümmerte sich lediglich um Kabine eins und half einigen Models, ihre Kleidung zu richten, beziehungsweise sie anzuziehen, ohne irgendetwas kaputt zu machen.
Aber für Cherry war jeder Auftritt eine Gelegenheit, sich hübsch zu machen.
Wir wollen sie schließlich alle beeindrucken, hatte sie vor wenigen Minuten gesagt.
Beeindrucken. Das mussten wir sie tatsächlich. Jedoch war das nicht unsere Aufgabe, sondern die der hübschen, langbeinigen Ladys.
Während wir die Stufen zum großen Saal hinauf huschten, war überall bereits die Hölle los. Menschen hasteten von links nach rechts, Kunden versuchten, den besten Platz zu erhaschen und andere wollten nur einen weiteren Drink. Ich könnte schwören, dass manche nur deswegen gekommen waren.
Ich blickte zu meiner Freundin, während wir die Stufen hinaufstiegen, die mit rotem Stoff überzogen waren. Cherry trug ein hübsches, blaues Cocktailkleid. Ihr Rücken lag offen, zeigte ziemlich viel Haut von ihrem reizenden Körper. Da war es kein Wunder, dass Männer in ihre Richtung blickten und zu flirten begannen. Darauf achtete sie jedoch nicht. Sie schritt einfach weiter geradeaus und schenkte jedem Besucher ein strahlendes Lächeln.
„Jetzt mach' doch nicht so ein Gesicht“, unterbrach Cherry meinen Gedankenfluss. „Du siehst wundervoll aus.“
Ich sagte nichts. Jetzt mit ihr zu diskutieren würde nichts bringen, denn, obwohl ich ein sehr kritischer Mensch war, lag sie im Recht. Trotz der Tatsache, dass ich mich gegen ein Kleid entschieden hatte, sah ich nicht schlecht aus. Ich trug einen schwarze Buntfaltenhose, dazu ein blaues, etwas längeres Seidenhemd und einen dunklen Blazer. Entgegen Cherrys Aufforderungen hatte ich die Pumps abgelehnt und mich für dunkelblaue Ballerinas entschieden. Schließlich musste ich ständig von A nach B rennen und solch hohe Schuhen waren recht unpassend dafür.
Im Gegensatz zu meiner Freundin war ich in solchen Dingen ein Tollpatsch. Während sie wie ein Profi in hohen Schuhen herumspazierte, musste ich auf jeden einzelnen Schritt achten. Vor einer Blamage wollte ich mich auf jeden Fall bewahren. Dazu war der Abend zu wichtig. Mein Boss würde mich umbringen.
Wo wir gerade dabei waren. Dort stand sie: Grimmig dreinblickend, die Arme vor der Brust verschränkt und auf dem Absatz der Treppe stehend – gefährlich hin und her wippend.
„Sie kommen recht spät“, kommentierte sie unser Erscheinen. „Ich hoffe, Sie wissen, wie wichtig diese Veranstaltung für uns ist.“
„Natürlich“, antwortete ich ihr. „Wir werden uns sofort an die Arbeit machen.“
Miss Bennett schnaufte, blickte unzufrieden zwischen uns hin und her. Offenbar hatte sie etwas mehr von uns erwartet.
„Das hoffe ich. Gehen Sie.“
„Natürlich.“
Cherry griff nach meiner Hand, bevor sie mich kichernd mit sich zog.
„Die Alte wird auch jeden Tag netter.“
Überrascht hob ich meine Braue, musterte meine hübsche Freundin. Was war denn heute mit ihr los? So kannte ich sie ja gar nicht.
„Hast du getrunken, Cherry?“, fragte ich schließlich, bevor sie verärgert mit den Zähnen knirschte.
„Versuchst du gerade, meine gute Laune kaputt zu machen?“, kommentierte sie, worauf ich empört stehen blieb.
„Was? Das würde ich niemals tun!“
„Das war doch nur ein Scherz. Komm' runter, Süße“, lachte sie, bevor sie erneut nach meiner Hand griff und mich weiter zog. Eine bekannte Stimme zwang uns stehen zu bleiben.
„Da seid ihr ja endlich!“
„Oh. Michelle. Entschuldige bitte. Wir wurden aufgehalten“, lächelte ich sanft, worauf sie zwei verschiedene Kleider in Cherrys Richtung drückte. Netterweise ignorierte sie mich.
„Du warst dafür zuständig. Regel' das endlich! Ich weiß nicht, wann ich welches Kleid tragen muss. Außerdem sind die Bänder am Hals viel zu eng. Das bekomme ich niemals in der vorgegebenen Zeit ausgezogen.“
Michelle klang wütend, äußerst hektisch, was aber auch kein Wunder war. Das Model saß bereits seit ungefähr einer Stunde in der Garderobe und wartete darauf, dass Cherry ihr mit der Planung der Outfits half. Normalerweise mussten auch wir so früh hier sein. Ich konnte durchaus verstehen, dass Miss Bennett so unzufrieden mit uns war.
„Ich kümmere mich darum“, Cherry drehte sich zu mir. „Wir sehen uns später, Sky.“
Mit diesen Worten verschwand sie mit der jungen Frau, die alles andere als begeistert aussah.
Kopfschüttelnd drehte ich mich auf dem Absatz um und durchquerte einen kleineren Saal. Hier wurden Getränke und einige kleine Speisen serviert. Sitzgelegenheiten wurden geboten – meist für die Betrunkenen unter den Besuchern.
Ohne noch weiter auf diesen Raum und den Besuchern einzugehen – sie warfen mir einen fragenden Blick zu, als ich an ihnen vorbei rannte –, hastete ich mit gezielten Schritten an der Bar vorbei, kletterte hinter dieBühneund zog den weißen, bodenlangen Vorhang hinter mir zu, der Garderobe zwei von den Besuchern trennte. Während Cherry in Umkleide eins verschwunden war, musste ich mich um die Probleme hier kümmern, die hoffentlich schnell gelöst werden konnten. Überall wimmelte es von halbnackten Frauen. Einige steckten noch in der Maske, während andere sich bereits in das erste Kostüm zwangen. Obwohl sie bereits so lange hier waren, schien alles unfertig. Sarah, eine dunkelhaarige Dame, keuchte heftig und versuchte, den Reißverschluss ihres Kleides zu schließen. Sofort eilte ich ihr zur Hilfe.
„Danke, Skylar. Alleine ist das einfach unmöglich“, murrte sie, schenkte mir dennoch ein freundliches Lächeln. Es freute mich, dass wenigstens eine gute Laune verbreitete.
„Wenn du von der Bühne kommst, werde ich auf dich warten“, versprach ich ihr. „Ich werde dir dann auch wieder heraus helfen. So wird das Umziehen zum Kinderspiel.“
Sie nickte, wandte sich anschließend wieder von mir ab und huschte hinüber zu den Stylisten. Perfekt, das wollte sie für die Kameras sein. Das wollte jedes Model.
Die Modelinie von Miss Bennett war sehr populär und bedeutete nicht nur viele Kameras. Eine Menge Berühmtheiten begaben sich auf den Weg, um heute Abend hier zu sein zu können.
Meine Chefin wollte ihre Kreationen nicht nur zeigen, sondern gleich unter die Leute bringen und verkaufen. Diese Auktion war wirklich wichtig für sie.
Es ging ein Flüstern durch die Agentur, dass dieser Abend als Rettung unserer Gehälter galt. Offenbar litt unsere Chefin unter enormen Geldsorgen, aber was bedeutete schon die Gerüchteküche, in der das herum posaunt wurde.
Wäre das tatsächlich wahr, hätte das bereits einige den Job gekostet.
„Oh mein Gott“, keuchte plötzlich Mila, ein weiteres Model.
Sasha feixte: „Was denn? Passt du nicht mehr in dein Outfit? Ist dein Arsch zu fett geworden? Ich habe dir schon mal gesagt, dass du dich lieber mit Karotten, als mit Chips vergnügen solltest.“
Mila funkelte ihre Mitstreiterin empört an, bevor sie ihr kindisch die Zunge heraus streckte.
„Nein. Komm' einfach mal herüber und sieh' es dir selbst an.“
Das ließ sich Sasha nicht zwei mal sagen.
„Mädels“, sprach ich laut, „ihr könnt ja miteinander plaudern, aber bitte erst, nachdem ihr fertig seid. Ich weiß, ich bin zu spät gekommen, aber das bedeutet nicht, dass ihr euch eine Verzögerung leisten könnt.“
Doch die Beiden hörten mir gar nicht zu. Mila hob einen Teil des weißen Vorhanges zur Seite, sodass Sasha in die Menge blicken konnte. Hatten sie etwa eine Berühmtheit entdeckt?
Das war doch nichts Neues. Ständig waren irgendwelche Promis auf unseren Events.
„Krass!“, schluckte diese, errötete stark. „Wer ist er denn?“
Verwirrt blickte ich zu Sarah, die nun ebenfalls hinüber schritt.
„Oh mein Gott“, wiederholte sie Milas Worte. „Der ist ja total heiß!“
„Er ist bestimmt wegen der Kollektion hier“, säuselte Virginia und spielte mit ihren hellen Locken.
Mila stöhnte auf: „Natürlich ist er das, Dummkopf. Das ist eine Modenschau. Weswegen sollte er sonst hier sein? Zum Ziegen hüten?“
„Hast du mich gerade dumm genannt?“, fauchte die Blonde, funkelte ihre Kollegin verärgert an.
Ich musste einschreiten, ansonsten würden gleich die Fetzen fliegen. Diese Mädchen waren zwar dünn und schmächtig, konnten im Notfall aber auch gegen einen Löwen bestehen.
„Hört auf damit“, befahl ich laut, drängte mich zwischen sie und drückte die Mädchen auseinander. „Ich will, dass ihr euch auf euren Job konzentriert, verstanden? Wir sind hier doch nicht im Kindergarten!“
Sasha war die Erste, die sich abwandte und zurück in der Maske verschwand, um sich noch einmal die Wimpern tuschen zu lassen. Es blieb nicht mehr viel Zeit und sie musste hervorragend aussehen!
Jedoch spürte ich die Neugier in mir, die die Mädchen geweckt hatten. Nun war ich diejenige, die den Vorhang hob und in die Menge blickte.
So gut wie jeder Platz war besetzt und hier den Überblick zu behalten war wirklich sehr schwer. Ich hegte großen Respekt für die Personen, die für die Planung zuständig waren.
Erwartungsvoll suchte ich die Plätze ab, erblickte jedoch niemanden, den ich zuvor noch nicht gesehen hatte oder in meinen Augen interessant wirkte.
„Rechts“, kicherte Virginia. „Schau nach rechts, dann siehst du den Leckerbissen.“
Ich folgte ihrem Ratschlag und erstarrte. Das konnte doch nur ein Scherz sein!
„Das ist nicht wahr“, flüsterte ich leise und spürte, wie mein Herzschlag sich verdoppelte.
Dort hinten, in der letzten Reihe, lehnte ein Mann an der Wand, der meinen Verstand vollkommen aus dem Konzept brachte. Es handelte sich um den Mann, der mir seit Tagen durch den Kopf schwirrte. Koen.
„Fuck“, fluchte ich, bevor ich den Vorhang wieder fallen ließ.
„Heiß, nicht?“, kicherte Sarah, die sich auf ihren Platz stellte.
Sie war die erste Läuferin.
Während ich nervös auf meiner Lippe herumkaute, huschte Cherry an meine Seite. Im Schlepptau hatte sie den Rest der Models, gestylt und bereit für den Showdown. Trotz der Verzögerung sahen sie gut gelaunt und entschlossen aus. Sie würden gut sein, das wusste ich.
„Mach' dich nicht so fertig“, lächelte sie mir aufmunternd zu. „Es wird alles super verlaufen.“
„Cherry. Er ist hier“, platzte es laut aus mir heraus, worauf ich mir sofort die Hand vor den Mund schlug. Der Blick meiner besten Freundin verriet mir, dass sie keine Ahnung hatte, wovon ich eigentlich sprach.
„Koen. Der komische Kerl aus der Gasse! Man, Cherry. Er ist hier.“ Obwohl ich die Nervöse von uns beiden war, zog meine Freundin ihre Stirn in Falten. Sie schien darüber nicht sonderlich glücklich zu sein. Eigentlich rechnete ich mit einer anderen Reaktion. „Cherry?“
„Du irrst dich“, behauptete das Mädchen schnell. „Du musst dich täuschen.“
„Verarscht du mich? Ich bin doch nicht blind!“, fauchte ich zickig.
Was, zum Teufel, war nun mit ihr los? Wieso benahm sie sich so komisch und gab mir das Gefühl, mich zu täuschen? Ich hatte Koen gesehen, egal was sie mir einreden wollte, und das könnte ich ihr auch beweisen! Himmel, ich wusste nicht einmal, wieso ich einen Beweis dafür brauchte. Vertraute sie nicht einmal mehr auf die Worte, die ich von mir gab?
„Sky. Bitte, halte dich einfach -.“
„Miss Broderick! Folgen Sie mir bitte“, bellte Miss Bennett, die wütend auf der anderen Seite stand.
Ich spürte das Zögern ihrerseits, doch sie seufzte und nickte anschließend bedrückt. Was lief hier falsch? Fragend blickte ich in ihr Gesicht, doch sie schüttelte nur ihr Haupt. Erneut. Eine Antwort blieb sie mir schuldig.
Was soll das bedeuten, Cherry?
Miss Bennett zeigte auf ein Zimmer am anderen Ende des Flures und Cherry folgte ihrer Anweisung. Ich hingegen hob noch einmal den Vorhang und blickte direkt zu Koen, der zum Gehen ansetzte. Er drückte sich von der Wand ab und verschwand im kleineren Saal, der direkt neben der Eingangshalle lag.
Mir kam erneut der Vorfall in der Gasse in den Sinn. Das hier war meine Chance. Auf eine weitere konnte ich nicht hoffen und wenn Cherry mir nicht helfen wollte, musste ich eben alleine nach meinen Antworten suchen.
„Skylar! Wir brauchen dich“, rief Sarah, als ich aus der Garderobe verschwand.
Ich schob den Gedanken einfach von mir. Mir war egal, welche Folgen das haben würde und das ich meine Prioritäten, die ich vorhin noch von Cherry verlangt hatte, von mir stieß, als wären sie Gift.
Hastig stieg ich die wenigen Treppen hinunter, bevor ich ebenfalls in den Saal schritt. Neugierig sah ich mich um und suchte nach dem Schönling, konnte ihn aber nicht finden. In meinem Kopf ging ich alle Möglichkeiten durch, wohin er hätte verschwinden können, kam jedoch zu keinem klaren Ergebnis. Also entschloss ich, den Raum zu verlassen und zum Foyer zu gehen, wo ich ihn schließlich erspähen konnte.
Was wollte er im Angestelltentrakt?
Er bog in eines der Zimmer und ich erhöhte mein Tempo. Keuchend stürzte ich in den Raum, bereit, ihn zur Rede zu stellen. Doch hier herrschte vollkommene Leere.
„Unmöglich“, schluckte ich leise und schritt etwas weiter hinein.
Hier war nicht viel zu finden. Alte Möbel standen in der linken Ecke des Zimmers. Offenbar benutzte man diesen Raum als Abstellkammer für größere Gegenstände. Auf der anderen Seite standen Putzgegenstände, alte Kerzenständer und sonstiger Kleinkram, der sonst in anderen Räumen des Hauses verteilt war.
Enttäuscht seufzend wandte ich mich von den Dingen ab. Wegen ihnen war ich nicht hier. Jedoch war der Mann, den ich gesucht hatte, ebenfalls nicht aufzufinden.
Um den Raum wieder zu verlassen drehte ich mich um, wo mich schließlich der Schlag traf. Erschrocken wich ich zurück. Koen blickte mich mit harten Augen an, war nahe bei mir gestanden.
Warum hatte ich ihn nicht bemerkt? Mit einem Ruck stieß er mich unsanft gegen die kühle Wand, verbarrikadierte meinen Fluchtweg mit seinem Körper.
„Wieso verfolgst du mich?“, fragte er bedrohlich, stützte seine Arme neben mir an die Wand.
Er wollte meine Flucht tatsächlich verhindern, was in meinen Augen unglaublich dämlich erschien. Ich war ihm schließlich nicht gefolgt, um ihn anschließend einfach stehen zu lassen.
Mein Mund öffnete sich, doch ich bekam keinen Ton heraus.
„Habe ich dir etwa die Sprache verschlagen?“, fragte er plötzlich frech.
Dieser böse Ausdruck in seinem Gesicht war verschwunden. Stattdessen erkannte ich ein breites, selbstgefälliges Grinsen auf seinen Lippen. Er wollte also spielen.
„Minze täte dir wirklich nicht schlecht“, antwortete ich, versuchte cool zu bleiben.
Was war das denn für ein bescheuerter Spruch?
Er lachte, beugte sich etwas weiter zu mir hinunter. Ich spürte seinen Atem auf meiner Haut, seine Finger die meine Schulter streiften.
Oh Gott! Für einen Moment fühlte ich mich wie ein verliebter Teenager, der aus Angst, seinem Schwarm gegenüber zu treten, weiche Knie bekam. Obwohl ich felsenfest daran glaubte, keinerlei romantischen Gefühle für diesen arroganten Schnösel zu verspüren – das war unmöglich, immerhin kannte ich diesen Mann kaum –, fiel mir kein anderes Beispiel ein, dieses Durcheinander in meinem Inneren zu erklären.
„Ich will Antworten“, es war kaum ein Flüstern. „Antworten auf meine Fragen. An diesem Tag in der Gasse. Was war mit deinen Augen?“
Innerlich wollte ich mich dafür schlagen. Das war ernsthaft meine erste Frage an ihn?
Ich spürte seine Stirn auf der meinen, seinen heißen Atem an meinen Lippen. Hitze schoss in mir empor. Warum berührte er mich auf diese Weise? Weshalb ließ ich das überhaupt zu?
Ich hatte einen Kurs für Selbstverteidigung besucht und doch schien all das Wissen darüber verschwunden zu sein.
Die Hitze in mir breitete sich aus, zwang eine helle Röte auf meine Wangen.
„Du willst also die Wahrheit, kleines Mädchen?“
Wie in Trance hob ich meine Hände, legte sie vorsichtig auf das graue Hemd welches er trug.
„Koen“, hauchte ich seinen Namen verträumt.
Meine Kopfhaut prickelte, als seine Hand an meinem Arm hinab wanderte und mein Handgelenk umfasste. Das Herz schlug mir bis zum Hals, als seine Lippen meine Wangen streiften. Ein Wimmern entfloh mir, während ich sanft über seine Brust fuhr, deutlich die Muskeln unter dem Stoff spüren konnte.
„Die Wahrheit“, flüsterte er leise, biss mir zart in mein Ohrläppchen, „erträgst du nicht.“
Mit diesen Worten löste er sich von mir, ließ mich wie eine heiße Kartoffel fallen und ging auf die Tür zu.
Erschrocken starrte ich ihn an. Das konnte nicht sein ernst sein. Wie konnte dieser Mann mich in solch einer Situation einfach fallen lassen? Koen hatte mich ins Messer rennen lassen und das, ohne mir Bescheid zu sagen, das eines existierte. Verflucht, weswegen beschwerte ich mich eigentlich?
Der Druck an meinen Lippen wurde größer, da sich meine Zähne in das weiche Fleisch bohrten.
Irgendwie schaffte ich es, mich aufzufangen, bevor ich ihm mit schnellen Schritten folgte und seinen Arm umfasste.
„Du kannst nicht einfach verschwinden! Ich will meine Antworten.“
Koen blickte mich belustigt an, fuhr mit den Händen in seine Hosentasche.
„Es gibt keine Antworten. Das, was du denkst, gesehen zu haben, war bloß Einbildung. Du hattest Angst“, sprach er mit ruhiger Stimme, als würde er sich mit einem Kind unterhalten.
Zornig zog ich meine Brauen zusammen, stupste ihm grob mit dem Finger gegen die harte Brust.
„Ich bin doch nicht bescheuert“, schnaubte ich. „Ich weiß ganz genau, was ich gesehen habe. Wieso versucht ihr mir alle etwas anderes einzureden?“
Koen schenkte mir ein Grinsen, bevor er sich gekonnt von mir löste.
„Jetzt warte doch!“
Als jemand in das Zimmer gestürmt kam, dabei fast Koen über den Haufen rannte, schreckte ich zurück. Vollkommen aus der Puste musterte mich die Frau und verzog anschließend ihr Gesicht zu einer Grimasse.
„Coleman! Bennett sucht dich!“, keuchte Serena, bevor ihr Blick zu Koen glitt. Der gehässige Ausdruck in ihren Augen verschwand, machte Platz für etwas anderes. Cool lehnte sie sich gegen den Türbogen, schenkte Koen dabei ein niedliches Lächeln.
Gott, ich glaube ich muss mich übergeben!
„Sag' ihr, ich komme gleich“, antwortete ich ihr. „Ich habe etwas zu erledigen.“
„Wir sind fertig“, mischte sich Koen ein, ging, ohne Serena eines Blickes zu würdigen, durch die Tür und verschwand anschließend um die Ecke.
„Warte!“, rief ich laut, bevor ich ihm hinterher hasten wollte. Doch meine Arbeitskollegin schien das nicht sonderlich gut zu finden. Sie packte und zog mich zurück.
„Ich finde nicht gut, was du hier treibst“, knurrte sie. „Er ist ein sehr wohlhabender Kunde und ich will nicht, dass er abspringt, nur, weil er von so einer wie dir belästigt wird.“
Ihre Beleidigung interessierte mich nicht. Ich wollte einfach nur an ihr vorbei und Koen aufhalten. Doch sie hielt an mir fest wie eine Klette und zwang mich, meine wertvolle Zeit mit ihr zu verschwenden.
„Ich muss ihm nach“, stellte ich klar, doch sie lachte.
„Du wirst ihn doch eh nicht ins Bett bekommen. Lass' es einfach bleiben.“
Wütend hob ich meiner Hand und verpasste ihr eine schallende Ohrfeige.
„Hör' sofort auf, so mit mir zu reden. So redet man mit Niemandem und nicht einmal du hast das Recht mich hier festzuhalten, okay? Lass' mich einfach in Ruhe. Du hast doch selbst Arbeit, die du zu verrichten hast.“
Ihr Gesicht wurde blass und ihre Hände ballten sich zu Fäusten. Sie stand kurz davor zu platzen.
„Entschuldige mich, Serena.“
Mit diesen Worten schoss ich an ihr vorbei und huschte den breiten Flur entlang. Nervös blickte ich umher und versuchte den Mann zu finden, der mir gerade entwischt war. Ich brauchte meine Antworten, musste wissen, ob ich wirklich verrückt wurde!
Ich wusste genau, dass da etwas nicht stimmte. Auch, wenn ich mich dort vielleicht nicht einmischen sollte. Ich musste einfach die Wahrheit erfahren, egal was es kostete. Es knabberte an mir und zerrte an meiner Konzentration. Nachts konnte ich kaum meine Augen schließen, ohne diesen Mann zu sehen. Es machte mir Angst, das gab ich offen zu, so sehr, dass ich mit dem Schlafen wartete, bis ich keine Kraft mehr besaß. Und das nur, um weder seine Fangzähne, noch die rot glühenden Augen sehen zu müssen.
So konnte das nicht mehr weiter gehen.
In Windeseile trugen mich meine Beine hinauf in den Hauptsaal, wo die Show bereits im vollen Gange war. Doch dort war Koen nirgends zu sehen. Er musste sich zu den Besuchern gesetzt haben. Unauffällig gesellte ich mich zu den Menschen, die um den Laufsteg saßen, das Geschehen freudig beobachteten und applaudierten. Mein Blick flog für einen kurzen Moment zu Sarah, die über den Laufsteg spazierte, als würde sie tanzen. Fantastisch. Sie sah wunderschön aus.
Seufzend schüttelte ich meinen Kopf. Ich hatte nun wirklich keine Zeit dafür.
Mein Blick studierte den Raum, während ich Ausschau nach dem Dunkelhaarigen hielt, bis ich ihn schließlich fand. Er saß links von der Bühne aus neben einem Mann, mit dem er offenbar vertraut war. Die Beiden flüsterten leise miteinander, wirkten dabei aber weder glücklich, noch amüsiert. Waren sie tatsächlich für die Show hier her gekommen oder bildete ich mir die abwesenden Blicke nur ein, die sie über die Mädchen schweifen ließen?
Leise, wie eine Katze, schlich ich hinter den Stühlen umher und versuchte mir nichts anmerken zu lassen.
Mensch, Sky. Als würde er aufspringen und das Weite suchen, wenn du auch nur in seine Nähe kommst.
Ich hatte ihn fast erreicht, als plötzlich die Musik stoppte. Ein irritiertes Geflüster ging durch den die Reihen, während Michelle, das Mädchen welches nun auf der Bühne stand, vollkommen überfordert den Steg verließ. Was war denn jetzt los? Miss Bennett betrat die Bühne und verbeugte sich tief. Ich las in ihrem Gesicht, dass der gesamte Auftritt aus dem Ruder lief.
„Es tut uns schrecklich leid. Offenbar gibt es technische Probleme. Wir bitten herzlichst um Entschuldigung“, sagte sie laut und freundlich, dennoch erkannte man, wie wütend sie war. Verständlich, schließlich schuftete sie für diesen Tag wie eine Wilde und nun wurde alles durch einen Technikfehler zu Nichte gemacht. Bennett wollte nichts als Perfektion.
Das Mikrofon in ihrer Hand zitterte. Ihre Wangen erröteten stark.
„Wir brauchen keine Entschuldigung“, warf plötzlich ein Mann ein.
Er betrat zusammen mit zwei anderen Männern und einer blonden Frau die Bühne. Im Augenwinkel konnte ich Koen sehen, wie er sich verkrampfte und langsam neben sich griff.
Was, zum Teufel, passierte hier?
„Wer sind Sie? Verlassen Sie sofort die Bühne“, befahl meine Chefin, doch die Frau lachte.
„Oh nein. Derjenige der verschwinden wird, bist du“, grinste sie.
Mit einem Ruck ließ sie ihre Hand nach vorne gleiten, umfasste mit dem Arm den Kopf meiner Chefin und biss wie ein wildes Tier in ihren Hals. Panische Schreie erklangen, als die Frau sich in das Haar ihres Opfers krallte und der Körper leblos zu Boden fiel – kopflos. Erschrocken hielt ich mir die Hand vor den Mund, versuchte, die aufkommende Übelkeit von mir zuschieben. Mein Herz schlug mir bis zum Hals, brachte meinen Körper dazu, zu erstarren. Ich wollte rennen, von hier fliehen, doch ich konnte mich einfach nicht bewegen.
Menschen erhoben sich und rannten hinüber zu den Türen. Jeder wollte so schnell es ging hier hinaus. Eine Frau stolperte über einen der Stühle, fiel hin und als sie erneut einen Blick auf das scheußliche Bild warf, übergab sie sich. Obwohl sie dort lag, hilflos und den Tränen nahe, blieb niemand stehen, um ihr zu helfen. Jeder kümmerte sich um sich selbst.
„Aber, aber“, kicherte der größte Mann von ihnen. Sein langes Haar fiel ihm struppig ins Gesicht, was ihn nicht zu stören schien. „Wer wird denn bitte die Party so früh verlassen wollen? Sie hat doch gerade erst angefangen.“
Er stemmte sich vom Boden ab, sprang hinüber zu den Gästen, die fliehen wollten. Ich konnte kaum hinsehen. Alles, was ich bemerkte, war das Herz in seiner Hand und der zweite Körper, der leblos
zu Boden glitt. Die Schreie wurden lauter, ein Paar drückte sich panisch gegen die Wand, Hand in Hand, wissend, dass sie nicht entkommen konnten. Ein anderer Mann kauerte hinter dem Vorhang, versuchte dem Stoff zu entkommen, was ihm durch die ruckartigen Bewegungen nicht gelang. Tränen benetzten seine Wangen, als eine Frau an ihm vorbei eilte, nicht einmal einen Blick auf ihn warf. Sie stolperte über die lange Schleppe ihres Kleides, stürzte die wenigen Treppen hinab und blieb ohnmächtig auf dem Boden liegen.
„Oh. Da waren es zwei.“
Ich spürte eine Hand auf meinem Mund, die mich davon abhielt, laut zu schreien.
Es war Koen: „Ich bin bei dir. Mach' jetzt ja keinen Laut.“
Angst umschloss meinen Körper, ließ meine Beine zittrig werden. Ich konnte mich nicht mehr auf den Beinen halten, was Koen leise zum Fluchen brachte.
„Wir suchen jemanden“, rief die Frau laut, bevor sie einem älteren Mann mit einem Handgriff das Genick brach. „Wer von euch ist Skylar Coleman?“
Mein Hirn setzte für einen Moment aus. Das Blut gefror in meinen Adern und für einen kurzen Augenblick verspürte ich die panische Angst, in Ohnmacht zu fallen. Wenn ich jetzt das Bewusstsein verlieren würde, wäre das mein Todesurteil.
„Ich bin Skylar“, folgte daraufhin die Stimme meiner Freundin.
War das ein Scherz? Das konnte doch nur ein schlechter Scherz sein! Während Koen mich auf den Beinen hielt und versuchte, mich unauffällig nach hinten zu schieben, hatte sich Cherry ebenfalls auf die Bühne begeben. Stur blickte sie diese Verrückten an. Ich erkannte keinerlei Angst in ihren Augen. Vielleicht lag das auch an den Tränen, die meine Sicht verschleierten.
„Du?“
Einer der Männer schien skeptisch, ging dennoch langsam auf sie zu. Mein Verstand schlug Loopings und ich warf all die Vernunft von mir, die ich letztendlich noch in mir finden konnte.
„Che -.“
Koens Griff wurde fester und verweigerte mir das Rufen ihres Namens.
„Ich sagte still“, zischte er leise. „Vertrau mir.“
Wie sollte ich das? Wie konnte ich einem Fremden vertrauen? Ich wusste nicht, was das hier zu bedeuten hatte, aber ich wusste, dass ich meiner besten Freundin helfen musste. Diese Menschen waren gefährlich und ich würde nicht zulassen, dass sie Hand an meine Freundin legten. Sie war doch die einzige Familie, die mir blieb!
„Was wollt ihr von mir?“, erkundigte sich Cherry stark, woraufhin einer der Typen sie lachend am Arm packte.
„Du bist nicht das Mädchen, das wir suchen“, grinste er schelmisch und ich konnte deutlich sehen, dass er den Druck des Griffes verstärkte. „Nur ein Narr würde uns belügen. Wer bist du?“
Doch anstatt Angst zu zeigen und weglaufen zu wollen, grinste Cherry.
„Eine Jägerin. Du legst dich mit der Falschen an.“
„Steve! Verpiss' dich von ihr!“, schrie sein Kamerad, doch es war zu spät.
Wie aus dem Nichts zog Cherry einen Pfahl herbei, drehte sich zusammen mit dem Mann und rammte ihm das Stück Holz durch die Brust. Erneut würgte ich, drücke Koens Hand fester gegen meine Lippen.
„Du Miststück!“, kreischte das Mädchen, welches jedoch von einem Dolch niedergestreckt wurde. Er wurde ihr geradewegs durch den Hals geworfen. Ich erkannte den Typen, der vorher noch bei Koen gesessen hatte.
Die beiden Männer, die übrig blieben, fluchten laut. Der eine sagte etwas, doch ich konnte nicht mehr verstehen, was es war. Koen zerrte mich unsanft aus dem Raum, ohne das jemand von ihnen etwas bemerkte.
„Keine Sorge“, flüsterte er leise. „Alles wird -.“
Ich schrie, als ich zu Boden gerissen wurde. Eine weitere Frau tauchte wie aus dem Nichts auf und hielt den Hals von Koen fest umklammert. Ein breites Grinsen zierte ihre blutverschmierten Lippen.
„Koen!“
„Schnauze, Miststück“, fauchte sie, während sie den Druck verstärkte.
„Du riechst so gut“, hörte ich eine andere Stimme an meinem Ohr flüstern und verkrampfte mich.
Jemand packte mich an den Schultern und im nächsten Moment spürte ich einen starken Schmerz an meinem Hals. Laut schrie ich und versuchte den Mann von mir zu drücken. Doch dieser ließ nicht locker und versenkte sein Zähne tiefer in meinem Fleisch. Ein grässlicher Gestank drang in meine Nase, brachte meinen Magen erneut zum Rebellieren. Es roch nach verfaultem Obst und schimmeligen Käse. Meine Sicht verschwamm langsam. Mir wurde so schummrig vor Augen und für eine kurze Sekunde wurde alles schwarz. Dann spürte ich plötzlich einen pochenden Schmerz in meiner Magengrube. Ich schmeckte Blut.
Alles geschah so unglaublich schnell.
„Fass' sie nicht an!“
Die Frau schrie und kurz darauf war ich frei. Schluchzend drückte ich meine Hand auf die Wunde, spürte die warme Flüssigkeit, die mir an den Fingern hinab glitt, sich in meinen Blazer sog. Doch nicht nur dort verbreitete sich die rote Farbe. Vor mir lagen Menschen – tote Menschen. Ich wollte sie nicht sehen, konnten den grausamen Anblick nicht ertragen, weswegen ich die Augen schloss. Erneut schluchzte ich, wippte langsam hin und her. Erinnerungen schossen durch meinen Verstand und nisteten sich dort ein. Ich wollte sie verdrängen, doch es ging einfach nicht. Deutlich konnte ich das beige Nachthemd erkennen, ummantelt von dunklem Blut: Dem Blut meiner Mutter.
Plötzlich schlang jemand seine Arme um meine Schulter und drückte mich an dessen schmächtigen Körper. Ich erkannte sie an dem süßlichen Duft ihres Parfüms. Cherry.
„Es ist alles wieder gut“, redete sie sanft auf mich ein. „Du brauchst keine Angst mehr haben. Niemand wird dir wehtun. Wir beschützen dich.“
Schluchzend drehte ich mich zu ihr um, schloss sie fest in meine Arme. Ihr Kleid wurde mit Blut besudelt und obwohl mich der Anblick aufstoßen ließ, prüfte ich, so gut wie es ging, Cherrys Körper, ob sie verletzt war.
In ihrem Gesicht erkannte ich ein sanfte Lächeln, welches ich bereits so oft zu sehen bekommen hatte. „Es ist nicht mein Blut. Keine Sorge.“
Das war zu viel. Viel zu viel. Erschöpft und vollkommen von der Rolle ließ ich mich fallen, ehe ich dem Gefühl der Unendlichkeit nachgab und meine feuchten Augen schloss. Dunkelheit umhüllte mich und zog mich in einen kurzen, traumlosen Schlaf.
Bis ich schließlich meine Augen wieder öffnete und mich in einem dunklen Van wiederfand.
Tag der Veröffentlichung: 31.12.2015
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