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Kurzgeschichte

Das Leben als Daimon bzw. Schutzengel ist gelinde gesagt... nicht sehr spektakulär. Könnte man meinen. Mittlerweile habe ich eine gute Karriere hingelegt und über die Jahrzehnte viele Menschen während ihres kurzen Lebens begleitet. Auf Dauer ist das nicht nur anstrengend, es schlaucht auch. Tollpatschige, nervige Menschen vor einer Dummheit zu bewahren macht auf Dauer einfach nicht glücklich. In meiner Laufbahn als Schutzengel habe ich bereits viel erlebt, aber mein momentaner Schützling raubt mir schlichtweg den letzten Nerv. Wie kann man nur von einer Katastrophe in die nächste schlittern? Wenn das so weiter geht, verliere ich noch den Verstand!

Ich liege auf dem Bett meines neuen Schützlings und warte angespannt auf den nächsten Moment, wenn er wieder irgendetwas anstellt. Allzu lange kann es ja nicht mehr dauern. Das Gute ist, bei ihm wird es wenigstens nicht langweilig, allerdings ist es schon beängstigend wie oft er in die Falle tappt und sich ins Unglück stürzt. Und es nicht einmal bemerkt!!!

Ich strecke mich missmutig auf dem Bett aus und sehe zu ihm. Momentan macht er Hausaufgaben. Ein kurzer Moment der Ruhe. Zum Glück!

Ich verziehe meine Mund zu einer Grimasse. Na, ganz toll. Hat er echt vor hier zu masturbieren? Klar, ich verstehe schon, dass er in einer Phase steckt wo sein Penis sein bester Freund ist, aber zurzeit übertreibt er es wirklich.

Ich setze mich auf und schaue ihm unverhohlen zu. Wenn es wenigstens ein Mädchen wäre, dann hätte ich immerhin eine nette Aussicht, aber bei einem Jungen ist der Anblick nun mal weniger prickelnd.

Ich stehe auf und linse ihm über die Schulter, während er munter wichst. Ich ziehe eine Schnute und sehe ihn kurz an, ehe ich auf das Magazin vor ihm blicke. Ah ja, so viel also zu den Hausaufgaben, mein Lieber! Willst du doch noch sitzen bleiben?

Ich werfe einen genaueren Blick auf das Heft. Echt jetzt? Dieser Fußballspieler? Ich ziehe die Augenbrauen hoch und erschrecke einen Moment. Er sieht mir genau in die Augen. Ich schlucke und verharre einige Sekunden.

Ich trete irritiert einen Schritt zurück und atme tief durch. Was bilde ich mir hier eigentlich ein? Unsere Schützlinge können uns nicht sehen. Das wäre ja noch schöner!

Langsam schleiche ich wieder auf ihn zu und schaue ihm ins Gesicht. Er leckt sich über die Lippen, legt den Kopf in den Nacken und mit einem Blick auf seinen aufgerichteten Schwanz sehe ich, dass er gleich kommt.

Gesunder Junge. Ich grinse, schüttele den Kopf und schnipse ihm frech mit der Hand gegen die Stirn. Augenblicklich reißt er die Hand hoch. „Aua...“, brummt er und reibt sich über die Stirn.

Ich rege mich keinen Zentimeter, halte meine Hand vor mein Gesicht und betrachte sie entsetzt. Was war das denn?

Hastig gehe ich auf Abstand. Das behagt mir gar nicht. Was war das? Wieso konnte er das spüren?

Ich beobachte ihn, während er den Blick schweifen lässt. „Doch keine Fliege?“, fragt er und schaut sich aufmerksam im Zimmer um.

Ich drücke mich in eine Ecke des Raumes an die Wand und kann es immer noch nicht fassen. Was war das eben gerade? Wieso hat er es gespürt? Ich verstehe das einfach nicht.

Ohne sich weiter darum zu kümmern wichst er weiter. Ich beobachte ihn weiterhin skeptisch und lasse mich in die Hocke sinken. Irgendetwas stimmt hier nicht. Daimones sind nicht sichtbar. Es macht keinen Sinn, dass er mich bemerken oder gar spüren kann.

„Jonas!“

Ich zucke zusammen als ich die Stimme von draußen höre. Mein Schützling steht eilig auf, wischt sich die Hand an einem Taschentuch ab und rennt zum Fenster. Er öffnet es und beugt sich weit heraus. Nicht schon wieder! Dieser Trottel!

Ich eile zu ihm, packe ihn und halte ihn fest damit er mir nicht mal wieder auf den Rasen purzelt. „Yannis!“, ruft er fröhlich und winkt dem Jungen draußen zu. Der blonde Junge schaut zu uns auf und steht lässig auf der Straße. Innerlich seufze ich und hoffe, dass jetzt kein Auto vorbei kommt. Diese Kids heutzutage! Ich schiele zu Jonas und bin froh, dass er mich nun nicht zu bemerken scheint. Ich bemerke die heimliche Röte auf seinem jungen Gesicht und blicke nach draußen. Aha, daher weht der Wind also. Du hast dich in deinen besten Freund verguckt. Kleiner Schlawiner!

Ich lächele belustigt und als ich den Blick meines Schützlings bemerke, macht sich ein sehnsüchtiges Gefühl in mir breit. Ich erinnere mich noch an meine Zeit als Mensch, als ich noch die gleichen Gefühle inne hatte wie dieser kleine Zwerg hier in meinen Armen. Gefühle, die ich unterdrücken muss, weil ich nicht mehr zu ihnen gehöre.

Jonas drückt sich vom Fenster weg, schließt es und rennt durchs Zimmer. Ich trete zur Seite und sehe ihm zu wie er sich eilig die Fußballschuhe überstreift und nach seinem Ball greift.

Ich strecke die Hand nach ihm aus, schaffe es aber nicht rechtzeitig und seufze nur kopfschüttelnd, als er über einen offenen Schnürsenkel stolpert. Mürrisch setzt Jonas sich auf den Hintern und bindet sich den Schuh richtig zu.

Mein kleiner Möchtegernsportler richtet sich auf, ergreift den Fußball und rennt zur Tür. Ich komme rechtzeitig dort an und passe auf, dass er sich nicht auch noch auf der Treppe nach unten flachlegt.

Unten angekommen verabschiedet Jonas sich von seiner Mutter.

„Komm nicht zu spät nach Hause, Liebling! Es gibt Lasagne!“, ruft sie ihm zu.

„Jaaaaaa~!“, brüllt er und läuft zur Haustür.

Ich werfe einen flüchtigen Blick in die Küche. Ein kleines, kaum merkliches Lächeln, hat sich auf ihre Lippen geschlichen. Einen Moment lang bin ich imstande einfach hier stehen zu bleiben und sie weiterhin zu beobachten. Sie ist wirklich sehr schön. Eine hübsche Griechin mit strengen Gesichtszügen, die sich nur in solchen Momenten verflüchtigen und ihre wahre Schönheit preisgeben.

Ich gebe mir einen Ruck und eile Jonas nach. Ich könnte es mir niemals verzeihen, sollte Marias Sohn irgendetwas passieren. Sie liebt ihn und er ist ihr einziger Halt im Leben. Ihr kleiner Sonnenschein.

Jonas rennt auf Yannis zu und begrüßt ihn überschwänglich. Sie lachen und gehen in langsamen Tempo nebeneinander her, während sie sich einander den Ball zuschießen. Ich schlendere neben ihnen her und bemerke einen älteren Mann in einiger Entfernung, der sie interessiert mustert.

„Verpiss dich bloß!“, grummele ich und bleibe wütend vor ihm stehen. Schon öfter habe ich ihn hier in der Gegend bemerkt und würde ihm zu gerne mal ordentlich in den Schritt treten. Dieses perverse Schwein hat kein Recht dazu meinen Schützling so anzusehen. In mir kocht die Wut hoch. Ich gehe langsam auf Abstand, beobachte ihn und gehe meinem Schützling nach, der gerade belustigt Yannis in den Schwitzkasten nimmt. Der röchelt lachend und versucht sich zu befreien.

Die beiden laufen in eine Seitengasse und landen anschließend auf einem freien Feldweg. Zu beiden Seiten befinden sich wie in einer Allee Bäume und Sträucher. Der Boden ist erdig und der Kiesel knarzt unter den Turnschuhen der beiden Jungs.

Ich bleibe stehen und grummele, ehe ich genervt auf Leonidas zugehe. „Sehe ich aus wie ein Kindergärtner? Wieso kümmerst du dich nicht um deinen Schützling?!“, herrsche ich ihn gereizt an.

Leonidas sieht mich gelangweilt an und zuckt mit den Schultern. „Für das kurze Stück braucht er ja wohl kaum einen zweiten Schutzengel.“

„Er braucht dich! Was willst du machen, wenn ihm etwas passiert?“, meckere ich ungehalten.

„Tja, dann stirbt er und ich ebenfalls.“ Leonidas abwesender Blick fällt auf Yannis und mit einem Mal wird mir klar was in ihm vorgeht.

„Du legst es wirklich darauf an, nicht wahr?“, frage ich erschüttert. „Soll er sterben, nur weil du so eine Todessehnsucht hast?“

„Wenn er stirbt, höre ich auf zu existieren...“

„Du bist dazu verpflichtet ihn zu beschützen! Willst du etwa versagen?“

„Versagen oder nicht, wo besteht da der Unterschied?“, fragt Leonidas gelangweilt. „Ich lebe länger als du in dieser Schattenwelt. Ich erinnere mich schon gar nicht mehr an mein menschliches Dasein...“ Er blickt zu den Kindern, die zu dem Spielfeld und ihren Kameraden rennen.

„Leonidas! Das ist dein Job! Führ' ihn gefälligst aus!“, raune ich ihm gereizt zu. „Yannis hat ein Recht auf ein langes Leben! Nimm es ihm nicht!“

„Ich kann nicht mehr, verstehst du das nicht?“ Leonidas Augen haften auf mir und ich kann sehen, dass er nur noch ein Schatten seiner selbst ist. „Leonidas...“

Ich schlucke und bleibe vor ihm stehen. Wie kann er nur? Yannis ist noch ein Kind. Er hat noch sein ganzes Leben vor sich.

„Gib dich nicht auf!“, rede ich auf ihn ein und packe Leonidas an den Schultern. Er lächelt matt und weicht meinem Blick aus. „Schöne Worte...“

„Leonidas!“

„Toooooooooooooor!!!“

Ich sehe zu den Kindern. Yannis und Jonas fallen einander in die Arme und springen jauchzend in die Luft. Ich spüre wie meine Unterlippe zittert. „Du kannst nicht einfach...“ Als ich wieder zu Leonidas blicke ist er verschwunden.

Ich sehe mich um, aber er ist nicht mehr da. Ich ziehe die Augenbrauen zusammen, knabbere auf meiner Unterlippe und sehe wieder zu den Jungs.

Ausgelassen laufen sie über den ausgetretenen Rasen, schießen den Ball zu ihren Freunden und haben ihren Spaß.

Es ist später Mittag als sie den Heimweg antreten. Na ja, die meisten zumindest. Yannis und Jonas bleiben zurück. Sie werfen einander kurz einen Blick zu und mir schwant Übles. Was hecken die beiden Idioten jetzt wieder aus?

Sie laufen quer über das Spielfeld, das eigentlich einem Bauern gehört und wo die Kinder gerne heimlich spielen, wenn das Feld zum Winter hin nicht mehr benutzt wird. Die beiden Jungs halten Händchen und preschen ins Unterholz. Ich folge ihnen, wie sie sich durch dicht stehende Bäume und herunterhängende Äste kämpfen. Ab und an rutschen sie auf dem Laub aus und gelangen schließlich zu einer kleinen Lichtung mit einem kleinen Bach, der nur wenig Wasser führt. Mein Glück, ich habe keine Lust kleine Jungs herausfischen zu müssen.

Ich lehne mich in einiger Entfernung an einen Baum und beobachte die beiden Ausreißer. Sie sitzen auf dem kühlen Waldboden und erzählen sich ihre Geheimnisse, lachen und kichern ausgelassen und werfen alles was sie in die Finger kriegen können in den Bach.

Ich seufze und lasse den Blick umherschweifen. Jetzt muss ich mich wohl um zwei Schützlinge kümmern. Auf Leonidas ist kein Verlass mehr. Er hat versagt.

Mit vor der Brust verschränkten Armen sehe ich zu den Jungs. Jonas hat seinen Schuh ausgezogen, die Socke fliegt hinterher und mutig taucht er seine Zehen in das kalte Wasser. Er lacht und zieht ihn hastig wieder zurück. Ich muss lächeln und in meiner Brust zieht es stark. Ich fühle mich wie ein stolzer Vater, auch wenn ich nie Teil von Jonas' Familie sein kann. Das wird ein Traum bleiben, dem ich hinterherjagen, aber niemals wieder leben kann. Dieses Glück wird mir auf ewig verwehrt bleiben.

Ich sehe zu wie Jonas sich schüchtern vorbeugt und Yannis einen Kuss auf die Wange drückt. Yannis wird knallrot im Gesicht. Ich grinse breit. Die beiden haben noch einen langen Weg vor sich. Wer weiß was sie noch die nächsten Jahre erwarten wird?

Ich höre ein Rascheln in den Büschen und sehe mich um. Langsam laufe ich in die Richtung und höre eilige Schritte die sich entfernen. Ich runzele die Stirn und überlege, ob ich dem nachgehen sollte, aber ich kann die Jungs hier nicht alleine und unbeaufsichtigt sich selbst überlassen.

„Leonidas? Bist du das?“, rufe ich in die Stille des Waldes hinein, erhalte jedoch keine Antwort. Habe ich mich geirrt?

Unruhig laufe ich zu den Jungs und würde sie am liebsten nach Hause schicken. Von einem Bein trete ich auf das andere und sehe mich immer mal wieder um. Ich fühle mich beobachtet und nicht gerade wohl in meiner Haut.

„Kommt schon, ihr pubertären Gartenzwerge! Ab nach Hause mit euch!“, murre ich ungeduldig. „Ich versohle euch den Arsch, wenn ihr euch nicht langsam mal auf den Weg macht!“, drohe ich missmutig.

Stattdessen knutschen die beiden vor mir herum. „Och, jetzt kommt schon! Ihr könnt auch zu Hause experimentieren!“, entfährt es mir launisch.

Grinsend sehen die beiden Jungs sich an und erheben endlich mal ihre faulen Ärsche. Sie halten sich an der Hand und erleichtert trotte ich hinter ihnen her, halte Ausschau wie ein Wachhund und bin mehr als erleichtert als sie endlich das Feld erreichen. Mittlerweile ist der Himmel dunkel und es sieht stark nach Regen aus.

Ich bin mehr als erleichtert, dass Yannis mit zu Jonas geht. Eine Sorge weniger. Die beiden werden von Maria in Empfang genommen und entledigen sich im Badezimmer ihrer dreckigen Klamotten, während Maria das Badewasser einlässt und die beiden Dreckspatze das ganze Wasser einsauen.

Ich sitze auf der Toilette und sehe zu wie sie das Badezimmer unter Wasser setzen.

Mein Blick fällt auf Marias Schutzengel, der sich im Hintergrund hält und mich lediglich mustert. Ich lächele ihm zu, doch er wendet nur schweigend den Blick ab.

 

Nach dem Essen bringt Maria Yannis nach Hause. Ihr Schutzengel folgt ihr. Er hat einen arroganten Blick, der mich kurz streift als er das Haus verlässt.

„Warum sollten wir auch Freunde werden?“, flüstere ich seufzend. Jeder von uns Daimones hat sein eigenes Schicksal zu ertragen, schleppt seine eigene Last mit sich herum und muss damit fertig werden.

Ich gehe ins Kinderzimmer wo Jonas an den Hausaufgaben sitzt. „Braver Junge.“ Ich tätschele den Kopf des 14jährigen und runzele die Stirn, werfe einen Blick in sein Gesicht und seufze. Da schläft er einfach ein.

Ich hocke mich vor ihn und streiche ihm über die Wange. „Du bist wie ein Sohn für mich, weißt du das? Du bist mir wichtig, Jonas.“ Ich betrachte sein entspanntes Gesicht und spüre einen Knoten in meinem Herzen. „Manchmal erinnerst du mich an meinen Sohn.“ Meine Hand fährt in seine Haare und lächelnd beuge ich mich vor, gebe ihm einen sanften Kuss auf seinen Kopf. „Du verdienst ein langes Leben.“ Ich spüre seine Haut an meinen Fingerkuppen. Wie habe ich dieses Gefühl vermisst. Eine Träne schleicht sich in meinen Augenwinkel. Ich kann ihn spüren. Zu lange schon habe ich keinen Menschen mehr berührt. Ich habe es mir immer eingebildet wie es sich anfühlen würde. Dieser kleine Moment. Jetzt und hier. Meine Hand sinkt in seinen Nacken, ich spüre die warme Haut und nur mit Mühe kann ich die Tränen unterdrücken. „Ich kann dich anfassen...“ Wie gerne würde ich ihn jetzt in die Arme schließen, ihn wiegen und ihm sagen wie stolz ich auf ihn bin.

Das Gefühl verschwindet wieder. Erneut ist da die Kälte. Dieses Nichts. Ich ziehe mich zurück und halte mir die Hand ans Gesicht. Ich habe das Gefühl, dass da noch diese Wärme sein könnte. Ich habe Angst es zu vergessen. Ich will nicht vergessen wie es sich anfühlt.

Ich will nicht vergessen wie es ist ein Mensch zu sein. Ich darf mich nicht in dieser dunklen, kalten und einsamen Zwischenwelt verlieren.

 

Es ist Nachmittag als Maria endlich wieder heimkommt. Ihr Schutzengel kommt zu mir ins Kinderzimmer.

„Was ist mit Leonidas?“, fragt er ohne Umschweife.

Ich schüttele den Kopf. „Er schafft es nicht mehr. Er ist ein Wrack.“

„Er will sterben.“

Ich nicke langsam.

„Er sorgt also wissentlich dafür, dass sein Schützling...“ Er lässt den Satz offen stehen. Ich hebe den Blick und sehe ihm in die Augen.

„Kylon, kannst du dich noch an dein Leben erinnern? Als du noch ein Mensch warst?“, frage ich ihn.

Kylon schaut auf mich herab und sieht zu Jonas. Maria kommt zu ihm ins Zimmer und weckt den Jungen, um ihn ins Bett zu schicken. Kylon schaut wieder zu mir. „Was macht das schon? Ob ich mich erinnere oder nicht? Was habe ich davon? Ich gehöre nicht mehr zu ihnen. Wieso also sollte ich mir die Mühe machen mich zu erinnern? Ich lebe nun ein anderes... ein neues Leben. Ich habe eine neue Rolle, der ich gerecht werden muss.“ Kylons kalte, leblose Augen haften auf mir.

„Glaubst du wir werden bestraft?“

Kylon schweigt.

„Manchmal frage ich mich, wozu diese Bestimmung? Wieso müssen wir über die Menschen wachen? Haben sie es überhaupt verdient?“

„Hat er es verdient?“, fragt Kylon und mustert Jonas.

Ich sehe zu ihm und nicke. „Ja, das hat er.“

„Da hast du deine Antwort.“

„Aber steckt da nicht mehr dahinter? Wir sind Selbstmörder. Wieso sollten ausgerechnet wir über die Lebenden wachen?“

„Hast du heute deinen philosophischen Tag?“, fragt Kylon genervt.

Ich sehe ihn schmollend an. „Schutzengel existieren um ihr Leben zu beschützen, alles andere kann ihnen egal sein!“, meint Kylon.

„Ich habe ihn angefasst. Ich konnte die Wärme seiner Haut spüren...“, erzähle ich Kylon. „Ich wusste es nicht mehr. Ich habe vergessen wie schön es sich anfühlt jemanden zu berühren.“ Lächelnd blicke ich zu Kylon auf. „Es war unglaublich!“

Kylon geht vor mir in die Hocke. Er sieht mich ungläubig an. „Das kann nicht sein...“

„Doch!“ Ich halte ihm die Hand an seine Wange. „So wie ich dich berühre. Es war... es war so...für einen Moment habe ich mich wieder wie ein Mensch gefühlt.“ Mit der Hand streiche ich Kylon über die Wange. Er schluckt und mit einer unwirschen Handbewegung schiebt er meine Hand zur Seite. „Mach dir nichts vor! Das ist nur Einbildung!“, murrt er und erhebt sich.

Ich sehe ihm nach und starre auf meine Hand. Nein, das war keine Einbildung. Da bin ich mir ganz sicher.

 

Abends als Maria Jonas ins Bett bringt, bleibe ich im Flur zurück. Kylon tut es mir gleich. Wir warten bis sich beide ins Bett begeben haben. Maria kommt zu uns und verschwindet im Badezimmer. Ich grinse breit. „Willst du nicht einen Blick hinein werfen?“

Kylon verzieht sein Gesicht. „Ich sehe dir an wie gerne du jetzt mit mir tauschen würdest.“

Ich lache und gehe auf Kylon zu, bleibe dicht vor ihm stehen und greife hinter ihn. Ich berühre zärtlich seine schwarzen Federn, lasse meine Hand über den rechten gestutzten Flügel gleiten und frage mich wieso er so anders ist als wir. Wieso seine Flügel schwarz und gebrochen sind.

„Ich mag deine Federn. Sie sind weich wie Seide.“

„Dein Gesülze ist unerträglich...“, murmelt Kylon und reißt mir einfach eine Feder aus. „Aua!“, brülle ich und sehe ihn verständnislos an. Kylon hält sich die Feder vor den Mund und küsst sie. „Das Weiß der Reinheit und Unschuld.“

Ich spüre die Röte in meinem Gesicht aufsteigen. Kylon grinst hinterhältig. Mit der Zunge leckt er anzüglich über die ausgerissene Feder. Ich wende den Blick ab, halte dem aber nicht lange stand und schaue wieder zu ihm. Kylon küsst die Feder lächelnd. „Die hier behalte ich.“ Er begibt sich gemächlich in Marias Schlafzimmer.

Ich fahre mir mit beiden Händen über meine flammenden Wangen. Dieser Idiot! Muss er mich immer so necken?

„Bleibst du da noch lange stehen?“, vernehme ich Kylons Stimme. Ich schaue zu ihm. Er steht im Türrahmen zum Schlafzimmer und spielt mit meiner Feder. Ein verführerischer Anblick. Automatisch setzen sich meine Beine in Bewegung. „Auch Schutzengel brauchen ab und an mal ihren Spaß!“, raunt Kylon mir ins Ohr und zieht mich in die Dunkelheit.

Auch wenn es einige Lichtblicke im Leben eines Schutzengels gibt, so darf man nicht vergessen, dass wir keine Heiligen sind. Wir waren Menschen. Verdorbene Menschen. Unwürdig zu leben. Selbstmörder. Für uns gibt es kein Paradies oder eine zweite Chance auf ein neues Leben. Wir sind dazu verdammt in einer Zwischenwelt zu leben. Unsere Welt ist nicht farbenfroh. Wir haben Regeln, die wir einhalten müssen. Wir sind die Schatten der Menschen. Umher wandelnde Geister.

Mörder sind keine Engel und trotzdem fühle ich mich zu einem hingezogen.

Ich sehe in Kylons Gesicht, während sich unsere Körper vereinen, wir einander berühren und uns in einem seltenen Augenblick fallen lassen können. Einfach nur wir selbst sind und dem anderen ein wenig Halt bieten. Es kommt dem menschlichen Gefühl nicht gleich. Etwas fehlt, aber ich erinnere mich vage daran jemanden in den Armen zu halten, in mir zu spüren und mich komplett vor Lust gehen zu lassen. Da sind nur ich und Kylon. Manchmal wünschte ich mir, dass wir uns in einem anderen Leben begegnen würden, uns verlieben und ein schönes Leben zusammen führen. Nur wir zwei.

 

Die Realität ist hart und bitter. Das muss ich lernen als Yannis eines Tages nicht heimkommt. Maria hängt am Telefon, Jonas sitzt neben ihr und die ganze Kleinstadt ist in Aufruhr.

Ich sehe zu Kylon. Leonidas ist schuld. Das wissen wir beide, aber keiner spricht es aus. Mein Herz zieht sich zusammen. Jonas sieht zu seiner Mutter auf. In seinem Blick sind so viele Gefühle zu lesen. Es sind einfach zu viele. Angst, Unwissenheit, Schuld, Reue, Wut... Hilflosigkeit. Sein bester Freund ist fort und niemand weiß, wo er ist und was ihm zugestoßen sein könnte.

Wieder sehe ich zu Kylon. Unruhe überkommt mich. Ich erinnere mich wieder an den Wald. Die Schritte. War Yannis im Wald? Allein?

Wieso sollte er ohne Jonas zu diesem Geheimplatz laufen? Das ergibt keinen Sinn. Die Unruhe frisst mich noch auf, wenn ich nicht etwas unternehme. Der Sache auf den Grund gehe. Ich knabbere nervös auf meiner Unterlippe.

„Mach nicht den gleichen Fehler wie Leonidas.“

Ich blicke in Kylons Gesicht. „Aber, wenn er noch lebt...“

„Jonas braucht dich.“

Ich schaue auf den Jungen und bin am verzweifeln.

„Du kannst sowieso nichts tun. Wie willst du ihm helfen?“, fragt Kylon und starrt zu Mutter und Kind. Maria ergreift die Hand ihres Sohnes und blickt aus dem Fenster, in den dunklen Nachthimmel. Eine böse Vorahnung überkommt mich.

„Ich weiß, wer es war...“, flüstere ich bitter und kaum merklich spüre ich wieder diese Wut in mir brodeln.

„Kinder sind wie Engel. Rein und unschuldig.“ Kylon sieht zu mir. „Erwachsene sind verdorbene Teufel. Man sieht es nur nicht bei jedem.“

Ich betrachte Kylon von der Seite. Neben mir steht so ein Teufel.

Ich seufze und schüttele den Kopf. „Leonidas hätte auf ihn aufpassen müssen. Hätte er nicht versagt...“

„...wäre es nie geschehen? Glaubst du das wirklich? Was macht dich da so sicher? Denkst du wirklich Schutzengel können die Menschen vor alles und jedem beschützen? Bist du wirklich so naiv?“, fragt Kylon und lacht. „Du süß, aber auch unheimlich dumm.“

An die Wand gelehnt blicke ich auf den Boden. „Das ist nicht fair...“, flüstere ich mit rauer Stimme.

„Was ist schon fair?“, erwidert Kylon. „Ist es fair, dass du dich umbringst und deine Familie zurücklässt? Menschen die nicht verstehen, warum du es getan hast? Die dich geliebt haben und dich vermissten? Das Leben ist nicht fair. Weder das der Menschen noch unseres. Wir können nur das Beste aus unserer Situation machen.“

„Glaubst du, dass es einen Gott gibt?“

Kylon sieht mich spöttisch an. „Wenn ja, dann hat er einen ziemlich fiesen Humor.“ Er lacht und drückt sich von der Wand ab. „Gott hat diesen Ort längst verlassen und ich kann es ihm nicht mal verübeln.“

Kylon lässt mich stehen und geht die Treppe hinauf ins obere Stockwerk.

Ich bleibe bei Jonas und Maria. Mein Blick wandert zu meinen Flügeln. Ich hebe die Hand und fahre andächtig mit den Fingern über meine Federn.

Wenn es keinen Schöpfer gibt, wieso sind dann wir hier?

 

„Am Donnerstagabend ist im Bezirk Rhodos gegen 17 Uhr ein 14jähriger Junge verschwunden. Yannis Galanis trug einen grünen Pullover, darüber eine blaue Winterjacke, eine schwarze Hose und Fußballschuhe. Er hat blonde Haare und grüne Augen. Wenn Sie irgendwelche Informationen haben, rufen sie bitte die örtliche Polizei an.“

Ein Bild von Yannis wird im Fernsehen gezeigt sowie einiger weiterer Details. Mein Blick fällt auf Maria, die ihren Sohn im Arm hält, der teilnahmslos neben ihr sitzt. Seit einigen Tagen ist sein bester Freund verschwunden. Er wird nicht mehr wiederkommen, dass weiß ich.

Ich lehne mich auf die Rückenlehne des Sofas und würde Jonas zu gerne trösten, ihn in den Arm nehmen und mit ihm reden. Ich vergrabe mein Gesicht in den Händen und schreie, schreie, schreie, schreie...

 

„Hey, wach auf!“ Kylon rüttelt an meiner Schulter. „Seit wann brauchen Schutzengel Schlaf? Los, wach auf!“

Ich blinzele verwirrt. Habe ich geschlafen? Ich lasse mich von Kylon hochziehen und nach draußen schleifen. „Was soll das? Wir dürfen unsere Schützlinge nicht aus den Augen lassen, Kylon.“

„Die beiden schlafen. Was soll ihnen da schon passieren? Wenn ihnen die Decke auf den Kopf fällt können wir ohnehin nichts für sie tun.“

Es ist dunkel und regnet in Strömen. „Was hast du vor?“, frage ich Kylon, der in die Dunkelheit schreitet, sich kurz zu mir umdreht und mich mürrisch ansieht. „Yannis suchen, was sonst. Einer Mutter ihr Kind zurückgeben, dass habe ich vor.“

Ich sehe ihn erstaunt an. Ausgerechnet Kylon will etwas Gutes tun?

Ich folge ihm eilig, versuche Schritt zu halten und sehe mich um. „Du weißt, wo er stecken könnte oder?“, fragt er mich ohne langsamer zu werden oder mich auch nur anzusehen.

„Schon, möglich, vielleicht...“, erwidere ich.

„Na, dann los! Wir haben nur diese Nacht Zeit, wenn uns jemand bemerkt gibt es Ärger vom Big Boss.“

Ich lache und schlage den Weg ein, den ich schon so oft gelaufen bin. Vor meinem inneren Auge sehe ich Jonas und Yannis diesen Weg entlang laufen. Unbesorgt und fröhlich. Dann auf einmal nur Yannis. Es ist dunkel. Ein Donnerstagabend. 17 Uhr. Was hat ein kleiner Junge um diese Uhrzeit hier zu suchen? Alleine? Ein Streit mit den Eltern?

Ich folge Yannis, laufe den Weg entlang. Schritte. Die Blicke auf mir. Dieses Gefühl, dass da jemand ist. Ich fühle mich unbehaglich. War er da? Ist er Yannis gefolgt? Seit wann? Haben sie miteinander geredet?

Kylon und ich durchqueren den Wald, laufen an Bäumen und herabhängenden Ästen vorbei, die uns nicht streifen. Ich höre das Lachen der Kinder in meinen Ohren und ein Schauder rinnt mir über den Körper. Meine Schritte werden langsamer. Ich habe Angst. Was wird mich erwarten?

Leonidas, dieser Scheißkerl! Dafür könnte ich ihn verprügeln!

„Da vorne ist es.“ Ich deute mit der Hand zu der Lichtung. Wir gehen zum Bach. Um uns herum ist nichts zu sehen.

„Hm, nicht sehr hilfreich, wenn man alles in schwarzweiß sieht.“ Kylon lacht spöttisch und schaut sich um. „Ich komme mir vor wie ein Hund.“

„Ich verstehe das nicht. Wieso ist er nicht hier?“ Ich drehe mich im Kreis, blicke in alle Richtungen, aber ich habe keine Ahnung wo, außer hier, Yannis stecken könnte.

Mit hängenden Schultern geselle ich mich zu Kylon. „Er ist nicht hier.“

„Das ist mir klar.“ Kylon seufzt. „Und nun?“

Ich gehe in die Hocke. Mein Blick fällt auf einige verwischte Fußspuren. „Glaubst du das sind seine?“

Kylon rümpft die Nase. „Hier sind überall Spuren. Süßer, ich bin kein Detektiv!“

Ich sehe mich weiter um, krieche auf dem Boden und schaue mir alle Fußspuren genau an. „Die hier sind größer...“, murmele ich und versuche mir das Muster zu merken.

Langsam erhebe ich mich und laufe leicht gebückt weiter, behalte die Spuren im Blick und bemerke, dass die Abstände größer werden, sich mit anderen vermischen und es scheint als hätte es eine Rangelei gegeben.

„Da geht es nicht weiter!“, ruft Kylon plötzlich. Ich halte abrupt inne und sehe zu ihm, blicke zurück und schaue auf einmal mitten in einen tiefen, finsteren Abgrund.

„Hier gab es einen Erdrutsch.“ Ich versuche in der Tiefe etwas zu erkennen, aber es ist einfach zu dunkel.

„Hey, Kleiner, was wird das!“, murrt Kylon, als er bemerkt was ich vorhabe.

„Herunterklettern.“ Ich sehe zu ihm. „Ich muss wissen, ob er dort unten ist.“

Kylon starrt auf mich herab, während ich hinab springe. Mein Vorteil ist, dass es mich nicht gibt. Einen weiteren Erdrutsch kann ich also nicht verursachen und selbst wenn ich unten unsanft aufkomme, kann mir nichts passieren.

Ich sehe mich um, kann aber außer lockerer Erde, ausgerissenen Bäumen, Wurzeln und einigen Gräsern nicht viel erkennen. Ich laufe auf dem Erdreich herum und weiß nicht mal wonach genau ich eigentlich Ausschau halte.

„Hast du was gefunden?“, ruft Kylon zu mir herunter.

„Nei...“ Ich halte inne und starre auf einen Schuh. Ein Männerschuh. Ich gehe langsam näher heran. Dort liegt eindeutig ein Mann begraben. Ich erinnere mich wieder an das Gesicht des Mannes, der Yannis und Jonas nachgesehen hatte. „Geschieht ihm ganz recht...“, murre ich und sehe mich nun noch genauer um.

„Er ist nicht hier!“

Kylon hockt am Abgrund. „Und das bedeutet...?“

„Ich denke, der Mann hat versucht Yannis zu überwältigen, aber er hat nicht mit einem Erdrutsch gerechnet. Hier sind überall Steine. Das kann er nicht überlebt haben. Yannis kann ich nicht entdecken, aber ich glaube nicht, dass er verschüttet wurde. Vielleicht konnte er entkommen? Vielleicht hat er sich aus Angst irgendwo versteckt?“

„Na, ganz toll! Wie soll man denn bitte nach einem Jungen suchen, der nicht gefunden werden will?!“

„Ich weiß es nicht...“, murmele ich.

„Ohne Wasser oder Nahrung überlebt er nicht lange. Wir wissen nicht mal ob er verletzt ist.“

Ich schaue in Kylons Gesicht. Er ist so weit weg.

„Wo steckst du Yannis?“ Seufzend mache ich mich daran wieder einen Weg nach oben zu finden. Leichter gesagt als getan.

Irritiert bleibe ich stehen. „Kylon!“, brülle ich.

„Was denn, was denn?“, fragt er genervt und läuft zu mir herüber.

„Er ist nicht hochgekommen! Er hat es nicht geschafft hier hoch zu klettern. Bei der losen Erde hier kann überall etwas herunter rutschen. Wie soll er sich da festhalten? Er muss noch irgendwo hier sein!“

Suchend blicke ich mich um. Was macht ein Kind nach einem Absturz? Es ist panisch und kommt eine steile Wand aus lockerer Erde nicht hoch. Zudem liegt hier auch noch eine Leiche. Er hat Angst. Entweder er versteckt sich oder ist weggelaufen. Über das Feld und tiefer in den Wald hinein?

Ich öffne den Mund... und schließe ihn wieder. Wie soll ich nach einem Kind rufen, wenn es mich nicht hören kann? „Scheiße! Scheiße! Scheiße!“

„Dürfen Schutzengel fluchen?“, fragt Kylon amüsiert.

„Wie kannst du nur in so einer Situation ruhig bleiben?“, meckere ich aufbrausend.

„Ich bin ein Mörder. Ich habe schon Schlimmeres gesehen. Glaub mir, irgendwann hat man so ein dickes Fell, dass einen nichts mehr aus der Ruhe bringen kann.“ Kylon schmunzelt und betrachtet mich eingehend. „Na ja, eine Sache gibt es da schon...“

Frustriert lasse ich mich zu Boden fallen und gerade das scheint meine Rettung zu sein. Ich krieche langsam vorwärts. Ein Abwasserrohr befindet sich ganz in meiner Nähe. Was hat so etwas an einem Bach zu suchen? Es kann allerdings meine geringste Sorge sein. Neugierig und auch aufgeregt nähere ich mich dem großen Rohr, welche normalerweise eher an größeren Flussbetten anzutreffen sind.

Ich halte an und bin mir nicht sicher, ob ich wirklich wissen will was sich darin verbirgt, doch dann gebe ich mir einen Ruck, immerhin habe ich all die Mühen hier auf mich genommen. Es soll nicht umsonst gewesen sein.

„Yannis?“, flüstere ich und krieche noch näher heran. Ich gucke in das Rohr und klettere hinein was mit meinen Flügeln nicht gerade einfach ist.

Ein kleines Häufchen Elend. In mir zieht sich alles zusammen. Mit zitternden Fingern streiche ihm über den Kopf.

„Hast du ihn gefunden?“, ruft Kylon zu mir herunter.

„Ja...“, flüstere ich leise und Tränen treten mir in die Augen. „Ja, das habe ich.“ Ich klettere aus dem Rohr und wische mir über die Augen. Hilflos sehe ich zu Kylon auf. „Ich kann ihm nicht helfen...“

Kylon seufzt, greift nach seinem Flügel und reißt unbarmherzig mehrere Federn heraus.

„Kylon! Was tust du da?!“, brülle ich entsetzt.

Er sieht mich ungerührt an. „Glaub nicht, dass das mein erstes Mal ist. Sie sind sichtbar, wenn man sie erst mal los wird. Die Menschen können sie sehen. Sie halten sie allerdings für Krähenfedern, diese Idioten!“ Kylon lacht und wirft sie zu mir herunter. „Hier! Such eine geeignete Stelle und lege ihm eine Spur. Er muss es aus eigener Kraft herausschaffen. Mehr können wir nicht für ihn tun.“

„Aber was ist, wenn er längst aufgegeben hat?“ Ich fange die schwarzen Federn ein, die langsam kreiselnd auf mich herab schweben.

„Hast du mir nicht zugehört?!“, fragt Kylon und sieht mich ärgerlich an. „Er kann die Federn sehen! Also leg' ihm eine Spur!“

Ich zucke zusammen und laufe zu Yannis. Was genau hat Kylon gemeint? Ich bleibe stehen und sehe mich irritiert um. Er kann sie sehen... die Federn...

Ein Geistesblitz schießt mir durch den Kopf. Ich lege die Federn wie einen Pfeil direkt vor Yannis Gesicht, in der Hoffnung, dass er sie nicht im Schlaf verschiebt. Ich sehe mich draußen um. Es dauert eine ganze Weile bis ich eine geeignete Stelle finde, an der er mühelos hochklettern könnte. Kylon muss noch einige Federn lassen, aber schließlich habe ich ihm die Spur gelegt, die Yannis helfen kann. Jetzt bleibt nur zu hoffen, dass er noch stark genug ist und den Rückweg schafft.

Ich zupfe eine Feder von mir ab, was einen Moment doch arg zieht und beinahe an eine Schnittwunde in der Haut erinnert. Ich stecke Yannis die Feder in die Hand und mit einigen kräftigen Flügelstößen fliege ich zu Kylon hoch und lande leichtfüßig vor ihm.

„Und jetzt?“, frage ich ihn abwartend.

„Gehen wir zurück. Den Rest muss er alleine schaffen.“ Kylon dreht sich um und lässt mich stehen. Ich schaue zurück in den Abgrund. Am liebsten würde ich bleiben und beobachten, ob Yannis es wirklich nach oben schafft, aber Kylon hat Recht. Ich darf Jonas nicht zu lange aus den Augen lassen. Er hat oberste Priorität.

Ich hole auf und gehe neben Kylon her. Jetzt wird mir auch klar, warum er nicht fliegt oder zu mir in den Abgrund gekommen ist. Mit diesen malträtierten Flügeln kommt er nicht weit.

Ich lache. „Du siehst aus wie ein Vogel in der Mauser!“

Kylon zieht eine Augenbraue hoch und geht kopfschüttelnd weiter.

Noch einmal bleibe ich stehen und sehe zurück. „Komm zurück zu uns, Yannis.“

 

Jonas schaut gedankenverloren aus dem Fenster. Seine wilden braunen Locken werden von der Luft zerzaust. Die ganze Zeit starrt er nach unten, dort wo Yannis immer auf ihn wartet, wenn er Jonas zum Spielen abholt. Als würde Yannis jeden Augenblick um die Ecke kommen, so wie sonst auch immer, zum Fenster hochsehen und ihm zuwinken.

Maria kommt mit einem Brotteller ins Zimmer. „Jonas, es gibt Essen.“

Er sieht lustlos zu ihr und trottet zum Schreibtisch. Maria schließt das Fenster und greift nach seinen Hausaufgaben um sie zu kontrollieren.

Die Stille der beiden treibt mich hinaus in den Flur. Die düstere Stimmung ist unerträglich. Ich selber bin zurzeit wie auf heißen Kohlen, weil ich mich dauernd frage, ob Yannis es geschafft hat oder nicht.

„Hast du was von Leonidas gehört? Lebt er noch?“, frage ich Kylon, der im Flur wartet. Er zuckt nur mit den Schultern. Ich lehne mich ihm gegenüber an die Wand und schließe die Augen, atme tief durch und seufze.

„Als Schutzengel hat man nichts als Ärger...“, brumme ich und öffne die Augen. Kylon schmunzelt. „Wäre doch langweilig, wenn wir nichts zu tun hätten.“

Ich ringe mir ein Lächeln ab und werfe einen kurzen Blick ins Zimmer zu Jonas. Ja, doch. Das war es mir wert, all die Strapazen auf mich zu nehmen.

„Weißt du eigentlich wie schön du bist?“, fragt Kylon unvermittelt.

Irritiert blicke ich ihn an. „Hä?“

„Ein wunderschöner Engel.“

Verlegen weiche ich seinem Blick aus. „Wie alt bist du jetzt, Kylon? Komplimente von 'nem alten Knacker sind nicht so das Wahre!“, nörgele ich.

„Dir ist aber schon klar, dass du mit diesem alten Knacker Sex hattest?“, neckt Kylon mich und steht nun direkt vor mir. „Du erinnerst mich an einen Todesengel...“, murmele ich leise. „Manchmal habe ich Angst vor dir.“ Ich schaue ihm in die Augen. „Deine Augen sind leer. Du lächelst, aber dein Lachen ist kalt und ohne Freude. In deinen Augen sehe ich nichts als den Tod.“ Mit dem Finger berühre ich Kylons Lippen und sehe sie gedankenverloren an. Mein Blick wandert hinauf zu seinen Augen. Er schließt sie und küsst mich. Verlangend gehe ich darauf ein und ziehe ihn eng an meinen Körper. Widerwillig löse ich mich dann aber doch von ihm. „Das ist ein mieser Zeitpunkt...“

Kylon geht auf Abstand und lässt mich stehen. Ich lasse mich an der Wand hinab sinken und sehe ihm hinterher.

Kylon ist anders als wir anderen Schutzengel. Er benimmt sich sonderbar, bezeichnet sich immer wieder als Mörder, nicht als Selbstmörder wie wir anderen. Er ist merkwürdig und ich werde das unangenehme Gefühl nicht los, dass er etwas verbirgt. Etwas, dass mir nicht gefallen könnte.

 

„Gestern gegen Mittag haben Spaziergänger in einem Waldgebiet einen verletzten Jungen gefunden. Er ist mittlerweile bei Bewusstsein und ist der seit Donnerstagabend vermisste Yannis Galanis. Im Wald gab es einen Erdrutsch, der noch näher untersucht wird. Es wurde die Leiche eines Mannes gefunden. Bisher ist die Identität noch ungeklärt.“

Jonas und Maria sind im Krankenhaus, warten in der Kantine und starren zum Fernseher. Ich blicke erleichtert zu Jonas, der ungeduldig wartet, dass er endlich zu seinem Freund gehen kann. Die Freude in seinem Blick, dass Yannis noch lebt, ist ihm deutlich anzusehen.

Mein Blick fällt auf Kylon, der sich interessiert die Nachrichten ansieht. Wenn er ein Mörder ist, wieso tut er dann Gutes? Wieso hilft er mir und wieso... Wieso muss ich mich ausgerechnet zu ihm hingezogen fühlen?

Frau Galanis kommt zu uns und sofort geht Maria auf sie zu, nimmt sie in die Arme und streicht ihr über den Rücken. Man merkt der Frau die Strapazen der letzten Tage an. Zusammen mit Jonas gehen sie zu Yannis Krankenzimmer und als ich näher heran trete, bin ich erleichtert, dass er nur noch halb so schlimm aussieht wie an dem Tag an dem ich ihn gefunden habe.

Jonas Blick haftet auf seinem Freund und ich kann mir denken, dass er ihn jetzt zu gerne in die Arme schließen würde.

Kylon geht in den Flur und so folge ich ihm. „Danke.“

Er sieht zu mir und zieht eine Augenbraue hoch. „Wofür?“

„Dass du mir geholfen hast.“

Kylon zuckt mit den Schultern und sieht sich um. „Ist das nicht die Aufgabe eines Schutzengels? Die Menschen zu beschützen?“

„Wieso sprichst du eigentlich so, Kylon?“

„Wie spreche ich denn?“

„Du sprichst immer nur von Schutzengeln, dich selbst bezeichnest du aber nie so, sondern immer nur als Mörder.“

„Ja, na und?“

„Mich würde einfach nur interessieren, warum du das tust.“

„Glaubst du wirklich, ich sage es dir?“ Kylon kommt auf mich zu und bleibt nur wenige Zentimeter von mir entfernt stehen. „Du musst nicht alles wissen. Sei nicht so neugierig.“

Kurzerhand verschwindet er wieder im Krankenzimmer. Verwirrt bleibe ich im Flur stehen, während Besucher, Ärzte und Patienten um mich herum laufen oder gar mitten durch mich hindurch.

Dass er mir ausweicht, finde ich gar nicht witzig. Was hält Kylon vor mir geheim?

Was ist mit Leonidas? Hat er es auch gewusst? War er deswegen so drauf? Hat er sich gehen lassen, weil er etwas erfahren hat, das ihn völlig aus der Bahn geworfen hat? Nein, das kann nicht sein oder doch?

 

Wochen vergehen und nichts passiert. Der gleiche Alltagstrott tagein, tagaus. Yannis erholt sich von Tag zu Tag besser und heute ist der erste Tag, an dem er sich mal wieder bei Jonas zu Hause blicken lässt. Die Jungs sitzen auf dem Bett und blättern durch ein Fußballmagazin. Na ja, zumindest haben sie es bis eben noch getan. Jetzt liegen sie auf der Matratze und knutschen ausgiebig miteinander. Gelangweilt lungere ich um sie herum und würde sie am liebsten mit Popcorn bewerfen.

Ich verziehe mich in den Flur und beschließe mal nachzusehen was Kylon so treibt. Ich finde ihn im Schlafzimmer. Er hängt auf dem Bett herum und schaut zu wie Maria diverse Outfits anprobiert. „Wie oft muss ich dir noch sagen, dass du das Schwarze nehmen sollst!“, murrt Kylon und deutet auf besagtes Kleid. „Dummer Mensch! Los, guck mal da hin! Zieh das Kurze an, Männer stehen auf so was!“

Grinsend lehne ich mich gegen den Türrahmen. „Seit wann bist du ihr Berater?“

Ertappt sieht Kylon zu mir und zieht eine angesäuerte Grimasse. „Dieses Weib weiß einfach nicht was ihr steht, dabei liegt es genau vor ihrer Nase!“

Lachend geselle ich mich zu Kylon. „Wenn sie merkt was nebenan vor sich geht und dass es heute Abend bestimmt nicht nur dabei bleiben wird, geht sie wahrscheinlich gar nicht zu diesem Date.“

„Wieso? Was ist los?“

„Die Jungs tauschen Speichel aus.“

„Oho~ das würde ich jetzt auch gerne tun.“ Lasziv sieht Kylon zu mir auf und zieht mich auf die Matratze. Ich lecke mir über die Lippen und lasse mich auf ihn sinken. „Endlich mal ein bisschen Ruhe.“ Zufrieden küsse ich den schwarzen Engel unter mir, bis er mich von sich drückt. „Sie geht los.“ Kylon richtet sich auf und folgt Maria, ohne mich weiter zu beachten. Schmollend sehe ich ihm hinterher. „Was soll ich denn alleine mit zwei pubertären Jungs machen?“, rufe ich ihm beleidigt hinterher. Das wird ein ziemlich öder Abend. Ich lasse mich aufs Bett fallen und verschränke die Arme hinterm Kopf. Seufzend schließe ich die Augen. Dann muss ich wohl warten, bis Kylon zurückkommt, ehe wir da weitermachen können wo wir aufgehört haben.

 

1849, London, Hempstead

 

Mr. Cartwright! Mein Beileid! Das alles tut mir so leid!“ Ein lauer Spätsommertag. Ein Tag an dem ich alles verlor, was mir lieb und wichtig gewesen ist. Ich ergreife die Hand der Frau, ganz in Schwarz gekleidet und mit einem sorgenvollen Blick, der mir schwer auf dem Herzen lastet. Diese Trauer in ihren Augen, trübt meine Stimmung nur noch mehr.

Vielen Dank.“ Ich stehe am Grab der zwei wichtigsten Menschen in meinem Leben und kann es noch gar nicht fassen, nachvollziehen was geschehen war. Dass sie nun nicht mehr an meiner Seite sein würden. Meine Frau und mein Sohn.

Bis das der Tod uns scheidet...“, flüstere ich und gehe zur Kutsche, die bereits auf mich wartet. „Nach Hause, Collins!“, Der alte Kutscher nickt, lässt die Peitsche durch die Luft zischen und treibt die beiden schwarzen Pferde an sich in Bewegung zu setzen. Ich werde in der Kutsche durchgerüttelt, schließe meine Augen und seufze. Der Schlafmangel fordert seinen Tribut. Tränen treten mir in die Augen und schleichen sich über meine Wangen.

Nur ein kurzer Augenblick. Sie wollten doch nur zu meiner Mutter reisen. Niemand hat die Banditen bemerkt, die sie überfielen, meine Frau schändeten und meinen tapferen Sohn zu Tode prügelten.

Die Kutsche hält unvermittelt an. Wie kann ich nur ohne meine Lieben weiterleben? Mir wurde alles genommen was mir je etwas bedeutet hat.

Mr. Cartwright?“ Der alte Collins öffnet die Tür der Kutsche, lässt den Tritt herunter und schaut zu mir in die Dunkelheit, die mich zu verschlingen droht. Ich sehe an ihm vorbei und habe nicht einmal bemerkt, dass wir längst an meiner Wohnung angekommen sind. Ich steige aus der Kutsche, richte mein Jackett und erklimme die wenigen Stufen der Treppe, ehe ich auch schon von meiner Haushälterin Maddy in Empfang genommen werde, die mir abrupt die Haustür öffnet. Erneut ein besorgter Blick. Ich ertrage es nicht, wenn mich die Menschen so ansehen.

Bringen Sie mir einen Tee in mein Arbeitszimmer.“

Die Bedienstete nickt geschäftig und eilt in die Küche, nachdem sie mir Jackett und Hut abgenommen hat. Ich streife mir die Handschuhe von den Fingern und betrete mein Arbeitszimmer. Für einen Augenblick trete ich an den warmen Kamin und halte meine Hände in die Nähe des Feuers. Mein Blick verfängt sich in der Glut der Flammen und so erinnere ich mich an den Morgen, als Mary und Peter ihre Reise antraten. Es war ein schöner Tag, ihre Gesichter so unbekümmert und fröhlich, voller Erwartung der bevorstehenden Reise, des Abenteuers, welches vor ihnen lag. Doch sie kamen nicht mehr zurück.

Mr. Cartwright?“, fragt Maddy und reißt mich aus meinen Erinnerungen. Ich wende mich ihr zu, nehme die Tasse Tee vom Tablett und führe sie an meinen Mund. „Mr. Cartwright, der Zucker.“

Heute nicht, Maddy.“ Ich trinke den heißen Tee und obwohl ich mir die Zunge daran verbrenne, ignoriere ich den Schmerz. Was ist das schon dagegen was meine Lieben erleiden mussten?

Maddy, ich ziehe mich auf mein Zimmer zurück.“

Sehr wohl.“

Bringen Sie mir heute nichts mehr auf mein Zimmer. Ich möchte ungestört sein.“

Wie Sie wünschen.“

Ich verlasse das Arbeitszimmer, gehe langsam die Treppe hoch und durch den kurzen Flur in mein Schlafzimmer. Den Tee stelle ich auf dem Nachttisch ab, laufe zum Kleiderschrank und öffne bedächtig die Tür. Es ist ein unwirkliches Gefühl. Als ob sie noch da wäre. Ich ziehe eines ihrer Kleider ein wenig zwischen den anderen hervor und lasse den schweren roten Stoff durch meine Finger gleiten.

Mary...“

Ich will bei ihr sein. Wieso muss ich leben, wenn Mary und Peter unter der kalten Erde begraben liegen? Was macht es überhaupt noch für einen Sinn weiterzuleben?

Mit hängendem Kopf trete ich ans Fenster und schaue hinaus. Der Himmel färbt sich in bedrohliche Grautöne und in der Ferne sehe ich einen Blitz aufleuchten. Kurz danach vernehme ich entferntes Grollen.

Möge mich doch der Blitz treffen...“, murmele ich gedankenverloren.

 

Verschlafen öffne ich die Augen. Ein Traum? Eine Erinnerung. Schon lange habe ich nicht mehr an diese Zeit zurückgedacht. Der Entschluss auf den Dachboden zu gehen und mich dort zu erhängen kommt mir in den Sinn. Was die gute alte Maddy wohl für ein Gesicht gemacht hat, als sie meinen Körper fand?

Ich erschrecke als ich bemerke wie sich jemand über mich beugt. Große Augen starren mich ungläubig an. Nicht mich, eher meine Flügel. Ich wage es kaum mich zu bewegen.

„Bist du echt?“, fragt Jonas und berührt mich vorsichtig, gar zögerlich mit den Fingern. Erstarrt blicke ich in sein Gesicht.

„Bist du ein Engel?“

Ich öffne den Mund, aber kein Laut verlässt meine Lippen. Mir schnürt sich der Hals zu. Wieso kann er mich sehen? Wie ist das möglich?

Noch vor einigen Monaten hat er lediglich meine Berührung wahrgenommen.

“Sind die echt?“ Jonas' Finger streichen über die Federn meiner Flügel und noch immer bewege ich mich nicht vom Fleck. Das ist ein Alptraum. Wieso ist er in der Lage mich zu sehen? Das kann nicht sein!

Ich ergreife zögernd Jonas' Hand. Sie ist warm. Verdammter Mist! Soll ich ihn kurz K.O. schlagen? Dazu komme ich jedoch nicht mehr, denn von unten hört man die Haustür.

„Jonas! Ich bin wieder da!“

„Ma! Hier ist ein Engel!“, brüllt Jonas aufgeregt. Erschrocken zucke ich zusammen und richte mich hastig auf.

„Was?“, vernehme ich Marias irritierte Stimme.

Jonas erhebt sich vom Bett und rennt zum Flur. „Hier ist ein Engel! Komm her und guck dir das an!“

Hastig öffne ich das Fenster und springe hinaus in die Dunkelheit. Was bin ich nur für ein Idiot! Ich hätte es längst jemandem melden müssen, dass etwas nicht stimmt.

„Ma! Er ist weg!“ Ich kann Jonas's Stimme noch hören als ich um die Ecke der Hauswand laufe und mich hinter einem Busch verstecke. Ob man mich noch sehen kann? Ich sehe an meinem Körper herab, aber ich kann keinen Unterschied feststellen. Ändert sich in dem Moment überhaupt etwas? Ich habe nichts bemerkt.

„Hier bist du...“

Ich sehe auf. Kylon hockt sich ein wenig außer Atem neben mich. „Was ist passiert?“

„Er hat mich gesehen. Das ist passiert!“, murre ich und seufze. „Er konnte mich richtig sehen! Verdammt, wieso hat mir keiner gesagt, dass so etwas passieren kann? Was soll ich denn jetzt machen?“

Kylon wirkt nachdenklich.

„Kylon?“

„Du kannst nichts mehr tun. Deine Zeit ist vorbei.“

„Was? Meine Zeit...?“, frage ich verwirrt und weite schon im nächsten Moment ungläubig die Augen. Ich sehe an mir herunter und sehe, dass etwas in meinem Bauch steckt. Irgendetwas fühlt sich anders an, als ob es mich lähmen würde. Als würde sich irgendeine Substanz mit meinem Blut vermischt.

„Ist es vergiftet...?“, frage ich stöhnend und der Schmerz bringt mich glatt um den Verstand. Ich sacke in mich zusammen und greife zitternd nach dem Griff des Dolches.

„Es ist schade um dich. Du hast mir ein paar süße Stunden beschert.“ Kylon streicht mir über die Wange. „Du hast es sicher schon bemerkt, dass ich nicht wie die anderen bin. Ich bin kein Beschützer. Ich bin wegen euch da.“

„Wegen uns?“, flüstere ich verwirrt und halte mir den schmerzenden Bauch.

„Wer versagt wird aus dem Weg geräumt. So einfach ist das, Schätzchen.“ Kylon zuckt mit den Schultern und schmunzelt. „Aber es ist schon wirklich sehr schade um dich. Ich hätte gerne noch etwas länger mit dir Spaß gehabt.“

Ich stöhne. Der Schmerz breitet sich scheinbar im ganzen Körper aus. Ich kann mich kaum noch bewegen.

„Was wird dann aus Jonas?“

„Er wird wahrscheinlich einen neuen Schutzengel bekommen.“

„Muss ich sterben, weil ich etwas spüren konnte? Weil Jonas mich bemerkt hat?“

„Du scheinst ja doch nicht ganz auf den Kopf gefallen zu sein.“

Kylon erwidert meinen Blick. Er hebt seine Hand und streicht mir über die Wange, beugt sich zu mir vor und küsst mich flüchtig.

Ich lächele matt. „Manchmal frage ich mich was mich so an dir fasziniert. Ist es eine Todessehnsucht wie Leonidas sie hat?“

„Nein. Leonidas ist einfach nur schwach.“ Kylon lächelt freudlos und greift mit seiner Hand in meine Haare. Er verstrubbelt sie ein wenig und lehnt sich dann mit der Schulter an mich. Er sieht in die Dunkelheit und sagt kein Wort mehr. Ich spüre den Schmerz in meiner Brust.

Ich will Jonas nicht zurücklassen. Ich will bei ihm sein, sehen wie er aufwächst und wünsche mir, dass er glücklich wird. Wieso bleibt mir das verwehrt?

„Was geschieht mit mir?“, frage ich mit schwacher Stimme und spüre die bleierne Müdigkeit, die meinen Körper umhüllt. Mit Mühe schaffe ich es die Augen offen zu halten.

„Mir ist kalt, Kylon...“, murmele ich.

„Halt die Klappe!“, murrt Kylon und reißt mir abrupt den Dolch aus dem Körper. Der Griff ist schwarz mit einer goldenen Klinge. Der Schmerz kommt ohne Vorwarnung. Ich brülle laut auf und sacke vornüber. Mit den Händen stütze ich mich am Boden ab, mein Kopf berührt die Erde. Mit der Hand greife ich hinein und es ist absurd, dass ich in so einem Moment sterben muss, wenn ich beginne wieder menschliche Züge anzunehmen.

Kylon packt mich an den Schultern, zerrt mich hoch und mit einem Ruck an sich. „Es ist noch nicht vorbei, Kleiner!“, raunt er mir ins Ohr. Ich verstehe kaum noch was er sagt. Mir wird schwindlig und so viele Fragen wirbeln durch meinen Kopf. Ich sehe Kylons Gesicht nur noch verschwommen bis er ganz aus meinem Sichtfeld verschwindet.

War es das jetzt? Mein Schicksal als Schutzengel? Einer der versagt hat, weil er menschlich wurde? Wieso musste ich das erneut durchmachen? Kann ich nicht einfach zu Mary und Peter? Meiner Familie, die ich nun schon so lange habe auf mich warten lassen?

 

Als ich zu mir komme liege ich in Kylons Armen. „Na? Wieder von den Toten auferstanden?“, fragt er amüsiert.

Ich blinzele, fühle mich noch matt und schwach. „Ich dachte, dass war es jetzt...“

„War es auch. Ich habe ganze Arbeit geleistet.“

Verständnislos sehe ich Kylon an. Er deutet mit der Hand neben sich. Weiße Federn. Meine Augen weiten sich vor Schrecken. „Meine Flügel!!!“, brülle ich und greife um mich. Es schmerzt höllisch und da sind nur noch die Stummel. Klägliche Überreste. „Wieso hast du das gemacht?!“, schreie ich Kylon an. Ich greife nach meinen weißen Flügeln auf dem Boden, die langsam grau werden.

„Ich habe dir einen Gefallen getan! Gern geschehen!“, murrt Kylon und steht auf. Ich sehe zu ihm auf, an mir herunter und lasse den Blick schweifen. Ich greife mir ans Gesicht. „Ich kann ganz normal sehen...“, flüstere ich entsetzt. „Kylon, was hast du getan?“, jammere ich und krieche zu ihm. Überall um mich herum auf dem Boden ist Blut.

„Ich habe dir ein neues Leben geschenkt. Sei dankbar und nimm es an oder willst du ein zweites Mal sterben?“

„Wieso hast du mich nicht getötet?“ Verzweifelt sehe ich zu ihm auf. Kylon sieht ernst auf mich herab. Er geht in die Hocke und greift mit beiden Händen nach meinem Gesicht.

„Wenn du wie sie wirst, dann nutze deine zweite Chance.“

Mit blutverschmierter Hand packe ich Kylons Handgelenk. „Wieso ich? Du hättest mich aus dem Weg räumen sollen.“

„Ja, hätte ich, aber dann habe ich nichts mehr von dir. Du kannst zwischen beiden Welten wandeln, weißt du eigentlich zu was du fähig bist? Du bist etwas Besonderes.“

Ich spüre Kylons kalten Blick auf meinem nackten Körper. Er zieht mich an sich und hält mich fest in seinen Armen. Ich schließe meine Augen und versuche ruhig durchzuatmen. Mein Herz klopft heftig in meiner Brust. Mein Rücken ist eine einzige brennende Wunde. Das muss ein Alptraum sein. Nur ein böser Traum.

„Hab keine Angst, Robert. Ich wache über dich.“ Kylons leise Stimme raunt mir ins Ohr. Ein Schauder überkommt meinen Körper. Ich schmiege mich fest an ihn. Eng umschlungen sitzen wir zwischen den Büschen, die um das Haus herum stehen.

„Sie werden es sehen, dass ich anders bin als sie...“, flüstere ich.

Ich bin einfach nur müde.

„Komm steh auf!“ Kylon erhebt sich und zieht mich hoch. Ich halte mich zaudernd an ihm fest. „Lass mich nicht alleine, du blöder Pisser!“, jammere ich und kralle meine Finger in seine Kleidung. Kylon lächelt. „Du kannst ja schon wieder fluchen.“ Er zieht mein Gesicht am Kinn hoch, beugt sich vor und küsst mich.

„Jetzt bist du dran. Bleib bei ihm und sieh zu wie er aufwächst.“ Kylon schleift mich unbarmherzig um das Haus herum, zur Haustür hinüber und deutet auf die Klingel. „Mach jetzt keinen Rückzieher, Robert Cartwright.“

Kylon schmunzelt und tritt einige Schritte zurück bis er in der Finsternis der Nacht verschwindet. Ich sehe mich um, kann ihn aber nicht mehr sehen. Mein Blick fällt auf die Klingel. Ich schaue auf meinen nackten Körper und zittere am ganzen Leib. Überall klebt Blut.

Zögernd drücke ich auf die Türklingel und schließe die Augen. Meine Lippen zittern.

Die Tür öffnet sich. „Wer sind Sie?“

„Bitte, ich brauche Hilfe...“, murmele ich und breche vor Maria zusammen, die mich erschrocken auffängt und nach ihrem Sohn ruft.

„Ich wache über dich...“ Kylons Stimme ist das letzte, dass ich in meinem Kopf höre als mir schwarz vor Augen wird.

Impressum

Texte: Sandra Marquardt
Bildmaterialien: Mein Lieber Schwan von Lupo / pixelio.de
Tag der Veröffentlichung: 23.06.2014

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