Gleich ist es soweit. In genau fünf Minuten wird es klingeln. Pünktlich auf die Minute. Er ist immer pünktlich. Es hat sich nach all den Jahren nicht geändert. Was ist das für ein Mensch, der immer nach der Uhrzeit lebt? Ist das nicht stressig alle paar Minuten auf die Uhr zu sehen? Was macht das für einen Sinn?
Ich will ihn sowieso nicht sehen. Dann kann er auch gleich wegbleiben. Er verschwendet nur seine Zeit mit mir, genauso wie damals. Da war es dasselbe.
Jetzt ist er wieder da.
Kann man eine zerbrochene Freundschaft einfach so wiederbeleben? Mir fällt es schwer daran zu glaube, zu hoffen, dass es wieder besser wird. Wann war es jemals besser? Er war es doch immer, der alles kaputt gemacht hat.
Ich bin froh gewesen, als ich umgezogen bin, ihn nicht mehr sehen musste. Nicht mehr von ihm enttäuscht zu werden. Die Streitereien, die Missverständnisse, all das hat er zunichte gemacht, bis meine Liebe zu ihm irgendwann ebenfalls nicht mehr da war.
Jetzt ist er wieder hier und macht alles nur noch schlimmer mit seiner Anwesenheit. Er tut so als wäre nie etwas passiert.
Was soll das?
So kann er es auch nicht ungeschehen machen!
Ich will, dass er wieder verschwindet und mich mein Leben leben lässt, denn so wie es jetzt ist, ist es gut.
Wieder fällt mein Blick auf die Uhr. Gleich ist es soweit. Wenn ich könnte, würde ich diese Uhr aus dem Fenster werfen, mit einem Hammer draufhauen, egal was, nur damit sie endlich kaputt geht und ich dieses furchtbare tickende Geräusch nicht mehr hören muss, dieses furchtbare Gefühl endlich loswerde.
Ich zucke zusammen, als es klingelt.
Ich tue einfach so, als wäre ich nicht da. Vielleicht geht er dann wieder?
Er weiß, dass ich da bin. Wir haben uns vorhin im Treppenhaus gesehen. Seitdem habe ich meine Wohnung auch nicht mehr verlassen. Er kann es doch hören, wenn ich meine Haustür öffne und weiß ganz genau, wann ich komme und gehe.
Wieso muss er auch direkt neben mir wohnen? Womit habe ich das verdient?
Träge stehe ich vom Bett auf, lasse meinen Controller auf dem Bett liegen. Mein Charakter im Spiel ist längst einer Horde von Zombies zum Opfer gefallen. Nur wegen ihm! Er ist an allem Schuld!
Ich beende es jetzt! Ich schaffe das! Ich sage ihm, dass ich nicht mehr mit ihm reden werde, wenn wir uns über den Weg laufen. Ich ignoriere ihn. Das konnte ich schon immer am besten.
Meine Hände schwitzen, als ich nach dem Türgriff greife. Ich schließe meine Augen und atme tief durch.
Ich will ihn nicht sehen!
Lass die Tür zu!
Wie in Trance, einem magischen Tor gleich, öffnet sich die Tür vor meinen Augen. Meine Hände lassen mich im Stich. Wieso tun sie das nur?
Zentimeter um Zentimeter erkenne ich mehr von seinem Äußeren. Seinem neuen Äußeren. Früher lief er nicht so herum. Diese schwarz geschminkten Augen, die schwarzen Haare, die er jetzt mit einem blau-grün überfärbt hat. Schwarze Kleidung, bunte Armbänder und mehrere silberne Ketten trägt er am Leib.
Wer ist diese Person? Das ist nicht der Kei in den ich mich damals verliebt habe. Der hübsche Asiate mit den verführerischen Lippen. Jetzt sieht er aus wie ein Rocker oder so etwas in der Richtung. Keine Ahnung, wie es die Asiaten nennen. Ich habe sowieso nie viel von deren Kultur verstanden. Mir hat es gereicht mit dem Jungen zusammen zu sein, der nun vor mir steht und mich anlächelt. Mich so anlächelt als wäre nie etwas geschehen.
„Was willst du?“, brumme ich und lasse meinen Blick weiterhin auf dem großen weiß umrandeten Kreuz auf seinem Shirt hängen. Ich will ihn nicht ansehen, ich kann es einfach nicht!
„Dasselbe wie gestern, bevor du mir die Tür vor der Nase zugeschlagen hast!“, meint er. Ich kann nicht sehen, was er für ein Gesicht macht, noch immer schaffe ich es einfach nicht ihn anzusehen.
Mein Magen zieht sich zusammen. Ich kann nicht mehr...
Ich schließe die Tür und lasse ihn einfach stehen, achte nicht auf sein beharrliches Klopfen und renne in mein Zimmer. Ich reiße hastig die Balkontür auf und trete nach draußen. Das Gefühl ersticken zu müssen, verfliegt im Nu' mit der frischen Luft.
Ich atme tief durch, trete auf den Balkon und schließe meine Augen. Die Erinnerungen die durch meinen Kopf schwirren, lassen mich taumeln. Ich öffne wieder meine Augen und halte mich am Balkongeländer fest, sehe auf die viel befahrene Straße herunter und muss schlucken.
Er versteht es nicht, er wird es nie verstehen!
All diese Veränderungen, alles was er mir angetan hat. Ich kann das einfach nicht mehr. Ich bin nicht so stark.
„Benjamin...“
Ich sehe zu ihm. Er steht auf dem Balkon, direkt neben mir. Er braucht nur hier herüber zu klettern. Ich hätte mir ein Haus ohne Balkon aussuchen sollen, dann wäre es gar nicht erst so weit gekommen.
„Geh weg!“
Wieder schaffe ich es nicht ihm ins Gesicht zu sehen. Kann er mich nicht endlich mal in Ruhe lassen?!
Ich will einfach nicht, dass er mich wieder um den kleinen Finger wickelt. Ich bin nicht seine Marionette!
Ich will nicht mehr nur ein Zeitvertreib für ihn sein, den er achtlos links liegen lassen kann, wenn er keine Lust mehr drauf hat.
„Komm schon, lass uns endlich miteinander reden, Benni! Seit ich hier wohne, gehst du mir ständig aus dem Weg!“, meint Kei und lehnt sich mit verschränkten Armen auf die kleine Mauer, die unsere Balkons voneinander trennt.
„Reden? Worüber? Über alte Zeiten? Nein, danke!“, grummele ich und drehe mich um. Ich will ihn nicht sehen, kapiert er das einfach nicht?
Ich gehe zurück in mein Zimmer und sehe gerade noch, wie Kei mühelos auf meinen Balkon klettert.
„Was soll das? Runter von meinem Balkon!“, schnauze ich ihn an.
Kei zuckt nur mit den Schultern und scheint sich an meiner Wut nicht sonderlich zu stören. „Wenn du nicht willst, muss ich eben den ersten Schritt machen.“
Den ersten Schritt? Gut, dann mache ich den zweiten!
Ich greife nach meiner Balkontür und ziehe sie kurzerhand zu, verschließe sie und auch die Vorhänge sind kurz darauf zugezogen.
„Benni! Sei nicht so kindisch!“, höre ich ihn rufen.
Ich setze mich zurück vor meine Konsole und sehe auf den Bildschirm.
Game Over.
Leer. Es ist nichts mehr da. Wieso ist es mir nicht aufgefallen? Der Kühlschrank ist komplett leer. Liegt bestimmt an einer gewissen Person, die in letzter Zeit viel zu häufig in meinen Gedanken auftaucht und mir mehr Kopfschmerzen bereitet als mir lieb ist.
Seufzend schließe ich den Kühlschrank und setze mich an den Tisch. Vor mir liegt ein Block, den Stift in der Hand haltend, setze ich an und schreibe auf, was ich alles benötige. Meine Mutter hat mir immer eingetrichtert, dass ich mir alles aufschreiben soll, was ich benötige, ansonsten kann es passieren, dass ich letztendlich mit allerlei Dingen heimkomme, nur nicht mit dem, was ich eigentlich benötige.
Es ist lästig, aber es hilft und so behalte ich wenigstens einen kleinen Überblick über meine Finanzen, als wahllos das zu kaufen, wonach mir der Sinn steht. Dann wäre ich pleite, ehe der Monat überhaupt erst richtig begonnen hat.
Mit meinem Einkaufszettel in der Hosentasche ziehe ich mir eine leichte Jacke an und verlasse meine Wohnung. Ohne auch nur einen Blick zu riskieren, gehe ich direkt die Treppe herunter und verlasse das Wohnhaus.
Zu früh gefreut. Ich pralle mit Kei zusammen und halte erschrocken die Luft an. Er lächelt mich an und scheint es mir nicht übel zu nehmen, dass ich in ihn hineingelaufen bin. Mir selbst nehme ich es mehr als übel.
„Sorry...“, murmele ich und gehe einfach weiter. Nur nicht lange aufhalten lassen. Wäre das möglich, wäre mein Leben perfekt. Ist es nur leider nicht und so verfolgt Kei mich einfach, holt auf und geht neben mir her.
„Gehst du weg?“, fragt er neugierig.
„Einkaufen!“, murre ich.
„Ah, cool! Das trifft sich gut, ich muss auch noch ein paar Dinge besorgen. Dann können wir ja gemeinsam gehen. So gut kenne ich mich hier leider immer noch nicht aus!“, meint er und lacht.
Mein Glück, denn vielleicht kann ich ihn irgendwo abhängen und komme ungehindert zurück in meine Wohnung?!
Überrascht sehe ich zu meinem Arm herunter. Er hat sich doch tatsächlich bei mir untergehakt!
„Lass das...“, murmele ich und ziehe meinen Arm weg. Der kurze Körperkontakt bereitet mir eine Gänsehaut und ein Kribbeln durchfährt meinen Körper. Das ist nicht gut.
Ich spüre wie Kei mich von der Seite ansieht und bin froh, dass er nichts weiter sagt und mich einfach in Ruhe lässt.
Was er jetzt wohl denkt?
Wir kommen bei einem Supermarkt um die Ecke an. Ich hole einen Einkaufswagen und betrete mit meinem Anhängsel den Laden. Kei scheint wohl nicht so viel zu brauchen, denn er holt sich weder einen Korb noch einen Einkaufswagen.
Ich seufze. Kann mir ja auch egal sein. Es gefällt mir ohnehin nicht, dass dieser Junge den lieben langen Tag in meinen Gedanken herumschwirrt. Das ist einfach nur verwirrend.
Ich gehe langsam durch die Gänge und schaue in den Regalen nach meinen gesuchten Nahrungsmitteln. Eins nach dem anderen landet im Einkaufswagen, bis ich plötzlich etwas finde, was dort nicht hingehört. Ich hebe die Kekspackung hoch und sehe sie mir an. Wie ist die denn da hineingeraten? Die habe ich nicht mal auf meinem Zettel stehen!
Ich schüttele den Kopf und gehe zurück zu den Keksen, um sie wegzustellen. Ich gehe weiter und greife nach den Kaffeefiltern, als es auf einmal laut raschelt.
Ich drehe mich um und sehe entgeistert in meinen Einkaufswagen. Eine Tüte mit Brötchen. Ich sehe auf und direkt in Kei's Gesicht, als er gerade dabei ist mehrere Getränke in meinen Einkaufswagen zu verfrachten.
„Was wird das?!“, murre ich und nehme die Sachen heraus.
„Das wonach es aussieht. Wir bezahlen zusammen an der Kasse!“, meint er schulterzuckend, nimmt mir die Tüte ab und legt sie zurück.
Ohne eine Miene zu verziehen, sieht er mich an. Wie dreist muss man eigentlich sein?
„Du hast kein Geld oder?“, frage ich ihn.
Kei grinst. „Doch, aber es wird wohl nicht reichen...“, meint er und wirkt auf einmal verlegen.
Ich betrachte sein Gesicht und wären wir noch zusammen, würde ich es ihm nicht übel nehmen. Sind wir aber nicht mehr, also spüre ich auch wie die Wut langsam wieder in mir hochkriecht.
„Ich bezahle dir das nicht! Ich habe selber kaum genug und komme gerade so über die Runden!“, meckere ich und will die Sachen wieder herausholen.
Kei greift nach meinen Handgelenken und hält sie fest. „Bitte...“, meint er und sieht mich an.
„Leih' dir Geld von deinen Eltern!“, meine ich und versuche meine Hände zu befreien.
„Kannst du es mir nicht leihen und ich zahle es dir nächsten Monat zurück?“, fragt Kei mich flehend.
Mit gemischten Gefühlen stehe ich mitten im Laden und hasse mich dafür, dass ich für einen kurzen Moment am Schwanken bin. Ich bekomme einfach kein 'Nein' über meine Lippen. Es fällt mir schwer, eine Entscheidung zu treffen, umso mehr hasse ich mich, als wir Minuten später an der Kasse stehen, volbeladen mit seinen und meinen Einkäufen und ich alles selber bezahlen muss.
Wir verlassen den Laden mit mehreren Tüten und ich könnte mich dafür erwürgen, die Einkäufe nicht mal sortiert zu haben. Jetzt müssen wir das alles Zuhause machen. In meiner Wohnung...
Wir gehen zurück und da Kei mehr tragen muss als ich, geschieht ihm ganz recht, ist er ordentlich am Ächzen.
Abrupt bleibe ich mit einem Mal stehen und werde leicht nach vorne geschubst, als Kei mitten in mich hineinläuft.
„Was ist los? Wieso bleibst du stehen?“, fragt er mich und sieht zu mir auf.
Ich sehe mich um. Mein Blick gleitet über die Wohnhäuser, den kleinen Fluss und eine Brücke.
„Da!“, brülle ich, als das Geräusch noch einmal ertönt und lasse meine Tüten zu Boden fallen. Ich renne zum Bach und sehe ein schwarzes Fellbündel im Wasser. Scheinbar hat es sich verfangen. Erneut höre ich ein Winseln und erst jetzt wird mir bewusst, dass der Welpe dort im Wasser am Ertrinken ist.
Was soll ich denn jetzt machen? Ich kann nicht mal schwimmen! Wie soll ich den Hund retten?
Wie gelähmt bleibe ich im Gras stehen und schaue auf den Hund, der sich in einer Leine verfangen hat und immer wieder unter Wasser gezogen wird.
Ich werde auf einmal zur Seite gedrängt und schon rutscht Kei die Böschung herunter, mitten hinein ins Wasser. Ich starre ihn an und kann nur hilflos zusehen, wie er zum Hund schwimmt und ihn von dem Treibgut befreit, an dem sich die Leine verheddert hat. Mit dem Welpen im Arm schwimmt er zurück und versucht die Böschung wieder hochzukrabbeln, rutscht jedoch immer wieder mit den Füßen ab und landet im Wasser.
Fluchend sieht er zu mir auf. „Nimm ihn hoch!“, fordert Kei mich auf und hebt den Hund hoch. Ich schaffe es mich aus meiner Schockstarre zu befreien und lege mich ins Gras. Ich krieche so nahe wie möglich herunter, um ihm den Hund abzunehmen, doch gerade als ich nach dem Welpen greifen will, rutscht mein Körper und mit einem kurzen Aufschrei falle ich die Böschung herunter und lande im Wasser. Ich pralle gegen Kei, der abrutscht und tiefer im Wasser landet. Hastig versuche ich nach etwas zu greifen, aber mehr als an dem Gras kann ich mich nicht festhalten. Panik erfasst mich und gerade als das Wasser in meinen Mund strömt, spüre ich wie mich jemand unsanft packt und hochzieht.
Prustend komme ich an die Oberfläche und halte mich an Kei fest. Meine Hände krallen sich in seinen Pullover. Wie ein nasser Sack hänge ich an ihm und starre entsetzt vor mich hin, während ich versuche wieder zu Atem zu kommen.
„Ich habe dich, keine Angst...“, meint Kei beruhigend und schwer atmend umschlinge ich ihn noch fester mit meinen Armen. Meinen Kopf habe ich auf seine Schulter gebettet und schließe für einen kurzen Moment die Augen, um den Schrecken zu verarbeiten.
Langsam löse ich mich von Kei und weiche seinem Blick aus. Wir sind zum Glück nahe genug am Land, so dass ich ins Gras und die Erde greifen kann und mich so ein Stück aus dem Wasser hochziehe. Neben mir taucht der Kopf des Welpen auf, der mich winselnd ansieht. Ich sehe zu Kei herunter und nehme den Welpen in meinen Arm. Ich drehe mich um und krieche weiter hinauf, spüre auf einmal Kei's Hände an meinem Hintern und wie er mich nach oben schiebt.
Erschöpft sitze ich oben angekommen im Gras und helfe Kei hoch. Wir sitzen beide außer Atem nebeneinander und sehen auf den Welpen, während Kei versucht ihn von der Leine zu befreien.
Kei niest kurz und wickelt die Leine auf.
Geschwächt liegt der Hund vor uns im Gras.
„Glaubst du der gehört jemandem? Oder wurde er ausgesetzt?“, fragt Kei mich, doch ich kann nur mit den Schultern zucken. Woher soll ich das wissen?
Ich sehe zu Kei, der den verängstigten Hund streichelt. Ihm hängen die nassen Haare ins Gesicht. Mein Blick fällt auf seine Lippen, die er leicht geöffnet hat.
Kopfschüttelnd wende ich den Blick ab. Er hat mich nicht beeindruckt, ganz und gar nicht!
„Was sollen wir mit ihm machen?“
Ich sehe wieder zu Kei und schlucke. „Keine Ahnung...“
„Sollen wir ihn behalten? Wir könnten Flyer verteilen und im Internet schreiben, dass wir ihn gefunden haben, so mit Foto und allem drum und dran...“, schlägt Kei vor und kratzt sich am Kopf.
Ich nicke und stehe mit noch etwas wackeligen Beinen auf. Ich greife nach den Taschen und überlasse es Kei, den Hund zu tragen. Ein paar Taschen muss er mir trotzdem abnehmen.
Wir gehen zurück und wieder niest Kei. Ich schaue kurz zu ihm und sehe sein zufriedenes Grinsen.
„Was grinst du so blöd?“, murre ich und puste mir ein paar nasse braune Haarsträhnen aus dem Gesicht, die trotzdem widerspenstig an meinen Wangen kleben bleiben.
„Du hast mich nicht abgestoßen, du hast mich sogar umarmt!“, erwidert Kei und grinst breit.
Verständnislos sehe ich ihn einen Moment lang an, ehe ich mich wieder umdrehe und weitergehe.
„Scheint ihm ja so ganz gut zu gehen, mal abgesehen von dem Schrecken, den er bekommen hat!“, meint Kei zufrieden und rubbelt den Welpen vorsichtig mit einem Tuch ab. Mürrisch sehe ich ihm dabei zu. Für mich sieht es eher aus, als wäre der Hund der Steckdose ein wenig zu nahe gekommen...
Wieso hockt Kei jetzt überhaupt bei mir herum? Kann er den Hund nicht mir überlassen oder ihn mit zu sich rübernehmen? Wieso müssen wir unbedingt im gleichen Raum sein?
„Du bist so niedlich, ich hoffe wir können dich behalten!“, meint Kei ganz begeistert und hängt schon selber beinahe auf dem Boden, auf gleicher Höhe mit dem Welpen.
Untätig sitze ich daneben und kann lediglich zusehen, wie auch schon vorhin und das passt mir einfach nicht. Ich möchte auch etwas machen, aber nein, mich muss man ja wieder übergehen!
Das ist so typisch für ihn!
Kei sieht mit strahlenden Augen zu mir. „Hey, solange er hier bleibt, können wir ihm ja einen Namen geben!“
Ich sehe ihn einen Moment lang entgeistert an. Das ist nicht sein ernst oder? Wir? Einen Namen? Was zum Teufel habe ich verpasst?!
„Auf keinen Fall! Wenn es schon soweit kommt, kannst du dich nachher gar nicht mehr von ihm trennen, wenn sich die richtigen Besitzer melden!“, erwidere ich und klinge dabei lauter als beabsichtigt.
„Wie sollen wir ihn denn sonst solange nennen? Hund?“, fragt Kei mich eingeschnappt.
„Hast du wirklich vor mit einem Hund zu reden?“, frage ich ihn mit großen Augen.
„Klar, warum nicht?“, meint Kei unbekümmert.
„Etwa so, wie man mit Pflanzen redet?“, hake ich nach. Kei sieht mich grinsend an. „Du hast wirklich keine Ahnung von Tieren oder?“, will er wissen. Beleidigt wende ich meinen Blick ab. Woher auch? Ich hatte nie ein Haustier und kenne mich auch nicht damit aus.
„Wie wäre es mit Noel? Oder Lupi? Nilo? Ich habs Haru!“, schlägt Kei vor.
„Wie wäre es damit: Du kommst bald wieder nach Hause zu deinem Herrchen oder Frauchen?!“, brumme ich. Was macht es für einen Sinn, dem Hund einen Namen zu geben, wenn wir ihn ohnehin nicht behalten dürfen?
Dürfen? Möchte ich ihn denn behalten?
Ich lege den Kopf schief und betrachtete den kleinen tollpatschigen Welpen, der neugierig an Kei's Hose schnüffelt.
Kei niest. Ich sehe ihn an und lege das Handtuch zur Seite, mit dem ich mir vorhin die Haare abgetrocknet habe und es bis jetzt die ganze Zeit um die Schultern getragen habe.
„Ich habe gar kein Hundefutter...“, meine ich nachdenklich.
„Kann er solange nicht auch was anderes fressen?“, fragt Kei. Wir sehen beide zeitgleich auf den Hund herunter, der sich hingelegt hat und zu uns aufsieht.
„Was darf er denn fressen?“
Kei zuckt mit den Schultern. „Du hast doch Würstchen gekauft oder nicht?“
„Die sind doch nicht für den Hund!“, brumme ich erbost. Die habe ich für mich gekauft! Die teile ich doch nicht mit dem Hund!
„Dürfen Welpen überhaupt schon so etwas fressen?“, frage ich Kei mit hochgezogenen Augenbrauen.
Kei blickt zu mir. „Hm...gibst du mir Geld? Dann kaufe ich noch mal Hundefutter.“
Seufzend lasse ich meinen Kopf gegen das Bett sinken. Das war ja so was von klar! Und schon wieder muss ich ihm Geld leihen!
„Ich kaufe ihm selber was...“, meine ich grummelnd. Kei nickt zufrieden. „Dann warte ich solange hier mit ihm!“
Super...
Es ist vorbei. Der Zeiger meiner Uhr wandert von Sekunde zu Sekunde weiter und Kei ist heute noch nicht aufgetaucht. Ich sollte mich doch darüber freuen, wieso denke ich dann darüber nach? Kann mir doch egal sein! Vielleicht ist er auch arbeiten oder macht irgendetwas anderes?
Es geht mich nichts an. Wir führen inzwischen getrennte Leben, da sollte ich mir über so etwas auch keine Gedanken mehr machen und doch haftet mein Blick Minuten später schon wieder auf der Uhr.
„Komm her, Ary!“, rufe ich nach meinem Findelkind und sofort kommt das kleine schwarze Fellknäuel angetapst, als es das Fleisch riecht. Es stinkt furchtbar, aber was bleibt mir anderes übrig? Etwas anderes habe ich gestern in der Eile nicht gekauft. Ich sollte mich heute mal im Internet informieren, was der Kleine so fressen kann.
Ich sehe ihm beim Fressen zu und streiche vorsichtig über seinen Rücken. Die Hälfte vom Futter landet auf dem Küchenboden. Angewidert betrachte ich das Fleisch. „Wie kann dir das nur schmecken?“, frage ich Ary und erhebe mich wieder. Ich gehe aus der Küche und werfe noch kurz einen Blick auf die Uhr. Bisher ist Kei jeden Tag vorbei gekommen.
Ich schüttele den Kopf. Ich wollte ihn nicht wiedersehen, jetzt lässt er sich nicht mehr blicken und so ist es richtig, so soll es sein!
Unruhig laufe ich in meinem Zimmer hin und her. Soll ich fernsehen? Es läuft nichts Gutes um diese Uhrzeit. Ein Spiel zocken? Dann taucht bestimmt wieder Kei auf und mein Charakter wird erneut von Zombies abgemetzelt. Mit Ary spielen? Was spielt ein Hund denn so? Spielen die überhaupt?
Ich gehe zu meinem Schreibtisch und klappe meinen Laptop auf. Ich lasse ihn hochfahren und warte, ehe ich ins Internet gehe und mich nach Hunden umsehe. Gestern hat Kei ja schon ein Inserat aufgegeben, aber als ich in meinem Postfach nachsehe, gibt es leider noch keine Nachricht. Ich sehe mir Bilder mit Hunden an und überlege, was für eine Rasse Ary sein kann.
„Ein Labrador...“, murmele ich und sehe mir einen Welpen an, der Ary bis auf Haar gleicht. „Wieso wirst du so groß? Kannst du nicht so klein bleiben? Dein Handtaschenformat gefällt mir viel besser!“, murre ich Ary an, der ins Zimmer gelaufen kommt.
Nach einer Weile habe ich keine Lust mehr und sehe erneut zur Uhr. „Kannst du ein paar Minuten alleine bleiben, Ary?“, frage ich den Hund, der lieber an den Schnürsenkeln, meiner neuen Sneakers knabbert.
Ich gehe zur Tür, schließe sie hinter mir und bleibe unschlüssig im Treppenhaus stehen. Eine dumme Idee! Am besten ich drehe wieder um und bleibe in meiner Wohnung, wenn er merkt, dass ich mir auch noch Sorgen um ihn mache, macht er sich womöglich noch irgendwelche Hoffnungen.
Zögernd drücke ich auf seine Klingel und zucke kurz zusammen, bei dem lauten Ton, den ich selbst hier draußen höre. Im ersten Moment tut sich nichts. Tja, dann ist er wohl auch nicht Zuhause. Und ich mache mir hier auch noch Sorgen um ihn! Was bin ich nur für ein Idiot?!
Ich komme mir so dumm vor und gehe eilig wieder zu meiner Tür. Gerade als ich nach meinen Schlüsseln in der Hosentasche krame, öffnet sich die Haustür.
Ich drehe mich um und sehe Kei an. Er ist blass, verschnupft und hat sich eine Decke um die Arme gelegt, die über den Boden schleift.
„Was gibt’s?“, fragt er mich niesend und wischt sich mit dem Ärmel über die Nase, weil gerade weit und breit kein Taschentuch aufzufinden ist. Ich sehe hinter ihm in die Wohnung. Die Hälfte seiner Kisten scheint noch nicht ausgepackt zu sein. Er wohnt schon eine Ewigkeit hier und hat sich immer noch nicht eingerichtet?
„Wie geht es dir?“, frage ich ihn und auch wenn es mir nicht passt, ein wenig Sorgen mache ich mir schon um ihn.
„Ich habe mich wohl bei meiner kleinen Rettungsaktion gestern erkältet...“, meint er und grinst mich an. Er drückt die Decke enger an sich. Ich bemerke, wie kühl es hier im Treppenhaus ist.
„Kann ich reinkommen?“, frage ich ihn. Kei nickt und geht einen Schritt zur Seite. Ich gehe zu ihm und bleibe vor ihm stehen. War er schon immer so klein? Ich blicke auf ihn herunter und befühle seine Stirn. Kei schließt seine Augen, scheint meine kühle Hand richtig zu genießen und wieder fällt mein Blick auf seine leicht geöffneten Lippen. So einladend...
Ich wende mich von ihm ab, schließe seine Haustür und folge Kei in sein Zimmer. Die Wohnung ist genauso klein wie meine. Küche, Badezimmer und ein Zimmer, welches er als Schlafzimmer, Wohnzimmer und Arbeitsplatz benutzt. Genau wie ich.
Kei steuert direkt auf sein ungemachtes Bett zu und legt sich wieder hin. Er sieht schlecht aus, aber mehr als gesund pflegen kann ich ihn auch nicht.
Ich setze mich neben ihm aufs Bett und sehe mich in seinem kleinen Reich um. Es wirkt unordentlich, lieblos eingerichtet und überall liegt Schmutzwäsche herum. Die Küche schaue ich mir wohl lieber nicht an. Wer weiß, wann er zuletzt den Abwasch gemacht hat?
„Hast du schon eine Tablette genommen?“, frage ich Kei, sehe ihn dabei jedoch nicht an.
„Nein, habe keine da...“, murmelt er und als ich doch zu ihm schaue, hat er sein Gesicht fast ganz unter seiner Bettdecke versteckt.
Vorsichtig hebe ich meine Hand und streiche ihm sanft durch die Haare. Erstaunt darüber, dass sie so weich sind, aber gar nicht so aussehen, kann ich kaum die Finger von ihm lassen. Es fühlt sich einfach zu gut an. Erschrocken über mich selbst stehe ich hastig wieder auf. Ich sehe auf meine Hand und wische sie mir an der Hose ab.
„Soll ich dir einen Tee machen?“, frage ich ihn, auch wenn mich nichts in seine versiffte Küche zieht.
„Ja, danke.“ Er niest und sucht tastend in einer Schublade nach Taschentüchern.
Ich gehe in die Küche und sehe mich um. So schlimm, wie ich es mir ausgemalt habe, ist es dann doch nicht. Zum Glück.
Ich gebe Wasser in den Wasserkocher und lasse es erhitzen, während ich nach Teebeuteln und einer Kanne suche und sogar fündig werde.
Während der Tee zieht, schlendere ich durch die Wohnung, werfe einen Blick ins Badezimmer und erschaudere als ich eine Boxershorts von Kei auf dem Badewannenrand liegen sehe. Ich kann nur hoffen, dass er jetzt eine trägt.
Ich schlucke und gehe in den kleinen Flur. Über der Kommode, auf der eine Schale mit Schlüsseln steht, hängen Fotos. Viel zu viele Fotos für meinen Geschmack. Beim Eintreten waren sie mir gar nicht aufgefallen.
Ich trete näher heran und betrachte sie. Meine Mundwinkel ziehen sich herunter. Warum macht er so etwas?
All die Fotos sind nur mit uns beiden. Hat er unsere Trennung so schlecht verkraftet? Will er es nicht wahrhaben? Will er etwa einen Neuanfang?
Mein Blick fällt auf unsere lachenden und verliebten Gesichter. Daran kann ich mich nur noch vage erinnern. Wann waren wir so glücklich gewesen? Ich weiß es nicht mehr. Mit den Händen fahre ich mir durch die Haare und seufze.
Diese Zeiten sind vorbei. Kei sollte die Fotos wegwerfen.
Solche Momente wird es nie wieder geben.
Ich liebe ihn nicht mehr.
„Kei!“, rufe ich ihm zu und gehe zurück in sein Zimmer. Er putzt sich geschäftig die Nase und sieht mich neugierig an.
„Die Fotos...“, beginne ich zögernd. Wie soll ich es am besten angehen? Ich weiß es nicht. „Wirf sie weg.“
Kei sieht mich trotzig und schmollend an. „Das sind meine Fotos und damit mache ich, was ich will. Wenn es dir nicht passt, dann guck halt nicht hin!“, meint er beleidigt.
„Das ist Vergangenheit! Glaubst du allen Ernstes, dass wir wieder zusammen kommen? Hör auf zu träumen, Kei!“, erwidere ich verstimmt.
„Ich träume nicht...“, murrt er.
„Doch das tust du! Es ist vorbei, Kei! Ich will keine Beziehung mehr mit dir führen! Damals ist alles kaputt gegangen. Du hast unsere Beziehung mit Füßen getreten. Du hast mich nicht beachtet, mich ignoriert. Mich und meine Gefühle!“, antworte ich ihm verletzt.
„Ich liebe dich...“, murmelt Kei.
Erstarrt sehe ich ihn an. Was soll das? Will er mich in die Irre führen? Ich schlucke und gehe in die Küche zurück. Kopfschüttelnd suche ich eine saubere Tasse und bringe ihm Tasse und Kanne ans Bett.
„Du liebst mich nicht. Du hast mich nie geliebt...“, murmele ich und sehe wieder auf. „Du hast den Gedanken an eine Beziehung geliebt.“
Ich starre Kei an, der meinen Blick erwidert. Ich kann seinen Blick nicht lesen. Langsam erhebe ich mich und sehe mich unruhig in seinem Zimmer um. „Der Kei, in den ich mich verliebt hatte, der hat mich verlassen, an dem Tag, an dem wir ein Paar wurden.“
Ohne ihn noch einmal anzusehen, gehe ich aus seinem Zimmer, den Flur entlang, verlasse seine Wohnung und bleibe einen Moment im Flur stehen. Ich schließe mein Augen und hole tief Luft, aber der Kloß in meinem Hals will nicht verschwinden.
„Fuck...!“, fluche ich und suche nach dem Schlüssel zu meiner Wohnung, schließe sie auf und gehe in mein Zimmer.
Ich lasse mich auf mein Bett fallen und starre an die Decke. Seufzend drehe ich mich auf die Seite, nur um den nassen Fleck auf dem Boden zu sehen. Noch ein Seufzen verlässt meinen Mund.
Ich habe ganz vergessen, dass ich regelmäßig mit Ary vor die Tür gehen muss.
Jetzt ist es auch zu spät.
Es ist alles zu spät.
Es ist Abend. Ich kann nicht schlafen, stattdessen liege ich auf dem Bett und zocke im stockdüsterem Zimmer. Ein Zombie nach dem anderen wird zur Strecke gebracht, während Ary zwischen meinen Beinen liegt und mir somit keine Möglichkeit gibt, aufzustehen. Wie kann er bei dem Lärm nur so ruhig schlafen?
Ich lasse meine Wut an den hässlichen Kreaturen aus und je später es wird, desto besser geht es mir. Na, geht doch. Warum soll ich mir auch den Kopf über Kei zerbrechen? So ist es doch viel besser! Einfach nicht weiter darüber nachdenken!
Zufrieden strecke ich mich und warte bis der nächste Spielabschnitt geladen wird. Ary knurrt und bellt leise im Schlaf und ich muss mich zurückhalten, um nicht lachen zu müssen. Grinsend versuche ich nach hinten zu sehen.
Mit einem leicht wehmütigen Gefühl betrachte ich Ary. Irgendwie ist es schon schade, dass ich ihn weggeben muss. Man gewöhnt sich schnell an einen neuen Gefährten und es ist nicht mehr so einsam in meiner Wohnung.
„Ob es Kei auch so geht...?“, murmele ich leise. Ob er sich drüben in seiner Wohnung auch einsam fühlt? Kommt er deswegen jeden Tag zu mir?
Grummelnd sehe ich wieder auf meinen Flachbildfernseher. Bestimmt nicht. Der will doch nur Aufmerksamkeit und eine Beziehung, die nicht mehr zu retten ist.
„Wieso kann ich mich nicht mehr richtig an unsere Beziehung erinnern?“ So sehr ich es auch versuche, es klappt nicht. Wo war ich nur ständig mit meinen Gedanken, dass ich mich nicht erinnern kann? Was habe ich in unserer Beziehung gemacht?
Ich seufze und schließe einen Moment lang die Augen. Es soll nur für einen Moment sein, ein paar Sekunden, aber aus Sekunden werden Minuten und aus Minuten Stunden.
Es klingelt und hört einfach nicht auf. Wer auch immer das ist, wenn ich erst mal wach bin, hetze ich meinen Kampfwelpen auf ihn.
Stöhnend richte ich mich auf. Selbst Ary hält nicht viel von der Aktion und wir beide wären wohl liebend gerne liegen geblieben. Ary gähnt und streckt sich, ehe er vom Bett springt und mir hinterher läuft. Er ist genauso anhänglich wie eine gewisse andere Person.
Ich zupfe an meinem Hemd und bereue es in Klamotten geschlafen zu haben, die hätte ich heute noch anziehen können. Was soll's...
Mürrisch reiße ich die Tür auf und sehe in Kei's Gesicht. Er lächelt mich verlegen an. Er sieht immer noch so krank aus. Es ist ja auch erst ein paar Stunden her, seit wir uns das letzte Mal gesehen haben.
„Was willst du?“, frage ich ihn und muss mich wieder an meine letzten Worte in seinem Zimmer erinnern. Ehrlich gesagt, ist mir nicht danach jetzt mit ihm zu sprechen. Nicht nachdem, was ich zu ihm gesagt habe.
„Na ja, also...“, druckst er herum und sieht zu Boden. Irgendwie weiß keiner von uns was wir sagen sollen. Es gibt ja auch nichts zu sagen.
„Du solltest wieder gehen.“ Ich sehe Kei an und irgendetwas in mir ist anderer Meinung. Ich muss dieses Gefühl unterdrücken. Ich will diese Gefühle nicht mehr haben, nicht, wenn er mich wieder so behandelt als wäre ich Luft.
„Ich wollte nur sehen, wie es dem Welpen geht!“, meint er hastig.
Ich verziehe mürrisch meinen Mund. „Ary geht es gut.“
Ein breites Grinsen ziert auf einmal Kei's Gesicht und irritiert mich. Was soll das?
„Ary? So, so, Mister-wir-geben-den-Hund-ohnehin-wieder-weg!“, erwidert er frech. Ich verschränke die Arme vor der Brust.
„Ary klingt immerhin besser, als deine komischen Vorschläge!“
Kei lacht. „Ja, klar!“, meint er amüsiert.
Ich bin unschlüssig, ob ich ihn wirklich reinlassen soll. Ich könnte Ary auch an die Tür bringen, der inzwischen wieder das Weite gesucht hat.
„Hat sich schon jemand gemeldet?“, fragt Kei neugierig.
„Ich bin gerade erst aufgestanden!“, erwidere ich ungehalten. Kei grinst und drängt sich einfach an mir vorbei durch die Tür. „Prima, dann lass uns gleich mal nachsehen!“
Verwirrt sehe ich ihm nach, ehe ich langsam die Tür schließe und ihm hinterher laufe.
Kei setzt sich dreist an meinen Laptop, hebt den Deckel an und fährt ihn hoch. Als er das Passwort eingeben soll, sieht er mich auffordernd an. Seufzend stelle ich mich neben ihn und gebe es ein.
Langsam atme ich tief durch. Er riecht gut, scheint schon geduscht zu haben. Sein Rasierwasser macht mich noch irre.
Ich gehe einen Schritt zur Seite und halte Ausschau nach Ary. Es hat ihn wohl wieder in die Küche oder ins Badezimmer getrieben.
Als ich zu Kei sehe, begegnen sich unsere Blicke. Ich weiche ihm aus und schaue mir meine Regalwand an.
„Fertig!“, meint Kei.
Ich sehe von ihm zum Bildschirm und beuge mich herunter, um mein Postfach abzuchecken. Wieder keine Nachricht.
Mutlos sehen wir auf den Laptop. Ein klein wenig Freude und Hoffnung machen sich in mir breit. Vielleicht kann ich Ary doch noch behalten? So langsam finde ich wirklich gefallen an dem kleinen Kerlchen.
„Lass uns zocken!“, meint Kei und steht auf. Er setzt sich auf mein Bett und schaltet den Fernseher und die Konsole an.
Wieso benimmt er sich, als würde er hier wohnen?
Ergeben setze ich mich neben ihm aufs Bett und sehe ihm zu, wie er begeistert nach einem Spiel sucht. Wollte er nicht nach Ary sehen?
Kopfschüttelnd mache ich es mir gemütlich und sehe zu, wie Kei beginnt das Spiel zu starten. Er mochte Fantasyrollenspiele schon immer lieber als ich.
Wir sehen uns den Anfang von The Last Story an und während Kei beginnt zu spielen, lasse ich meine Gedanken schweifen und sehe Ary zu, wie er auf dem Riemen meines Rucksacks herumkaut.
„Kei...?“
„Ja, was ist?“, fragt er mich, ohne mich anzusehen. Irgendwie nervt es mich gerade sehr, obwohl ich sonst nie Probleme damit hatte. Wie kann ich seine Aufmerksamkeit bekommen? Einfach das Spiel ausschalten?
„Kei, ich...“ Kurz halte ich inne. „Was willst du wirklich?“ Weiß ich das nicht schon?
Kei drückt auf Pause, legt den Controller zur Seite und sieht mich an. „Ich habe einen Fehler gemacht und wollte mich bei dir entschuldigen, außerdem möchte ich, dass wir uns wieder vertragen und...“, er hält inne. „Ich bin wirklich immer noch in dich verliebt, auch wenn du es mir nicht glaubst.“
Ich sehe ihn an und knabbere auf meiner Unterlippe. Da ist schon wieder dieses Gefühl, das ich all die Jahre in Ketten gelegt habe und nun wieder versucht, sich zu befreien.
Ich wende den Blick von Kei ab und weiß nicht, was ich davon halten soll. Ich will ihm doch keine Chance mehr geben, aber er ist plötzlich wie ein Wirbelwind in mein Leben zurückgekehrt, dass es mich beinahe erschlägt.
Kei legt seine Hand auf meine. Erschrocken sehe ich zu ihm auf und ziehe hastig meine Hand weg.
„Du hast Angst.“
Ich sehe ihn an. Nein, wie kommt er denn auf diese Idee?! So ein Idiot! Natürlich habe ich Angst! Ich will den ganzen Kummer nicht mehr durchmachen müssen!
Ich presse meine Lippen aufeinander und sehe ihn lauernd an. Worauf will er jetzt hinaus?
Kei beugt sich näher zu mir, so dass ich etwas zurückweiche. Er ist zu nahe. Viel zu nahe!
„Kei, nicht...“, murmele ich und rücke noch ein Stück nach hinten.
„Ich habe mich geändert und du dich auch. Wir sind nicht mehr so wie damals. Wieso also soll es nicht mehr mit uns funktionieren? Vielleicht läuft es ja sogar besser als wir denken? Ich meine, woher sollen wir es wissen, wenn wir es nicht einfach mal probieren?“
„Nein, ich will nicht mehr.“
„Benni, du willst mich noch! Das sehe ich dir an!“, meint er stur und kommt mir noch näher. Mein Blick fällt wieder auf seine Lippen. Diese Lippen, die ich schon so oft geküsst habe. Ich kann mich kaum noch daran erinnern, aber das Verlangen ist noch da. Das Verlangen sie spüren zu wollen.
Ich atme tief durch. Ich darf mich meinen Gelüsten nicht hingeben. Er würde es nur falsch auffassen und sich Hoffnungen machen. Ich will ihm keine Hoffnungen machen. Es ist vorbei.
„Benni...“, flüstert er und kommt meinem Gesicht immer näher.
Ich schubse ihn zur Seite und stehe auf.
Beinahe hat er mich soweit gehabt. Fast, nur knapp bin ich ihm entkommen.
„Ich kann und will nicht. Geh jetzt!“, fordere ich ihn auf.
„Das ist nicht dein Ernst!“, meint er entsetzt. „Wieso willst du es nicht wahr haben?“
Wütend drehe ich mich zu ihm herum. „Ich will es nicht wahrhaben? Du bist es doch, der es einfach nicht kapiert!“, brülle ich ihn an. „Du kommst hierher, mischst dich in mein Leben ein und machst alles nur noch schlimmer! Verschwinde aus meinem Leben!“
Kei sieht mich verletzt an, sagt jedoch nichts.
„Verdammt! Hau ab!“, schreie ich, greife nach seinem Arm und zerre ihn zur Haustür.
„Ich will nicht...“, meint er und macht es mir nicht gerade einfach, ihn mitzuschleifen. „Stell dich nicht so an! Raus hier, Kei!“, erwidere ich und öffne die Haustür.
„Nein!“, heult er und lässt sich wie ein nasser Sack zu Boden fallen. Entgeistert sehe ich ihn an. Heult er jetzt etwa?
Kei blickt auf den Boden, lässt es nicht zu, dass ich ihm ins Gesicht sehen kann. „Ich will dich nicht wieder verlieren! Ich habe meinen Fehler eingesehen und dazu gestanden. Ich will wieder mit dir zusammen sein...“, meint er und schnieft. Er wischt sich mit dem Ärmel seines Pullovers über sein Gesicht.
„Ist dir klar, was du da von mir verlangst?“ Ich sehe zu ihm herunter, wie er am Boden kauert und mit den Tränen kämpft.
„Hast du ein Taschentuch?“, fragt er mich und sieht mich verschnupft an. Okay, keine Tränen. Wäre ja auch zu schön gewesen.
Grummelnd trete ich leicht mit dem Fuß gegen sein Bein. Kei sieht zu mir auf. „Ary willst du behalten, aber mich nicht...“
„Vergleichst du dich schon mit einem Hund?“, frage ich ihn verwirrt.
„Aber ihn behältst du!“, meint er trotzig. „Ich will auch bei dir bleiben!“ Kei sieht mich plötzlich überzeugt an. Was soll das? Sehe ich aus wie die Wohlfahrt?
Ich bleibe unschlüssig im Flur stehen, während Kei so frei ist, sich vorbeugt und die Haustür zuzieht, ehe er wieder aufsteht und zu mir kommt.
„Benni, ob du es willst oder nicht, aber du liebst mich noch. Ich weiß, dass es nicht so gut mit uns lief, aber seien wir mal ehrlich, in welcher Beziehung läuft es schon perfekt? Muss man sich deswegen gleich trennen? Wir haben noch mal eine Chance und die sollten wir uns nicht entgehen lassen. Wenn du mich jetzt raus wirfst, wirst du es bereuen!“, meint er felsenfest überzeugt.
„Ich werde dich raus werfen und zwar jetzt!“, murre ich, greife nach seinem Arm und öffne wieder die Haustür.
Kei sieht mich entsetzt an. Mit so einer Reaktion hat er wohl nicht gerechnet.
„Benni!“, meint er vorwurfsvoll, doch schon im nächsten Moment ziehe ich ihn kurz zu mir heran, drücke ihm meine Lippen auf den Mund und küsse ihn verlangend. Er hat Recht, aber ich bin noch nicht bereit offen zu meinen alten, wieder aufkeimenden Gefühlen zu stehen.
Kei umarmt mich und für einen kurzen Moment bereue ich es nicht, ihn in meine Wohnung gelassen zu haben.
Langsam drücke ich ihn wieder von mir, unterbreche widerwillig den Kuss und sehe ihm das erste Mal richtig in die Augen.
„Vielleicht behalte ich dich...“, murmele ich und gehe schnell zurück in meine Wohnung, schließe die Tür und lehne meinen Kopf gegen das kühle Holz.
Ob er noch im Flur steht und dumm aus der Wäsche guckt?
Ich kann es ja selber noch nicht ganz fassen, was ich da gesagt habe. Wenn ich etwas mehr Kraft finde, dann kann ich möglicherweise wieder eine Beziehung beginnen. Vielleicht auch mit Kei. Ich brauche noch etwas Zeit, ein klein wenig Zeit für mich, um mir klar zu werden, was ich wirklich will, auch wenn ich mich unwissend schon längst entschieden habe.
Texte: Sandra Marquardt
Bildmaterialien: Google
Lektorat: Lihiel
Tag der Veröffentlichung: 17.02.2013
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