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Prolog

Endlich ist es soweit. Tom und ich haben unser Abi in der Tasche und nun können wir endlich mal nach all den stressigen Prüfungstagen auf den Putz hauen.

Das muss natürlich groß gefeiert werden und so ist uns beiden wohl der Anruf meines Cousins Jannes genau gelegen gekommen. Er lebt mit seiner Familie auf Sylt und wollte wissen, ob ich ihn mal wieder besuche.

Da sage ich doch nicht nein und dass mein bester Freund Tom mitkommt ist gar keine Frage. Gesagt, getan.

Am letzten Schultag haben wir die Taschen gepackt und freuen uns auf auf die wohlverdienten Ferien.

Ich starre aus dem Zugfenster. Tom sitzt mir gegenüber und spielt auf seiner PS Vita. In meinem Magen kribbelt es vor Aufregung. Normalerweise komme ich nur selten aus Hamburg raus und Jannes habe ich auch ewig nicht mehr gesehen.

Als Kind war ich viel öfter auf Sylt gewesen, aber dann irgendwie so gar nicht mehr. Zeitmangel und natürlich spielt Geld auch eine Rolle dabei. Meine Eltern haben nun mal nicht so viel Geld um mir die ständigen Reisen zu finanzieren. Wird wohl Zeit, dass ich mir bald schleunigst einen Nebenjob suche.

„Markus! Das Meer!“, meint Tom aufgeregt und zerrt ungeduldig an meinem Arm. Aufgeschreckt aus meinen Gedanken sehe ich aus dem Fenster unseres Zugabteils und starre auf die glitzernde Wasseroberfläche. In weiter Ferne kann ich ein Schiff erkennen. Der Himmel spielt heute auch mit und ist nur wenig bewölkt. Ein faszinierender Anblick.

Die Nord-Ostsee-Bahn fährt in zügigem Tempo über den Hindenburgdamm. Von beiden Seiten knallen die Wellen gegen den Damm und spritzen ihre weiße Gischt hoch auf. Es ist ein wahnsinnig schöner Anblick.

„Hoffentlich werden wir nicht weggeschwemmt!“, meint Tom lachend. Ich grinse breit. „Sag das nicht, sonst passiert es wirklich noch!“, warne ich ihn schelmisch.

Ich lehne mich zurück in meinen Sitz und sehe hinaus. Jetzt dauert es nicht mehr lange bis wir Westerland erreichen, wo Jannes' Vater uns abholt und dann geht es direkt nach Hörnum.

Das Lächeln will gar nicht mehr aus meinem Gesicht verschwinden. Die Vorfreude ist groß und ich freue mich auf den Strand.

Keiner von uns ahnt zu diesem Zeitpunkt, dass dieser Sommer nicht so lustig wird wie wir ihn uns vorgestellt haben und dass noch ein großes Abenteuer auf uns wartet.

Kapitel 1: Der Leuchtturm

Am Bahnhof auf Westerland angekommen warten wir neben unserem Gepäck auf Jannes' Vater, der zu unserem Leidwesen ziemlich lange auf sich warten lässt. Mit der Pünktlichkeit hat er es aber noch nie so genau genommen.

Ich sitze auf meiner Tasche, die ich sonst immer für den Sportunterricht benutze und trinke eine Cola aus dem Automaten. Tom, neben mir, knabbert wie ein Nagetier an seinem Käsebrötchen.

„Meinst du, er hat uns vergessen?“, fragt er mit vollem Mund.

Ich schüttele den Kopf und strecke meine Beine aus, ziehe sie allerdings eilig wieder an meinen Körper als eine Reisegruppe an uns vorbei hastet.

„Ah, da ist er!“, rufe ich und stehe winkend auf. Jannes' Vater entdeckt mich und läuft erleichtert auf uns zu.

„Hallo, Jungs! Tut mir leid, ich musste noch ein paar Besorgungen machen und habe darüber hinaus ganz die Zeit vergessen!“

„Kein Ding. So lange warten wir noch gar nicht“, erwidere ich schulterzuckend und greife nach meiner Tasche. Auch Tom steht auf und folgt uns mit seinem Gepäck. Wir verstauen unsere Taschen in dem silbernen Mercedes und setzen uns auf die Rückbank.

„Wie läuft's bei euch?“, frage ich meinen Onkel, der sich ans Steuer setzt und den Motor startet. Er fährt vom Parkplatz und reiht sich in den Straßenverkehr am Bahnhof ein, vorbei an den Taxis und direkt auf die Hauptstraße Richtung Hörnum.

„Oh, prima. Das Strickzeug deiner Tante verkauft sich inzwischen auch wie warme Semmeln, seit Jannes uns diese Homepage eingerichtet hat.“

„Cool!“ erwidere ich.

„Wollt ihr heute noch an den Strand?“

„Ja, das Wetter ist super. Wäre toll!“

„Na, Jannes kann euch sicher ein paar schöne Stellen zeigen, die nicht so ein Besuchermagnet sind.“

„Das hoffe ich doch mal.“

Ich sehe grinsend zu Tom, der sich noch ein wenig schüchtern zurück hält. Er lächelt und schaut dann neugierig aus dem Fenster. Die Landschaft zieht an uns vorüber und da mein Onkel das Fenster ein Stück heruntergekurbelt hat, riecht es im Wagen nach der salzigen Meerluft. Wie habe ich diesen Geruch vermisst. Das erlebt man bei uns nur direkt an der Elbe, allerdings wohne ich leider ein ganzes Stück davon entfernt.

Ich lehne mich an die Kopfstütze und schließe die Augen, genieße den frischen Wind, der mir die Haare zerzaust und die salzige Luft, die mir in die Nase steigt. Das Wetter ist super und das wird ein toller Sommer, da bin ich mir sicher.

Nach etwa 20-30 Minuten erreichen wir endlich den Süden der Insel und somit das Haus von der Familie Fendel. Wir steigen aus und zufrieden sehe ich mich um. Zum Glück hat sich hier nichts geändert seit meinem letzten Besuch. Das rote Backsteinhaus aus den 30er Jahren sieht immer noch ziemlich beeindruckend aus und bietet viel Wohnraum, allerdings bewohnt die Familie Fendel nur einen Teil davon, da sie es gemietet haben. Im Garten stehen noch immer die kunstvoll errichteten Stein-Skulpturen.

Ein Fenster im Dachgeschoss öffnet sich und dann lugen auch schon Jannes dunkelbraune wilde Locken heraus. „Hi! Lasst ihr euch auch mal blicken?“, brüllt er fröhlich zu uns herunter.

Ich grinse. „Wo ist unser roter Teppich?“, frage ich feixend.

„Warte, Markus! Ich komme runter!“ Jannes verschwindet und währenddessen holen Tom und ich unser Gepäck aus dem Kofferraum.

„Wir grillen heute im Garten!“, verkündet mein Onkel und schließt den Kofferraumdeckel.

„Echt? Geil!“ Tom und ich werfen uns Blicke zu, die eindeutig darauf hinweisen, dass wir durchaus noch etwas zu Essen vertragen könnten.

Die Haustür öffnet sich und Jannes rennt uns entgegen. Wir umarmen uns stürmisch und auch Tom bleibt nicht vor einer herzlichen Umarmung verschont. Wir schleppen unser Gepäck ganz nach oben in das Haus, direkt auf den Dachboden. Dort hat Jannes sein Reich. Für uns liegen bereits Matratzen bereit und ich kann mir denken, dass wir nicht wirklich viel Schlaf finden werden. Jannes ist ein Wirbelwind und dieser Sommer wird garantiert nicht langweilig, so viel steht schon mal fest. Ich lasse meine Tasche auf den Boden fallen und gehe ans Fenster. Im Sommer kann es hier oben schon mal wie in einer Sauna kochen, aber der Ausblick ist wirklich klasse. Man kann richtig weit auf das Meer hinaus sehen. Der Vorteil ist dass, nicht wie in der Stadt, lauter Häuser die Sicht versperren. Ein wahres Inselparadies.

Ich sehe zu den Jungs und beobachte wie Tom Jannes stolz seine neuen Spiele für die PS Vita zeigt.

„Was steht denn heute an?“, frage ich neugierig.

Jannes sieht zu mir auf. „Hm, nachher wird erst mal im Garten gegrillt und heute Abend...“ Jannes sieht uns verschwörerisch an und grinst schelmisch.

„Jetzt sag schon!“, fordert Tom ihn ungeduldig auf.

„Heute Abend machen wir eine Nachtwanderung!“, meint Jannes. „Meine Eltern wissen nichts davon, also müssen wir uns leise aus dem Haus schleichen.“

Ich lache und auch Tom fällt mit ein. Jannes ist wirklich für jedes Abenteuer zu haben. Es hat aber auch seinen Reiz die Insel bei Nacht zu erkunden.

„Ich habe noch eine Taschenlampe gefunden. Sie funktioniert auch. Die können wir heute Nacht gut gebrauchen!“, erzählt Jannes.

„Glaubst du denn wir erleben hier überhaupt etwas Aufregendes?“, fragt Tom nachdenklich. „Ich meine, hier auf der Insel scheint nicht so das Nachtleben zu toben wie in der Stadt und so weit außerhalb glaube ich kaum, dass wir auch nur annähernd etwas spannendes zu Gesicht bekommen werden.“

„Stimmt, da hat er Recht!“, stimme ich Tom zu.

Jannes verzieht seinen Mund zu einer Schnute. „Das sagt ihr jetzt, aber man kann nie wissen!“

„Jungs! Kommt runter! Wir schmeißen den Grill an!“, vernehme ich die Stimme meiner Tante von unten.

Wir laufen nacheinander die steile Treppe hinunter, dann eine Weitere und gelangen schließlich durch die Küche hinaus auf die Terrasse und in den Garten. Tom läuft ein Stück hinaus und besieht sich die Skulpturen.

Meine Tante umarmt mich fest und drückt mir einen Kuss auf die Wange. „Schön, dass du uns mal wieder besuchst, Markus!“, meint sie erfreut und entlässt mich endlich aus ihrem Klammergriff. Lächelnd lasse ich mich auf einem Gartenstuhl nieder. Der Tisch ist voll gedeckt mit Kartoffelsalat, Nudelsalat und Maisalat. Mein Onkel steht bereits am Grill, dessen Grillkohle er entzündet hat und legt die ersten Steaks und Würstchen auf das Gitter.

Meine Tante drückt uns Spieße in die Hand, so dass wir unsere selber zusammen stellen können. Vor uns stehen lauter Schüsseln mit Pilzen, Paprika, Zwiebeln, Hühnchenstücken und noch einigen weiteren Zutaten. Tom der sich inzwischen zu uns gesellt hat, bestückt einen seiner Spieße komplett mit Fleisch. Grinsend tun Jannes und ich es ihm gleich.

„Und du bist ein Klassenkamerad von Markus?“, will mein Onkel wissen. Tom nickt.

„Habt ihr schon Pläne, was ihr machen wollt? Studium oder Ausbildung?“

„Wir suchen uns Ausbildungsplätze. Für das Studium haben wir kein Sitzfleisch!“, erzähle ich lachend. Tom nickt grinsend.

„Ach ja? Was wollt ihr denn machen?“, fragt Jannes mit hochgezogenen Augenbrauen.

„Kennst mich doch, ich will an Autos herumschrauben.“ Ich strecke ihm frech die Zunge heraus.

„Und du, Tom?“

„Er hat einen Blog und veröffentlicht dort seine Entwürfe für Games!“, falle ich dazwischen. „Die sehen richtig geil aus! Vielleicht bekommt er die Chance als Designer für eine Firma zu arbeiten.“

„Mhm, mal sehen...“, meint Tom zurückhaltend. „Ich hatte überlegt ob ich Design studiere, aber ich bin mir nicht sicher. Ich werde wohl was anderes machen. Bürokauffmann oder so, ganz sicher bin ich mir noch nicht.“

„Ihr habt ja noch eine Weile Zeit es euch zu überlegen.“ Meine Tante klopft Jannes auf die Schulter. „Unser Jannes weiß auch noch nicht was er machen will. Er kann sich einfach nicht entscheiden.“

„Was soll ich machen?“, fragt Jannes missmutig. „Es gibt so viele Sachen, die ich tun möchte, aber ich bin mir nicht sicher, ob ich solche Jobs auch jahrelang durchhalten kann.“

„Du hast ja noch Zeit.“

„So, wer will Würstchen? Die Steaks brauchen noch ein wenig!“, fragt mein Onkel dazwischen.

Sofort schnappen wir uns die Pappteller und belagern ihn.

 

Papp satt gehen wir nach dem Essen runter zum Strand. Barfuß lasse ich meine Fußzehen tief im warmen Sand verschwinden. Tom und Jannes rennen zum Wasser und planschen fröhlich darin herum, bespritzen sich gegenseitig und halten Ausschau nach Muscheln.

Ich lasse den Blick über den Strand gleiten und höre das laute Rauschen des Wassers. Der Wind peitscht mir stürmisch ins Gesicht und zerrt an meiner Kleidung.

Ich geselle mich zu den Jungs ins Wasser und schubse Tom munter hinein. Schreiend fällt er hin und noch im selben Moment greift er nach meiner Hand und zieht mich mit sich. Lachend landen wir im Wasser und auch Jannes lässt nicht lange auf sich warten und springt mitsamt seinen Klamotten einfach ins Nass hinein.

„Habt ihr eigentlich eine Freundin?“, fragt Jannes nach einiger Zeit, als wir am Strand sitzen und sieht uns neugierig an. Ich betrachte die rötliche raue Schere in meiner Hand, die eindeutig von einem Krebs stammt. Fragt sich bloß von welcher Sorte.

„Was? Nee!“, meint Tom abwehrend und lacht. „Die wollen doch nur die coolen Jungs daten!“

„Echt?“, fragt Jannes überrascht. „Ich dachte, ihr habt bessere Chancen, immerhin lebt ihr beide in der Stadt!“

„Schon, aber das ist nicht so leicht.“ Ich öffne die Schere und klappe sie wieder zu. Ich schaue zögerlich zu Tom, der mich kurz ansieht und dann aufs Meer hinaus.

„Wir haben einfach kein Glück bei den Weibern!“, meint er deprimiert.

„Hier ist es auch nicht einfach jemanden zu finden.“ Jannes seufzt. „Da ist zwar ein Mädchen, aber ich habe bestimmt keine Chance bei ihr.“

„Vielleicht ja doch?“ Ich sehe aufmunternd zu ihm und lächele. Jannes nickt und zuckt gleichzeitig mit den Schultern. „Mal sehen...“

Ich mustere ihn und schaue dann wieder auf meinen Fund. Vielleicht sage ich es ihm lieber doch noch nicht? Muss er es überhaupt wissen?

Ich schaue kurz zu Tom, der sich in den Sand gelegt hat und die Arme hinter dem Kopf verschränkt hat. Mein Blick fällt aufs Meer und kurzerhand lege ich mich ebenfalls in den warmen Sand und kurz darauf schauen wir alle drei zum Himmel hinauf, während jeder seinen eigenen Gedanken nachhängt.

 

„Habt ihr alles?“, fragt Jannes grinsend und testet ob die Taschenlampe auch wirklich funktioniert. Das Abenteuer soll ja schließlich nicht enden bevor es überhaupt erst angefangen hat.

„Klar, wir brauchen ja nicht wirklich was.“ Ich sehe zu Tom und gemeinsam mit Jannes schleichen wir uns zur Luke am Dachboden, öffnen sie und laufen barfuß die Treppe herunter.

Jannes Eltern scheinen zum Glück schon zu schlafen. Wir trippeln auf Zehenspitzen zur Tür, die nicht abgeschlossen ist und verlassen das Haus.

„Ihr schließt die Tür nicht ab?“, flüstere ich Jannes ins Ohr.

Er runzelt die Stirn. „Wir wohnen hier am Arsch der Welt. Wer sollte hier schon einbrechen?“

„Hast Recht.“

In einer Reihe trotten wir hintereinander her. Der Wind hat sich etwas gelegt, braust uns jedoch immer noch um die Ohren. Es ist auch ein klein wenig kühler geworden. Stockduster ist die Nacht und mithilfe der Taschenlampe laufen wir über die sandige Düne. Ich spüre die Gräser an meinen Beinen und schaue in die Ferne.

„Ob wir vielleicht ein paar Hexen sehen?“, fragt Jannes lachend.

„Hexen?“

„Ja, angeblich heißt es sie würden über die Dünen tanzen. Vielleicht gibt es ja tatsächlich noch Hexen hier?“, vermutet Jannes.

„Das hast du dir ausgedacht!“, meint Tom und gibt ihm einen Klaps auf den Hinterkopf. „Du verrückter Spinner!“

Jannes lacht bösartig. „Muahahahaha~...“

Ich lächele und folge den beiden. Der Lichtschein der Taschenlampe huscht unkontrolliert über den Weg vor uns. Ich sehe auf das mondbeschienene Meer und höre es rauschen.

„Kennt ihr die Geschichte von dem Dikjendälmann?“, fragt Jannes.

„Hä? Wem? Dicker was?“

„Der Dikjendälmann!“, wiederholt Jannes belehrend und boxt Tom in die Rippen.

„Wer ist das?“, frage ich meinen Cousin.

Er schaut zu mir zurück, leuchtet sich ins Gesicht und schneidet dabei eine unheimliche Fratze. „Es heißt, er soll noch immer hier herumlaufen und manch einer meint ihn sogar gesehen zu haben!“

„Red' keinen Quatsch!“ Trotzdem läuft mir eine Gänsehaut über die Arme. Ich verschränke sie vor der Brust und sehe mich unsicher in der Finsternis um.

„Es wird gesagt, dass er angeblich in einer Nacht im Jahr 1713 im Dünental Dikjendäl gestrandet ist. Nur er und ein Geldkasten, den er bei sich hatte. Er hat die gefährlichen Strapazen in einer stürmischen Nacht auf sich genommen und hoffte einen Landsmann zu finden, der ihm wohlgesonnen war und ihm helfen würde. Dieser arme Trottel. Strandläufer haben ihm aufgelauert. Sie hatten ihn entdeckt und auch seinen Geldkasten und sie wollten ihn haben, diese gierigen Unmenschen. Die Strandläufer schlugen den Mann zu Boden und verscharrten ihn im Sand. Der Sterbende richtete sich auf, doch diese Monster traten mit Gewalt seinen Kopf in den Grund. Sie schlugen ihm die immer wieder aufrichtende Hand ab und machten sich mit dem Geldkasten davon.“ Jannes sieht langsam von mir zu Tom. Ich schlucke nervös. „Seitdem soll er mit seinem empor gerichteten Armstumpf über das Dünental laufen. Ein Geist, der Gerechtigkeit fordert. Jede Nacht, dort wo der Mord geschah, soll er ruhelos umherwandern. Deswegen wird er der Dikjendälmann genannt.“

Wir schweigen. Nichts außer der Windbrise und dem Meer ist zu hören.

„Das hast du dir ausgedacht, nicht wahr?“, frage ich lachend. Das mit den Hexen hat immerhin auch nicht gestimmt. Oder doch?

„Hm, wer weiß?“ Scheinheilig lächelt Jannes mich an.

„Ach was! Wer hat schon Angst vor Geistern?!“, meckere ich laut und linse trotzdem über die Düne, den Strand entlang. War da eben etwas oder habe ich mir das nur eingebildet?

Man, Jannes und seine blöden Geschichten! Das sind doch alles nur dumme Ammenmärchen!

Jannes leuchtet mit der Taschenlampe langsam durch die Dunkelheit. „Aber was ist, wenn es doch wahr ist? Einige meinen ihn wirklich gesehen zu haben...“

„Ach was! Die wollen doch nur angeben!“, wirft Tom aufgebracht ein.

Wir laufen langsam weiter, aber mittlerweile fühle ich mich doch etwas unwohl in meiner Haut. Was ist, wenn es ihn tatsächlich gibt? Ich glaube eigentlich nicht an solchen Humbug, aber es gibt ja auch Leute, die angeben sie hätten die Geister von ihren Vorfahren oder verstorbene Familienmitglieder gesehen. Paranormale Wesen oder sonst was...

„Seht ihr das?“, fragt Tom nach einiger Zeit. Ich laufe beinahe in ihn hinein, als er plötzlich abrupt stehen bleibt.

„Was ist?“, fragt Jannes und auch ich sehe ihn verwundert an.

„Da drüben. Da war ein Lichtschein, glaube ich.“ Tom deutet mit der Hand in die Richtung.

„Ah, ja. Da hinten steht der alte Leuchtturm. Er ist verlassen, soweit ich weiß.“ Jannes deutet mit der Taschenlampe dorthin. „Sollen wir hingehen?“

„Klar, warum nicht? Oder Markus?“, meint Tom und sieht mich abwartend an. Mir ist das ganze immer noch nicht richtig geheuer, trotzdem lasse ich mir nichts anmerken und nicke entschlossen. Ich mache mir doch nicht vor den beiden in die Hose! Soweit kommt es noch! Was ist schon dabei? Es ist nur ein oller Leuchtturm. Soll der mir etwa Angst einjagen?

Mit einem mulmigen Gefühl laufen wir zu dem Leuchtturm. Der Weg erscheint mir endlos lang zu sein und immer wieder sehe ich mich nervös um. Was ist, wenn der Geist doch plötzlich auftaucht?

„Er ist ein Geist! Der kann mir nichts antun!“, flüstere ich gereizt.

„Hast du was gesagt?“, fragt Tom und schaut zu mir. Hastig schüttele ich den Kopf und laufe an ihm vorbei. Die sollen ja nicht denken ich hätte schiss.

Der Leuchtturm wird langsam immer größer, je weiter wir uns ihm nähern und auch der Lichtschein wird heller und erleuchtet nicht nur das Meer, sondern auch die unmittelbare Umgebung.

In einiger Entfernung bleiben wir unschlüssig stehen.

„Ist er wirklich verlassen?“, frage ich Jannes misstrauisch, woraufhin er nickt und wie gebannt den Leuchtturm anstarrt.

„Kann man ihn betreten?“, will Tom neugierig wissen.

„Glaub schon. Ich war da noch nie drin.“ Jannes zuckt mit den Schultern und so bleibt es eine unausgesprochene Entscheidung zwischen uns dreien, dass wir der Sache auf den Grund gehen werden. Wäre wirklich toll, wenn wir ihn betreten könnten. Ich würde zu gerne mal ganz nach oben gehen. Ist bestimmt eine tolle Aussicht. Fragt sich nur, ob wir auch bei Nacht etwas erkennen können.

„Wo ist denn der Eingang?“, frage ich. Wir stehen direkt vor dem Leuchtturm und zielstrebig geht Jannes um ihn herum. Tom und ich folgen ihm. Wir bleiben vor einer rostigen Tür stehen, die schon mal bessere Tage gesehen hat.

„Da ist ein Schloss vor.“ Jannes leuchtet mit der Taschenlampe darauf. „Sieht neu aus.“

„Hä? Du hast doch gesagt, dass hier keiner mehr ist.“ Stirnrunzelnd sehe ich meinen Cousin an, der den Lichtschein der Taschenlampe langsam an der Fassade nach oben gleiten lässt. „Ja, dachte ich auch...“

„Na ja, vielleicht ist hier jemand von den Feriengästen eingebrochen und hat irgendeinen Mist verzapft. Wahrscheinlich hat jemand die Tür verriegelt, damit das nicht noch mal passiert.“ Toms Vermutung klingt plausibel und macht durchaus Sinn.

Ich greife nach dem Türschloss. Es liegt schwer in der Hand und ist kalt. Mein Blick fällt auf die Tür. Sie ist zwar rostig, sieht aber nicht danach aus, als würde sie irgendwann den Geist aufgeben.

„Die kriegen wir nicht auf...“, murmele ich und lasse von dem Vorhängeschloss ab. „Schade, ich dachte, wir könnten mal einen Blick hinein werfen.“

„Können wir sie nicht aufbrechen?“, fragt Jannes. Überrascht sehen Tom und ich ihn an. Ausgerechnet der fromme Insulaner will etwas kriminelles machen?

Tom und ich sehen uns grinsend an. Was ist schon dabei? Wahrscheinlich bekommen wir die Tür ohnehin nicht auf. Ich greife nach dem Schloss und zerre daran. Der Karabiner an der Tür ist zwar rostig, gibt aber nicht nach. Leider hat er auch keine Öffnung, so dass wir auch nicht das Vorhängeschloss entfernen können. Auch der Türgriff gibt nicht nach. Da tut sich rein gar nichts.

„Für so etwas braucht man wohl einen Schneidbrenner!“, vermute ich.

„Habt ihr so etwas?“, fragt Tom.

Jannes wiegt den Kopf bedächtig hin und her. „Möglich. Ich bin mir nicht sicher.“

Unschlüssig stehen wir vor der Tür herum. „Und jetzt? Wir müssten den ganzen Weg zurücklaufen, um das Ding zu suchen.“

„Wir haben wohl keine andere Wahl.“ Ich sehe an dem Leuchtturm hinauf. Draußen weht etwas. Ich ziehe die Augenbrauen zusammen und versuche zu erkennen, um was es sich dabei handelt. Es ist nur in der Dunkelheit schwer zu erkennen. Eine Flagge? Oder ein Tuch? Dort oben scheint jedenfalls ein Fenster offen zu sein, aber es sieht nicht aus wie ein einzelner Gegenstand.

„Gib mir mal die Taschenlampe!“, fordere ich Jannes auf, der sie mir nur ungern überreicht.

„Mach sie nicht kaputt, Markus! Sonst bringt mein Vater mich noch um!“, raunt er mir zu.

„Ja, ja, mache ich schon nicht.“ Ich halte die Taschenlampe nach oben, aber es ist schwierig etwas zu erkennen, da die Batterien bereits nachlassen und der Schein trüber wird.

„Was ist da oben?“, fragt Tom und tritt neben mich.

„Keine Ahnung! Ich dachte, da wäre eine Flagge oder so etwas...“, murmele ich zögernd. Der Lichtstrahl kommt nicht ganz hinauf, aber es sieht eindeutig nicht nach einer Flagge aus. „Was ist das?“ Jannes steht neben mir und wie gebannt sehen wir alle hinauf. „Jedenfalls keine Flagge, so viel ist schon mal sicher.“

„Leute, findet ihr nicht auch, dass es aussieht wie Haare?“, fragt Tom ungläubig.

Jannes und ich sehen ihn verdutzt an. Ich schaue genauer hin. Tom hat Recht. Was mich irritiert hat, waren einzelne Stücke. Ich habe erst gedacht, es wäre eine zerschnittene Piratenflagge oder ein kaputtes Handtuch, aber wenn es wirklich Haare sind, dann...

Ich schlucke aufgeregt. Es scheinen wirklich einzelne Haarsträhnen zu sein, die leicht vom Wind hinausgetragen werden.

Ich halte die Taschenlampe mit dem ausgestrecktem Arm über meinen Kopf, um mehr erkennen zu können. Mir gefriert das Blut in den Adern. Mit schreckgeweiteten Augen sehe ich hinauf. Die Dunkelheit gibt nicht viel Preis, aber was ich sehe, lässt mich erstarren und einen Schritt zurückweichen.

Ein Gesicht starrt mich an. Mit großen Augen. Die halbe Gesichtshälfte ist nicht zu erkennen, liegt in der Finsternis und es sind eindeutig Haare, die herab hängen.

Ich bewege mich keinen Zentimeter vom Fleck, starre hinauf in das Gesicht und bin wie gelähmt.

„Leute, das ist ein Mensch oder?“, flüstert Jannes hysterisch.

Wie ein wildes Tier starrt die fremde Person auf uns herab. Der Anblick ist grauenvoll und unheimlich. Ich erschaudere, als mir eine Gänsehaut über den Körper rinnt.

„L-lebt der?“, fragt Tom und greift nach dem Saum meines Shirts.

Als das Fenster vom Wind gegen die Fassade des Leuchtturms schlägt, haben wir alle drei genug gesehen, regen uns und flüchten über den Strand zur Düne. Wir rennen so schnell wir können ohne uns noch einmal umzusehen. Ich spüre den Blick auf mir, habe das Gefühl irgendwo könnte noch der Dikjendälmann in der Dunkelheit um uns herum lauern und mit einem Mal möchte ich nur noch Zuhause in meinem warmen Bett liegen. Zuhause bei meiner Familie.

Ich sehe die weit aufgerissenen Augen dieser Person vor meinem inneren Auge und ich bin mir ziemlich sicher, dass dieser Mensch noch sehr lebendig ist.

Kapitel 2: Geisterhafte Erscheinung

Zurück im Haus sitzen wir uns in Jannes' Zimmer gegenüber und schauen einander unwohl an. Diese Erscheinung am Leuchtturm wirkte unheimlich.

„War das wirklich ein Mensch?“, fragt Tom im Flüsterton.

„Was denn sonst? Sah ziemlich menschlich aus!“, murrt Jannes, dem der Schrecken scheinbar noch immer in den Gliedern sitzt.

„Na ja, vielleicht ist es nur eine lebensechte Vogelscheuche?“, wirft Tom seine Vermutung in die Runde.

Ich schüttele den Kopf. „Das glaubst du doch wohl selbst nicht, Tom! Das war eindeutig ein Mensch!“

„Aber wie kommt der in den Leuchtturm?“, will Jannes wissen. „Der ist doch abgeschlossen. Ich meine, da hängt doch ein Vorhängeschloss an der Tür!“

Ratlos schweigen wir.

„Und wenn diese Person dort eingeschlossen worden ist?“, murmele ich leise. Tom und Jannes sehen mich entsetzt an.

„Warum?“, fragt Tom mit großen Augen.

„Woher soll ich das denn wissen?“, erwidere ich ärgerlich. Ich lehne mich gegen Jannes' Bett und verschränke die Arme vor der Brust. „Jedenfalls ist das nicht normal, dass da jemand in dem Turm ist!“

Jeder hängt für einen Moment seinen eigenen Gedanken nach. Ich sehe aus dem Fenster und schaue in den Sternenhimmel. Von meinem Platz aus kann ich den unteren Teil der Mondsichel erkennen.

Noch immer habe ich das Gesicht mit diesen weit aufgerissenen Augen vor mir. Augenblicklich rinnt mir ein Schauder über den Körper.

Was hat es mit dieser Person auf sich und wieso zum Teufel ist es noch niemandem hier in der Gegend aufgefallen, dass jemand im Leuchtturm eingesperrt ist? Das wirkt alles äußerst dubios auf mich. Haben die Inselbewohner etwas zu verbergen? Oder hat ein Außenstehender diese Person dort eingesperrt?

„Sollen wir es meinen Eltern erzählen?“, fragt Jannes zögernd.

Ich sehe zu ihm und wiege bedächtig meinen Kopf von einer Seite zur anderen. Das wäre wohl am einfachsten.

„Meint ihr nicht es wäre spannender, wenn wir der Sache auf den Grund gehen würden?“, fragt Tom plötzlich begeistert und beugt sich vor. „Wir machen es wie Die drei Fragezeichen!“

„Spinnst du?“, entfährt es mir entsetzt. „Das ist eine Jugendbuchreihe und das hier ist die Realität! Wenn wir uns in so ein Abenteuer stürzen, kann das ziemlich hohe Konsequenzen nach sich ziehen! Außerdem sind wir nicht so schlau wie Justus, Peter und Bob!“

„Aber er hat Recht.“

Ich sehe zu Jannes und seufze bitterlich. „Nicht du auch noch!“

„Sieh es doch mal so. Ihr seid diesen Sommer hergekommen und wolltet etwas Aufregendes erleben. Wir lösen das Rätsel um den Leuchtturm!“, meint Jannes. Ich blicke verstört von meinem Cousin zu Tom. Zwei gegen einen. Das ist unfair!

„Wie wollt ihr das anstellen? Zum Leuchtturm spazieren, das Schloss öffnen und diese Person herausholen? Stellt ihr euch das echt so einfach vor?“ Ich bin noch immer gegen dieses Vorhaben. Ich wollte ja Sommerurlaub am Strand, aber von einer Rettungsaktion war niemals die Rede gewesen!

„Ohne mich!“ Abwehrend sitze ich auf meiner Matratze und sehe die beiden Jungs mir gegenüber griesgrämig an.

„Dir ist es also egal, ob diese Person drauf geht?“, fragt Tom mich bestürzt. „Ich meine, dass muss doch schrecklich sein so allein auf sich gestellt zu sein mit niemandem reden zu können und wer weiß, ob dieser Mensch regelmäßig was zu essen bekommt!“, appelliert er an mein Gewissen.

„Tom hat Recht, Markus. Wir müssen das Mädchen befreien!“

Ich ziehe die Augenbrauen hoch. „Wie kommst du darauf, dass es ein Mädchen ist?“

„Na, wegen der langen Haare.“

Irritiert sehe ich Jannes an. Komisch. Hat er nicht richtig hingesehen oder habe ich mich geirrt? Mir kam es so vor als wäre es ein eher männliches Gesicht gewesen. Oder habe ich mich bei all der Aufregung getäuscht? Ich muss zugeben, dass ich das Gesicht nicht allzu gut erkennen konnte, immerhin war es ziemlich finster und der Mond hat den Leuchtturm von der anderen Seite beschienen. Nicht mal das Licht des Leuchtturmes selbst konnte uns dabei behilflich sein etwas zu erkennen.

„Ich weiß nicht. Mir behagt das alles einfach nicht.“

„Wir müssen doch einfach nur in der Nacht noch einmal dahin. Das Vorhängeschloss mit dem Schneidbrenner öffnen und dann bringen wir das Mädchen zu mir nach Hause. Wir erzählen meinen Eltern davon, die dann die Polizei rufen und am nächsten Tag stehen wir als Helden in der Zeitung!“, folgert Jannes begeistert von seiner Idee.

Skeptisch verziehe ich meinen Mund zu einer Grimasse. Das hört sich bei ihm alles so einfach an.

„Das... Mädchen... ist doch in dem Turm eingesperrt. Was machen wir, wenn wir der Person über den Weg laufen, die es dort hingebracht hat?“, frage ich. Wenn die Jungs auf einem Mädchen beharren, dann muss ich mich wohl oder übel geirrt haben.

„Sollen wir es tagsüber tun? Meinst du, dann ist es sicherer?“, fragt Tom.

„Das glaube ich nicht, immerhin sind tagsüber viele Urlauber am Strand unterwegs. Die müssen uns nur kurz sehen und alarmieren bestimmt die Polizei, weil wir an dem Turm randalieren.“ Jannes nickt bestätigend zu seiner Vermutung und schüttelt den Kopf. „Nachts sieht uns keiner. Da ist es auf jeden Fall sicherer!“

„Vielleicht sollten wir nachher trotzdem noch mal hingehen? Dann können wir uns davon überzeugen, dass da tatsächlich eine Person ist.“

Ich sehe zu Tom und zucke mit den Schultern. Die beiden Jungs sind ohnehin schon bereits voll in ihrem Element und scheinen sich auch nicht mehr wirklich von ihrem Plan abbringen zu lassen. Was bleibt mir da anderes übrig, als mich ihnen anzuschließen? Wenn auch etwas widerwillig.

„Wir sollten schlafen gehen, wenn wir die nächste Nacht schon wieder wach bleiben wollen.“ Ich ziehe meine Bettdecke zurück und auch Tom und Jannes verziehen sich in ihre Betten. Ich schlinge meine warme Decke um meinen Körper und obwohl es total warm im Zimmer ist, fühlt sich mein Körper eiskalt an. Mich überkommt ein ungutes Gefühl. Ist das wirklich eine gute Idee mit dieser turbulenten Befreiungsaktion?

 

Es ist frühmorgens. Als ich aufwache, habe ich das Gefühl eine ganze Woche keinen Schlaf bekommen zu haben. Die ganze Nacht habe ich mich unruhig im Bett hin- und hergewälzt. Alpträume von dieser Person im Leuchtturm und dem Dikjendälmann haben mich die ganze Zeit geplagt.

Ich sehe zu Jannes' Bett, doch es ist bereits leer. Er scheint wohl schon irgendwo im Haus herumzuturnen. Ich vernehme ein unterdrücktes Stöhnen neben mir. Ich drehe mich auf die Seite und sehe zu Tom, der mit dem Rücken zu mir liegt. Hat er einen Alptraum? Ich fange meistens auch erst morgens mit dem Träumen an. Ich weiß allerdings nie richtig, wann der Traum beginnt, meistens bin ich dann schon mittendrin, aber wie er angefangen hat weiß ich nie.

„Tom?“, flüstere ich. Mein Mund ist ganz trocken von der warmen Luft im Zimmer. Ich setze mich auf und klettere zu ihm rüber. „Tom?“, frage ich nun etwas lauter. Er zuckt gewaltig zusammen und sieht erschrocken zu mir. „Wa-was?“

Da er ohne Decke geschlafen hat, kann ich nur zu gut sehen, was er da gerade wirklich treibt. Ich schmunzele.

„Was denn? Ich bin aufgewacht und hatte 'nen Ständer! Jannes war eh nicht da und du hast geschlafen wie ein Stein!“, verteidigt er sich grummelnd. Ich grinse breit und sehe auf seine Latte. „Darf ich zusehen?“, frage ich frech.

Tom wird knallrot im Gesicht. „Ich kratze dir die Augen aus, wenn du noch weiter da hin guckst!“, meckert er beschämt und zieht seine Boxershorts hoch.

„Schadeeeee~...“, gebe ich langgezogen nach.

„Ich gucke, ob das Badezimmer frei ist!“, meint Tom mürrisch und steht auf. Er läuft zur Luke und klettert in den Flur herunter. Ich lasse mich derweil lächelnd ins Bett zurücksinken und verschränke die Arme hinter dem Kopf. Mein Blick fällt kopfüber aus dem Fenster. Ich sehe den beinahe wolkenlosen Himmel. Es verspricht ein schöner Tag zu werden.

Mein Blick schweift zu Toms Bett. Der Anblick eben hat sich regelrecht in mein Auge gebrannt. Ich schlucke. Erst vor kurzem ist mir klar geworden, dass ich mich für den männlichen Körper interessiere. Immer öfter bleibt mein Blick auf den Männern hängen als auf Frauen. Etwas ungewohnt ist es ja schon und wirklich wohl fühle ich mich dabei auch nicht wirklich.

Tom weiß ja mittlerweile von meinem Geheimnis und ich bin wirklich froh, dass er es akzeptiert hat. Ich hatte wirklich Angst, dass er dann nicht mehr mein Freund sein möchte. Umso beruhigender ist es zu wissen, dass er mir zur Seite steht.

Ich bin schon am überlegen gewesen, es Jannes zu sagen, aber zurzeit bin ich mir nicht sicher, ob es wirklich notwendig ist. Die Sache mit dem Leuchtturm steht ja seit gestern sowieso im Mittelpunkt.

Die Luke öffnet sich. „Was denn? Schon fertig?“, frage ich lachend, doch ich irre mich, denn Jannes' Wuschelkopf taucht im Zimmer auf. „Fertig? Womit?“, fragt er verdattert.

„Ach nichts, ich dachte nur Tom kommt rein.“

„Aha. Na ja, egal. Meine Mutter meint, wir gehen heute Wattwandern! Ist das perfekte Wetter dafür!“, erzählt er mir begeistert.

„Cool!“ Ich setze mich auf und strecke mich ausgiebig.

„Kommst du runter? Ma deckt gerade den Tisch zum Frühstück.“

„Ja, gleich.“

Jannes verschwindet wieder. Ich zerre mir die verschwitzten Klamotten vom Leib und ziehe mir etwas Frisches über. Da Tom im Bad ist, muss ich wohl oder übel bis nach dem Essen auf eine kühle Dusche warten, obwohl ich kein Problem damit haben würde mit ihm zusammen zu duschen.

Ich öffne die Luke, lasse sie auf und laufe die Treppe herunter. Aus dem Badezimmer höre ich das Rauschen der Dusche und laufe direkt in die Küche, wo es schon herrlich nach Kaffee und frisch aufgebackenen Brötchen duftet. Die Terrassentür ist geöffnet, so dass die frische salzige Luft hereinströmt.

Ich setze mich neben Jannes an den Tisch.

„Guten Morgen, Markus? Gut geschlafen?“, fragt meine Tante, woraufhin ich nicke und nach einem Brötchen greife. So richtig Hunger habe ich eigentlich noch nicht wirklich, trotzdem esse ich lieber etwas.

Nach kurzer Zeit gesellt sich auch Tom zu uns an den Tisch, mir gegenüber. Wir schmieden Pläne und versuchen uns nicht anmerken zu lassen, dass wir für die Nacht ein ganz anderes Abenteuer planen. Trotzdem werfen wir uns hin und wieder verschwörerische Blicke zu oder müssen ein dreistes vorfreudiges Schmunzeln unterdrücken.

Nach dem Essen verschwinde ich im Badezimmer und gönne mir endlich eine wohlverdiente, kühlende Dusche. Bei dem Wetter ist das wirklich eine Wohltat sich den Schweiß der Nacht abzuwaschen.

Meine Hände gleiten über meinen Körper. Ich sehe an mir herunter und runzele die Stirn. Obwohl ich mir darüber im Klaren bin, dass ich Männer genau wie Frauen attraktiv finde, bin ich mir nicht sicher, ob ich ihn, wenn es erst mal soweit ist überhaupt hochkriege und dass ich mit 18 Jahren immer noch keinen Sex hatte ist fast noch deprimierender. Besonders, wenn ich mitbekomme, dass jüngere Knirpse aus der Schule noch vor mir Sex haben. Wie frustriert müssen dann erst die Leute sein, die noch später ihr erstes Mal haben?

Seufzend trockne ich mich mit einem Handtuch ab und ziehe mir meine Klamotten über. Ich suche Tom und Jannes, die im Garten auf den Gartenstühlen in der Morgensonne brutzeln und sehe hinaus aufs Meer. Mein Blick gleitet aber schnell wieder ins Haus. Ich betrete die Küche und gehe dann ins Wohnzimmer. Meine Tante sitzt auf dem Sofa und liest in einem Magazin. Sie sieht auf, als ich mich ihr nähere.

„Na, was gibt’s Markus?“

„Ich wollte mal fragen, ob es hier einen Leuchtturm gibt?“

„Natürlich, wir haben hier einen ganz in der Nähe stehen. Willst du ihn dir ansehen?“

„Äh... ja, vielleicht. Kann man da reingehen?“

„Hm, dass weiß ich ehrlich gesagt gar nicht. Soweit ich weiß ist aber außer dem Leuchtturmwärter schon ewig niemand mehr dort drinnen gewesen.“

Ich setze mich neben ihr auf das Sofa und werfe einen Blick in ihr Magazin, während sie weiterblättert und bleibe noch eine zeit lang bei ihr.

„Ich gehe wieder raus.“

„Ist gut, mein Junge.“ Meine Tante lächelt, tätschelt mir den Kopf und widmet sich wieder ihrem Heft.

Ich trotte hinaus zu den Jungs. Sehr viele Informationen habe ich ja nicht bekommen. Mir sind allerdings auch nicht gerade viele Fragen eingefallen.

 

Am Nachmittag, mein Onkel hat sich inzwischen auch wieder blicken lassen, fahren wir zu einer Führung am Strand, die etwas weiter entfernt ist. Meine Verwandten kennen sich zwar gut mit den Gezeiten aus, aber mit einem Führer eine Wattwanderung zu unternehmen ist doch wesentlich sicherer.

Mein Onkel parkt den Wagen auf einem Besucherparkplatz und zusammen laufen wir hinunter an den Strand. Momentan ist Ebbe und für etwa ein oder zwei Stunden können wir uns im Watt austoben.

Unsere Leiterin sieht auch gar nicht mal so übel aus. Sie hat rötliche Haare, eine nicht zu verachtende Oberweite und ist ziemlich schlank. Tom und Jannes belagern sie von Beginn an und stellen ihr lauter Fragen, die so gar nichts mit Wattwandern zu tun haben. Ich lächele darüber nur und laufe über den matschigen Grund. Meine Füße versinken im Schlick und so hocke ich mich hin und grabe ein wenig, bis ich einen Wurm finde. Ich trage ihn eine Weile mit mir herum, ehe ich ihn wieder frei lasse und zusehe wie er sich ein neues Versteck im Matsch sucht.

Jannes jammert herum, weil er in eine Muschel getreten ist, was zwar keine Verletzung mit sich gebracht hat, aber manchmal ist selbst er eine unverbesserliche Dramaqueen.

Tom gesellt sich zu mir. Auch seine Beine sind mittlerweile ganz verdreckt. Grinsend sieht er mich an und legt mir einen Arm um die Schultern. „Na, alles klar, du Einzelgänger?“, fragt er munter und drückt mich an sich. Ich lächele und strecke ihm die Zunge heraus.

„Und du baggerst unsere Führerin an?“, necke ich ihn.

„Man will ja nichts anbrennen lassen und mal ehrlich mit so einer scharfen Braut will doch jeder sein erstes Mal erleben!“

Ich boxe ihm in die Seite und lasse mich mitziehen. Wir trotten hinter der Gruppe her und schnell wandere ich mit meinen Gedanken wieder zu diesem Turm. Ehrlich gesagt will ich da kein zweites Mal hin. Am liebsten würde ich diesen Leuchtturm für den Rest der Ferien aus meinem Kopf verbannen. Kann sich nicht einfach die Polizei darum kümmern wie es sich eben gehört?

Ich greife nach Toms Handgelenk und er bleibt überrascht stehen. „Was ist?“

„Glaubst du echt, dass es eine so gute Idee ist heute Nacht noch mal zu diesem Turm zu gehen? Was ist, wenn die Leute auftauchen, die das Mädchen dort eingesperrt haben?“

„Keine Sorge, wenn etwas passiert rennen wir einfach weg.“ Tom grinst unbekümmert und rennt wieder nach vorne. Seine Füße bleiben im Schlick stecken und geben schmatzende Geräusche von sich. Ich schlendere hinter der Gruppe her und als die Wanderung beendet ist, gehen wir alle nach oben an den Strand um uns an einem eisernen Hahn, der auf einem Podest aufgebaut worden ist, die Hände und Beine abzuwaschen. Anschließend fahren wir heim und essen zu Mittag.

 

Erstaunt betrachte ich den Schneidbrenner in meiner Hand. Ich hätte nicht gedacht, dass mein Onkel tatsächlich einen hat und kann nur hoffen, dass der auch funktioniert damit wir das Vorhängeschloss öffnen können.

Wir müssen leider eine ganze Weile warten, denn mein Onkel und meine Tante scheinen noch nicht vorzuhaben schlafen zu gehen, stattdessen sitzen sie vor dem Fernseher, während wir auf dem Dachboden hocken und hibbelig darauf warten endlich mal in die Nacht hinaus zu verschwinden. Abwechselnd schleichen wir hinunter und schauen nach, ob sie noch im Wohnzimmer sind. Es dauert bis Mitternacht, ehe sie sich ins Bett bequemen. Tom ist längst an meiner Schulter eingepennt was ich ehrlich gesagt schon ein wenig genieße.

Jannes' Kopf taucht in der Luke auf und triumphierend zeigt er mit dem Daumen nach oben.

„Tom, wach auf! Es geht los!“

Müde schmiegt er seinen Kopf an meinen Hals was mir eine wohlige Gänsehaut verursacht, als ich seinen warmen Atem spüre. Ich rüttele unsanft an Toms Schulter. „Wach auf!“

Tom setzt sich gerade hin, reibt sich mit der Hand über sein Gesicht und gähnt. „Bin ja schon wach...“, murmelt er. Ich grinse und erhebe mich, ziehe ihn mit mir hoch und zusammen folgen wir Jannes die Treppe hinunter. Wir schleichen durch das Haus und erreichen die Tür, versichern uns noch einmal, dass uns keiner bemerkt hat und schließen leise die Haustür hinter uns. Aufatmend grinsen wir einander schelmisch an und rennen in die Nacht hinaus.

Diesmal fühle ich mich jedoch mit jedem zurückgelegten Meter unwohler. Was ist, wenn uns heute Nacht doch noch jemand bemerkt? Unwillkürlich muss ich mal wieder an den Dikjendälmann denken. Hätte Jannes mir doch bloß nie diese dumme Geschichte erzählt!

Ich sehe mich beim Laufen um und halte die Augen offen. Die Mondsichel hat bereits etwas zugenommen und erhellt die Umgebung ein klein wenig, trotzdem müssen wir die Taschenlampe benutzen. Zu meiner Linken höre ich das Meer rauschen. Bald ist Vollmond, stelle ich fest und schaue mir die Sichel noch einmal genauer an.

Der Leuchtturm kommt nach einiger Zeit in Sichtweite. Sein Lichtstrahl wandert wie eine riesige Taschenlampe über das Meer. Wir laufen eilig zum Eingang und während die Jungs sich noch einmal das Vorhängeschloss ansehen schaue ich hinauf zum Fenster.

Ich sehe etwas, dass wie ein schlaff heraus hängender Arm aussieht, bin mir jedoch nicht sicher und will es ehrlich gesagt auch nicht herausfinden. Der Anblick ist so schon gruselig genug. Vielleicht ist das Mädchen ja mittlerweile tot?

Nervös sehe ich mich immer mal wieder um, während Jannes den Griff des Schneidbrenners fest in der Hand hält und die Flamme mit einem kleinen Rädchen aufdreht, warte ich ungeduldig und trete von einem Bein auf das andere.

Etwas ungelenk benutzt er das Gerät, schafft es aber dennoch das Vorhängeschloss abzubekommen. Er schaltet den Schneidbrenner aus und wirft das Schloss erleichtert achtlos auf den Boden.

Tom greift nach dem Türgriff, bekommt die eiserne Tür allerdings nicht auf. Zu dritt zerren wir an der Tür, die quietschend und zäh nachgibt. Wir blicken in die Finsternis und keiner von uns wagt es den ersten Schritt zu tun.

„Freiwillige vor...“, murmelt Tom. Ich sehe von ihm zu Jannes und beide schauen mich erwartungsvoll an. Wieso nur wundert mich das jetzt nicht? Seufzend strecke ich die Hand aus und bereitwillig überreicht Jannes mir die Taschenlampe.

„Schisser...“, brumme ich und betrete den Leuchtturm. Muss ich gerade sagen, mir schlottern schon seit einer ganzen Weile die Beine.

Ich sehe noch einmal zurück, ob die Jungs mir auch ja folgen. Mit der Taschenlampe leuchte ich die Umgebung ab. Der Boden ist aus hartem Beton, aber außer einigen Sicherungskästen gibt es hier nicht allzu viel zu sehen.

Es sind insgesamt 21 Stufen bis zur ersten Etage, die wir erklimmen müssen. Die neue Batterie in der Taschenlampe sorgt zwar für eine bessere Sicht, aber wenn man bedenkt was vor uns liegt beziehungsweise wer uns erwartet wird mir doch ein wenig bange zumute.

Vor mir befindet sich eine weitere Tür mit einem Sicherheitsschild, welches den Zutritt verbietet. Wahrscheinlich ist dort drinnen ebenfalls nur Technikkram vorzufinden.

„Das ist der Akkuraum. Da sind glaube ich nur Generatoren oder so was drinnen.“ Jannes flüstert es mir leise ins Ohr. Ich nicke und laufe die nächsten Stufen hinauf. Diesmal zähle ich nur 15. Kleine Bullaugen auf dem Weg hinauf, zeigen uns an wie hoch wir bereits gelaufen sind.

„Da ist ein Klo...“, stellt Tom entgeistert fest als wir das nächste Stockwerk erreichen und ich mit der Taschenlampe alles absuche. Es gibt sogar eine Dusche und zwei Waschbecken. Alles ist ziemlich dreckig und man merkt, dass hier länger nicht sauber gemacht worden ist. Wieder steigen wir 14 Stufen nach oben und so langsam frage ich mich, wann wir denn nun endlich die Spitze erreichen.

Die dritte Etage sieht etwas heimeliger aus, wenn auch äußerst verkommen und wenn man es näher betrachtet wirkt es schon ein wenig wie ein Schlachtfeld. Es gibt eine Essecke, eine Küche und an der Decke hängt sogar eine Lampe, welche aber nur ein schwaches Licht spendet, als Tom sie einschaltet. Auf der Theke steht lauter dreckiges Geschirr und in einigen Ecken sammelt sich der Staub.

Wieder zähle ich 15 Stufen, die wir hoch laufen müssen. Nimmt das denn nie ein Ende?

Auf der vierten Etage befindet sich ein Schlafraum. Ein paar Schränke und drei Betten, aber scheinbar werden nur zwei benutzt. Die Decken liegen unordentlich zerknüllt auf den Matratzen.

„Hm, hier scheint wirklich jemand zu wohnen...“, vermutet Jannes und sieht sich interessiert um.

„Leute, hier geht es noch mal 15 Stufen hoch!“, jammere ich und beleuchte ein weiteres, etwas kleineres Schlafgemach. Hier steht bloß ein Bett und auch dieses ist nicht gemacht.

Und wieder die gleiche Anzahl an Stufen die ich hochlaufen muss. So langsam spüre ich meine Muskeln, die keinen bock mehr haben. Ich erreiche die sechste Etage und finde eine Tür vor. Mit klopfendem Herzen öffne ich sie, allerdings ist es nur eine kleine Kammer mit irgendwelchen Gerätschaften. Jannes und Tom haben mich inzwischen eingeholt und blicken ebenfalls neugierig über meine Schulter hinweg hinein. Auf diesem Stockwerk befindet sich auch ein Sicherungskasten sowie mehrere Spinde.

„Hier geht’s weiter nach oben!“, meint Tom etwas lauter und hastig zischen wir ihm zu damit er nicht allzu laut wird. Tom lächelt verlegen und deutet mit der Hand eine weitere Treppe hinauf. Noch ein letztes Mal erklimmen wir 14 Stufen.

Das erste was meine Taschenlampe erfasst ist der große gläserne Behälter, der das Licht auf seine Reise aufs Meer schickt. Es sieht schon recht beeindruckend aus.

„Ich habe die Tür nach draußen gefunden!“, meint Jannes triumphierend und öffnet sie. Was ich ursprünglich also für ein Fenster gehalten habe war eine Tür. „Whoa, da ist sie!“, brüllt er plötzlich. Ich renne zu ihm, zerre ihn zurück und halte meine Hand auf seinen Mund. „Scheiße, willst du sie verschrecken?“, meckere ich ungehalten und merke, dass wir uns auf einer Aussichtsplattform befinden, welche im Kreis verläuft.

Ich leuchte mit der Taschenlampe zu dem Mädchen hinüber. Verschreckt zieht sie die Beine nahe an den Körper, die eben noch über die Aussichtsplattform gebaumelt sind und hält sich an einer Sprosse fest, kauert sich zusammen und rutscht rückwärts von uns weg.

Ihre Haare sind tatsächlich sehr lang, etwas verwildert und strähnig. Sie trägt ein verwaschenes ausgeleiertes Shirt, das wohl mal weiß gewesen sein muss. Es sieht eher gräulich aus. Sie trägt eine beigefarbene Shorts und ist barfuß.

„Hallo!“, grüße ich sie leise und versuche mich ihr vorsichtig zu nähern. Mir klopft das Herz bis zum Halse und ich merke wie meine Stimme vor lauter Aufregung leicht zittert.

Die geisterhafte Erscheinung war also doch kein Trugbild. Hier lebt tatsächlich ein Mensch und wahrscheinlich nicht alleine.

„Wir wollen dir helfen. Ich und meine Freunde. Wir können dich hier aus dem Leuchtturm herausholen.“

Ich strecke meine Hand aus, doch das Mädchen rutscht weiter von mir weg. Hilfesuchend sehe ich zu Tom und Jannes, doch die geben mir mit Handzeichen zu verstehen, dass ich weitermachen soll. Seufzend widme ich mich wieder dem Mädchen.

„Wir wollen dir nichts antun. Wir wollen dir doch bloß helfen.“ Vorsichtig strecke ich erneut die Hand aus und versuche ihr die Haare aus dem Gesicht zu schieben, doch sie zuckt zusammen und geht erneut auf Abstand.

Aus dem Inneren des Leuchtturmes höre ich plötzlich von den Wänden widerhallende schwere Schritte, die sich uns immer weiter nähern. Mir gefriert das Blut in den Adern. Ich sehe zu den Jungs auf, die ebenfalls zur Tür schauen. Wir sind nicht allein. Irgendjemand kommt hier hoch und wird längst bemerkt haben, dass die Tür gewaltsam geöffnet worden ist.

„Wir müssen hier weg!“, flüstert Jannes panisch.

Kapitel 3: Rapunzel, lass dein Haar herunter!

Fahrig lasse ich meinen Blick umher gleiten. Hier gibt es überhaupt keine Verstecke für uns. „Was sollen wir machen?“, frage ich Jannes und Tom und muss unweigerlich an den Dikjendälmann denken. Ist er es? Kommt er zu uns hoch?

Die Schritte nähern sich unaufhörlich.

„Wir müssen an ihm vorbei, sonst enden wir wie in diesen Teeniehorrorfilmen!“, meint Tom panisch und sieht zur Tür.

„Wir alle gegen einen?“, frage ich und die Jungs nicken zustimmend. Keiner ist auf eine Konfrontation aus, aber irgendwie müssen wir aus diesem Turm heraus und der führt nun mal an diesem Monster vorbei.

„Okay!“, entschlossen packe ich Rapunzel am Handgelenk und zerre sie auf die Beine. Mit Leibeskräften wehrt sich sich ohne einen Mucks von sich zu geben und hat mehr Kraft als man auf den ersten Blick vermutet. Nur mit Mühe kann ich sie hinter mir herziehen, während ich meinen Freunden folge. Tom kommt zu mir zurück und hilft mir das Mädchen die Treppen hinab zu zerren. Ganz toll! Eine Geisel, die gar nicht befreit werden will!

Wir kämpfen uns eilig die Treppen herab, bis wir ihm plötzlich wie aus dem Nichts gegenüberstehen. Als ich auf ihn herab blicke, erstarre ich. Sein Arm fehlt. Meine Taschenlampe beleuchtet einen blassen Armstumpf. Tom neben mir zieht scharf die Luft ein.

„Der Dikjendälmann!“, flüstert Jannes mit hoher Stimme.

Er streckt die Hand nach uns aus und sofort trete ich einen Schritt zurück. Sein Fuß schiebt sich auf eine Stufe und langsam kommt er zu uns hoch. Mir fällt nichts weiter ein, als frontal auf ihn zu zurennen und ihn zu Boden zu ringen. Einen Moment noch hoffe ich, dass ich einfach durch ihn hindurch renne, doch dann spüre ich den kräftigen Leib und ramme ihn zu Boden. Wir poltern die Treppe herunter. Ich höre die Schritte der Jungs, die an uns vorbei rennen und stütze mich benommen vom Boden ab. Eine raue Hand greift nach meinem Shirt. Ich blicke auf den Mann und versuche mich von ihm zu befreien, doch sein Griff ist so eisern, dass er mir das Shirt zerreißt. Ich falle auf meinen Hintern und rappele mich hastig auf. Schnell renne ich die Stufen hinunter und bemerke, dass ich irgendwo die Taschenlampe verloren habe. Ich stolpere und falle erneut eine Treppe hinab. Keuchend bleibe ich einen Moment lang liegen und schnappe nach Luft. Meine Handinnenflächen schmerzen vom harten Aufprall. Ich stehe auf und merke wie sehr meine Beine von dem ungewollten Flug weh tun. Ich humpele auch die restlichen Treppen hinab und höre hinter mir langsame schlurfende Schritte.

Panisch kann ich den Eingang ausmachen und renne hinaus ins Freie.

„Markus! Hierher!“

Ich drehe mich im Kreis und sehe die Jungs am Strand. Ich laufe zu ihnen so schnell ich kann, während sie weiterlaufen, allerdings in die entgegen gesetzte Richtung. Nicht zu Jannes nach Hause? Irritiert folge ich ihnen und sehe mich um. Der fremde Mann ist nicht zu sehen. Ich blicke nach vorne und renne weiter bis meine Lungen vor Erschöpfung schier brennen. Mit Seitenstechen gönne ich mir kurz eine Pause und sehe mich um. Von dem Mann mit dem Armstumpf ist weit und breit nichts zu sehen. Ich atme schwer und bemerke, dass Tom und Jannes auf mich warten. Jeder von ihnen hält das Mädchen an einer Hand in ihrer Mitte fest.

„Wo wollt ihr hin? Das ist die falsche Richtung!“, brülle ich ihnen zu. Ich hole die letzten Meter zu ihnen auf und schnaufe erschöpft.

„Hier gibt es in der Nähe einen alten verfallenen Schuppen. Dort verstecken wir das Mädchen erst einmal!“, meint Jannes entschieden.

„Warum?“, frage ich verwirrt.

Jannes und Tom sehen einander kurz an. Jannes zuckt mit den Schultern. „Na ja, ich habe mir halt gedacht, dass wir es dann tun können...“, gibt er zu.

„Was tun?“, frage ich stirnrunzelnd und noch immer außer Atem.

„Du weißt schon...“, meint er und versucht mir mit einem Blick auf das Mädchen einen Wink zu geben. Ich schlucke hart.

„Ihr spinnt doch! Das könnt ihr nicht tun!“, brülle ich.

„Es erfährt doch keiner. Wir tun ihr ja auch nicht weh.“ Jannes ringt sich ein Lächeln ab. Ich gehe auf ihn zu und schlage ihm die Faust mitten ins Gesicht.

„Das ist Vergewaltigung, du Arschloch!“, schreie ich ihn an. Jannes greift sich an das schmerzende Gesicht. Betreten blickt er auf den Boden.

„Und du machst da auch noch mit, Tom?“, frage ich ihn enttäuscht. Tom weicht meinem Blick aus. „Ist es euch das echt wert? Wenn das rauskommt, landet ihr im Knast!“

Ich sehe beide wütend an. Tom knabbert auf seiner Unterlippe. „Aber wir können sie heute Nacht dort verstecken. Der Typ sucht bestimmt noch nach uns.“

Ich gebe einen missmutigen Laut von mir. „Wir verstecken sie heute Nacht dort, aber morgen übergeben wir sie der Polizei!“

Die Jungs nicken eifrig. Jannes geht los und zieht das Mädchen sowie Tom munter mit sich. Ich folge ihnen skeptisch. Besser ich lasse die beiden vorerst nicht aus den Augen, sonst stellen sie noch irgendeine Dummheit an.

Wir laufen in schnellem Tempo weiter bis wir schließlich doch noch die Hütte erreichen. Sie ist aus Holz und dient wohl mehr als Unterstand, denn die andere Seite ist komplett weggebrochen. Wahrscheinlich durch ein Unwetter oder mit der Zeit hat einfach das Holz nachgegeben und die Wand ist in sich eingestürzt.

Todesmutig betreten wir die Hütte. „Ich habe die Taschenlampe im Leuchtturm verloren.“

Jannes sieht mich seufzend an. „Na, ganz toll...“

„Sorry, in der Rangelei habe ich sie wohl fallen gelassen.“

Die ganze Nacht über bleiben wir in der Hütte unter freiem Himmel bis schließlich der Morgen graut.

„Das erinnert mich ans Campen mit meiner Familie.“

Jannes und Tom nicken. „Ist schon ewig her, dass ich mal wieder draußen geschlafen habe!“, erzählt Tom. Er lehnt sich mit der Schulter unbewusst an mich, doch in mir bricht mal wieder ein Wirbelsturm der Gefühle los. Ich wende den Blick ab und versuche es mir nicht anmerken zu lassen. Was wohl passieren würde, wenn ich mit Tom hier alleine wäre? Allein bei dem Gedanken spüre ich die aufwallende Hitze in meinen Wangen.

Das Mädchen sitzt ganz hinten in der Ecke der Hütte und stört sich scheinbar nicht an den vielen Spinnenweben. Noch immer habe ich ihr Gesicht nicht gesehen. Die Haare sind so lang, dass sie ihr Antlitz verdecken wie eine Gardine.

„Rapunzel...“, murmele ich.

„Was?“, fragt Jannes prustend.

„Kommt dir das nicht auch wie in diesem Märchen vor?“, frage ich ihn. Rapunzel lebt doch in diesem Turm, nachdem sie von der Hexe entführt worden ist. Eines Tages erscheint ein Prinz und befreit sie.“

Jannes lacht. „Nur, dass unser Rapunzel gleich drei Prinzen bekommen hat!“ Er kriecht zu ihr und hockt sich vor sie, so dass ich lediglich auf seinen Rücken starren kann.

„Was hast du vor?“, frage ich ihn.

„Na, in der Geschichte ist Rapunzel doch eine wahre Schönheit! Ich will sie mir nur mal ansehen!“

Das Mädchen drückt sich scheu in die Ecke und legt den Kopf in den Nacken, als Jannes die Hände ausstreckt und nach ihren Haaren greift. Er lacht. „Komm schon, zier dich nicht! Wir wollen doch nur dein Gesicht sehen!“

„Lass sie doch!“, brumme ich gereizt.

Jannes lässt sich von seiner Idee allerdings nicht abbringen und greift prompt nach ihren Haaren. Das Mädchen versucht sich an ihm vorbeizudrängen, doch er packt sie und drückt sie auf den Boden.

„Mensch, Jannes!“, meckere ich ungehalten.

Erneut greift er nach ihren Haaren, nachdem er sich breitbeinig auf sie gesetzt hat und streicht ihr die Haare aus dem Gesicht. „Oh!“, entfährt es ihm.

Ich horche auf und sehe zu ihm. „Was ist los?“

„Guck doch selbst!“

Ich und Tom kriechen zu dem am Boden liegenden Mädchen, das wild herumzappelt und mit den Füßen um sich tritt und auch uns fällt die Kinnlade herunter. Scheue, aber doch intensive dunkle Augen blicken mich unverwandt an. Scheu wie eine Katze. Die Gesichtszüge sind hart und der Mund schmal, nicht sehr einladend, aber vor uns liegt auch nicht wie erwartet ein Mädchen, sondern ein Junge.

Verblüfft betrachten wir ihn. Unser männliches Rapunzel.

„Komisch, ich war mir sicher, dass es ein Mädchen gewesen ist...“, gesteht Jannes. Tom lacht. „Das dachten wir alle.“

Meine Vermutung ist also doch wahr. Unstet wandert der Blick des Jungen zwischen uns hin und her, während Jannes seine Handgelenke auf den Boden drückt.

Innerlich habe ich auf einmal das Bedürfnis ihn mit der Hand zu berühren. Abrupt gehe ich etwas auf Abstand. „Ist doch egal, ob es nun ein Junge oder ein Mädchen ist. Wir warten noch ein paar Stunden, gucken ob die Luft rein ist und bringen ihn dann zur Polizei!“

Tom gesellt sich zu mir. Seine Lippen sind dicht an meinem Ohr und mir rinnt ein Schauder über den Körper, als er mir leise ins Ohr flüstert. „Das wäre doch die Gelegenheit für dich. Wir zwei sind raus aus dem Spiel, aber wenn du ihn vernaschen willst, machen Jannes und ich uns für eine Weile aus dem Staub.“

Ich schließe die Augen und beiße mir auf die Unterlippe. Klar, es klingt verführerisch, aber dann bin ich auch nicht besser als Jannes und Tom. Entschieden schüttele ich den Kopf und rücke von ihm ab.

„Komm mal her, Markus!“, meint Jannes. Ich hocke mich neben ihn. „Pass auf, dass er nicht wegrennt und diesem Irren wieder in die Arme läuft. Tom und ich besorgen ein paar Sachen.“

„Was? Wieso muss ich auf ihn aufpassen?“, brumme ich. Darauf habe ich jetzt keine Lust, nicht nach einer so langen anstrengenden Nacht, in der ich kein Auge zugetan habe. Ich will duschen und ins Bett!

„Stell dich nicht so an! Du musstest im Leuchtturm schon einiges einstecken, jetzt sind wir zwei an der Reihe.“ Jannes packt mich mit einer Hand und zerrt mich kurzerhand auf den Jungen. „Halt ihn fest, sonst rennt er weg.“

Ich blicke unsicher auf den Jungen unter mir. Mittlerweile scheint er es aufgegeben zu haben sich zu wehren. Schlaff liegt er auf dem Grund und ich komme mir ziemlich unbeholfen vor. Tom zwinkert mir verschwörerisch zu, ehe er Jannes aus dem Versteck folgt und beide mich mit dem Jungen zurücklassen. Verzweifelt sehe ich ihnen nach. Was mache ich denn, wenn der Typ plötzlich hier auftaucht?

Ich beuge mich vor, doch sofort schnappt der Junge unter mir nach Luft. „Tut mir leid!“, meine ich hastig und rutsche von seinem Magen herunter. Ich spüre sein Becken unter mir. So eine Stellung wollte ich schon immer mal ausprobieren, aber ganz sicher nicht in so einer heiklen Situation.

„Wie heißt du?“, frage ich den Jungen, der mich misstrauisch ansieht mir jedoch nicht antwortet. Im nächsten Moment werde ich herumgerissen. Verblüfft wechsele ich die Position und nun bin ich es, der auf den Boden festgenagelt ist. Der Junge ist stärker als er aussieht. Er lässt mich los und will von mir herunter klettern und das Weite suchen. Als ich das begreife, schlinge ich hastig meine Arme um seinen Leib und spüre seinen Oberkörper an meinem Gesicht. „Bleib hier!“

Mit aller Kraft ringe ich ihn zu Boden und liege schließlich auf ihm. Mit den Händen versucht er mich an den Schultern von sich zu schieben und wehrt sich nach Leibeskräften wie ein wildes Tier.

„Ich tue dir nichts. Wir bringen dich nachher zur Polizei! Die helfen dir!“, versuche ich ihn zu beruhigen. Mit den Füßen tritt er nach mir und es ist eine Katastrophe ihn in Schach zu halten. So habe ich mir das echt nicht vorgestellt!

 

Es dauert eine halbe Ewigkeit bis die Jungs endlich wieder auftauchen. Erleichtert sehe ich zu ihnen. Jannes hält ein Seil in den Händen. „Wir binden ihn fest, dann kann er uns nicht weglaufen.“

Er und Tom laufen zu den Füßen des Jungen und fesseln ihm die Beine. Ich erhebe mich von ihm und spüre wie erschöpft meine Arme sind. Sie fühlen sich wie ausgeleierte Gummibänder an.

Jannes hilft dem Jungen in eine sitzende Position und bindet ihm die Hände auf den Rücken.

„Fertig!“, meint er zufrieden.

Tom stupst mich an, woraufhin ich zu ihm sehe. „Weichei!“, raunt er mir zu. Ich strecke ihm die Zunge heraus und sehe zu dem Jungen.

„Irgendwie kommt es mir falsch vor. Ich meine, jetzt ist er doch unsere Geisel.“

Jannes schüttelt den Kopf. „Er bleibt ja nur angebunden, damit er nicht wegrennt. Erstens ist er so in Sicherheit vor seinem Entführer und zweitens ist es einfacher ihn zur Polizei zu bringen, sonst rennt er uns noch vorher weg und wir müssen ihn einfangen.“

„Er stinkt ziemlich. Vielleicht sollten wir ihn waschen?“, meint Tom. „Wir haben vorausschauend ein paar Sachen mitgebracht.“ Er neigt sich zu mir und drückt mir die Sachen in die Hand. „Hä? Wieso denn schon wieder ich?“, frage ich mürrisch.

Tom zieht eine Augenbraue hoch. „Ich wasche doch keinen Kerl!“, meint er entschieden. „Außerdem bist du doch... na ja, du weißt schon... Du hast sicher weniger Probleme damit.“ Er klopft mir auf die Schulter und gibt Jannes ein Zeichen rauszugehen. Verblüfft sehe ich ihnen nach.

„Der spinnt doch! Als ob ich kein Problem damit hätte! Das macht er doch absichtlich!“

Unschlüssig sitze ich dem Jungen gegenüber und hadere mit mir. Es kostet schon einiges an Überwindung. Ich habe noch nie jemand anderes als mich selbst gewaschen.

Vorsichtig nähere ich mich dem bewegungsunfähigen Jungen, der jede meiner Bewegungen argwöhnisch verfolgt. Vor ihm bleibe ich sitzen. „Also... ich soll dich waschen...“, erkläre ich unbeholfen. Ich habe keine Ahnung, ob er mich überhaupt versteht.

Langsam strecke ich meine zitternde Hand aus und fange an seine Ärmel vom Shirt hochzukempeln. „I-ich muss dir das Shirt über den Nacken ziehen, ganz ausziehen geht nicht wegen der Fesseln. Tut mir übrigens leid deswegen.“ Ich ringe mir ein Lächeln ab und greife nach dem Saum seines Shirts. Nervös lecke ich mir über die trockenen Lippen. Vorsichtig hebe ich sein Shirt an und ziehe es ihm über den Kopf. Er wehrt sich nicht dagegen, beobachtet mich jedoch weiterhin wachsam. Mein Blick gleitet über seinen Oberkörper. Schlank, aber männlich. Sehr unterernährt wirkt er nicht, aber auch nicht so kräftig und durchtrainiert, dass man die Ansätze eines Sixpacks erkennen könnte. Ich greife mit einem mulmigen Gefühl nach seiner Shorts. Unbehaglich ziehe ich sie ihm herunter, was in der sitzenden Position nicht gerade einfach vonstatten geht. Ich sehe herunter auf sein Glied und schlucke. Hastig wende ich den Blick ab, ziehe die Shorts herunter und greife dann nach einer Plastikschale, welche die Jungs mitgebracht haben. Ich kippe ein wenig Wasser aus der Mineralwasserflasche hinein. Es sprudelt. Ich mische zusätzlich Shampoo mit unter und tauche dann den gelben fluffigen Schwamm hinein. Zögernd lege ich ihn auf der Brust des Jungen an und reibe damit über seinen Brustkorb, hinauf zu seinem Hals und den Schultern, wobei das Wasser das Shirt ein wenig durchnässt, als es herabtropft. Ich bemerke, dass er eine Gänsehaut von dem kalten Wasser auf seinem Arm bekommen hat. Mein Blick sucht seinen und huscht schnell wieder zu seinem Körper. Verdammt, bin ich nervös. Ich versuche mir nicht anmerken zu lassen wie sehr meine Hände zittern. Langsam streiche ich mit dem Schwamm tiefer, wasche seinen Bauch und gleite dann hinunter zu seinem Unterleib. Ich halte abrupt inne und starre auf seinen Schwanz. Ich räuspere mich und widme mich erst mal seinen Beinen. Erneut tauche ich den Schwamm in das duftende Wasser und wasche seine Beine und die dreckigen Füße. Anschließend knie ich mich hinter ihn, ziehe das Shirt hoch und wasche ihm den Rücken. Mir kommt eine Idee. Wenn ich hinten bleibe und ihn vorne wasche, muss ich ihn nicht dauernd anstarren. Gedacht, getan. Ich rücke breitbeinig eng an ihn und lasse den Schwamm nach vorne wandern. Durch den weichen Schwamm hindurch spüre ich seinen Penis und halte die Luft an. Mit zusammen gekniffenen Augen gebe ich mein Bestes, bin aber trotzdem knallrot im Gesicht. Ich merke, wie der Junge schneller atmet. Irritiert sehe ich auf. Er schnauft und jetzt merke ich auch was der Grund ist. Ich habe dafür gesorgt, dass er einen Ständer bekommt. Sofort halte ich inne in meiner Bewegung, mir rutscht der Schwamm weg und als ich hastig danach greifen will, habe ich plötzlich etwas ganz anderes in der Hand. Erstarrt bleibe ich stocksteif sitzen.

Ach du scheiße!

Ich habe einen Penis in der Hand und es ist nicht mal meiner!!!

Meine Wangen glühen vor Aufregung, trotzdem lasse ich ihn eilig wieder los, bevor ich doch noch auf dumme Ideen komme. Ich schaue ihm über die Schulter und greife nach dem Schwamm, um seine Arme zu waschen. Anschließend gieße ich ein wenig Wasser auf seine Haare, gebe etwas von dem Shampoo auf meine Handfläche, verreibe es in beiden Händen und schmiere ihm das Zeug in die langen Haare, nachdem ich mich wieder vor ihn gesetzt habe. Immer wieder fällt mein Blick nach unten, selbst wenn ich krampfhaft auf seine Haare starre, es will mir einfach nicht gelingen wegzuschauen. Ich nehme das restliche Wasser aus der Flasche und wasche ihm gründlich den Schaum aus den Haaren. Der Dreck kommt runter und jetzt sehen sie auch wieder einigermaßen sauber aus. Mit dem Handtuch rubbele ihm die Haare trocken. Ich knie vor ihm und als er den Kopf anhebt und mir direkt in die Augen sieht, macht mein Herz einen aufgeregten Hüpfer. Seine dunklen Augen blicken mich sanft an. Mehrere Sekunden sehen wir einander tief in die Augen. Abwesend sinkt mein Kopf unmerklich tiefer, ich öffne meine Lippen ein wenig, bin imstande meine Augen zu schließen und... weiter komme ich nicht.

„Markus? Wie lange noch?“, höre ich Toms ungeduldige Stimme.

„Bi-bin gleich fertig!“, brülle ich und trockene hastig die Haare ab, um mich dann geschäftig dem Körper des Jungen zu widmen und ihm anschließend wieder die Klamotten anzuziehen. Ich presse die Lippen fest aufeinander und meide seinen Blick. Ich bin doch bescheuert!

Als ich fertig bin flüchte ich regelrecht aus der Hütte. „Fertig!“, rufe ich den Jungs zu. Ich atme tief durch und sehe zurück zur Hütte. Er beachtet mich gar nicht, sondern wird von Tom und Jannes mit Fragen bombardiert, auf die er allerdings nicht antwortet.

 

Gegen 11 Uhr packen wir alles zusammen und lassen die Sachen bei der Hütte liegen, um sie auf dem Rückweg mit Heim zu nehmen.

Den Jungen haben wir abgebunden und erstaunlich widerstandslos folgt er uns beziehungsweise eher mir. Meine Hand hält seine und ist ganz verschwitzt.

„Haha~ er hängt an dir wie ein Hund! Er dackelt dir schon die ganze Zeit hinterher!“, meint Tom lachend. Er gesellt sich neben mich und wirft einen Blick über die Schulter zurück zu dem Jungen. „Guck nicht nach hinten. Er beobachtet dich.“ Tom grinst breit. „Hast du es ihm doch in der Hütte besorgt? Dein Schwanz scheint ja Wunder zu bewirken!“

„Quatsch! Ich habe ihn nur gewaschen, weiter nichts!“, erwidere ich grimmig.

„Na ja, solange er keinen Ärger macht, soll es mir nur recht sein. Kannst mit ihm machen was du willst. Wenn wir in der Stadt sind spendiere ich dir ein Zimmer, dann kannst du ihn ficken.“

„Halt den Rand!“, herrsche ich ihn an und ziehe an der Hand des Jungen, als ich schneller gehe. Ich bin ein wenig enttäuscht, dass muss ich schon zugeben, denn ich hatte bisher immer gehofft, dass sich noch etwas zwischen mir und Tom entwickeln könnte und nun legt er es die ganze Zeit darauf an, dass ich es mit unserem Rapunzel treibe. Das ist fies.

Ich sehe auf meine Hand herunter. Sein Daumen streichelt sanft meinen Handrücken. Angespannt umgreife ich die Hand in meiner fester und schaue stur nach vorne. Wieso ist er so zutraulich seit ich ihn gewaschen habe? Denkt er ich würde ihm schon nichts antun?

Als ich seine Hand in meinen Haaren am Hinterkopf spüre, brumme ich und schiebe sie unwirsch wie eine lästige Fliege weg.

Wir laufen über die Dünen und schon von weitem erkenne ich die Straße. Danach müssen wir allerdings noch eine ganze Weile laufen, bis wir die Stadt erreichen.

„Hier, du hast heute noch nichts gegessen!“ Ich blicke zur Seite. Jannes hält mir ein weiches Brötchen mit einer Schokoladenfüllung in einer Plastiktüte entgegen. Dankbar nehme ich sie an und beiße sie mit den Zähnen auf, da ich nur eine Hand frei habe. Ich knabbere an dem Brötchen und schlendere weiter.

Viel zu sagen haben wir einander nicht. Wir wissen immer noch nicht wer der Junge eigentlich ist und was es mit seiner Entführung auf sich hat.

 

Es kommt mir vor wie eine Ewigkeit als wir endlich vor der Polizeiwache stehen. Wir betrachten stumm das Gebäude vor uns. Keiner von uns ist wirklich scharf darauf dort reinzugehen.

Ich blicke den Blondschopf neben mir an und lächele. Er ist noch zurückhaltender seit wir in der Stadt angekommen sind. Immer wieder hat er sich umgesehen, die Passanten beobachtet sowie die vielen Autos und Gebäude. Vor einem Hund hat er regelrecht Angst gehabt und sich hinter mir versteckt wie ein kleines Kind.

„Jetzt kannst du wieder zu deiner Familie.“ Ich drücke aufmunternd seine Hand, halte sie mit meinen Fingern umschlungen und gönne es mir wenigstens heute mal mit einem Typen Händchenhaltend durch die Gegend zu laufen. Die argwöhnischen Blicke der Passanten ignoriere ich.

„Lasst uns reingehen!“, schlägt Tom vor.

„Ja, wir müssen dringend nach Hause, sonst machen meine Eltern sich noch Sorgen.“ Jannes kratzt sich am Kopf und zieht eine Grimasse. Er hat schon Recht. Sobald wir zurückkehren gibt es bestimmt eine ordentliche Standpauke.

Wir laufen die wenigen Stufen der Treppe hinauf. Ich öffne die Glastür und trete ein. Scheint auf den ersten Blick nicht viel los zu sein. Eine ältere Frau beschwert sich lautstark, dass ihr Portemonnaie abhanden gekommen ist.

Unschlüssig sehe ich mich um und gehe zögernd zu einem Schalter. Ein Mann in Uniform blickt auf. „Ja?“

„Wir... ähm...“ Hilfesuchen blicke ich zu Tom und Jannes. Tom stellt sich mutig neben mich. „Wir haben den Jungen da befreit!“, erzählt er dem Beamten und deutet der Hand neben mich.

„Jungs, für solche Spielchen habe ich keine Zeit. Verschwindet.“

„Es stimmt aber, er wurde als Geisel gehalten!“, redet Tom beharrlich auf den engstirnigen Polizisten ein, der für unsere Einwände nur ein müdes Lächeln übrig hat.

„Er war im Leuchtturm eingesperrt!“

Plötzlich wird der Polizist hellhörig. „Sagtest du Leuchtturm?“

„Haben Sie was auf den Ohren? Das sagte ich doch gerade!“

Ernst sieht der Mann uns an. „Das trifft sich gut, denn der Junge wurde noch gestern Nacht als vermisst gemeldet!“

„Was?“, frage ich verblüfft. „Von wem? Seinen Eltern?“, frage ich hoffnungsvoll und sehe freudig zu dem Jungen, dessen Hand ich noch immer in meiner halte.

„Nein, von dem Alten aus dem Leuchtturm.“

Kapitel 4: Wahrheit und Illusion

Tom und ich zwängen uns auf die Rückbank des Polizeiautos, zwischen uns sitzt unser Rapunzel und Jannes hat das Privileg vorne sitzen zu dürfen. Ich hingegen komme mir eher vor wie ein Schwerverbrecher.

Was ist das nur für eine verkorkste Wendung? Im ersten Moment wollen wir den geretteten Jungen der Polizei übergeben, damit er wieder zu seiner Familie kann und schon im nächsten Augenblick gilt er als vermisst?

Mit diesem Leuchtturmwärter stimmt ebenfalls etwas nicht. Ganz und gar nicht! Ich traue der Sache nicht über den Weg. Er ist ein Entführer!

Ich sehe zu dem Jungen neben mir, der sich gebannt die Inneneinrichtung des Autos ansieht. Er scheint auch irgendwie nicht von dieser Welt zu sein. Alles ist fremd für ihn. Wie lange war er bloß in diesem Leuchtturm eingesperrt?

Der Beamte fährt mit uns zurück an den Strand was weder mir noch meinen Freunden in den Kram passt. All die Mühe, die wir auf uns genommen haben ist vollkommen umsonst gewesen. Der Junge kommt zurück und wir bekommen den Ärger.

Nach einiger Zeit kommt der Leuchtturm in Sicht. Am liebsten würde ich aus dem fahrenden Auto springen und mit dem Jungen zurück zur Hütte laufen. Dort ist er wenigstens sicher. Jetzt muss er wieder zu diesem Mann dort oben in den Turm. Selbst der Polizist wollte uns das alles nicht glauben. Er denkt lediglich, dass wir eine rege Fantasie haben.

Vor dem Leuchtturm hält er an und widerwillig steigen wir aus. Zu unserem Ärger läuft der Blondschopf natürlich direkt zum Turm. Missmutig folgen wir ihm und werfen einander frustrierte Blicke zu.

Der Beamte klopft an die Tür und nach wenigen Sekunden öffnet sie sich. Ich zucke heftig zusammen, als ich die dunklen kräftigen Konturen eines Männerkörpers sehe. Doch schon kurz darauf tritt er näher ins Tageslicht und sieht uns mürrisch an. Ein alter Mann, der an einen Seefahrer erinnert mit Rauschebart und vom Wetter gezeichneten Gesichtszügen. Er mustert einen nach dem anderen und tritt beiseite. „Kommt rein.“

Der Polizist zögert nicht lange und auch wir folgen ihm, wenn auch mit einem unbehaglichen Gefühl. Es ist komisch dem Entführer direkt gegenüber zu stehen. Ich versuche etwas aus seinem Gesicht heraus zu lesen, doch es ist unmöglich. Seine Augen verraten nichts. Stur blickt er mich flüchtig an und schlurft die Treppe hinauf. Wir folgen ihm hoch in die Küche. Dort setzt er sich an den Tisch und nach einer kurzen Aufforderung durch eine Geste seinerseits setzen wir uns ebenfalls.

„Ihr seid hier gestern eingebrochen!“, unterstellt er uns sachlich. „Habt meinen Jungen entführt.“

„Wir haben ihn gerettet!“, stellt Jannes richtig und knallt die Faust auf den Tisch. „Er war hier eingesperrt! Das ist unmenschlich!“

„Zu seiner eigenen Sicherheit.“ Der Alte sieht uns ernst an.

„Reden Sie sich nicht heraus! Was kann ihm hier schon passieren?“, meckert Jannes ungehalten.

„Damit ihn hier keiner findet, du dummer Junge!“, wettert der alte Leuchtturmwärter.

„Wie meinen Sie das?“, fragt der Polizist.

„Ist 'ne lange Geschichte. Der Junge muss hierbleiben.“

„Wir haben Zeit!“, meint Jannes, verschränkt die Arme vor der Brust und auch der Beamte nickt zustimmend. Ich sehe zu dem Blondschopf, der auf der Treppe nach oben hin kauert und mich zu keiner Sekunde aus den Augen lässt.

„Also erst ma'! Ich bin kein Entführer! Das habt ihr Lausbuben euch doch ausgedacht!“, meint der Mann und räuspert sich. „Das war so. Die Eltern von dem Bengel hatten Spielschulden.“ Er deutet mit einer vagen Handbewegung zu dem Jungen auf der Treppe. „Die hatten sich nich' mehr unter Kontrolle, versteht ihr? Haben sich so lauter Zeugs gekauft was nicht gut is'. Drogen und so. Da fielen auch noch ma' Schulden an. Der is' gewachsen, der Schuldenberg. 'N paar Leute hatten sie halt aufm Kieker, ne? Das is' der Sohn von meinem Bruder. Dem seine Frau war auch so verkorkst. Hat sich nich' um den Bengel gekümmert. Der war verwahrlost. 12 Jahre alt und dürr bis auf die Knochen, weil sie ihn nicht regelmäßig gefüttert hamm. Da hab ich ihn weggeholt. Kann man ja nich' mit ansehen, ne? So'n kleiner Lausbub und kurz vorm Hungertod. Hab ihnen Geld dagelassen, das sie bestimmt verprasst haben. Der Jung' war ihnen egal. Hat sie nich' gekratzt wo der steckt, wisst ihr? Also habe ich ihn hierher gebracht mit auf'n Leuchtturm.“ Der alte Mann blickt zu dem Jungen. „Aber der is' nich' richtig gesund. Kann nich' hören oder sprechen. Keine Ahnung wie man das nennt, aber der kriegt von draußen nich' viel mit. Der lebt in seiner eigenen Welt.“

Ich schaue zu dem Blondschopf und irgendwie tut er mir schon leid.

„Hatte ihn als Kind nich' unter Kontrolle. Der is' mir ständich ausgebüxt. Auf die Straße isser gelaufen. Der Bengel hört ja nix. Da musste ich die Tür zumachen, damit er mir nicht tot geht oder ins Wasser läuft und abgetrieben wird. Der kann ja nich' schwimmen und um Hilfe rufen.“

„Wie heißt der Junge?“, fragt der Beamte und holt seinen Notizblock hervor.

„Aike, wie Eike, nur mit A statt 'nem E!“, brummt der Alte.

„Und der Nachname?“

„Na, genau wie ich. Sybrands. Aike Sybrands.“

„In Ordnung. Ich werde einige Nachforschungen über die Eltern anstellen. Beherrscht der Junge die Gebärdensprache?“

„Nee~ so wat kann er nich'! Woher auch? Habe ihm ja in all den Jahren nich' viel beibringen können.“

„Wieso haben Sie ihn nicht zu einer entsprechenden Einrichtung gebracht?“, fragt der Polizist.

„Na, er is' doch Familie. Familie gibt man nich' weg!“, meint der alte Mann entschlossen. „Da kümmert man sich drum, ob's einem passt oder eben nich', aber man hat Verantwortung!“

„Als wir ihn gefunden haben war er ziemlich dreckig.“ Jannes sieht zum Beamten. Zustimmend nicke ich.

„Na, die Wasserleitung is' im Eimer. Gab 'nen Rohrbruch außerhalb. Da muss die Stadt das in Ordnung bringen!“

„Verstehe, aber hier bleiben kann er nicht. Nicht in solchen Umständen. Der Leuchtturm ist ziemlich herunter gekommen. Das ist kein Ort für einen Jungen in seinem Alter. Er ist überhaupt nicht sozialisiert.“ Der Polizist schaut zu Aike, der den Kopf auf die Knie gebettet hat und sich nicht weiter um uns kümmert.

„Nehmen Sie mir den Jungen wech'?“, fragt der Alte misstrauisch.

„Hier bleiben kann er nicht. Verstehen Sie doch, Herr Sybrands. Er muss in eine Einrichtung, in der man auf seine Bedürfnisse eingehen kann und wo er Freunde in seinem Alter kennen lernt.“

Ratlos sehe ich zu meinen Freunden. Dass das alles solche Ausmaße annimmt, damit hat wohl keiner von uns gerechnet. Ich sehe Aike an und knabbere auf meiner Unterlippe.

„Ich schicke morgen jemanden her damit der Junge abgeholt wird. Keine Sorge, es wird ihm gut gehen.“ Der Polizist sieht Herrn Sybrands aufmunternd an, der seinen Blick mürrisch erwidert. Dann wendet der Mann sich an uns. „Ich ziehe die Anzeige zurück, aber kommt nich' mehr her!“

Betreten nicken wir und verlassen mit dem Polizisten den Leuchtturm. Ich werfe noch einen letzten Blick zu Aike und mir rinnt eine Gänsehaut über den Körper als er mir direkt in die Augen schaut. Ich ringe mir ein Lächeln ab und hebe kurz zum Abschied die Hand, doch er reagiert nicht und guckt mir lediglich nach.

Draußen angekommen steigen wir in das Polizeiauto und werden zum Haus der Fendels gebracht, die dummerweise bereits auf uns warten und entgegen kommen als der Wagen am Haus ankommt. Der Polizist hält das Auto an und wie geprügelte Hunde steigen wir aus und lassen die Köpfe hängen. Natürlich erwartet uns eine deftige Standpauke. Wir sind immerhin die ganze Nacht weg gewesen und haben keinerlei Nachricht hinterlassen.

Es dauert eine Weile bis alles herauskommt und wir wirklich die Wahrheit erzählen, allerdings mit einigen Ausnahmen. Sie müssen ja nicht erfahren was Tom und Jannes ursprünglich mit Aike vorhatten, als sie noch nicht wussten, dass er eigentlich ein Junge ist und auch dass ich ihn gewaschen habe, behalte ich für mich und die Jungs sagen zum Glück auch nichts. Dieser eine Moment geht mir kaum noch aus dem Kopf. Dieser winzig kleine Augenblick in dem wir uns beinahe geküsst hätten. Was gäbe ich dafür, wenn ich es tatsächlich getan hätte.

 

Den nächsten Tag verbringen wir am Strand. Die Nacht über haben wir kaum geschlafen, weil wir uns tierisch über unsere Rettungsaktion geärgert haben, welche natürlich ein totaler Reinfall gewesen ist!

Mürrisch sitze ich am Strand, während Tom und Jannes unbekümmert im Wasser herumbalgen. Ich bin müde und wütend. Alles ist umsonst gewesen. Wir hätten uns von Anfang an nicht darauf einlassen sollen!

Ob Aike bereits abgeholt worden ist? Wahrscheinlich werde ich ihn ohnehin nie wieder sehen. Es heißt zwar man sieht sich immer zwei Mal im Leben, aber der Junge landet bestimmt in irgendeinem Kaff und wird von Psychiatern oder so was betreut. Therapeuten. Nein, erst mal muss er ja lernen sich zu verständigen. Wer weiß überhaupt auf welchem Stand er ist? Vielleicht ist er im Kopf noch wie ein Kleinkind, wenn er nichts gelernt hat?

Dabei sieht der Kerl verdammt umwerfend aus und ich hätte ihn total gerne geküsst...

Ich raufe mir die Haare und stehe abrupt auf. Ich klopfe mir den Sand vom Hintern und renne brüllend zu den Jungs, stürze mich auf Tom und falle mit ihm ins Wasser. Jannes schmeißt sich lachend auf uns und so toben wir noch eine Weile herum, bis meine Tante uns zum Essen hereinruft.

 

Abends lungere ich im Wohnzimmer auf dem Sofa herum. Tom kommt in den Raum und stützt sich auf der Rückenlehne ab. Er sieht auf mich herunter und zieht die Stirn kraus. „Willst du jetzt nur noch mit diesem Sieben-Tage-Regenwetter-Gesicht herum laufen? Ich meine, wir können es halt nicht ändern. Er ist weg. Wir haben einen Fehler gemacht. Das ist alles.“

Ich sehe müde zu ihm auf und dann wieder zum Fernseher, den ich auf stumm geschaltet habe. Zwei Frauen streiten sich wegen irgendeiner Belanglosigkeit.

„Was guckst du da?“

„Keine Ahnung...“, murmele ich und schließe meine Augen. „Irgendeine blöde Realityserie.“

„Markus? Stehst du auf ihn?“

Ich öffne die Augen und sehe zu Tom auf. „Was?“

„Ich will wissen, ob du auf ihn stehst, diesen Jungen aus dem Leuchtturm?“

„Er heißt Aike.“

„Ja, meine ich doch. Also wie sieht's aus?“

Ich schlucke und weiche seinem Blick aus. „Ein bisschen, irgendwie... Ich bin nicht verliebt oder so was, aber... Er hat mich schon irgendwie...fasziniert.“

„Weil er anders ist als wir?“

„Vielleicht...?“ Fragend sehe ich zu Tom auf. „Ich weiß es nicht.“

Er seufzt und schaut auf den Fernseher. „Ich glaube wir drei haben einfach kein Glück mit der Liebe.“

„Ja, wahrscheinlich...“ Ich lächele gezwungen und zucke mit den Schultern.

„Hast du was dagegen, wenn ich mal etwas Verrücktes ausprobiere?“, fragt Tom und sieht mich nachdenklich an.

„Und was?“, frage ich belustigt.

Er stützt sich an der Rückenlehne ab und klettert darauf, lässt sich auf meiner Seite auf dem Sofa nieder und setzt sich breitbeinig auf mich. Mein Herz klopft auf einmal wie ein Presslufthammer in meiner Brust, als Tom sich zu mir herunter neigt und sein Gesicht sich mir stetig nähert. Zentimeter um Zentimeter. Ich halte die Luft an und rühre mich nicht vom Fleck, so aufgeregt bin ich.

Toms Hand berührt mich am Hals was mich erschaudern lässt und dann berühren sich unsere Lippen. Erst zögerlich, dann etwas intensiver. Ich liege noch immer stocksteif auf dem Sofa. Irritiert schließe ich meine Augen und lasse mich von Tom küssen. Komisch, diesen Moment habe ich mir immer viel aufregender und schöner vorgestellt. Wieso kann ich mich nicht entspannen? Ich sollte mich freuen, immerhin ist es Tom der mich hier küsst! Trotzdem bleibe ich auf dem Boden der Tatsachen und kann es einfach nicht genießen. Vielleicht ist es auch nur der falsche Zeitpunkt?

Tom löst sich von mir. Wir beide wirken nicht wirklich überzeugt von dem was hier gerade abgegangen ist.

„Irgendwie ist das nicht so mein Ding...“, meint er und verzieht sein Gesicht. Ich lächele kläglich. „Na ja, du hast mich halt immer so angeguckt, da wollte ich dich aufmuntern, aber das war wohl nichts...“

„Danke, Tom.“ Ich umarme ihn und drücke ihn fest an mich.

„Ich gehe mal wieder nach oben. Kommst du gleich nach? Der Film scheint ja nicht so der Hammer zu sein.“

Ich nicke und sehe ihm nach. Mit den Fingern berühre ich meine Lippen. Da war kein kribbeln, keine Freude, irgendetwas hat gefehlt...

Ich erhebe mich vom Sofa, schalte den Fernseher aus und schleppe mich nach oben ins Zimmer. Die Jungs liegen bereits in den Betten und so schalte ich das Licht aus und krieche auf meine Matratze. Obwohl ich todmüde bin kann ich nicht einschlafen. Unruhig wälze ich mich im Bett hin und her.

Schließlich stehe ich auf und schleiche mich hinaus. Ich durchquere das Haus, öffne die Terrassentür und setze mich draußen auf einen Gartenstuhl. Müde blicke ich auf das Meer hinaus, rieche die salzige Luft und starre in den Himmel.

Was habe ich mir davon eigentlich versprochen? Hätten wir ihn gerettet, wäre er auch so oder so weg vom Fenster gewesen. In beiden Situationen hätte ich ihn nicht mehr wiedergesehen. Rettung... das war doch nur eine Illusion. Unser Abenteuer. Genau wie der Dikjendälmann. Den gibt es auch nicht. Tom hat Recht, ich sollte mich davon nicht so frustrieren lassen. Das bringt mir nun mal nichts. Bald ist der Urlaub auch schon wieder vorbei und wenigstens den sollte ich noch in vollen Zügen genießen, ehe ich mit der Ausbildung beginne. Seufzend ziehe ich meine Beine eng an den Körper, schlinge meine Arme darum und lege meinen Kopf auf den Knien ab.

 

„Was willst du hier?“, fragt der Leuchtturmwärter misstrauisch, als er morgens am Turm ankommt. Er trägt ein blaues Flanellhemd mit Karomuster und eine ausgewaschene beigefarbene Hose sowie dreckige schwarze Stiefel. Ich sitze auf dem Boden vor der Tür zum Turm.

„Ist er gestern abgeholt worden?“, frage ich ihn.

„Ja, der Bengel is' wech. Den krieg ich so schnell nimmer wieder.“ Der alte Mann bleibt etwa zwei Meter von mir entfernt stehen. „Was willste hier? Hab doch gesacht, ihr sollt nich' mehr herkommen!“

„Ich weiß. Können Sie mir sagen wo Aike jetzt ist?“, frage ich hoffnungsvoll.

„Hm, na in so 'ner Einrichtung. Weiß nich' wie die heißt. Die hamm mir 'nen Zettel dagelassen.“

„Darf ich den sehen?“

„Wieso? Willst ihn noch ma' entführen?“

„Wir wollten ihm nur helfen. Wir konnten doch nicht wissen, dass Sie auf ihn aufpassen! Ich mache mir nur Sorgen.“

„Aha...“

„Also was ist jetzt?“

„Hm, na gut. Komm mit hoch.“

Ich erhebe mich hastig, als er zur Tür tritt und sie öffnen will. Er zieht die schwere Tür mühelos auf und läuft die Treppe langsam hoch. Ich folge ihm in einigem Abstand. Wir erreichen die Küche und ohne ein weiteres Wort zeigt er auf einen Zettel am Tisch. „Da.“

Ich gehe darauf zu und ziehe die Visitenkarte mit den Fingern näher zu mir heran. Kurzerhand hole ich mein Handy aus der Hosentasche und schreibe mir die Adresse und auch die Telefonnummer ab.

„Und Sie wissen nicht, wann er dort entlassen wird?“, frage ich den Mann, der mittlerweile auf der einem Stuhl sitzt.

„Nee...“

„Ähm...“, beginne ich zögernd. „Wie alt ist Aike eigentlich?“, frage ich nervös.

„Hm. 17 oder 18, ganz sicher bin ich mir da nich'.“

Ich atme erleichtert durch. Warum genau, kann ich mir allerdings selber nicht erklären. „Okay, danke.“ Etwas rastlos sehe ich mich um. „Der Polizist meinte doch, es liegt an der Umgebung oder nicht? Also, dass der Turm so heruntergekommen ist... Deswegen darf Aike nicht hier bleiben oder?“

„Kann schon sein. Vielleicht bringen sie ihn aber auch wieder zu seinen Eltern.“

„Haben Sie deren Adresse?“, frage ich mutig weiter.

„Ja, schon. Was willst'n mit der?“

Ratlos kratze ich mich am Kopf. „Na ja, vielleicht könnte ich ihn dann mal besuchen? Schauen wie es ihm so geht?“

„Aha...“ Der alte Mann holt ein Portemonnaie aus seiner Hosentasche, welches auch schon mal bessere Tage gesehen hat. Das hellbraune Leder ist ganz rissig. Er holt ein kleines Adressbüchlein heraus. „Ich kann nich' mit solchen Dingern. So moderne Technik liegt mir nich'.“ Er deutet auf das Handy in meiner Hand. Ein Lächeln kann ich nur schwer unterdrücken.

„Da hast du sie.“

Ich trage die Adresse von Aikes Eltern in mein Handy ein und überprüfe, ob auch alles stimmt. „Okay, danke.“

„Und nu' hau ab, Junge!“

„Danke und tschüss.“ Ich laufe die Treppen herunter und verlasse den Leuchtturm. Langsam schlendere ich über den Strand und ziehe mir Schuhe und Socken aus. Der warme Sand unter meinen Füßen fühlt sich gut an. Barfuß laufe ich weiter und fühle mich irgendwie besser. Somit habe ich ihn noch nicht ganz verloren. Ich kann noch etwas machen. Ein Blick zurück zum Leuchtturm sagt mir auch schon, was als erstes zu tun ist.

 

„Du willst was?“, fragt Tom entgeistert und auch Jannes schaut mich verblüfft an.

„Also, es kann gut sein, dass es ja nichts bringt. Möglich, dass er zurück zu seinen Eltern kommt, aber überlegt mal, wenn er wieder am Leuchtturm sein kann... Ich meine, er ist dort immerhin aufgewachsen. Es ist sein Zuhause.“

„Du spinnst doch!“, fährt Tom mir dazwischen. „Er war dort praktisch gefangen! Er durfte nicht raus und hat keine Freunde! Glaubst du, es geht ihm besser, wenn er dort zurückkehrt?“

Ich lasse betreten den Kopf hängen.

„Markus! Er ist weg! Vergiss ihn!“, redet Tom brüsk auf mich ein. „Wahrscheinlich geht es ihm jetzt besser, dort wo er ist!“

„Aber der Alte ist doch da. Er war nicht ganz allein...“, versuche ich es kläglich.

„Krieg dich mal wieder ein, Markus! Du warst doch von Anfang an dagegen und jetzt willst du den barmherzigen Samariter spielen? Ohne mich!“ Tom verschränkt die Arme vor der Brust und auch Jannes wirkt nicht sehr begeistert.

„Außerdem, was haben wir davon den Leuchtturm sauber zu machen? Wenn er bei seinen Eltern lebt ist alles umsonst gewesen. Auf noch so eine fixe Aktion habe ich keine Lust mehr.“ Jannes schüttelt entschieden den Kopf.

„Falls ich dich erinnern darf. Das ist doch nur deine Idee gewesen! Du hast uns das doch alles eingebrockt!“, meckere ich ungehalten, stehe auf und gehe zur Luke. Wütend klettere ich die Leiter herab und laufe durch die Küche hinaus in den Garten.

Frustriert laufe ich runter zum Strand, bis mir das Wasser über die Füße fließt. Ich trete mit dem Bein aus, als würde ich einen Ball wegschießen wollen, woraufhin die klare Flüssigkeit in die Luft spritzt und hocke mich einfach im Wasser hin. Dass meine Kleidung dabei nass wird, ist mir herzlich egal.

Abrupt stehe ich auf, zerre mir die Kleider vom Leib, werfe sie achtlos in den Sand wo sie ein paar Meter vom Wasser entfernt liegen bleiben und stürze mich in die Wellen, bis ich tief genug bin und schwimmen kann. Ich tauche kurz unter und komme prustend wieder an die Oberfläche. Ich drehe mich auf den Rücken und schwimme langsam weiter, den Blick gen Himmel gerichtet. Hoch oben am Firmament sind noch leichte Dunstschwaden eines Düsenjets zu sehen, die sich mit der Zeit verflüchtigen.

Kapitel 5: Die Zeit danach...

„Markus, träume hier nicht herum! Hilf mir die Tür wieder einzubauen!“, ruft mir mein Kollege zu und so reiße ich mich aus meinem Tagtraum und stecke eilig mein Handy wieder in die Hosentasche. Die Pause ist längst um und meine Brotstullen liegen immer noch unberührt in der Dose.

Hastig stehe ich auf und stolpere beinahe über einen roten Werkzeugkasten. Ich springe noch rechtzeitig darüber und helfe dem wesentlich älteren und kräftigeren Mann dabei die Autotür der Fahrerseite wieder einzuhaken, deren Beulen wir entfernen mussten.

Ich habe mir meinen Traum erfüllt und bin mittlerweile seit drei Wochen in einer Werkstatt. Ich bin meinen Kollegen dankbar dafür, dass sie mir so viele kleinere Arbeiten überlassen, so dass ich nicht immerzu an Aike denken muss und mir nicht fehl am Platze vorkomme. Immerhin ist es das, was ich schon immer machen wollte. An Autos herumschrauben.

Nachdem wir zu zweit die Tür eingehakt haben, geht es an das ausfüllen eines Formulars und während mein Kollege das macht, gehe ich in über den asphaltierten Hof, zu dem kleinen Häuschen. Ich öffne die Tür, laufe ein paar Stufen hinauf und komme in das kleine enge und voll gestellte Vorzimmer in dem die Kunden ihre Rechnungen begleichen oder sonstige Auskünfte einholen.

Im Hinterzimmer sitzt mein Chef und tippt etwas auf den Rechner ein. „Kannst du die Rechnungen eintüten?“, fragt er und deutet auf einen Stapel Zettel und Briefumschläge.

„Klar!“, erwidere ich, setze mich ihm gegenüber und mache mich direkt an die Arbeit.

„Morgen bist du nicht hier oder?“

„Nee, da habe ich Berufsschule.“

„Okay.“

Schweigend arbeite ich weiter. Bei meinem Chef weiß ich momentan immer noch nicht über was ich mit ihm reden könnte. Meistens halte ich dann doch den Mund, weil mir kein gescheites Thema einfallen will, aber er wirkt trotzdem sehr zufrieden mit mir und ist selber äußerst wortkarg.

 

Nach meiner Schicht ziehe ich mich um und verlasse die Werkstatt. Ich halte inne und sehe zu dem Jungen, der an der Auffahrt auf mich wartet. Er lächelt mir zu und hebt kurz die Hand zum Gruß. Ich tue es ihm gleich und gehe lächelnd auf ihn zu.

„Seit wann holst du mich ab?“, frage ich Tom und umarme ihn flüchtig.

„Mir war halt danach.“ Er grinst und ich muss mir eingestehen, dass er in dem schwarzen Anzug sehr attraktiv aussieht. Ich greife nach seinem Revers und muss schmunzeln. Da ist aus ihm doch noch ein echter Bürohengst geworden.

„Du siehst gut aus.“ Tom sieht mich stolz an. „Ja, nicht wahr? Wie so ein Börsenmakler!“

Wir lachen und schlendern zu seinem Auto, das eigentlich seiner Mutter gehört. Ein grüner Toyota Corolla Verso. Trotzdem ist Tom unheimlich stolz darauf mit dem Wagen zur Arbeit zu fahren. Ich hingegen schaffe es zurzeit nicht mal Geld aufzubringen um den Führerschein zu machen und muss mit dem Bus zur Arbeit fahren.

Wir steigen ein und fahren zu unserer üblichen Stammpizzeria. Die Salamipizza tut nach der harten Arbeit gut und da ich mein Brot nicht angerührt habe, stürze ich mich nur umso mehr darauf und schlinge ein Stück nach dem anderen herunter.

Toms Jackett hängt über der Stuhllehne, damit er es sich nicht einsaut. Im Gegensatz zu mir lässt er sich mit seiner Champignonpizza Zeit.

„Triffst du dich heute mit ihm?“

„Mit wem?“, frage ich mit vollem Mund und sehe zu Tom auf.

„Na, mit deinem Blind Date.“

„Ach so, ja.“

„Bist du schon über deine große Liebe hinweg?“, neckt er mich.

Ich rümpfe die Nase und sehe ihn böse an. „Ich bin nicht in ihn verliebt gewesen!“

„Nein, gar nicht.“ Tom lächelt breit und es scheint ihm immer noch Spaß zu machen mich mit ihm aufzuziehen.

„Ich muss gleich los, wenn ich den Typen heute Abend noch treffen will.“ Ich stehe auf und schiebe mir das letzte Stück Pizza in den Mund.

„Du isst wie ein Mähdrescher!“, meint Tom verblüfft. „Na, geh schon! Die Rechnung geht heute auf mich!“

„Cool! Danke!“ Ich wische mir mit dem Handrücken über die Lippen und kann es nicht lassen Tom einen Kuss auf die Wange zu geben. Er verzieht den Mund und wischt sich mit der Hand darüber. Ich strecke ihm grinsend die Zunge aus und verlasse die Pizzeria.

Eilig renne ich zur Bushaltestelle und fahre nach Hause.

 

Abends warte ich nervös vor meiner Wohnung auf der Treppe. Ab und an fährt ein Auto vorbei oder Passanten passieren mich. Ich trete nervös mit meinem Fuß auf den Boden und warte ungeduldig. Dieser Lars scheint echt lange auf sich warten zu lassen.

Ich seufze und lasse den Kopf hängen. Mein erstes Date überhaupt und ich habe keinen blassen Schimmer was mich erwarten wird.

Ich lasse meinen Blick schweifen und hole mein Handy aus der Hosentasche. Gelangweilt tippe ich darauf herum. Ich höre Schritte, sehe aber nicht auf. Wahrscheinlich doch nur wieder ein Fußgänger. Als ich merke, dass jemand vor mir stehen bleibt, hebe ich langsam den Kopf.

„Markus?“

„Äh, ja...“, ich räuspere mich hastig, weil mir die Stimme vor lauter Nervosität versagt. „Bist du Lars?“, frage ich ihn. Er nickt lächelnd und lässt sich neben mir auf der Treppe nieder. Seine braunen Haare sind ganz zerzaust und er trägt ein blaues Poloshirt und etwas dunklere Jeans. Mir klopft das Herz bis zum Hals. Nervös stecke ich mein Handy in die Hosentasche und reibe mir die verschwitzten Hände an der Hose ab.

„Sollen wir reingehen? Ich hoffe, ich habe dich nicht zu lange warten lassen?“, fragt Lars und ist mir näher als mir lieb ist. Ich bin auf einmal total aufgeregt und kriege den Mund gar nicht auf.

„Ne-nein, gar nicht.“ Ich erhebe mich hastig und gehe zur Haustür, die ich mit einem Schlüssel etwas linkisch aufschließe.

„Bist du nervös?“, fragt Lars und legt mir seine Hand auf die Schulter. Ich nicke und spüre wie er sich hinter mich stellt, meine Taille festhält und mich am Nacken küsst.

„Keine Sorge, ich werde dafür Sorgen, dass es dir gefallen wird.“

Immerhin habe ich ihn deswegen herbestellt. Was Tom nämlich nicht weiß ist, dass dieser Lars kein Blind Date ist sondern ein Callboy, der die Nacht mit mir verbringen wird. Was soll ich ewig darauf warten? Auf den Richtigen? Soll ich hoffen und warten bis ich 50 bin und dann meinen ersten Sex habe? Wozu, wenn es nicht auch schneller geht?

Wir betreten das Haus. Meine Eltern sind heute Abend zum Glück bei Freunden zum Essen eingeladen und so haben Lars und ich die Wohnung für uns allein. Ich gehe die Treppe hinauf, schließe die Tür zu meinem Appartement auf und lande schließlich mit dem Mann, der wesentlich älter ist als ich in meinem Zimmer.

Ohne lange zu fackeln küsst er mich und zieht mich in eine enge Umarmung. Ich spüre seinen kräftigen, durchtrainierten Körper an meinem. So wie ich es von ihm verlangt habe. Keine Romantik, keine Kennenlernphase, nur heißer Sex.

Er drängt mich zum Bett und drückt mich auf die Matratze. Mein Puls rast und mein Kopf scheint förmlich zu glühen. Meine heißen Wangen sind bestimmt knallrot. Es ist ein komisches Gefühl es mit einem völlig Fremden zu treiben, den man vorher noch nie gesehen hat. Trotzdem gibt Lars sich alle Mühe, um es mir so angenehm wie möglich zu machen und lässt sich und vor allem mir viel Zeit auf das was mir noch bevorsteht.

 

Am nächsten Morgen liege ich nackt in meinem Bett und mir schmerzt der Hintern. Ich mag mich kaum bewegen. Lars ist längst weg und wir werden uns wahrscheinlich nie wieder sehen.

Ich bleibe im Bett liegen und wenn ich daran denke, dass ich mit dem Bus zur Berufsschule fahren muss, will ich einfach nur heulen. Das wird eine schmerzhafte Fahrt, mal ganz abgesehen von einem stressigen Tag, der mir bevorsteht.

Nach einer ausgiebigen Dusche, die meine Glieder entspannt, schlüpfe ich in gemütliche Kleidung und packe meine Tasche mit dem Nötigsten, ehe ich das Haus verlasse.

Während der ganzen Busfahrt versuche ich den Schmerz zu ignorieren, während ich grausam durchgerüttelt werde. Obwohl Lars mich genug vorbereitet hat und zärtlich gewesen ist hat er sich trotzdem ordentlich ausgetobt. Ich stöhne leise und greife nach meinem Handy. Noch immer habe ich die Adressen abgespeichert und je mehr Zeit vergeht, umso öfter zweifle ich, ob ich ihn noch suchen soll.

Ich verzehre mich regelrecht nach ihm. Mehr als ich zugeben will. Sein Blick als er mich im Leuchtturm angesehen hat, jagt mir noch immer eine Gänsehaut über den Körper, wenn ich daran denke.

Ich beiße mir fest auf die Unterlippe und stehe abrupt auf, laufe zur Tür und drücke auf den Knopf. Bei der nächsten Haltestelle springe ich aus dem Bus, was ich lieber nicht hätte tun sollen und laufe die Straße entlang.

„Ich bin so ein Volltrottel!“, entfährt es mir. Er ist die ganze Zeit hier und ich ziere mich nach ihm zu sehen. Ich kann ja wenigstens mal vorbeischauen, ob es ihm gut geht. Das würde mir schon reichen!

So schnell es mir möglich ist, renne ich zum Bahnhof und ignoriere den stechenden Schmerz in meinem Hintern. Ich kaufe mir ein Ticket und fahre mit dem nächsten Zug zu der Einrichtung, in der Aike sich befindet. Sie liegt gut vier Stationen entfernt.

Mir ist schon ein wenig mulmig zumute und je näher ich dorthin gelange, umso mehr zweifle ich an meinem Entschluss. Was erhoffe ich mir eigentlich davon?

Nach kurzer Fahrt steige ich aus, laufe den Bahnsteig entlang und suche mir die Adresse auf Google Maps heraus.

Nach quälend langer Suche finde ich das Gebäude endlich. Es sieht schlicht aus. Auf den ersten Blick erkennt man nicht einmal richtig um was für ein Gebäude es sich handelt, wäre es nicht mit deutlich sichtbaren Schildern ausgestattet.

Ich laufe langsam und zögernd den Gehweg entlang. Vorbei an einem gemähten Rasen zu beiden Seiten, wobei auf einer Seite ein riesiger Baum mit grünen Blättern steht und Schatten spendet. Ich drücke die Glastür auf und sehe mich um.

Es ist ruhig in dem Gebäude, als wäre niemand hier. Auch an der Anmeldung ist keiner zu sehen und der Besucherbereich ist ebenfalls menschenleer.

„Hallo?“

Ich drehe mich zu der weiblichen Stimme um und erkenne eine Frau, die mit einem Klemmbrett unter dem Arm auf mich zukommt. Sie hat kurze hellbraune Haare und trägt eine weiße Bluse und dazu einen geblümten knielangen Rock. Ihre schwarzen Pumps klackern auf dem Boden.

„Äh...“ Mehr bringe ich nicht heraus.

„Wollen Sie jemanden besuchen? Gesprächszeiten sind nachmittags und Sie müssen vorher einen Termin machen.“

„Ich suche Aike Sybrands.“

„Oh!“, entfährt es ihr. „Seit er hier ist hat er noch keinen Besuch bekommen. Er wird sich sicherlich freuen.“ Die Frau winkt mir freundlich zu und so folge ich ihr unsicher.

Ich sehe mir die Gänge an, welche wir entlang laufen. An den Wänden hängen Bilder irgendwelcher Maler, die ich nicht kenne, deren Namen mir allerdings schon irgendwie bekannt vorkommen. Die Flure sind hell beleuchtet dank der riesigen Fensterfront und die warme Luft staut sich ein wenig. Wir passieren eine Glastür und laufen an ziemlich vielen geschlossenen Türen vorbei. Am Ende des Ganges gelangen wir nach draußen in einen riesigen Garten, in dem sich mehrere Menschen tummeln.

„Warten Sie kurz.“ Die Frau läuft voraus und mit einem Mal halte ich den Atem an. Lange blonde Haare, zu einem losen Zopf zusammengebunden stechen mir sofort ins Auge. Die Frau legt ihre Hand auf die Schulter der Person und spricht in Gebärdensprache. Ihre Hände vollführen flink einige Handzeichen und dann dreht sich die Person um. Mein Herz hämmert wild in meiner Brust.

Seine blauen Augen scheinen mich zu durchdringen als Aike sich mir zu dreht. Er legt den Kopf ein wenig schief und sieht dann wieder die Frau an. Sie nickt ihm zu und langsam läuft er in meine Richtung. Nervös komme ich ihm entgegen.

„Hi!“, grüße ich ihn zögernd und auch das Lächeln will mir nicht so richtig gelingen. Ich bin viel zu aufgeregt.

Aike betrachtet mein Gesicht eingehend, als würde er mich gar nicht erkennen.

„Er beherrscht die Gebärdensprache noch nicht sehr gut, aber er ist fleißig am Lernen und kann sich schon recht gut verständigen.“ Die Frau tritt zu uns und lächelt.

„Ah, schön. Ähm, ja...“ Ich weiche seinem Blick aus und kratze mich am Hals. Was soll ich denn jetzt sagen? Soweit habe ich ja gar nicht gedacht. Ich wollte ihn doch bloß sehen.

„Vielleicht möchten Sie sich ja mal einige seiner Bilder ansehen? Aike hat das Malen für sich entdeckt. In ihm steckt ein wahrer Künstler!“

„Ist das so?“, erwidere ich lächelnd und sehe zu Aike.

„Kommen Sie!“ Die Frau läuft zurück zu dem Platz an dem Aike eben noch gewesen ist und erst jetzt bemerke ich die Staffelei und die Farbpalette auf einem Hocker. Ich gehe näher heran und betrachte das Bild.

„Er liebt Leuchttürme. Er zeichnet nichts anderes. Wunderschön, nicht wahr? Sie wirken so realistisch und greifbar!“

Ich nicke stumm und starre fasziniert auf das Bild. Erst als ich etwas an meiner Hand spüre, erwache ich aus meiner Erstarrung und blicke herunter. Ganz langsam und vorsichtig greift er nach meiner Hand. Unsere Finger verschlingen sich ineinander. Aike steht dicht bei mir und sieht auf das Bild. Unsere Hände fest ineinander verflochten.

„Ich lasse Sie einen Augenblick alleine. Wenn Sie fragen haben, ich bin dort drüben.“

Ich achte nicht wirklich auf das was die Frau sagt. Mit meinen Gedanken bin ich nur bei unseren Händen. Seine ist ganz warm und fühlt sich ein wenig rau an. Ich sehe Aike ins Gesicht und sofort schaut er mich an. Er ist ein wenig kleiner als ich ihn in Erinnerung habe. Wahrscheinlich lag das an dem turbulenten Urlaub, dass ich das gar nicht richtig wahr genommen habe. Sein Gesicht ist androgyn und mit den langen Haaren kann man ihn wirklich für ein Mädchen halten, wenn man nicht genau hinsieht. Aike lächelt scheu und ich erwidere es. Nervös kratze ich mich am Nacken.

„Es ist schön dich wieder zu sehen.“ Er sieht mir dabei intensiv auf die Lippen, was mich nur noch nervöser macht. Aufgeregt schlucke ich.

Scheinbar hat er das Lippenlesen noch nicht so richtig drauf, denn er sieht mich fragend an. Ich beiße mir auf die Unterlippe. Wie soll ich das jetzt sagen?

Ich überlege kurz, dann löse ich meine Hand von seiner. Irritiert schaut er auf meine Hand, dann hebe ich die Arme und ziehe seinen schmalen Körper in eine Umarmung. Ich verstecke mein Gesicht an seinem Hals und bemerke, dass er ein wenig nach Farbe riecht. Ein paar Sekunden geschieht nichts, aber dann schließt auch Aike mich in seine Arme, drückt sich fest an mich und eng umschlungen stehen wir einfach so da, schließen die Außenwelt für kurze Zeit aus und genießen die Anwesenheit des jeweils anderen. Ich lächele und bekomme das dumme Grinsen gar nicht mehr aus meinem Gesicht. Aikes Griff ist fester als ich es erwartet habe. So umarmt man doch keinen guten Freund oder? Als würde er mich nie wieder loslassen wollen. Zumindest geht es mir so. Meine Finger gleiten zu seinen Haaren und langsam löse ich den Zopf, streiche mit den Fingern durch sein blondes langes Haar was Aike sich gefallen lässt und seinen Kopf auf meiner Schulter ablegt.

Irgendwann müssen wir uns dann aber doch mal voneinander lösen.

Aike und die Aufseherin begleiten mich bis zum Ausgang. Ich sehe den Jungen noch einmal an und sehe zu der Frau. „Was passiert mit ihm, wenn er entlassen wird?“

„Seine Eltern haben sich entschlossen ihn wieder bei sich aufzunehmen. Nach meinen Informationen befinden sie sich wieder in einer guten Wohnsituation und sind durchaus in der Lage sich um ihr Kind zu kümmern. Beide sind weg von den Drogen und haben feste Jobs.“

„Das ist gut...“, murmele ich, auch wenn ich es immer noch schlimm finde wie sie Aike damals behandelt haben. Die Geschichte von dem alten Leuchtturmwärter war grausig genug.

Ich reiche der Frau die Hand und auch Aike, lasse seine aber nicht sofort los, sondern beuge mich vor und drücke ihm mutig einen Kuss auf die Wange. Aike sieht mich nur an, als ich lächelnd von ihm ablasse und ihm den Kopf tätschele. „Also, dann... Bye! Alles Gute!“

Ich drehe mich um und gehe den Weg entlang. So ist es gut. Ich wollte wissen wie es ihm geht und habe meine Antwort erhalten. Ich habe ihn wiedergesehen und er erinnert sich an mich.

Als ich hinter mir schnelle Schritte höre, drehe ich mich überrascht um und schon fliegt mir Aike regelrecht in die Arme. Verblüfft sehe ich zu ihm, als er sich auch schon auf die Zehenspitzen stellt und mir stürmisch einen Kuss auf die Lippen drückt. Mir wird auf einmal total heiß und irritiert halte ich den Jungen in den Armen bis er sich von mir löst. Er lächelt und läuft dann zurück zur Aufseherin, die amüsiert zu mir schaut. Noch immer stehe ich völlig entgeistert auf dem Gehweg und nur langsam dämmert es mir, dass Aike mich gerade geküsst hat. Von sich aus!

Ich hebe meine Hände zusammengefaltet ans Gesicht und drücke sie mir lächelnd ans Gesicht. Auf einmal muss ich lachen. Es ist irgendwie befreiend und fühlt sich gut an.

Beschwingt trete ich den Rückzug an, um mich endlich auf den Weg zur Berufsschule zu machen.

Epilog

Ein ganzes Jahr bin ich nicht mehr auf Sylt gewesen und ich finde mittlerweile ist es echt mal wieder an der Zeit der Insel einen Besuch abzustatten. Tom ist diesmal nicht mit dabei. Er hat doch noch eine Freundin an seinem Arbeitsplatz gefunden von der er sich überhaupt nicht mehr trennen mag und wie Sekundenkleber an ihrem Rockzipfel hängt.

Ich schlendere barfuß gemütlich den Sandstrand entlang und genieße die frische salzige Meeresbrise.

„Hey, du Schnecke! Wo bleibst du denn?“, frage ich lachend und drehe mich um. Aike grinst breit und kommt zu mir gelaufen, als ich ihm die Hand entgegen strecke.

Langsam aber sicher kommt der Leuchtturm in Sicht und als wir davor stehen bleiben wirkt er immer noch sehr beeindruckend auf mich.

Aike läuft darum herum und bedeutet mir, dass ich warten soll. Er verschwindet im Leuchtturm und es dauert eine ganze Weile bis er sich wieder blicken lässt. Mein Blick schweift über die Landschaft und ich muss mir schon eingestehen, dass ich diesen Ort vermisst habe. So viel ist hier in nur einem Sommer passiert.

Ganz oben öffnet sich knarzend die Tür und Aike erscheint. Ich grinse breit und fuchtele wild mit den Armen in der Luft.

Er wirft mir einen Luftkuss zu und lächelnd sehe ich zu ihm auf, ehe ich meine Hände zu einem Trichter forme und sie mir vor den Mund halte.

„Rapunzel! Rapunzel! Lass dein Haar herunter!“, brülle ich so laut ich kann.

Aike grinst belustigt und hält eine Schere in die Höhe. Er greift nach seinen zusammengebundenen Haaren und trennt sie kurzerhand ab. Ich beobachte ihn bei seinem Ritual und wie er sie kurz an sein Gesicht drückt, um sie dann in die Luft zu werfen. Die Haare werden von dem starken Windzug mitgezogen und als würden sie durch die Luft tanzen wirbeln sie an mir vorbei hinauf aufs offene Meer.

Als ich zurück zum Leuchtturm schaue, sieht Aike verträumt zu mir herunter, dann geht er zurück in den Turm und kommt wieder zu mir.

Er fällt mir um den Hals wie er es gerne öfter mal tut und küsst mich leidenschaftlich. Lächelnd erwidere ich es und hebe den Jungen hoch, ehe ich mich langsam immer schneller werdend im Kreis drehe. Aike lacht tonlos, klammert seine Beine wie ein Äffchen um meinen Körper und als ich das Wasser an den Füßen spüre, laufe ich tiefer hinein und bleibe darin stehen als es mir bis an die Knie reicht. Ich grinse fies und lasse Aike einfach ins Wasser fallen. Er platscht hinein und das Wasser spritzt mir ins Gesicht. Prustend richtet Aike sich auf und sieht mich schmollend an.

Grinsend ziehe ich ihn wieder in meine Arme, als ich ihm aufhelfe und küsse zärtlich seine nassen Lippen. Er schlingt seine Hände um meinen Nacken und nur zu gerne intensiviere ich den Kuss. Der Wind zerzaust uns die Haare und die Strahlen der Sonne wärmen unsere Haut.

„Mein Rapunzel, meines ganz allein...“, flüstere ich gegen seine weichen Lippen und hebe Aike schwungvoll wie eine Prinzessin hoch. Er runzelt die Augenbrauen, lässt es sich aber gefallen und nimmt kurz entschlossen erneut meine Lippen in Besitz. Zufrieden lächle ich in den Kuss hinein.

Ich glaube, Tom hat damals Recht gehabt.

Ich habe mich verliebt.

In den Sohn des Leuchtturmwärters.

Impressum

Texte: Sandra Marquardt
Bildmaterialien: 'Hörnum' von Peter Kamp / Pixelio.de
Tag der Veröffentlichung: 17.07.2014

Alle Rechte vorbehalten

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