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Kurzgeschichte

Ich lebe in einer Ecke Schwedens, wo es wirklich gar nichts gibt. Wir haben große Nadelwälder, viele Seen und Moore, von denen man sich besser möglichst fern hält, wenn man sich hier nicht auskennt und an seinem Leben hängt. Hier im Småland gelten wir als geizig und besonders fleißig, womit ich leider nicht trumpfen kann. Ich verprasse mein Geld, sobald ich es habe und fleißig bin ich nun wirklich nicht.

Meine Familie wohnt in einem typisch skandinavischem Haus. Würde es nach mir gehen, würde ich lieber in einem schicken Designerhaus wohnen.

Die Wände sind rot gestrichen, die Fenster- und Türrahmen sind alle weiß. Vielleicht ist es ja auch nur eine Erkennungsfarbe, damit man sein Haus wiederfindet?

Unser Haus ist bis zum Dach mit Ranken überwuchert, steht kurz vor dem Waldrand, in dessen Mitte es einen großen See gibt und die einzigen Tiere, die meine Familie besitzt, sind zwei Pferde, die für uns eigentlich nur den Rasenmäher ersetzen.

Die Touristen kommen gerne hierher, mieten sich ein Ferienhaus und genießen das ruhige Leben. Mir ist es hier meistens zu ruhig und wann immer ich die Gelegenheit habe, besuche ich meine Verwandten, von denen die meisten in Stockholm leben.

Das Leben in der Stadt ist viel aufregender als hier draußen.

Gut, ich gebe es zu!

Es gibt jemanden, der meine Aufmerksamkeit auf sich zieht, seit er nebenan im Ferienhaus meiner Eltern eingecheckt hat. Nebenan ist ein weiter Begiff, genau genommen lebt er auf der anderen Seite des Sees.

Er heißt Kenan Imset und seit er hier wohnt, bin ich ihm noch kein einziges Mal über den Weg gelaufen. Er kommt einfach nicht raus, denn sein Leben scheint sich hinter den Gardinen des Ferienhauses abzuspielen.

Als kleines Kind hat es mir unheimlichen Spaß gemacht, zu fremden Häusern zu laufen und heimlich durch die Fenster ins Innere zu schauen. Wie ist die Wohnung eingerichtet? Wer lebt dort drin? Gibt es irgendetwas zu entdecken?

Einmal habe ich es gewagt, einen Blick durch das Fenster im Ferienhaus zu werfen, aber es war dunkel und es wirkte auf mich als würde sich niemand dort drin aufhalten.

„Yaron! Kannst du unserem Gast die Lebensmittel bringen?“, ruft meine Mutter von der Küche aus ins Wohnzimmer. Faul bleibe ich auf dem Sofa liegen, lasse die Beine über die Rückenlehne baumeln und sehe mir den Fernseher über Kopf an, ehe ich einen Blick Richtung Küche riskiere.

„Muss das sein?“, frage ich sie und kann mir die Antwort ja eigentlich schon denken.

Hier in der Einöde, mitten im Nirgendwo, fährt mein Vater einmal die Woche in die nächste Stadt und kauft alles Lebensnotwendige für uns und unsere Gäste ein.

Und ich darf mal wieder den Kurier spielen.

Meine Mutter kommt ins Wohnzimmer, hält mir einen voll bepackten Weidenkorb entgegen und sieht mich auffordernd an.

Seufzend rappele ich mich auf, stehe vom Sofa auf und nehme den schweren Korb an mich.

„Zieh dir eine Jacke an! Es regnet.“

Das wird ja immer besser...

Ich stelle den Korb auf dem hölzernen Fußboden ab, gehe zum Kleiderhaken im Flur und schnappe mir meine Jacke.

„Yaron! Der Korb!“, ruft meine Mutter mir zu.

„Ja, ich weiß! Ich habe ihn nicht vergessen!“, brülle ich ihr genervt zu, schließe den Reißverschluss und schnappe mir den Korb, ehe ich das Haus verlasse und unter strömendem Regen Richtung Wald laufe.

Ich höre ein Schnauben und sehe zu unseren Pferden, denen die Nässe nicht allzu viel auszumachen scheint. Meine Mutter wird sie trotzdem hereinholen. Sie bekommt immer Angst, sie könnten sich erkälten und Tierärzte sind eben auch nicht sehr billig.

Ich laufe in den Wald hinein, trete auf einen Ast und rutsche darauf beinahe aus. Nur mit Mühe kann ich mein Gleichgewicht halten und gehe weiter. Ich habe es immer gehasst durch den Wald zu gehen. Es ist dunkel, manchmal sogar neblig und die Geräusche, die eigentlich völlig harmlos sind, machen mich nervös. Es ist die Einsamkeit, völlig allein zu sein, die mir Angst macht.

Ich renne an den Bäumen vorbei, glitsche an rutschigen Stellen mit dem Fuß weg, habe jedoch immer wieder Glück und falle nicht zu Boden.

Der Wald lichtet sich langsam und ich erkenne durch die Bäume hindurch den See, der immer näher kommt.

Ich werfe einen Blick hinauf in den Himmel, der sich düster und bedrohlich auf mich herab zu sinken scheint, auch wenn es nur eine Einbildung sein mag. Der graue Himmel ist wolkenbedeckt und der Regen nimmt stetig zu.

Ich erreiche den See und steuere den Bootssteg an. Das kleine Fischerboot meines Vaters ist an einem Pfahl festgebunden, welcher tief in den schlammigen Grund des Sees ragt.

Ich weiß von meiner Mutter, dass unser Besucher sich nur in dem Haus aufhalten will, sonst wäre das Boot am gegenüberliegenden Steg angetaut.

Ich finde es irgendwie unheimlich, denn er kann uns nur erreichen, wenn er anruft oder wenn er um den See herumläuft und der ist nicht gerade klein. Der schnellste Weg ist wirklich ihn zu durchqueren.

Ich laufe über den Bootssteg, höre das dumpfe Poltern unter meinen Füßen und lege den Weidenkorb nicht gerade unachtsam ins Boot.

„Shit! Ich komme mir hier echt vor, wie Rotkäppchen!“, lache ich nervös auf. „Und wo ist dann der böse Wolf?“ Mit einem mulmigen Gefühl sehe ich auf das Haus, das nicht sehr einladend auf der anderen Seite des Sees steht und bedrohlich auf mich wirkt.

Ich binde das Boot los, werfe das Tau hinein und steige selber in das durchnässte Boot, welches hin- und herschaukelt. Das Wasser schlägt leichte Wellen um mich herum und nur mit Mühe kann ich die glitschigen Paddel festhalten und rudere langsam auf das andere Ufer zu.

„Bin ich froh, nicht auf dem Meer zu sein!“, entfährt es mir.

Schippernd bewege ich mich auf das Ufer zu, welches ich innerhalb von fünf Minuten erreicht habe. Ich steige aus dem Boot, befestige das Tau am Pfahl und beuge mich vor, um den Weidenkorb herauszuholen, als mir der Fuß scheinbar weggezogen wird. Das rechte Bein allein kann sich nicht auf dem nassen Steg halten und so falle ich polternd und unter starken Magenschmerzen auf die Bootsseite, rutsche daran herunter wie ein nasser Sack, hinein in die Tiefe des Sees und pralle mit dem Kopf unsanft gegen das Holz des Bootsstegs.

***

Ich vernehme klappern, schlurfen und jemand hustet verhalten. Schlagartig sind auch meine Erinnerungen wieder da und hastig hole ich tief Luft, während ich erschrocken die Augen aufreiße und mich an der Umgebung orientiere. Halt suchend greife ich nach etwas neben mir und erst als ich dorthin sehe, bemerke ich, dass es der weiche Stoff des Pullovers ist, den der junge Mann mir gegenüber trägt.

Er streckt seine Hand nach mir aus, doch ich zucke erschrocken zusammen.

„Geht's dir gut?“, fragt er mich mit einer tiefen Stimme, die ich ihm nicht zugetraut hätte.

Ich sehe ihn unverhohlen an, ehe ich noch einmal beherzt Luft hole und mich langsam auf dem Sofa aufrichte. Mein Hinterkopf schmerzt und automatisch greife ich mit der Hand dorthin.

„Was hat dich nur geritten bei dem Wetter hier rauszukommen?“, fragt mich der Fremde. Kenan. Unser Gast. Das heißt also, dass ich in seiner Ferienwohnung bin.

„Die Lebensmittel. Mum meinte, ich soll sie dir rüberbringen. Es hat ja keiner damit gerechnet, dass das Wetter schlimmer wird...“, erwidere ich murrend und schließe meine Augen. Ich muss mich ordentlich gestoßen haben.

„Du musst dich umziehen, wenn du dich nicht erkälten willst, sonst holst du dir noch eine Lungenentzündung.“

Ich sehe zu Kenan auf. „Hast du mich gerettet?“

Er zieht eine Augenbraue skeptisch hoch. „Ich habe nur das Unvermeidbare getan.“

Soll ich mich jetzt geehrt fühlen, dass er sich verpflichtet gefühlt hat, mich aus dem Wasser zu zerren?

Die Freude ist eher begrenzt.

„Danke...“, erwidere ich und sehe auf meine Kleidung herunter. Er hat Recht. Ich bin total durchnässt und mehr als eine wärmende Decke, die aussieht, als hätte man sie notdürftig aus zahlreichen Putzlappen zusammengenäht, habe ich nicht.

Trotzdem behagt es mir nicht, mich vor einem Fremden auszuziehen, da ist es egal, dass er ein Mann ist.

„Hast du Kleidung zum Wechseln?“, frage ich und sitze immer noch unschlüssig auf dem Sofa. Er nickt und drückt mir eine Tasse mit dampfenden Tee in die Hand. Dem Duft nach, scheint es Pfefferminztee zu sein.

Kenan steht von der Tischkante auf und läuft quer durch den Raum in ein angrenzendes Zimmer. Ich kann hören, wie er in Schubladen herum wühlt und zupfe an der Decke, die locker um meine Schultern geschlungen ist.

„Wie lange war ich weg?“, rufe ich ihm zu.

Kenan's Kopf schaut kurz zu mir in den Raum hinein, allerdings scheint er noch nichts für mich gefunden zu haben.

„Nur ein paar Minuten. Du warst nicht lange im Wasser. Ich habe dich im Ruderboot gesehen, als du auf dem See warst.“

Ich nippe an dem Tee, der noch viel zu heiß ist und stelle die Tasse anschließend wieder auf dem Tisch ab, der ein wenig wackelt.

„Hier, das sollte passen!“, vernehme ich Kenan's Stimme plötzlich nahe bei mir, obwohl ich gar nicht mitbekommen habe, wie er ins Zimmer gekommen ist. Überrumpelt sehe ich zu ihm auf, wie er hinter dem Sofa steht und mir die Klamotten über die Rückenlehne drapiert.

„Danke...“

Kenan schüttelte den Kopf und geht um das Sofa herum, um sich neben mir aufs Sofa zu setzen. „Soll ich dir helfen?“, will er wissen und kopfschüttelnd sehe ich ihm in die dunklen Augen, die völlig unnahbar wirken.

Kenan scheint nicht vorzuhaben, mich hier alleine zu lassen und resigniert, lasse ich die Decke von meinen Schultern gleiten. Umziehen macht nicht gerade viel Spaß, wenn einem jemand dabei penibel auf den Körper glotzt.

Ich schäle mich aus meiner klebrigen Jacke und lasse sie achtlos zu Boden fallen. Als nächstes folgen Pullover, Shirt, Hose und Socken. Alles landet mit einem platschenden Geräusch auf dem Boden, um den sich im Nu eine kleine Wasserlache bildet.

Gerade als ich nach der Hose auf dem Sofa greifen möchte, hält mich Kenan abrupt zurück. „Die Boxershorts auch.“

Missmutig sehe ich ihn an. „Ach was, ich fahre nachher sowieso zurück, dann kann ich mich auch richtig umziehen!“, erwidere ich schulterzuckend.

Kenan schüttelt den Kopf. „Los, runter damit!“, fordert er mich auf.

Ich sehe ihn aus schmalen Augen an, runzele die Stirn und greife nun erst Recht nach der Hose. Ich kann doch tragen was ich will! Das geht ihn nichts an!

Kenan scheint das jedoch ganz anders zu sehen. Im nächsten Moment hängt er schon halb auf mir, drückt mich gegen die Armlehne zurück und zu allem Unglück beginnt er mir nun auch noch die Hose runterzuziehen.„Was soll der Scheiß! Willst du mir an die Wäsche gehen?! Hände weg!“, brülle ich ihn hysterisch an und schiebe ihn mit meinen Händen von mir herunter, so gut ich kann.

„Sei nicht so kindisch! Von der nassen Unterwäsche kannst du dir immer noch etwas wegholen! Wie alt bist du eigentlich!“, wettert Kenan mit Feuereifer zurück.

„Ich bin nicht aus Zucker und wie alt ich bin geht dich einen feuchten Kehricht an!“

„Halt die Klappe, du Zwerg! Meine Güte, da will man mal helfen und dann so was!“, schnauzt Kenan aufgebracht, während ich immer noch verzweifelt versuche ihn von mir zu schieben, dabei hängt mir die Boxershorts bereits in den Kniekehlen. Meine Beine hängen irgendwo in der Luft und halb auf Kenan's Schultern und würde mir nicht ein Kerl auf dem Sofa gegenüber hängen, würde ich diese Situation glattweg erotisch finden. Im Moment fühle ich mich eher wie ein kleines hilfloses Kind, das von der Mutter umgezogen wird.

„Ich kann mich auch selber ausziehen! Du Vergewaltiger!“, schreie ich ihn nun an, ehe ich eine schallende Ohrfeige bekomme.

„Du urteilst ziemlich schnell, dafür, dass ich dich eben gerettet habe. Vielleicht hätte ich dich im Wasser lassen sollen!“, meint Kenan mit leiser und bedrohlicher Stimme.

Ich schlucke unwillkürlich und sehe ihn mit großen Augen an.

Kenan zieht die Boxershorts über meine Beine und wirft sie zu Boden. „Hätte ich dich vergewaltigen wollen, hätte ich es tun können, noch während du bewusstlos warst. Dann hätte ich meinen Spaß haben können und du kriegst nicht mal etwas mit. Es wäre so einfach gewesen. Hältst du mich immer noch für einen Vergewaltiger, du Memme?“

Ich presse meine Lippen zu einem schmalen Strich zusammen. „Nicht, wenn ich mich anziehen kann!“, murre ich.

Kenan rückt ein Stück von mir ab. „Tu dir keinen Zwang an.“

Ich stütze mich mit den Händen am Sofa ab und richte mich auf. Ich greife nach der Unterwäsche auf dem Sofa und der Hose und schlüpfe hastig in beides hinein, ehe ich mir ein schwarzes Shirt ohne Aufdruck und einen dunkelblauen unauffälligen Kapuzenpullover überstreife.

„Damit siehst du aus wie so ein kleiner Gangster.“ Belustigt sieht Kenan mich an und zieht mir spontan die Kapuze über den Kopf. Irgendwie ist das angenehm, wie ein kleines Versteck für meinen Kopf.

„Dann muss ich mir um dich ja keine Sorgen machen!“, erwidere ich sarkastisch.

Kenan zuckt mit den Schultern. „Vielleicht ja doch?“, meint er vage und verwirrt sehe ich ihn an.

„Trink den Tee bevor er kalt wird.“ Er steht auf, klaubt meine Kleidung zusammen und richtet sich wieder auf, ehe er das Zimmer erneut verlässt.

Ich greife nach der Decke und ziehe sie mir wieder über die Schultern, so ist es gleich viel wärmer. Mein Blick fällt auf den Tee und nach ein paar Schlucken, geht’s mir schon wesentlich besser.

„Ah! Ich habe die Nahrungsmittel vergessen!“, entfährt es mir lauthals, ehe ich die Tasse abstelle, so dass der Tee überschwappt und mich aus der Decke pelle, um schnell draußen nachzusehen.

Kenan kommt zurück ins Zimmer und deutet auf eine Ecke in der Küche, die in das Wohnzimmer integriert ist.

Ich sehe von Kenan zu der dunklen Ecke und atme erleichtert auf. Der Korb steht dort, als wäre er schon immer da gewesen und scheinbar sind auch alle Einkäufe noch drin. Meine Mutter hätte mich ansonsten wahrscheinlich einen Kopf kürzer gemacht!

„Und ich dachte schon, die Sachen sind auch schwimmen gegangen...“ Erleichtert atme ich aus und lasse mich zurück aufs Sofa plumpsen.

Kenan setzt sich neben mir auf das Sofa und für einen Moment sitzen wir einfach nur schweigend nebeneinander.

„Was meintest du eben damit, dass ich mir vielleicht doch Sorgen machen muss?“, frage ich nach einer Weile in die Stille hinein.

Kenan schweigt.

„Nichts, vergiss es.“

Verwirrt sehe ich ihn an. „Wie? Ich soll es einfach so vergessen, nachdem du es frei nach Schnauze in den Raum geworfen hast?“

„Ja!“, meint Kenan, sieht mich jedoch nicht an. „Ist nicht wichtig, ich habe nicht nachgedacht.“

Ich verziehe meinen Mund zu einem Schmollmund und verschränke die Arme vor der Brust. Mein Blick fällt aus dem Fenster und missmutig stelle ich fest, dass es scheinbar die nächste Zeit auch nicht aufhören wird zu regnen.

„Kann ich telefonieren?“, frage ich Kenan, weil ich mein Handy natürlich zu Hause vergessen habe. Kenan sieht mich mit hochgezogenen Augenbrauen an. „Die Leitung ist schon seit einer ganzen Weile tot, jemand scheint hier mal aus Langeweile das Kabel durchgeschnitten zu haben. Jedenfalls sieht es ganz danach aus.“

Entsetzt sehe ich ihn an, ehe ich aufspringe, durch das Wohnzimmer und direkt zum Flur renne, wo das Telefon auf einer kleinen Kommode steht. Ich gehe neben der Kommode in die Hocke und zerre am Kabel, das sich ohne viel Aufhebens herausziehen lässt und mir eine kaputte Schnur zeigt. Ich sehe mir das Ende genauer an und Kenan scheint Recht zu haben. Welcher Idiot schneidet denn das Kabel durch?

Mir läuft eine Gänsehaut über den Rücken.

Was ist, wenn Kenan es war? Ich meine, er ist ein Fremder und vielleicht hat er ja doch irgendetwas im Sinn? Will er mich doch noch vergewaltigen? Ist er etwa so einer?

Tief im Inneren, glaube ich es irgendwie schon, immerhin kenne ich diesen Kerl nun mal nicht und warum er alleine hier in der Einöde Urlaub macht, noch dazu in seinem jungen Alter, ist mir schleierhaft.

Irgendetwas ist komisch an diesem Typen.

Ich bin mir nur nicht sicher, ob ich herausfinden will, was mit ihm nicht stimmt.

Es ist ja so schon ein komisches Gefühl mit jemandem in einem Raum zu sitzen und keinen Gesprächsstoff zu haben.

„Wie heißt du?“, fragt Kenan, während ich zurück zum Sofa gehe und mich setze.

„Yaron.“

„Das ist aber kein schwedischer Name!“, stellt Kenan fest.

Ich zucke mit den Schultern. „Genauso wenig wie deiner, aber du hast einen schwedischen Nachnamen.“

Kenan nickt. „Meine Mutter war Israeli und mein Vater Schwede.“

„Meine Mutter hatte schon immer so einen Fimmel für ausländische Namen, daher auch Yaron.“, erzähle ich ihm und schlinge die Decke fester um meinen Körper. „Genau genommen steht sie auf spezielle Namen. Eben welche, die nicht so alltäglich sind.“

Kenan lächelt und nickt. „Frauen sind immer für eine Überraschung gut.“

Ich linse zu ihm und betrachte Kenan näher. Seine dunklen dichten Haare sind braun, man könnte sie aber auch schnell für schwarz halten. Er hat einen dunklen Teint und ist muskulös ohne wie ein Muskelprotz zu wirken.

Unwillkürlich raufe ich mir durch die dunkelblonden Haare und betrachte meine Arme. Ich habe noch nie in meinem Leben etwas für meine Muskeln getan. Vielleicht wäre ja jetzt ein guter Zeitpunkt damit anzufangen?

Nur, wen soll ich damit beeindrucken? Hier in der Nähe gibt es weit und breit niemanden, auf den ich bisher ein Auge geworfen habe. Nicht mal in meiner Schule gibt es hübsche Mädchen, auf die ich mich einlassen würde. Ist das der Nachteil, wenn man ländlich wohnt? Dass man niemanden abkriegt? Vielleicht liegt es ja auch an mir, dass ich unter dem Durchschnitt bin und die Mädchen mich nicht attraktiv genug finden. Wahrscheinlich bin ich eher der Kumpeltyp bei dem man sich ausheulen kann, wenn der Schwarm das Mädel links liegen lässt?

Ich grinse betrübt und sehe auf, als Kenan nach meiner Tasse greift und einfach daraus trinkt. Es scheint ihn nicht mal zu stören, dass ich vorher aus der Tasse getrunken habe.

Kenan bemerkt meinen unverhohlenen Blick und lächelt. „Was ist?“

Ich lehne mich gegen die Rückenlehne des Sofa's und schüttele den Kopf. „Ist nicht wichtig!“, wiederhole ich seine Worte von vorher.

„Sieht so aus, als müsstest du die Nacht wohl hier verbringen!“, stellt er nach einem kurzen Blick aus dem Fenster fest. Ich folge automatisch seinem Blick und nicke gequält. „Ja, sieht so aus...“

Erneut rinnt mir ein Schauer über den Rücken. Eine Nacht mit diesem Fremden. Ob ich das überleben werde?

„Ich schlafe dann wohl auf dem Sofa...“, murmele ich leise vor mich hin.

„Brauchst du nicht. Es gibt zwei Betten nebenan.“

Ich sehe Kenan an und würde ihm trotzdem lieber sagen, dass ich hier schlafen will, weil ich ihm nicht über den Weg traue.

Kenan scheint meinen Wunsch jedenfalls nicht von den Augen ablesen zu können, denn er steht auf und stellt die Tasse bei der Spüle ab.

„Komm mit!“, meint er.

Zögerlich stehe ich auf, die Decke fest an mich geklammert und folge ihm ins angrenzende Zimmer, aus dem er mir bereits die Klamotten gebracht hat.

Der Boden unter meinen Füßen knarzt, sobald ich die Dielen berühre und wenig interessiert wage ich einen Blick über Kenan's Schulter.

Zwei Betten stehen im Zimmer, dazwischen ein kleiner Beistelltisch mit einer Lampe, die schon bessere Zeiten gesehen hat. Eines der Betten sieht benutzt aus, während das andere noch frisch bezogen zu sein scheint.

„Ich mache uns noch Brote.“

Kenan verschwindet aus dem Raum. Ich sehe zu, wie er beginnt in den Schränken zu wühlen, Messer und Schneidebrett zu tage befördert und aus dem Kühlschrank Aufschnitt und Butter holt. Sollte ich ihm vielleicht sagen, dass ich Margarine bevorzuge? Wahrscheinlich hat er das Zeug eh nicht da.

Ich lasse mich seufzend auf die Bettkante sinken und sehe zu wie Kenan die Brote schmiert.

Auch wenn ich es nicht zugeben will, ein wenig abenteuerlich ist das Ganze ja schon. Nur wir zwei, sozusagen auf einer einsamen Insel gestrandet, irgendwie. Wieso nur ist dann immer ein Kerl dabei, zumindest in meinem Fall?

Kenan kommt zu mir und reicht mir einen Teller. Während ich meinen Gedanken nachgehangen habe, scheint er noch ein wenig Gemüse gefunden zu haben oder war das in dem Korb?

Ich greife nach einer Gurkenscheibe und knabbere daran herum. Kenan gesellt sich mit seinem Teller zu mir aufs Bett und gemeinsam essen wir, schweigend.

Mir fällt auf, dass Kenan mir immer wieder ziemlich lange Blicke zuwirft, die ich nicht zu deuten weiß und die mir auch irgendwie nicht behagen. So, als würde er mich durchleuchten wollen, auf der Suche nach irgendetwas. Nur nach was?

Kenan ist vor mir fertig, greift nach seinem Teller und bringt diesen zurück in die Küche, ehe er ins Schlafzimmer kommt und beginnt sich auszuziehen.

Ich schlinge meinen letzten Bissen herunter und stelle den Teller auf dem Beistelltisch ab. Kenan zieht das Rollo bei dem einzigen Fenster im Zimmer herunter und kurz darauf höre ich das Rascheln seines Bettzeugs.

Ich streife die Decke von meinen Schultern, ziehe mich ebenfalls bis auf die Boxershorts aus und krieche unter die Bettdecke, die viel zu kalt für meinen Geschmack ist, also ziehe ich mir noch kurzerhand die Putzlappendecke über die Bettdecke.

Trotzdem kann ich nicht einschlafen. „Ich kann nicht schlafen!“, murre ich.

„Es sind nicht mal zwei Minuten vergangen. Probiere es weiter.“ Kenan's Stimme dringt leise zu mir herüber und sein Rat macht es mir nicht gerade einfacher. Ich kann nun mal nicht in fremden Betten schlafen.

„Ich wette in ein paar Minuten kann ich immer noch nicht schlafen!“

„Dann bleib halt wach...“

Eine gute Idee, wenn man bedenkt mit wem ich hier in einem Raum schlafen soll, aber auch das will mir nicht gefallen, denn ein klein bisschen müde bin ich dann doch.

„Hol dir einen runter, dann wirst du auch müde!“, meint Kenan nach einer Weile und spontan erstarre ich zu einer Salzsäule. „Was ist? Braust du eine helfende Hand?“, witzelt er.

„Wa-? Nein! Nein, auf keinen Fall!“, erwidere ich abwehrend und kauere mich tiefer unter die Decken.

„Soll ich solange rausgehen?“, fragt Kenan amüsiert und merkt scheinbar gar nicht, dass mir das Thema nicht sonderlich angenehm ist. Meine Wangen scheinen in Flammen zu stehen.

Ich meine, ich kann nicht mal mit meinen Eltern über solche Themen reden.

„Willst du Sex?“

„Ja, aber nicht mit dir!“, entfährt es mir sarkastisch.

Ich vernehme ein Rascheln in der Dunkelheit. Kenan scheint sich umgedreht zu haben, in meine Richtung.

„Du bist ziemlich... reserviert. Du hältst viele Leute auf Abstand. Kann das sein?“

Ich drehe mein Gesicht zu Kenan, dorthin wo ich ihn in der Dunkelheit vermute.

„Du bist auch nicht besser. Was machst du überhaupt hier im Nirgendwo?“, stelle ich ihm eine Gegenfrage.

„Ich habe Abstand gebraucht, Zeit für mich. Dafür ist dieser Ort gut.“

Was meint er damit? Zeit für sich? Wieso? Was ist passiert?

„Warum brauchst du Zeit für dich?“, frage ich ihn neugierig.

„Es ist viel passiert. Ich möchte nicht darüber reden.“

„Du hast doch mit diesem Thema angefangen!“, erwidere ich starrsinnig.

„Tja, jetzt beende ich es auch wieder!“, meint Kenan brummig und dreht sich wieder um.

Ich setze mich im Bett auf und sehe seine Silhouette in der Dunkelheit aufgebracht an. „Was soll der Mist? Fang nicht irgendein Thema an, wenn du gar nicht darüber reden willst!“, meckere ich.

„Willst du jetzt darüber diskutieren?“, brummt Kenan genervt.

„Nein, muss nicht sein...“, erwidere ich resigniert. Scheinbar habe ich da einen wunden Punkt getroffen. Trotzdem würde ich zu gerne erfahren, wieso es ihn hierher getrieben hat und von wem er Abstand braucht.

Wir schweigen beide und nach einer Weile habe ich das Gefühl als würde Kenan bereits schlafen, ganz sicher bin ich mir jedoch nicht.

Ob sich meine Eltern Sorgen um mich machen? Bereuen sie es bereits, mich bei dem Sauwetter rausgeschickt zu haben?

Weiter komme ich jedoch nicht, denn von Kenan's Seite kommen merkwürdige Geräusche. Hat er Alpträume?

Ich setze mich im Bett auf, aber da ich in der Dunkelheit nicht viel erkennen kann, bleibt mir nicht viel übrig, als aufzustehen und nachzusehen. Gesagt, getan.

Ich schlage die Bettdecke zurück, schwinge die Beine aus dem Bett und tapse über den kühlen Holzboden zum gegenüberliegenden Bett.

Vorsichtig und auch ein wenig nervös strecke ich meine Hand nach dem Körper unter der Decke aus, bis ich Kenan's Schulter unter meinen Fingerkuppen spüre und rüttele leicht daran.

„Whoa! Erschreck mich doch nicht so!“

Erschrocken weiche ich einen Schritt zurück und lasse seine Schulter abrupt los. „Sorry! Ich dachte, du hast einen Alptraum!“, erwidere ich überrascht.

Kenan seufzt und dreht sich zu mir. „Ich habe noch nicht geschlafen. Ich habe...“ Er bricht ab und betretenes Schweigen herrscht einen Moment lang.

„Ähm, ich wollte nicht stören...“, murmele ich verwirrt.

Wie kann der Kerl sich in meiner Anwesenheit einen runter holen, wenn nicht mal ich das zustande bringe?

Auf jeden Fall ist es mehr als peinlich!

Ich knabbere auf meiner Unterlippe herum und bin gerade imstande mich umzudrehen und zu meinem Bett zurückzukehren, als Kenan's Hand vorschnellt und er mein Handgelenk ergreift. Er hindert mich daran weiterzugehen und angespannt bleibe ich stehen, spüre wie mein Herz heftig in der Brust klopft und spüre die Hitze in meinen Wangen aufsteigen.

„Komm her...“, flüstert er und zieht mich zu sich.

Ich habe keine Ahnung, wieso ich ihm gehorche. Wegen seiner Ausstrahlung? Weil ich Angst habe, dass er mir etwas antun könnte?

Dabei ist er nicht viel älter als ich.

Ich setze mich an seine Bettkante und spüre wie Kenan mich loslässt und langsam mit seinen Händen über meinen Körper gleitet. Eine Hand spüre ich auf meinem nackten Rücken, während die andere sich ihren Weg zwischen meine Beine sucht.

So also sieht meine erste sexuelle Erfahrung also aus? Werde ich mein erstes Mal mit einem Kerl haben? Einem Fremden?

Ich beiße auf meine Unterlippe und unterdrücke ein Stöhnen. Ich wusste gar nicht, dass es sich so gut anfühlen kann, wenn einen jemand anderes berührt.

„Leg dich hin.“ Ich höre Kenan's Stimme ganz nah an meinem Ohr und lasse mich auf die Matratze drücken. Kenan ist mir jetzt noch näher, schmiegt sich mit seinem Körper eng an mich und ich fühle seine Erregung an meinem Bein, als er mir langsam die Boxershorts herunter zieht. Seine Hand streicht langsam, quälend langsam, über meine Beine, immer höher, bis sie die Mitte erreicht hat und nach einer Weile erfüllt mein keuchen und stöhnen den Raum.

***

Wir haben nicht miteinander geschlafen. Kenan hat mich befriedigt, mehr nicht.

Ich betrachte seinen Körper neben mir, in dem viel zu kleinen Bett und es stört mich nicht ihm meinen nackten Körper zu präsentieren. Nicht nachdem, was gestern Abend passiert ist.

Kenan liegt ganz entspannt neben mir, atmet ruhig und sein Atem kitzelt meinen Oberarm.

Langsam hebe ich die Hand und streiche ihm eine Strähne aus dem Gesicht.

Er ist ein komischer Kerl. Er macht mir Angst, aber irgendwie fühle ich mich auch zu ihm hingezogen. Liegt es daran, dass er so fremd und geheimnisvoll ist? Dass ich ganz normal mit ihm sprechen kann?

Ich weiß nicht woran es liegt, aber ich würde gerne mehr über diesen Menschen erfahren. Ich fürchte nur, dass er mir nicht mehr über sich erzählen wird. Im Grunde genommen, weiß ich so gut wie gar nichts von ihm.

Nur, dass er eine ziemlich geschickte Hand hat, die ich gerne öfter zwischen meinen Beinen spüren würde.

Ich grinse unwillkürlich und schüttele den Kopf. Was habe ich nur für Gedanken?

Ich meine, er ist ein Kerl. Wir sind Kerle!

Da kann ich auch kaum verstehen, wieso er nicht mit mir geschlafen hat, so erregt wie er gestern Nacht gewesen ist.

Vielleicht ist er ja doch kein so schlimmer Mensch, wie ich anfangs dachte?

Würde ich denn mit einem Kerl schlafen wollen, wenn man mal davon absieht, dass ich in dieser Einöde eh nichts zu verlieren habe?

Ich betrachte Kenan und lehne meine Stirn an seine, schließe meine Augen und lausche seinen ruhigen Atemzügen.

„Ist das hier ein Abenteuer?“, frage ich mich leise und merke, wie Kenan sich ein wenig regt. Seine Hand bewegt sich und als ich meine Augen wieder öffne, sehe ich, wie seine Finger langsam über meinen Oberkörper streichen.

Er öffnet seine Augen, blinzelt ein paar Mal verschlafen und sieht mich einen Moment lang irritiert an. Erkennt er mich nicht?

Er entspannt sich und lächelt mich an. „Na? Konntest du doch noch schlafen?“, fragt er mich schmunzelnd.

Ich zucke mit den Schultern. „Wer hat mich denn so gefordert?“

„Tja, wer wohl?“, fragt Kenan scheinheilig und drückt sich an mich, als würde er mich nie wieder loslassen wollen.

„Was war das?“, will ich wissen. „Ich meine...“ Ich schlucke und sehe ihn mit gerunzelter Stirn an.

„Mach dir nicht so viele Gedanken darum, okay? Ich habe dir was Gutes getan und dabei sollten wir es auch belassen.“ Kenan sieht mich so merkwürdig an und ich kann seinen Blick einfach nicht deuten.

„Bist du schwul?“, frage ich ihn neugierig.

Kenan lacht. „Bist du es?“

„Ich habe zuerst gefragt!“, beharre ich und sehe ihn auffordernd an. Kenan seufzt und fährt sich mit der Hand durch die Haare, streicht sich so den Pony aus dem Gesicht und sieht mich dann an.

„Vielleicht. Ich bin nicht wählerisch. Beantwortet das deine Frage?“

Ich verziehe meinen Mund. „Was heißt hier vielleicht? Erst meinst du, ich soll mir eventuell doch Sorgen machen, als ich meinte, du würdest mir etwas antun, dann gehst du mir an die Wäsche und jetzt weißt du nicht mal was du willst! Ich weiß echt nicht, was ich davon halten soll?!“, erwidere ich ungehalten.

„Dann lass es. Ich meinte doch eben, mach dir keine Gedanken darum!“, meint Kenan unbekümmert.

„Ich verstehe dich einfach nicht!“

„Musst du auch nicht, das verlange ich nicht von dir.“ Kenan schlingt seine Arme um meinen nackten Körper und versteckt sein Gesicht an meiner Halsbeuge. Ich spüre seinen Atem auf meinem Hals und genieße es, dass seine Finger meine Haut liebkosen.

Kenan's Lippen wandern über meinen Hals und necken die empfindliche Haut. „Willst du doch mit mir schlafen?“, fragt er neugierig.

„Nein, ich denke nicht!“, erwidere ich lachend und richte mich im Bett auf. Kenan brummt unwillig und rückt ein wenig von mir ab, so dass er noch enger an die Wand gequetscht da liegt. Das Bett ist einfach zu klein für zwei Personen!

Ich sehe zu ihm und überlege einen Moment. „Du wirst mir nicht sagen, warum du hier bist oder?“, frage ich ihn.

„Willst du es denn wirklich wissen?“, fragt Kenan und reibt sich mit der Hand über die Augen.

Ich nicke. „Ja!“

Kenan verzieht den Mund und sieht mich missmutig an. „Du bist viel zu neugierig!“, tadelt er mich, was mir ein breites Grinsen entlockt.

Kenan richtet sich nun ebenfalls auf und lehnt sich mit dem Rücken an die kühle Wand. „Eigentlich ist es völlig banal...“, meint er.

„Egal, erzähl's mir!“, fordere ich ihn auf.

Kenan sieht zu mir und schweigt. Vielleicht sucht er auch nur nach den richtigen Worten?

„Vor einem Jahr habe ich eine Frau kennen gelernt...“, beginnt er und lässt den Blick durchs Zimmer schweifen.

„Wir haben uns auf Anhieb gut verstanden, teilten die gleichen Interessen und haben uns auch füreinander interessiert. Irgendwann ist es dann passiert. Das übliche halt, man landet im Bett, hat ein paar Dates und kommt sich näher. Nun, bei uns ging es so weit, dass ich ihr einen Heiratsantrag gemacht habe. Es lief alles bestens. Die Vorbereitungen, sogar unsere Eltern haben sich miteinander verstanden und als wir dann vor dem Traualtar standen, habe ich kalte Füße bekommen. Mir kamen plötzlich alle möglichen Dinge in den Sinn. Was mich alles an ihr gestört hat und ob ich wirklich den Rest meines Lebens mit dieser Person verbringen möchte? Was ist, wenn sie später Kinder haben will? Bin ich überhaupt bereit für eine Ehe? All solche Sachen eben...“

„Du hast sie also vor dem Traualtar stehen lassen!“, folgere ich und sehe Kenan an. Die Frau tut mir echt Leid.

Kenan lächelt und schüttelt den Kopf. „Ich habe sie geheiratet.“

Verwirrt sehe ich ihn an. „Ja, aber...“

Was ist dann passiert? Hat sie ihn betrogen?

„Erst hatte ich wirklich Horrorvorstellungen einer Ehe, aber so schlimm war es dann doch nicht. Es ist beinahe wie bei einem Paar, das nicht verheiratet ist, nur dass man halt aneinander gebunden ist und von nun an alle Entscheidungen gemeinsam trifft.“

Ich nicke und lausche ihm gespannt.

„Ich bin es, der den Fehler gemacht hat. Nicht sie!“, meint Kenan leise.

„Was ist denn passiert?“, frage ich ihn und beuge mich leicht vor.

„Ich habe jemanden kennen gelernt. Erst war es nicht besonderes. Wir waren halt Freunde und dachten uns, das klappt schon. Hat es aber nicht...“ Kenan lächelt gequält und schüttelt den Kopf. „Es war ein Kerl aus einer Bar. Wir waren angetrunken und ich habe die Nacht bei ihm verbracht. Ich konnte nicht klar denken und irgendwie ist es dann passiert. Wir waren wie in einem Rausch und für mich war es etwas Neues und irgendwie...“ Kenan sieht mich an und zuckt mit den Schultern. „Es war aufregend und ich konnte nicht genug davon kriegen. Wir waren vorsichtig. Aber nicht vorsichtig genug. Ich wollte sie nicht verletzen und kam mir echt schäbig vor. Trotzdem habe ich versucht dieses Doppelleben zu führen, aber so etwas kann einfach nicht funktionieren. Ja, in Filmen vielleicht oder in Büchern, aber nicht im realen Leben. Irgendwann hat sie es herausgefunden und ich habe ihr alles gestanden. Ich konnte ihre Wut und Enttäuschung auf mich verstehen. Ich habe als Ehemann versagt. Alles, was ich mir bis dahin mit ihr aufgebaut habe, habe ich in den Sand gesetzt. Und wofür? Für Sex mit einem Fremden?“

Kenan beugt sich vor und zieht das Rollo hoch. Der Himmel ist wolkenverhangen und es nieselt.

„Wir haben uns scheiden lassen und ich habe auch die Beziehung zu dem anderen Mann beendet.“

„Und deswegen bist du jetzt hier?“, frage ich ihn.

Kenan schüttelt den Kopf. „Sie war schwanger von mir, aber durch den ganzen Stress und weil sie so schon ein sehr schwacher Mensch war, hatte sie eine Fehlgeburt. Wahrscheinlich bin ich schuld daran, dass unser Baby gestorben ist.“

Bestürzt sehe ich Kenan an und weiß nicht was ich ihm sagen soll. Er wirkt so erfahren, hat alles mögliche erlebt in seinem Leben und ich bin noch ein halbes Kind, obwohl uns nur ein paar Jahre trennen und doch scheint er schon viel mehr in seinem Leben durchgemacht zu haben.

„Meine Eltern haben mir Vorhaltungen gemacht, was für ein unnützer Sohn ich doch bin. Ich kann es scheinbar wirklich niemandem Recht machen.“

„Wer kann das schon?“

„Ja, du hast Recht.“ Er ringt sich ein Grinsen ab und streicht mir mit der Hand über den Arm, folgt mit den Augen seinen Bewegungen und sieht zu mir auf, als ich mit meiner freien Hand seine ergreife.

„Du hast nur einen Fehler gemacht. Den macht jeder irgendwann mal. Das gehört eben zum Leben dazu.“

Kenan nickt und erwidert den Druck meiner Hand. „Irgendwie bin ich ganz froh, dass ich mit jemandem darüber reden konnte.“

Ich nicke und lächele. „Ich habe nur das Unvermeidbare getan!“

Kenan lacht laut auf und ich falle in sein Lachen ein, bis wir nicht mehr können.

„Dann sind wir also quitt!“, meint Kenan grinsend.

„Noch nicht ganz...“, meine ich und rutsche näher an ihn heran. Kenan zieht die Augenbrauen hoch, als ich mit beiden Händen über seine Oberschenkel streiche und mit den Fingern unter seiner Boxershorts verschwinde. Auffordernd sehe ich ihm in die Augen.

„Willst du das wirklich machen? Ich meine, ich habe schon zwei Beziehungen kaputt gemacht!“, meint Kenan und scheint Gewissensbisse zu haben.

Ich lächele verschmitzt. „Welche Beziehung? Wir haben doch keine Beziehung.“

Ich hole meine Hände wieder hervor und ziehe ihm nun die Boxershorts komplett herunter, wobei er sein Becken leicht anhebt, um mir entgegen zu kommen.

„Wie lange ist das eigentlich her?“, frage ich ihn.

„Ein paar Wochen...“, meint Kenan, während ich mich, nackt wie ich bin, auf seinen Schoß setze und mich aufreizend an ihm reibe.

„Dann scheinst du es ja bitter nötig zu haben!“, witzele ich.

Kenan grinst. „Willst du mich verführen?“, fragt er und lässt seine Hände über meinen Po wandern, ehe er fest zupackt.

„Ich glaube, ich bin nicht so gut in so was!“, gestehe ich lachend und schlinge meine Arme um Kenan's Hals.

„Tja, das werden wir wohl nie herausfinden, was?“

„Keine Ahnung...“, weiter komme ich nicht, denn schon im nächsten Moment küsst Kenan mich verlangend und drückt mich, wie schon letzte Nacht, auf die Matratze.

***

Als ich an diesem Tag erneut aufwache, ist das Bett leer. Ich höre das Wasser der Dusche rauschen und setze mich im Bett auf. Ich stehe auf und trete ans Fenster, werfe einen Blick hinaus und stelle fest, dass wir einen wunderschönen Sonnenuntergang haben.

Kein Wunder. Ich und Kenan haben den ganzen Tag im Bett verbracht. Schon komisch, wie nahe man sich innerhalb von wenigen Stunden kommen kann.

Noch gestern waren wir Fremde und heute...

Ich schlinge meine Arme um meinen Körper und blicke an meinem nackten Körper herab. Was ist eigentlich in mich gefahren?

Bin ich so naiv, mich einem Fremden anzuvertrauen, mich von ihm anfassen zu lassen und mit ihm das Bett zu teilen?

Ein klein wenig schäbig komme ich mir ja vor, immerhin habe ich ja auch seine Situation ausgenutzt. Er war hier, um wieder ins Reine mit sich zu kommen und trifft auf einen unerfahrenen Jungen, der sofort ohne Nachzudenken mit ihm in die Kiste springt.

Ich bin so dumm.

Ich war neugierig, mir hat es gefallen, wie er mich berührt hat und es war schön, dass er mir seine Aufmerksamkeit geschenkt hat. Ich konnte ihm heute so vieles erzählen, was mich beschäftigt, womit ich nicht mal mit meinen Eltern reden könnte.

Ich höre die Tür und drehe mich um. Kenan hat sich ein Handtuch um die Hüfte geschlungen und kommt auf mich zu.

„Na? Wieder unter den Lebenden?“, fragt er mich, doch sein Lächeln erlischt, als er meinen Blick bemerkt. „Was ist los?“

„Du bleibst nicht hier oder?“, frage ich ihn frei heraus und schlucke.

Kenan sieht mich sprachlos an, scheint einen Moment zu überlegen. „Denkst du denn im Ernst, jemand wie ich ist der Richtige für dich?“

Ich grabe meine Zähne in meine Unterlippe und weiche seinem Blick aus. „Ich verlange ja nicht, dass wir ein Paar werden oder so, aber wenn du einfach so verschwindest, dann...“

„Dann was?“, fragt Kenan.

„Ich weiß auch nicht.“ Hilflos lasse ich meine Arme sinken und sehe ihm in die Augen, versuche seinem Blick stand zu halten und senke den Kopf.

„Ich glaube, ich weiß jetzt, wie du dich damals gefühlt hast. Damals, als du mit diesem Kerl geschlafen hast.“ Ich sehe ihn wieder an. „Ich will nicht, dass du aus meinem Leben verschwindest. Okay, hier ist es echt öde und man kann auch nicht viel machen, aber es wäre toll, wenn du hier bleiben würdest...“, gestehe ich ihm.

Kenan schweigt.

Ich schlucke und sehe ihn nervös an. „Was sagst du dazu?“, will ich wissen, auch wenn ich keine allzu großen Hoffnungen hege.

„Hast du Angst, dass du nur eine Art One-Night-Stand für mich bist?“

„Nein, ich...“

„Du hast den Grund erfahren, warum ich hier bin. Du hast dein Ziel erreicht!“, meint Kenan. „Das wolltest du doch die ganze Zeit wissen.“

„Darum geht es doch gar nicht!“

„Worum dann?“

„Ich fühle mich zu dir hingezogen.“

„Natürlich, ich habe ja auch ein paar schöne Sachen mit dir gemacht, da kann das jeder sagen.“

„Ich bin aber nicht jeder und ich meine es so, wie ich es gesagt habe!“, erwidere ich starrsinnig.

„Okay, du fühlst dich zu mir hingezogen. Kann es nicht sein, dass du es nicht mit Mitleid verwechselst?“

Ich schüttele heftig den Kopf.

Kenan kommt zu mir und bleibt nur wenige Schritte vor mir stehen. „Ich bin doch nur ein Abenteuer für dich.“ Er lächelt. „Hast du das nicht vorhin im Bett gesagt?“

Ich sehe zu Kenan auf und gehe einen Schritt auf ihn zu.

„Was haben wir denn noch zu verlieren? Ich meine, daheim wartet doch eh keiner mehr auf dich, dann kannst du auch bei mir bleiben!“

„Das kann ich nicht machen...“

„Weil du Angst hast, den Fehler zu wiederholen?“, frage ich ihn schroff. „Weil du niemanden mehr verletzen willst, nicht wahr? Das ist es doch!“

Kenan überbrückt die letzten Zentimeter, die uns noch voneinander trennen und schubst mich unsanft gegen das eiskalte Fenster. „Jetzt hör mal gut zu!“, raunt er mir ins Ohr. „Es ist immer noch meine Entscheidung, was ich aus meinem Leben mache und nur, weil du mich bei dir haben willst, tue ich dir noch lange nicht diesen Gefallen. Ja, es hat mir Spaß gemacht, mit dir zu reden und dich zu berühren, aber mehr auch nicht. Ich habe nicht solche Gefühle für dich, wie du sie für mich hast!“

„Das kann doch noch kommen...“, murmele ich leise und versuche mich von dem Schreck zu erholen.

„Glaubst du das wirklich?“, fragt Kenan und geht ein wenig auf Abstand.

„Es beruht nicht immer auf Gegenseitigkeit. So ist das nun mal im Leben.“

Kenan's Hand streicht mir sanft über die Wange. „Du bist mir sympathisch und ich mag dich auch, aber ich denke nicht, dass das etwas mit uns werden kann. Es tut mir Leid, Yaron.“

Ich greife nach seiner Hand und halte sie fest. Kenan schlingt seinen linken Arm um mich und zieht mich fest in eine innige Umarmung. „Du findest noch jemanden, der zu dir passt.“

***

Als ich in der Mitte des Sees bin und die Ruder sinken lasse, starre ich auf das Ferienhaus. Mit dem Sonnenuntergang im Hintergrund sieht es wirklich schön aus und nicht mehr so bedrohlich wie gestern Nacht.

Es war eine eigenartige Begegnung und ich fühle mich auf eine merkwürdige Art und Weise leer. Als hätte Kenan mir etwas genommen, etwas Wichtiges. Hat er mir mein Herz herausgerissen und es einfach behalten?

„Der böse Wolf...“, murmele ich und ziehe die Kapuze des Pullovers über meinen Kopf, den ich von Kenan behalten durfte. Ich grinse kopfschüttelnd und greife wieder nach den Rudern. Mit kräftigen Zügen paddele ich zurück ans andere Ufer. „Du bist ein böses, böses Mädchen, Rotkäppchen!“, murmele ich tadelnd. „Man macht keine Abstecher ans andere Ufer...“

Impressum

Texte: Sandra Marquardt
Bildmaterialien: weheartit
Lektorat: Lihiel
Tag der Veröffentlichung: 03.06.2013

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Für alle Schweden-Fans ♥

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