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Prolog: Probieren geht über Studieren




Dass ich nicht auf Mädchen stehe, bemerke ich, als ich einen Film mit einem Freund sehe. Wir zappen gelangweilt durch die Kanäle und irgendwann bleiben wir auf einem Kanal hängen. Ich habe noch nie vorher richtig gesehen, wie ein Junge einen Anderen küsst. Es ist abstoßend und faszinierend zugleich. Und doch sieht es nicht großartig anders aus, als wenn ein Junge ein Mädchen küsst.
„Willst du es auch mal versuchen?“, fragt mich mein Kumpel.
Ich sehe ihn verwirrt an.
Meint er es ernst?
„Ist doch nichts dabei. Außerdem sind wir allein, keiner kriegt das mit! Das bleibt unser Geheimnis!“, meint er und greift nach meiner Hand.
Ich bin unschlüssig. Vielleicht hat er ja recht? Es ist bestimmt nichts dabei. Aber wird er es auch für sich behalten? Ich habe Angst und doch bin ich total neugierig, wie es wohl mit einem Jungen ist. Bisher habe ich nur ein Mädchen geküsst und das ist meine Freundin, die vor zwei Monaten mit mir Schluss gemacht hat, weil ich ihr zu langweilig bin.
Ja, ich bin ein Nerd und ich bin stolz darauf!
Ich verstehe die Mädchen sowieso nicht. Alles was sie sagen, macht keinen Sinn und sie wollen immer recht behalten. Sie achten pikiert auf ihr Aussehen und meckern die ganze Zeit über ihren nichtperfekten Körper.
Ich kenne meinen Freund schon ziemlich lange. Wir gehen auf die gleiche Schule. Seitdem gehen wir durch dick und dünn. Es ist also nichts weiter dabei, wenn wir uns küssen. Wir bleiben Freunde. Beste Freunde. Oder?
Zögerlich nicke ich und drehe ihm meinen Kopf zu. Aufgeregt schließe ich meine Augen. Ich spüre seinen heißen Atem auf meinem Gesicht. Noch ein paar Zentimeter. Weich drückt er mir seine Lippen auf den Mund. Mehr passiert nicht. Wir bleiben stocksteif im Zimmer sitzen, keiner ist in der Lage sich von dem Anderen zu lösen. Er wird nach einigen Sekunden mutiger und küsst mich inniger. Er legt seinen Arm um mich und zieht mich näher an sich heran. Ich schmiege mich an ihn und kralle mich an seinem verwaschenem Shirt fest.
Nach einigen Minuten stupst er mich mit seiner Zunge an und bittet um Einlass. Etwas widerwillig gewähre ich es ihm. Er fährt über meine Zahnreihen und neckt ab und an meine Zunge, fordert mich auf, auf sein neckisches Spiel einzugehen. Ich lasse ihn zappeln. Er wird fordernder und schließlich lasse ich mich darauf ein.
Mein erster Kuss mit einem Jungen, meinem besten Freund.
Nur ein einziger Abend ist schuld daran, dass eine jahrelange Freundschaft zerbricht und ich meine sexuelle Neigung umorientiere.

Kapitel 1: Bist du schwul, oder was?



„Na, wen haben wir denn da? Unsere Schwulette vom Dienst!“
Ich muss mich gar nicht umdrehen, ich kenne diese Stimme nur zu gut. Trotzdem drehe ich mich genervt um. Skeptisch hebe ich eine Augenbraue. Meine Hände lasse ich in meiner Jackentasche, damit er nicht sehen kann, wie ich sie wütend zusammenballe. Er könnte es wörtlich nehmen und ich möchte ihn nicht provozieren.
Wird ihm das nicht langsam langweilig? Inzwischen weiß doch sowieso die ganze Schule, dass ich schwul bin. Wieso muss er mich dann jeden Tag aufs Neue so blöd anmachen? Reicht es nicht, dass alle Anderen mich damit aufziehen? Um meine Gefühle schert er sich keinen Deut. Hauptsache er hat seinen Spaß an der ganzen Sache.
In einiger Entfernung von mir lehnt Nicholas Török. Mein Erzfeind. Ich habe mir das nicht ausgesucht, sondern er. Vor meinem Coming Out haben wir uns gut verstanden. Na ja, so wie man sich halt versteht, mit seinen Klassenkameraden. Was habe ich falsch gemacht, dass er mich nicht so akzeptiert, wie ich bin? Ist es mein Fehler? Hätte ich es doch besser für mich behalten sollen? Ich weiß es nicht. Was ich weiß ist, dass diese verbalen Beleidigungen weh tun! Und er denkt nicht einmal über seine Worte nach. Ihm scheint es nur wichtig zu sein, dass es auch ja die ganze Schule oder wenigstens alle Umstehenden mitbekommen.
Ich beiße mir auf die Lippen. Was ich jetzt tun kann, ist nicht darauf einzugehen. Ich kann ihm sowieso nichts entgegen bringen. Ich bin einfach nicht schnell genug im Kontern. Ich denke zu lange nach und meistens fällt mir auch nichts Gescheites ein, weil ich viel zu erstarrt und überrumpelt bin.
Jetzt stehe ich hier und Nicholas hat nichts Besseres zu tun, als mich zu Beschimpfen. Wie kann einem so etwas nur Spaß machen? Ist das nicht ermüdend? Hat der Junge keine Hobbies? Ich meine, was hat er davon?
Nichts!
Eben. Wieso überhaupt damit anfangen?!
Ich verharre immer noch an meinem Standort und sehe ihn bedrückt an. Er macht mich und sich selbst vor allen Schülern lächerlich und merkt es nicht einmal. Irgendwie tut er mir ja schon Leid, dass er mit meiner Sexualität nicht klar kommt. Er hat ja auch so viel damit zu tun! Vielleicht fühlt er sich auch angegriffen. Er hat angst ich könnte ihn überwältigen und flachlegen. Ich bin ja auch so viel stärker als er. All dieses Gehabe ist doch einfach nur traurig.
Kopfschüttelnd lasse ich ihn stehen und seine Reden schwingen und betrete das Gebäude. Erst zwei Wochen ist es her, seit ich mich geoutet habe. Einige akzeptieren es, andere versuchen mich zu ignorieren oder machen mich blöd an. Ich kenne diese Leute nicht mal!
Freunde habe ich nicht wirklich an dieser Schule. Ich bin eher ein Außenseiter. Vielleicht liegt es ja an meiner Brille, die mag ich nämlich auch nicht. Sie ist viel größer als mein Kopf. Zu meinem Bedauern, wollen meine Eltern mir keine neue Brille kaufen.
Es könnte aber auch daran liegen, dass ich in der Klasse zu den besten und beliebtesten Schülern gehöre. Okay, ich bin der Einzige! Ich bin ihnen nicht cool genug und falle aus dem Schema. Ergo will mich keiner um sich haben. Nicholas übrigens auch nicht. Er hat viele Freunde, aber er hält trotzdem irgendwie alle auf Distanz. Er selbst bemerkt es wahrscheinlich nicht einmal, aber mir ist es schon aufgefallen. Es ist, als würde um ihn herum eine Art durchsichtiger Schutzwall schweben. Keiner sieht ihn, aber alle wissen, dass sie sich ihm nicht nähern dürfen. Den Grund kenne ich nicht. Ob die Anderen den Grund kennen, weiß ich nicht.
Manchmal habe ich das Gefühl Nicholas könnte auch schwul sein. Ich bin mir nicht sicher. Sein Verhalten sagt es mir. Er hat ständig Frauenbeziehungen, aber sie halten nicht, laufen nur einige Tage oder Wochen. Er hat einen Hass auf Schwule, als hätte er angst, es könnte herauskommen, dass er im Grunde genommen nichts dagegen hat, oder es selbst ist.
Vielleicht mache ich mir aber auch zu viele Gedanken. Das Problem habe ich häufiger. Ich denke zu viel nach, zermartere mir das Gehirn und komme doch zu keinem Ergebnis.

Mittagspause. Ich habe mich in eine ruhige Ecke, meinem Lieblingsplatz, verzogen. Hier lassen mich alle in Ruhe. Hier kann ich nachdenken. In ruhe essen kann ich leider nicht. Denn wenn ich nicht schnell genug alles runter würge, klaut mir Nicholas wie jeden Tag mein Frühstück. Ich stehe morgens extra früh auf, um es zuzubereiten, nur damit dieser Idiot es sich schnappt und selbst isst oder wegwirft. Er fragt noch nicht einmal! Entweder er hat kein Geld, um sich in der Kantine etwas zu kaufen oder er steht einfach nur auf selbstgemachtes Frühstück. Dass ich dann mit grummelndem Magen im Unterricht sitze und die Lacher meiner Mitschüler auf mich ziehe, ist ihm scheinbar auch egal. Wie so vieles. Manchmal wüsste ich schon gerne, was in seinem Kopf abläuft. Ob es darin auch so chaotisch abgeht, wie in meinem?
„Na, was gibt’s denn heute?“, fragt er mich höhnisch.
Ich bemerke ihn erst, als er vor mir steht. Sein dunkler Schatten auf mir, als würde er mich aufsaugen und vernichten wollen. Ich verspanne mich sofort. Er zeigt hinter das Schulgebäude und ich weiß, dass er mich wie jeden Tag dort erwarten wird. Wenn ich nicht auftauche, verprügelt er mich. Ich habe es zwei Mal gemacht. Seitdem traue ich mich nicht mehr aufzumucken.
Er reißt mir die Tuppadose aus der Hand und öffnet sie. Er hebt den Inhalt skeptisch hoch und besieht ihn sich.
„Was zum Teufel ist das?!“, fragt er mich.
„Empanadas. Die isst man in Spanien.“, erkläre ich ihm mit einem aufgesetzten Lächeln. Er sieht mich verständnislos an. „Ich meine das hier!“ Er hebt eine Banane hoch, als wäre es etwas infektiöses. „Lutschst du daran herum und holst dir nebenbei einen runter oder steckst du sie dir in den Arsch?“
Er grinst mich fies an und wedelt mit der Banane vor meinem Gesicht herum. Ich bin froh, dass wir alleine sind. Wenn auch noch Andere um uns herumstehen und mich auslachen, würde ich in zehn Minuten immer noch keinen Ton von mir geben.
„...“
Okay, ich kriege auch keinen Ton heraus, wenn er mich blöd anmacht und wir alleine sind.
Natürlich muss ich ausgerechnet jetzt auch noch rot anlaufen. Das ist ja so was von klar. Wenn mir etwas peinlich ist, werde ich sofort knallrot im Gesicht. Manchmal habe ich wirklich das Gefühl, als würde das Leben sich einen Spaß daraus machen, mich so zu triezen.
„Aha! Jetzt hat es dir wohl die Sprache verschlagen! Du machst es dir also wirklich damit!“, meint er fies grinsend. „Filmst du dich auch dabei und nimmst es auf?“
Ich erstarre und weiß genau worauf er hinaus will. Ich will hier weg und beschließe aufzustehen, als ich aber nach meiner Dose greife, lässt er nicht los. Natürlich nicht.
„Nichts da! Die behalte ich! Aber die hier kannst du natürlich gerne haben.“, er nimmt die Banane und wirft sie mir gegen den Brustkorb. Ich fange sie ungeschickt auf.
Als ich aufsehe, hat Nicholas sich schon verzogen.

Nach Unterrichtsende packe ich möglichst langsam meine Schulsachen in den Rucksack und seufze. Ich will nicht hinter das Schulgebäude gehen. Ich bleibe sitzen, bis auch die Letzten ihre Sachen gepackt haben. Nicholas ist zum Glück immer einer der Ersten, die die Klasse verlassen. Ich stehe auf und werfe mir den Rucksack über die Schulter. Ich nestele am Träger herum und laufe möglichst langsam durch die Gänge. Vor dem Ausgang bleibe ich stehen. Ich sehe nach draußen. Sehe die Schüler, die alle heimgehen oder zur Bahnstation laufen. Dann sehe ich den Flur entlang. Es ist kaum noch jemand unterwegs.
Mein Magen zieht sich zusammen und ich will weglaufen, aber ich bewege mich nicht von der Stelle. Mir ist schlecht. Meine Hände schwitzen und langsam, wie in Trance, greife ich nach der Tür und verlasse das Gebäude. Ich setze einen Schritt vor den Anderen und nähere mich langsam dem verhassten Komplex. Es ist die Sporthalle. Und dahinter wartet Nicholas auf mich.
Ich schlucke. Noch kann ich es tun, noch kann ich weglaufen. Meine Schritte werden zögerlicher. Gerade als ich daran denke, wegzulaufen, kommt Nicholas um die Ecke. Ich bleibe stehen und mein Herz klopft wie wild.
„Na endlich! Ich warte schon!“, grummelt er und packt mich an meinem Handgelenk. Er zerrt mich das letzte Stück mit und ich stemme mich automatisch dagegen. Nicholas bleibt stehen und sieht mich böse an.
„Mach jetzt keine Faxen!“
Ich lecke mir nervös über die Lippen. Er zieht mich mit sich und als wir um die Ecke gehen, hole ich tief Luft.
„Ich will das nicht!“, jammere ich und versuche meine Hand zu befreien, aber er ist stärker als ich und lässt mich nicht los.
Er grinst mich nur höhnisch an. Nicholas schubst mich auf den Boden und ich schlage mit dem Rücken gegen die harte kalte Steinmauer. Er geht vor mir in die Hocke.
„Du hast es schon so oft gemacht, du solltest dir langsam mal etwas Neues einfallen lassen.“, meint er gelassen und greift nach meinen Beinen.
„Du bist schuld daran und jetzt trägst du auch die Konsequenzen.“, flüstert er mir bedrohlich zu.
Ich will meine Beine wegziehen, schaffe es aber nicht. Ich versuche es nur halbherzig. Wieso ist mir Rätsel. Ich bleibe an der Wand sitzen. Vielleicht liegt es daran, dass ich es schon ein paar mal gemacht habe und mich irgendwie gegen meinen Willen daran gewöhne. Er spreizt meine Beine und sieht mich abwartend an.
Ich rühre mich nicht.
„Jetzt mach schon!“, schnauzt er ungehalten.
Ich beiße mir auf die Lippen und führe meine Hände zu meinem Schritt, öffne die Hose und halte inne. Er hat in der Zwischenzeit sein Handy herausgeholt. Wie ich dieses Handy hasse!
Ich habe schon einmal versucht es an mich zu reißen. Das war am zweiten Tag gewesen. Einfach alles löschen oder das Handy in den nächsten Fluss werfen und all meine Sorgen sind dahin. Aber er ist einfach kräftiger als ich und viel skrupelloser. Am ersten Tag hat er es aufgenommen. Am ersten Tag hat er mich dazu gezwungen, mich befriedigen. Und da hat er noch die Hilfe von zwei anderen Kerlen gehabt. Er filmte mich dabei und all der Mist ist jetzt auf diesem Scheißhandy! Er meint, er hätte eine Kopie, also würde es mir nichts bringen, das Handy zu zerstören.
„Du weißt, wenn du dich weigerst, veröffentliche ich das Alles.“, meint er lauernd.
Ich nicke hilflos.
Wenn das alles herauskommt, bin ich erledigt und dann geht die Schikane erst recht los. Ich habe Angst davor. Bisher weiß noch niemand davon, nicht einmal den Lehrern habe ich mich anvertraut. Ich habe zu viel Angst, dass Nicholas es vorher erfahren wird und was er mir antun könnte.
Nicholas lässt einen Augenblick von mir ab und holt etwas aus seiner Tasche raus. Meine Augen weiten sich, als ich den Dildo sehe und beiße mir auf die Lippen.
Das ist neu! Und er wird es filmen!
Er wirft mir das Teil zwischen die Beine und sieht mich abwartend an.
„Fang an!“

Ich sitze im Bus. Ich hätte mich nicht hinsetzen sollen, denn mein Hintern tut höllisch weh. Ich beiße die Zähne zusammen. Nur nichts anmerken lassen!
Neben mir sitzt eine alte Oma, die geschäftig ihre Zeitschrift Seite um Seite umblättert und mich zum Glück in Ruhe lässt. Mir tut alles weh und ich will einfach nur so schnell wie möglich nach Hause! Jedes Mal, wenn der Bus in ein Schlagloch fährt, kneife ich die Augen zusammen und verfluche die Leute die für den Bestand der Straßen verantwortlich sind.
Das ist das erste Mal gewesen. Ich habe es mir nicht so schmerzhaft vorgestellt. Aber mit diesem Plastikteil, ist es äußerst schmerzhaft gewesen. Wie würde es sich dann erst richtig anfühlen? Besser oder schlechter?
Ich fange an, an meiner Entscheidung zu zweifeln. Ich wohne in einem kleinen Kaff und ich kenne hier keine Schwulen, die ich fragen könnte. Was ich weiß, habe ich mir mühsam aus Büchern und dem Internet zusammen suchen müssen. Aber ich kann mich mit niemandem austauschen und an meiner Schule scheint auch niemand zu sein. Jedenfalls keiner von dem ich weiß. Vielleicht hält diese Person es geheim und vielleicht hätte ich das auch tun sollen?

Ich steige aus dem Bus aus und laufe langsam das letzte Stück zu meinem Haus. Jeder Schritt tut wahnsinnig weh und ich muss ab und an stehen bleiben. Ich hole tief Luft und schleppe mich die letzten Meter zur Haustür. Ich krame die Schlüssel aus meiner Hosentasche und sie fallen mir aus der Hand. Ich bücke mich danach und stöhne, als ich schon wieder diesen Schmerz spüre. Langsam richte ich mich auf und schließe die Tür auf, hinter der ich schon das Bellen meines Hundes hören kann.
Schon traurig, dass mein einziger Freund mein Hund ist. Er weiß als Einziger von meinen Problemen.
Ich öffne die Tür und ein zotteliger großer weißer Wischmop kommt auf mich zu, springt mich an und wie immer suche ich unter all dem Fell nach den treuen Augen, die mich all meine Sorgen vergessen lassen.
„Hallo, Monty!“, begrüße ich ihn leise und streichle ihm über den Rücken. Er rennt an mir vorbei und läuft eine Runde im Garten, bewässert nebenbei die Rosen meiner Mutter und nimmt mir den Spaziergang somit fürs Erste ab.
„Komm rein, dann gibt’s auch was Feines!“, rufe ich ihm zu und betete die Wohnung. Monty folgt mir und läuft in die Küche. Es ist zur Gewohnheit geworden, er kennt die Prozedur längst. Ich hole aus dem Schrank eine Konserve und kippe den Inhalt in den Napf. Während Monty fröhlich schmatzend frisst, lese ich auf dem Kühlschrank die Notizzettel, die meine Eltern mir täglich hinterlassen.
Unter der Woche sehen wir uns kaum. Mein Vater arbeitet als Anwalt und meine Mutter ist Chirurgin. Die Beiden reden kaum miteinander, wenn sie mal zusammen zu hause sind und ich denke, es ist nicht mehr lange, bis sie sich scheiden werden. Ich finde es nur traurig, dass es mich so kalt lässt. Liegt es daran, dass meine Eltern dank ihrer Arbeit keine Zeit mehr für mich haben? Ich habe nicht einmal den Gedanken gehabt zu rebellieren. Wozu auch? Das bringt mir eh nichts. Ich wehre mich gegen nichts, nehme alles hin und gehe wohl so zugrunde. Traurig. Das ist einfach nur traurig, stelle ich fest.
Ich lasse den Kopf hängen und schleppe mich in mein Zimmer. In der Mitte vor dem Fenster steht mein großes Bett. So einladend und doch so leer. Gegenüber ist die Sitzecke und in der Mitte des Zimmers steht der Fernseher, den ich auch gleich anschalte. Ich hänge meine Tasche in den Kleiderschrank neben meinem Bett und gehe darum herum zu meinem Schreibtisch. Dort lasse ich meinen Rucksack auf den Boden plumpsen und drehe mich um, um mich auf mein Bett zu schmeißen. Hätte ich mal besser nicht tun sollen, denn ich spüre schon wieder meinen schmerzenden Hintern. Ich krabble unter meine Decke und beschließe mich bis zum Abend keinen Zentimeter mehr zu bewegen.
Mein Magen grummelt.
„Ich hasse dich Nicholas!“, grummle ich und bleibe trotzdem liegen.

Am nächsten Morgen werde ich von etwas äußerst Schwerem geweckt und als ich aufblicke, spüre ich Montys warmen schlechten Atem im Gesicht, der mich schwanzwedelnd und hechelnd begrüßt. Ich verstecke sofort mein Gesicht unter der Decke, da sein Mundgeruch kaum auszuhalten ist.
Allerdings klingelt mein Wecker in zwei Minuten und so beschließe ich aufzustehen. Ich schalte den Wecker noch vor dem Klingeln aus und schiebe Monty von mir runter. Ich habe gestern den ganzen Tag geschlafen, so fertig bin ich gewesen. Mein Hintern schmerzt schon nicht mehr ganz so stark und ich stelle fest, dass ich die Hausaufgaben nicht gemacht habe. Ich fahre mir durch die Haare und hole die Schulhefte heraus. Ich habe keine Lust, aber ärger möchte ich auch nicht bekommen. Da es nicht sehr viel ist und ich auch sonst keinerlei Probleme in der Schule habe, sind die Aufgaben eine Kleinigkeit für mich.
Anschließend springe für einige Minuten unter die Dusche und genieße das heiße Wasser auf meinem Körper. Ich entspanne mich und nachdem ich auch meine Haare gewaschen habe, laufe ich lediglich mit einem Handtuch um die Hüften, in die Küche. Monty bekommt frisches Wasser und ich fülle seinen Napf mit Trockenfutter.
Nebenbei mache ich mir mein Frühstück. Ich lege die Brote in eine Dose und lasse Monty in den Garten, bevor ich zurück in mein Zimmer gehe. Ich packe meinen Rucksack und setze mich auf den Stuhl. Ich habe schon einen Plan, wie ich Nicholas heute entkommen kann. Meine Hände zittern vor Aufregung. Mir ist übel und ich möchte am liebsten zu hause bleiben. Ich will nicht noch einmal zu etwas gezwungen werden, nicht noch einmal gefilmt werden. Ich atme langsam aus und öffne die Schreibtischschublade. Ich muss etwas wühlen, denn das was ich brauche, ist ganz nach hinten gerutscht. Ich finde es und mein Griff verfestigt sich darum. Im Rucksack verstaut, habe ich nun ein etwas Besseres Gefühl. Trotzdem bin ich unsagbar aufgeregt.

In der Schule werde ich wie immer von Nicholas begrüßt.
„Holla, hast du die ganze Nacht durch gevögelt, du kannst ja kaum laufen?!“, ruft er mir zu. Ich laufe schnell weiter, ohne auf seine Beleidigungen einzugehen. Ich will nur schnell ins Schulgebäude kommen, ohne die Blicke der anderen Schüler auf mich zu ziehen. Ich habe diese mitleidigen oder belustigten Blicke so satt!
Ich laufe zu meiner Klasse und setze mich direkt neben die Tür auf den kalten Boden. Es ist noch ziemlich früh und noch nicht sehr viele Schüler oder Lehrer sind auf den Gängen unterwegs. Noch habe ich meine Ruhe, denn Nicholas wartet morgens immer draußen auf seine Freunde. Ich hole mein Handy aus der Tasche und stecke mir die Hörer in die Ohren. Ich schalte die Musik auf volle Lautstärke und entkomme so noch einige Minuten dem kommenden Alltagsstress.

Als es zur Pause klingelt, beeile ich mich und schnappe mir meinen Rucksack. Ich laufe durch die Gänge und komme nach einiger Zeit endlich vor der Tür an, in der ich meine erhoffte Ruhe erwarte. Ich öffne die Tür und betrete den Kartenraum. Ich schließe die Tür hinter mir. Zum Glück wird dieser Raum während der Pause nicht abgeschlossen, im Gegensatz zu den Klassenräumen. Hoffentlich sucht Nicholas mich nicht. Ich krabble zwischen die Karten und verstecke mich dazwischen, so kann mich niemand sehen, falls doch jemand den Raum betritt.
Ich öffne meinen Rucksack und esse hungrig meine Brote. Seit gestern Morgen habe ich nichts mehr gegessen. Und erst jetzt kommen auch langsam meine Lebensgeister zurück. Genüsslich kaue ich auf meinem Brot und höre nebenbei wieder Musik auf meinem Handy.
Als ich aufblicke, erstarre ich. Vor mir, nur ein paar Meter entfernt sitzt Nicholas. Ich habe überhaupt nicht mitbekommen, wie er den Raum betreten hat! Ich würge mein Brot runter und schalte die Musik aus.
Er scheint nicht gemerkt zu haben, dass ich hier sitze. Erst jetzt fällt mir siedend heiß ein, dass wir in der nächsten Stunde Erdkunde haben. Also ist er hier, um die Karten zu holen. Genau das kann mich enttarnen, wenn er die vor mir wegnimmt. Zitternd lehne ich mich an die Wand. Ich hoffe inständig, dass er mich nicht findet. Durch die Karten hindurch, beobachte ich ihn neugierig und ängstlich.
Er holt sein Handy aus der Tasche und ich höre das beständige Klicken der Tasten. Ich knabbere auf meinen Lippen herum und warte ab. Plötzlich höre ich etwas, dass mich aufhorchen lässt. Keuchen und stöhnen erfüllen den Raum plötzlich und mir stellen sich die Nackenhaare auf. Er sieht sich doch tatsächlich eines der Videos an! Mir wird übel von den Tönen, die ich da in seinem Handy von mir gebe. Das kann unmöglich ich sein?! Ich ziehe meine Beine näher an meinen Körper heran und halte mir die Ohren zu. Trotzdem kann ich es noch ziemlich deutlich hören. Als ich wieder auf Nicholas sehe, traue ich meinen Augen kaum.
Das Handy liegt auf dem Tisch und ich sehe, wie Nicholas seine Hose öffnet. Er hat doch wohl nicht vor hier und jetzt...?! Meine Augen weiten sich. Er schiebt langsam seine Hand in die Hose und so sehr ich Nicholas auch verabscheue, ich kann meine Augen nicht von dieser Szene abwenden. Zu dem Keuchen und Stöhnen aus dem Handy gesellt sich nun auch seine Stimme. Er räkelt sich auf dem Stuhl und seine braunen Haare fallen ihm ins Gesicht. Mein Blick bleibt auf seinem offenen Mund hängen und ich bemerke wie sich seine Brust immer schneller hebt und senkt. Er schiebt seine Jeans weiter runter und reibt immer noch an seinem Schwanz, der schon steif aus seiner Hose lugt.
Noch immer sitze ich in meiner Ecke und beobachte Nicholas bei seiner Tätigkeit. Da betreibt er einfach mal im Kartenraum Selbstbefriedigung. Auf meine Kosten! Trotzdem ist dieser Anblick irgendwie erregend. Verstört bemerke ich, dass sich auch in meiner Hose etwas regt. Das kann doch nicht wahr sein?!
Ich sehe auf und sehe wie Nicholas keuchend seine Augen zusammenkneift und die Lippen aufeinander presst. Irgendwie wirkt er jetzt ganz anders. Mit dem leichten Rotschimmer im Gesicht und seinem entspanntem Körper. Ganz anders als gestern, nicht so furchteinflößend und widerlich, wie sonst.
Mit einem Stöhnen kommt er und verteilt sein Sperma auf dem Boden. Mein Gesicht glüht und mir ist heiß. Immerhin sehe ich nicht täglich meinen Klassenkameraden dabei zu, wie er sich bei meinem Anblick einen runter holt.
Ich senke meinen Blick auf mein Handy und bin ganz entzückt.
Ich habe alles aufgenommen!

Kapitel 2: Schwul – und dann?



Ich liege auf meinem Bett und sehe mir in voller Lautstärke das Video an, welches ich in der Schule aufgenommen habe. Es ist ja eh niemand zu hause außer mir und Monty. Wie immer. Nicholas hat mich nicht bemerkt und ich bin verschont geblieben gestern. Ich betrachte Nicholas Gesicht. Ich habe diesen Jungen in der Hand und er gewissermaßen mich. Wir haben beide Videos von dem anderen. Ich kann soviel mit diesem Video anfangen, ihm soviel Schaden zufügen wie er es immer mir antut. Ich kann das Video hochladen oder ihn damit erpressen. Es gibt so viele Möglichkeiten und doch weiß ich nicht für welche ich mich entscheiden soll. Ich will mich nicht auf sein Niveau herunterlassen. Ich bin nicht so wie er!
Ich überlege, ob ich mit ihm darüber reden soll. So ein Gespräch würde sicher etwas bringen. Oder nicht?
Ich fühle mich nicht gut. Ich lasse meinen Kopf auf mein Kissen sinken und schaue auf das Taschenmesser, das neben meinem Gesicht liegt. Ich habe es nicht gebraucht, um mich zu wehren und wenn ich ehrlich bin, möchte ich es auch nicht benutzen. Ich habe angst davor. Ich will niemanden verletzen!
Was soll ich jetzt nur machen? Ich kann alles tun und doch nichts.
Ich kann versuchen Nicholas außerhalb der Schule abzufangen und mit ihm reden, aber ob er mir überhaupt zuhören wird? Was ist, wenn er gar nicht mit sich reden lässt? Geht es dann immer so weiter? Wird er mich die ganze Schulzeit über demütigen?
Nicht mal mit meinen Eltern kann ich darüber reden. Sie wissen, dass ich schwul bin. Nicht aber, dass ich in der Schule gemobbt werde. Schon gar nicht, dass es solche prekären Videos von mir gibt!
Ich kann es ihnen nicht sagen. Mein Vater könnte mir vielleicht helfen, aber es geht nicht. Ich kann einfach nicht mit meinen Eltern darüber reden. Zu groß ist die Schmach. Außerdem weiß es dann wirklich jeder, dass es solche Videos von mir gibt und ich habe angst vor den Reaktionen.
Ich greife nach meinem Taschenmesser und drehe es in meiner Hand. Ich werde nicht darum herum kommen. Ich sollte mit Nicholas reden. Irgendwie muss ich es schaffen, ihn dazu zu bringen, die Videos zu vernichten. Zur Not mit Gewalt. Ich lasse das Messer wieder sinken und seufze.
Ich stehe auf und schlurfe an meinen Schreibtisch, fahre meinen Laptop hoch und gehe gleich ins Internet. Ich habe in diversen Foren nachgesehen und hab leider nicht viel Brauchbares gefunden. Immer nur Ratschläge, dass man mit Freunden, Lehrern und den Eltern über die Probleme reden soll. Nur nützt es mir nicht viel in diesem Fall.
Aus irgendeinem Grund gebe ich Nicholas Namen in einer Suchmaschine ein und bekomme tatsächlich ein paar Ergebnisse. Die ersten Seiten sind nichts besonderes, lediglich irgendwelche Portale auf denen er sich so in seiner Freizeit herumtreibt.
Es ist irgendwie ein komisches Gefühl, als Opfer seinem Täter hinterher zu spionieren. Aber es muss doch irgendeinen Grund geben, dass Nicholas so ist wie er ist?!
Eine Seite lässt mich dann doch stutzen. Es ist ein kleiner Zeitungsbericht.
„Vor vier Jahren, so alt ist der Artikel noch gar nicht.“, stelle ich verwundert fest. Aufmerksam lese ich mir den kurzen Bericht durch. Es geht um Nicholas Familie. Das einzige, was ich über ihn weiß ist, das er aus Ungarn kommt. Das ist alles. Laut der Nachricht ist sein Vater wegen sexueller Misshandlung an seiner Frau und seinem Sohn festgenommen worden.
Ist das nicht viel zu wenig? Ich weiß nicht, wie lange er Nicholas und seiner Mutter so etwas angetan hat, aber sechs Jahre Haft sind einfach viel zu wenig, finde ich. Einfach viel zu wenig.
Aber was bringt mir das jetzt? Soll ich Mitleid mit dem Jungen haben? Das er seine Probleme an mir auslässt? Das ist nicht fair! Ich bin kein Ventil für seine aufgestauten Aggressionen! Ich knabbere auf meiner Unterlippe. Das bringt mir alles nichts. So komme ich nicht weiter.
Mir kommt ein vager Einfall. Eine Idee. Ganz sicher bin ich mir noch nicht, ob ich es wirklich tun soll. Ob es mir überhaupt etwas nutzen wird.
Ich fahre meinen Laptop herunter und stehe abrupt auf. Monty, der zu meinen Füßen liegt, schreckt auf und sieht mich an, als hätte ich gerade ein schweres Verbrechen begangen.
„Sorry Monty, aber dein Spaziergang muss warten!“, meine ich entschuldigend.
Ich streife mir die Schuhe über, ziehe meine Jacke an und mache mich auf den Weg.

„Was ist?!“, mürrisch wird mir die Tür geöffnet.
Ich habe es tatsächlich gemacht, habe meine Klamotten geschnappt und bin zu ihm gefahren. Wir haben uns schon lange nicht mehr gesehen. Und man kann nicht gerade sagen, dass wir in Freundschaft auseinander gegangen sind. Natürlich nicht! Man denkt jahrelang, nichts kann uns auseinander bringen und dann stellt sich heraus, dass dein bester Freund schwul ist. Für ihn ist es ein Grund gewesen, mich nicht mehr sehen zu wollen.
Es kommt mir vor wie eine Ewigkeit. Er hat sich kaum verändert, aber trotzdem wirkt er so anders.
„Hey!“, meine ich zögerlich und grinse ihn etwas dümmlich an.
„Was willst du hier, Alan?“, fragt er mich leicht überrumpelt.
Ich stehe etwas nervös in seinem Hauseingang und mustere ihn unauffällig. „Kann ich reinkommen?“
„...“
Er sagt nichts und ich beginne an meiner Entscheidung zu zweifeln. Was erwarte ich mir davon?
Was habe ich mir nur erhofft? Natürlich wird er sich nicht meine Probleme anhören oder mir zur Seite stehen.
„Tut mir Leid, dass war eine dumme Idee. Ich gehe wieder.“ Ich drehe mich hastig um und entferne mich ein kurzes Stück vom Haus, als er mir hinter ruft. Ich bleibe stehen und sehe zurück. Er geht einen Schritt zur Seite und zeigt mir somit, dass ich eintreten darf.
Freudig laufe ich zurück zu ihm und betrete sein Elternhaus. Ich bin schon lange nicht mehr in diesem Haus gewesen und stelle fest, dass sich hier kaum etwas verändert hat. Es sieht immer noch so aus wie damals, als ich noch zu Besuch kam.
„Außer dir keiner da?“, frage ich ihn, als ich die Totenstille bemerke.
„Scheinbar nicht.“, meint er kurz angebunden.
Unschlüssig bleiben wir im Flur stehen, bis er mir netterweise die Jacke abnimmt, sie aufhängt und mir winkt, dass ich ihm hinterher kommen soll. Wir gehen die Treppe hoch und ich ertrage diese Stille zwischen uns nicht. Irgendetwas muss ich doch sagen!
„Hübsch hässlich ist es hier.“, rutscht es mir heraus, als ich das Chaos in seinem Zimmer bemerke. Von Aufräumen scheint er nicht viel zu halten. Ich bahne mir tänzelnd und schleichend einen Weg, durch die am Boden liegenden Klamotten, die wahrscheinlich schon seit Wochen keine Waschmaschine mehr von innen gesehen haben. Über Bücher, die er eh nie lesen wird, weil er zu faul ist und sie nur im Zimmer hat, um bei den Frauen Punkte zu sammeln. Seiner Meinung nach, lieben Frauen belesene Kerle. Er hat mir mal voller Stolz erzählt, er weiß was Frauen an Männern mögen. Nämlich all das, was Männer normalerweise nicht tun. Erstaunlicherweise kommt er dank seiner genialen neuen Methode trotzdem nicht bei den Frauen an.
Ich setze mich aufs Bett und höre ein Knacken. Erstaunt erhebe ich mich und hebe die Decke an. Seit wann versteckt er seine Kekse im Bett? Ich hole die Packung hervor und reiße sie ungeniert auf, stopfe mir die Kekse in den Mund und sehe mich im Zimmer um. Überall sind Poster von nackten Frauen, Models, wer auch immer die sein mögen. Seine komplette Konsolensammlung steht aufgereiht vor dem Fernseher und mir kribbelt es verlangend in den Fingern, aber ich beherrsche mich.
„Was willst du?“, fragt er mich müde und fährt sich durch seine abstehenden Haare. Ich habe ihn aus dem Bett geworfen, stelle ich ohne bedauern fest. Sein gelber Smileywecker sagt mir, dass es schon fast Mittag ist. Es ist zwar Wochenende, aber ich bin nun mal ein Frühaufsteher.
Etwas nervös spiele ich an der Bettdecke herum, die einem Handy gleicht. Wo bekommt der Junge nur all das komische Zeug her?
„Alan!“, wiederholt er sich. Ich sehe auf und direkt in seine Augen, die mich zu durchbohren scheinen. Ich hole tief Luft und beginne ihm langsam zu erzählen, was ich in letzter Zeit alles durchmachen musste. Das Gespräch verläuft wie in Zeitlupe und mit der Zeit gesellen sich doch noch schleichend die Tränen hinzu, bis stockend alles aus mir herauskommt. Mein ehemals bester Freund sieht mich mit großen Augen an und muss schlucken.
„Ich bring' ihn um!“, grollt er mit düsterem Blick. Ich wische mir mit dem Hemdärmel die Tränen aus dem Gesicht und versuche mich an einem Lächeln. Es gelingt mir nicht. Ich muss immer noch heulen, als gäbe es kein morgen mehr.
„Ich weiß nicht mehr, was ich machen soll.“, gestehe ich ihm. „Und du bist der Einzige mit dem ich darüber reden kann.“
„Du solltest ihn mit dem Video erpressen oder stell es gleich auf irgendeine Internetseite. Dann vergeht ihm das blöde Grinsen schon noch!“, meint er wütend.
Ich schüttele den Kopf.
„Das kann ich doch nicht machen! Dann bin ich wirklich nicht besser als er. Und wenn er die Videos von mir ebenfalls hochlädt, bin ich auch dran!“
„Hm, du musst an seine Videos kommen.“, meint er und überlegt. „Wenn er sie auch auf dem Rechner hat, kenne ich jemanden, der ihn hacken kann. Problem ist nur, wenn er die Videos gebrannt hat, müssen wir bei ihm einbrechen. Und das Handy brauchst du auch.“
Ich sehe ihn mit verheulten Augen an und sie werden immer größer. Hat er wirklich vor, ein Verbrechen zu begehen und das nur für mich?
Noch bevor ich etwas erwidern kann, greift er zu seinem Handy und wählt in seinem Adressbuch nach einer Nummer.
„Hey, Zero! Du musst einen Computer für mich hacken!“, meint er, als wäre es das Normalste auf der Welt. Sie reden noch eine Weile.
Ich sitze nur dumm auf dem Bett und starre ihn weiterhin entgeistert an. Was wird das hier? Jetzt stehe ich noch schlimmer da, als Nicholas oder nicht?
„Und schick mir Benji rüber, den brauchen wir auch noch.“, meint er und spielt mit einem Gummiband herum. Er legt auf und brummt zufrieden. Dann sieht er auf.
„Und jetzt zu dir.“ Ich schlucke, als er mich ansieht.
„Wir müssen in sein Haus und du musst den Kerl irgendwie aufhalten, solange er nicht drin ist.“
In meinen Ohren klingelt es. Habe ich gerade richtig gehört? Er verlangt von mir Nicholas aufzuhalten?! Ich schüttele den Kopf.
„Könnt ihr das nicht machen, wenn er in der Schule ist?“, frage ich zögerlich. Er schüttelt den Kopf.
„Je eher wir an das Zeug kommen, desto schneller bist du ihn los.“, meint er und beugt sich zu mir vor. „Und wenn du nicht langsam mal anfängst dich zu wehren, kannst du was erleben! Ich will nicht irgendwann Nachrichten sehen oder lesen, dass du dich umgebracht hast, kapiert!?“
Ich nicke nur. Er hat ja recht, ich hätte mich längst wehren sollen. Aber irgendwie stellen sich die anderen Leute das immer so einfach vor. Das ist es aber gar nicht!

„Benji is in da house!!!“, grölt es von unten zu mir hoch, als er reingelassen wird, nachdem er erst mal den Finger nicht mehr von der ollen Klingel lassen konnte. Die beiden Jungs kommen die Treppen hoch gepoltert und ich sehe einen ziemlich schrägen Vogel vor mir, der einen großen grauen Rucksack mit sich trägt.
„Du bist also der kleine Wurm in der Schlinge.“, stellt er fest und wuschelt mir lachend durch die Haare, während ich den Typen mit den langen schwarzen Haaren nur anstarre. Er sieht ein wenig aus, wie ein Rocker.
Bin ich im falschen Film? Ich habe das Gefühl mitten in einem Cyberkrieg zu stecken.
Benji schmeißt sich auf das Bett neben mich und lässt erst mal fröhlich die Beine baumeln.
„Hast du alles dabei?“ Benji nickt und tritt gegen seinen Rucksack. „Alles was ein perfekter Einbrecher braucht.“, meint er grinsend und ich hege das leise Gefühl, dass er so etwas schon öfter gemacht haben könnte. Ich schlucke nervös. Ist das wirklich so eine gute Idee? So langsam bereue ich meine Entscheidung hierher gekommen zu sein.

Nachdem Benji uns verlassen hat, um Nicholas Haus zu beschatten, sitzen wir wieder allein im Zimmer. Viel gibt es nicht zu sagen. Wir zocken ein paar Spiele. Anscheinend lässt Nicholas schön auf sich warten. Was ist, wenn er heute überhaupt nicht aus dem Haus geht? Müssen wir dann morgen auch noch auf der Lauer liegen? Ich will das irgendwie nicht. Plötzlich bekomme ich einen Stoß in die Rippen.
„Mach dir nicht so viele Gedanken. Was er gemacht hat, ist viel schlimmer. Er hat dich nicht nur seelisch sondern auch körperlich misshandelt.“
Ich nicke und versuche mich auf das Spiel zu konzentrieren, aber es gelingt mir nicht. Immer wieder kracht mein Auto irgendwo gegen und ich gebe es irgendwann auf.
„Sag mal, Tilo...wieso hilfst du mir?“, frage ich ihn nach einer Weile etwas steif. Er sieht mich von der Seite kurz an, konzentriert sich dann aber wieder auf das Spiel. Er kaut auf seiner Unterlippe und scheint zu überlegen.
„Weil ich blöd reagiert habe, damals.“, meint er schulterzuckend. „In der Zeit, in der du mich am meisten gebraucht hast, war ich nicht für dich da.“ Er lässt den Controller sinken und beachtet das noch laufende Spiel nicht weiter. Stattdessen sieht er mich an. Verlegen schaue ich zur Seite.
„Ich war ziemlich blöd. Ich fand es einfach nur ekelhaft, dass du auf Männer stehst. Tut mir Leid. Ich hab darüber hinaus, ganz vergessen, dass du dadurch kein anderer Mensch wirst. Dass du immer noch derselbe bist.“ Er zieht die Beine an und schaut auf das Spiel. Sein Auto steht auf einem Abhang. Ich greife nach seinem Controller und stürze den Wagen die Klippe herunter. Grinsend sehe ich Tilo an.
„Vergeben und vergessen.“, meine ich lächelnd.

Seit Benji's Anruf, stehe ich hier draußen herum. Ich bin mit Monty draussen. Irgendwann werde ich Nicholas über den Weg laufen und mein Magen zieht sich zusammen. Ich will ihn nicht treffen! Was ist, wenn irgendetwas schief läuft? Wenn seine Mutter früher nach Hause kommt und Benji in der Wohnung sieht? Wenn er mir einfach davon läuft? Er wird doch bemerken, dass die Sachen fehlen? Ich lasse mich auf eine Bank sinken und spiele mit Montys Leine herum, während er auf der Grünfläche vor mir herum tobt und Löcher buddelt. Ich beobachte meinen Hund und die Leute, die an uns vorbei gehen. Ich werde immer nervöser und will am liebsten davon laufen, aber meine Beine sind schwer wie Blei.
Meine größte Angst ist, dass er hier im Park über mich herfällt. Ein dummer Gedanke. Er hat mir nie etwas in der Öffentlichkeit getan, außer mich verbal zu beleidigen. Ich schlucke, der Klos in meinem Hals wird immer größer. Ich kriege ja nicht einmal ein Wort heraus, wenn er mit mir spricht, wie soll ich ihn da bitte aufhalten?
Noch ehe ich weiter in Selbstmitleid versinken kann, bellt Monty und läuft fröhlich auf einen Jogger zu. Er liebt alles was schnell ist. Nur leider jagt er den armen Leuten meist eher einen Schrecken ein. Kein Wunder, so ein großer Wischmop, dessen Augen man nicht sehen kann, ist ja auch nicht jedermanns geschmack.
Ich stehe auf und laufe zu dem Jogger, um Monty aufzuhalten. Allerdings verlangsamen sich meine Schritte je näher ich komme. Ich werde blass im Gesicht und muss schlucken. Wieso muss es ausgerechnet Nicholas sein?!
Er sieht auf, erkennt mich und sofort wird sein noch eben belustigter Blick spöttisch.
„Ah ja, das musste ja kommen. Spioniert mir die Schwuchtel hier auch noch im Park hinterher? Kannst wohl nicht mehr ohne mich.“ Er richtet sich auf und baut sich vor mir auf. „Was ist? Hast du's schon wieder so nötig, dass du extra auf mich wartest?“, fragte er höhnisch und wirft mir einen abschätzigen Blick zu.
Ich schüttele stumm den Kopf. Mein Mund öffnet sich, aber ich kriege einfach keine Worte heraus. Ich räuspere mich und starte einen erneuten Versuch, der ebenfalls so prächtig klappt. Nicholas sieht mich belustigt an.
„Wird das heute noch was, Zipfelklatscher?“, fragt er mich und kommt näher. Ich weiche automatisch ein paar Schritte zurück. Er bleibt stehen. Sein Blick ist so komisch. Ich presse meine Lippen aufeinander und sehe zu Boden. Was soll ich jetzt machen? Sprechen klappt nicht. Zu meinem Glück kommt Monty und springt Nicholas an. Zu meinem großen Pech landet der aber in meinen Armen. Ich verliere das Gleichgewicht und wir küssen beide den Boden. Ich keuche erschrocken auf. Bei dem kurzen Flug habe ich auch noch meine Brille verloren, ohne die bin ich doch blind wie ein Maulwurf!
Jetzt liegt der Idiot auch noch auf mir drauf und er ist so schwer. Den bekomme ich so nicht von mir runter. Nicholas stemmt sich vom Boden ab und bekommt zu meiner Belustigung auch gleich die nasse Zunge von Monty ins Gesicht. Geschieht ihm ganz recht! Wenn der wüsste, wo Monty damit schon überall dran hing, dann würde ihm sicher ganz schlecht werden.
Nicholas schiebt Montys Schnauze zur Seite und zu meinem bedauern, setzt er sich auch noch auf mich drauf. Kann er nicht gleich aufstehen? Der Junge wischt sich mit dem Ärmel übers Gesicht. Tja, Idiot, die Keime wirst du damit auch nicht los! Ich hoffe, du bekommst 'nen richtig hübschen Ausschlag oder sonst was ekliges!
„Was gibt’s da so blöd zu grinsen, du kleiner Schwanzlutscher!“, faucht er mich an. Sofort verziehe ich mein Gesicht, als ich die Ohrfeige im Gesicht spüre. Es brennt und schmerzt. Ich halte meine Wange und sehe ihn stumm mit großen Augen an.
„Boah, fang' bloß nicht an zu flennen, Heulboje!“, murrt er und sieht mich trotzig an. Zu spät, schon kommen die Tränen und ich kann sie nicht einmal zurückhalten. Mitten im Park schluchze ich herum und die Passanten sehen uns mit skeptischen Blicken an. Scheiß Gesellschaft, keiner hilft mir! Alle glotzen nur blöd oder gehen einfach weiter und ich bin der Leidende. Würden sie erst einschreiten, wenn ich vor ihren Augen vergewaltigt werde, oder was?! Wieso hilft keiner?!
„Scheiße, krieg' dich mal wieder ein! Das war nur eine einfache Ohrfeige!“, schnauzt Nicholas mich an. Damit macht er es aber nur noch schlimmer, jetzt schluchze ich maschinengewehrartig auf und kriege mich gar nicht mehr ein. Es bricht alles aus mir heraus. Die Tränen, die ich die ganze Zeit immer zurückgehalten hatte. Nicholas sitzt immer noch auf mir, sieht mich aber irgendwie eher hilflos an, was ich natürlich, blind wie ich bin, nicht sehen kann.
Er zieht mir die Arme aus dem Gesicht, beugt sich zu mir herunter. „Reg dich endlich ab! Sonst setzt es was!“, flüstert er mir bedrohlich zu. Ich schluchze und sehe ihn an, zumindest seine Konturen, die ich erkennen kann.
„Geht doch!“, meint er zufrieden und steht auf. Er packt mich am Hemd und zieht mich hoch. Ich schniefe und wische mir die Tränen aus den Augen. Zu meiner Verwunderung hebt er meine Brille auf und setzt sie mir auf die Nase.
„Du kleine Hure bist ganz schön hinterhältig, mich so scharf zu machen.“, meint er plötzlich und drängt mich grob gegen einen Maschendrahtzaun. Überrumpelt stehe ich nun hier und er presst sich unangenehm an mich. Ich spüre seine Erregung an meinem Becken und reiße erstaunt die Augen auf. Ich sehe ihn an und spüre im nächsten Moment auch schon seine Lippen auf meinen. Ich mag es nicht. Er nimmt überhaupt keine Rücksicht dabei und presst sich erbarmungslos an mich. Ich kneife meine Augen zusammen. Ich versuche meinen Kopf wegzuziehen, aber er hält ihn fest. Ich nehme all meine Kraft zusammen und schubse ihn von mir. Er taumelt ein paar Schritte zurück und zieht die Augenbrauen wütend zusammen. Als ich bemerke, wie er die Fäuste zusammenballt, renne ich los. Laufe einfach weg und sehe mich nicht noch einmal um. Ich höre nichts hinter mir und werde nach einiger Zeit etwas langsamer. Ich drehe mich um und bemerke aufatmend, dass mir nur Monty gefolgt ist. Ich sinke zu Boden und heule erst mal richtig los. Was die Leute um mich herum denken, ist mir gerade so was von egal!

Abends sitze ich mit Tilo und Benji in Tilo's Zimmer. Die Aktion war ein voller Erfolg. Benji hat Nicholas Zimmer komplett auseinander genommen und ein paar interessante Dinge zu tage befördert. Jetzt sitzen wir in einem Haufen von gebrannten CD's, meinen Aufnahmen. Dieser Depp hat sie auch noch mit meinem Namen beschriftet! Eine nach der anderen wandert in den Schredder von Tilo und mit jeder kaputten CD geht es mir etwas besser. Benji beobachtet alles und flätzt sich gemütlich mit Monty auf dem Bett. Ich halte Nicholas Handy, dass Benji hat mitgehen lassen, in meiner Hand und durchsuche es nach Aufnahmen und Fotos und was es sonst noch geben könnte. Er hat ziemlich heftige Sachen da drauf und mir wird übel.
Ein Foto lässt mich stutzen. Es ist ein völlig normales älteres Bild von mir, auf dem ich auf meinem Platz sitze und fröhlich lache. Ich kann meinen Blick nicht abwenden. Er hat das Bild als einziges in einem extra Ordner. Ich schlucke und meine Mundwinkel ziehen sich nach unten. Benji und Tilo beobachten mich schweigend. Es ist das letzte Bild, das ich lösche.
Plötzlich klingelt Tilos Handy und wir sehen gespannt auf. Tilo nimmt ab und stellt auf freisprechen.
„Ich hab da ein paar interessante Sachen auf dem Computer von diesem Arsch gefunden!“, begrüßt uns Zero mit seiner tiefen Stimme.
„Das ist echt so'n scheiß Stalker! Ihr glaubt nicht, was der für Zeug auf seinem Rechner von dem Kleinen hat. Das ist einfach nur krank!“, meint er aufgebracht. „Tausende heimlich geschossene Fotos, der Kerl muss ja dauernd hinter Alan her gewesen sein. Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich sagen, der ist verliebt. Aber so was von!“ Zero lacht. „Tja, Kücken! Da hast du einen richtigen Verehrer an der Angel! Keine Sorge, ich hab alles gelöscht und ihm als Andenken einen netten Virus eingepflanzt.“ Und schon hat er aufgelegt.
Sprachlos sehen wir uns an.
„Und jetzt...?“, frage ich hilflos in die Runde.

Kapitel 3: How to be schwul



„Bekomme ich mein Handy zurück?!“
Feindselig und erwartungsvoll streckt Nicholas mir seine Hand entgegen. Dumm scheint er wirklich nicht zu sein. Ich nehme sein Handy aus meiner Hosentasche und gebe es ihm. Er sagt nichts weiter, dreht sich einfach nur um und geht. Ich atme auf. Habe ich es wirklich geschafft? Ist damit alles vorbei? Das kann es doch nicht gewesen sein, oder?
Habe ich mir mit meiner Aktion Respekt verschafft?!
Ich sitze in der Schule an meinem Lieblingsplatz und Nicholas hat mir nicht mal mein Essen geklaut. Irgendwie weiß ich noch nicht so recht, was ich von all dem halten soll. Soll ich glücklich sein? Irgendwie fühlt es sich noch nicht anders für mich an, als sonst auch. Ich fühle mich immer noch so beklemmt in seiner Gegenwart.
Mir ist der Appetit vergangen und so starre ich einfach nur auf meine gefüllte Dose. Wird es überhaupt je wieder so sein, wie vor zwei Wochen, bevor ich mich geoutet habe? Vielleicht, aber noch sind die Wunden zu tief.
Ich hole tief Luft und verstaue mein Essen in meinem Rucksack. Ich stehe auf und gehe zu der Ecke des Grauens. Diesem furchtbaren Ort, den ich so sehr gehasst habe und es noch immer tue. Ich biege um das Gebäude herum und sehe Nicholas an der Wand sitzen. Er sieht auf, als ich zu ihm gehe.
„Was willst du hier?“, fragt er mich kratzbürstig.
Ich erwidere nichts und setze mich einfach neben ihn auf den kalten Boden. Ich habe keinen Plan, wie ich es beginnen soll und so platzt es einfach aus mir heraus.
„Ich weiß, dass über dich und deiner Familie.“, erkläre ich ihm.
„Wow, spionierst du mir doch hinterher! Hast jetzt Mitleid mit mir, oder was?! Spar' dir dein Mitleid, das kann ich echt nicht gebrauchen!“, brüllt er mich an. Wütend steht er auf und geht einfach weg. Ich sehe ihm entgeistert nach. Kein guter Anfang. Was hatte ich überhaupt vor? Wollte ich mich mit ihm versöhnen? Er hat sich ja noch nicht einmal bei mir entschuldigt!
Ich lache höhnisch auf und lehne mich an die Steinmauer. Und ich hab immer noch dieses bescheuerte Video. Ich nehme mein Handy aus der Tasche heraus und betrachte es, ohne es einzuschalten. Soll ich das Video löschen oder es einfach behalten? Ich habe keine Ahnung, was ich damit machen soll. Es wäre nur fair, es zu löschen, wenn Nicholas nun nichts mehr gegen mich benutzen kann. Aber was ist, wenn wieder etwas passiert? Dann hätte ich etwas ziemlich gutes in der Hand. Dann würde er mir nichts mehr tun.

In den nächsten Tagen lässt Nicholas mich in Ruhe. Es herrscht eine Eiseskälte zwischen uns. Aber er lässt mich in Ruhe. Zumindest vorerst. Ich hoffe, dass er es auch bleiben lässt.
Zu meinem Pech, scheinen unsere Lehrer es aber darauf abgesehen zu haben, dass wir ein Projekt zusammen bearbeiten. Und wie sollte es auch anders sein, muss ich mit Nicholas daran arbeiten. Ich würde meinen Kopf am liebsten gegen die nächste Wand knallen. Wieso hasst mein Leben mich nur so? Das ist echt unfair!
Als wäre das nicht genug, werden wir im Unterricht nicht fertig, weil Nicholas die einfachsten Aufgaben nicht kapiert, also müssen wir den Rest zu hause erledigen und am nächsten Tag abgeben. „Machen wir es im Park fertig?“, frage ich Nicholas also etwas unbehaglich. Ich möchte ihn nur ungern mit nach Hause nehmen oder zu ihm gehen.
Nicholas sieht mich verständnislos an. „Hast du schon mal nach draußen gesehen, du Blitzmerker? Es schüttet wie sonst was!“
Ich sehe nervös auf den Boden. Was sollen wir jetzt machen? Nicholas nimmt mir diese Entscheidung sofort ab.
„Wir gehen zu dir!“, fordert er mich erbarmungslos auf. Ich fühle mich, als würde ich augenblicklich versteinern. Das ist nicht sein ernst, oder?!
„Na los! Setz' dich in Bewegung, ich will den Scheiß noch heute fertig kriegen!“, knurrt er mich genervt an. Natürlich habe ich zu Tilo's Leidwesen immer noch nicht sehr viel Rückgrat entwickelt und gehe mit Nicholas Heim, ohne mich noch einmal zu beschweren. Klasse, Alan! Gut gemacht! Ich seufze und trotte lustlos hinter ihm her.

Bei mir zu hause angekommen, werden wir stürmisch von Monty begrüßt. Monty springt uns fröhlich an den Beinen hoch und scheint nach einigem schnüffeln Nicholas wieder zu erkennen. Jetzt lässt mich auch noch mein Hund im Stich. Super! Ich schleppe mich in mein Zimmer und Nicholas folgt mir ohne ein weiteres Wort. Er betrachtet die Wohnung, scheint jedes Detail in sich aufzunehmen. Als er das Chaos in meinem Zimmer bemerkt, bleibt er stutzend stehen.
„Du bist ein Genie und lebst in so einem Müllhaufen?!“, fragt er mich entsetzt und beginnt erst mal sämtliche Klamotten zusammenzuklauben. Verwirrt sehe ich ihn an. Ist er etwa ein Ordnungsfanatiker? Okay, ich hab mich auch über Tilo's Zimmer beschwert, dabei sieht meines kaum einen Deut besser aus. Wenn meine Mutter mal da ist, räumt sie manchmal ein bisschen auf, aber mehr auch nicht.
Ich setze mich aufs Bett und sehe Nicholas zu, wie er mein Zimmer aufräumt. Es ist ein komisches Gefühl, ihn in meinem Zimmer zu haben. Besonders weil wir seit Tagen nicht mehr miteinander geredet haben und er nun mit mir spricht, als wäre nichts gewesen. Tut er einfach so, als wäre nichts passiert? Das kann er nicht machen! Was ist mit mir? Ich muss das ein Leben lang mit mir herumtragen!
Als hätte er meine Gedanken gelesen, sieht er auf und schaut mir direkt in die Augen.
Zero's Worte hallen immer noch in meinem Kopf nach.
Er ist krank.
Er ist ein Stalker.
Er liebt mich.
Ich schniefe. „Man kann vergeben, nicht wahr?“, frage ich Nicholas und mir treten schon wieder Tränen in die Augen. „Auch wenn es hart ist und schmerzhaft.“ Nicholas sieht mich nur stumm an. „Aber wie soll ich dir vergeben? Du hast dich noch nicht einmal bei mir entschuldigt. Ich hasse dich und hab angst vor dir, aber...“, ich breche ab. Was soll ich sagen? Dass er mir auch Leid tut? Das mit seiner Familie hat mich auch nicht mehr losgelassen, aber was soll ich denn schon sagen? Ich lebe auch nicht in einer perfekten Familie. Wer tut das schon? Perfekt wird heutzutage überbewertet. Es gibt kein Perfekt! Das ist eine Einbildung, eine Entschuldigung. Damit wir weiterhin durch unsere rosa Brille die Welt betrachten können.
„Du hättest mir nie etwas angetan, wenn ich mich nicht geoutet hätte, nicht wahr?!“, frage ich ihn heulend. „Was ist so schlimm daran, dass ich schwul bin? Das macht mich nicht zu einem Aussätzigen! Ich bin auch nur ein Mensch!“, jammere ich ihm entgegen. Tränen laufen mir heiß über mein Gesicht.
Endlich ist es mal raus!
Ich habe endlich mal meinen Mund aufbekommen!
Nicholas sagt nichts. Starrt mich nur weiterhin emotionslos an. Er erhebt sich und baut sich bedrohlich vor mir auf. Er sieht auf mich herunter und ich verspanne mich sofort. Diesen Ausdruck hat er immer, wenn er etwas furchtbares mit mir anstellt. Doch nichts passiert. Ich sehe ihn an, wende meinen Blick nicht von ihm.
„Wieso darf jemand wie du offen zu seiner Sexualität stehen und ich nicht?! Wieso werde ich misshandelt für meine Neigung? Was hast du, was ich nicht habe?!“, erst leise wird er immer lauter und brüllt mich letztendlich an. Ich zucke zusammen. Er sieht mich hasserfüllt an. Dann dreht er sich auf dem Absatz um und schnappt sich seinen Rucksack. Er verschwindet polternd aus dem Haus und lässt mich mit unserem Projekt allein zurück.

Ich sitze bis tief in die Nacht an den Aufgaben, die ich nun alleine machen muss. Immerhin möchte ich trotzdem keine schlechte Zensur einheimsen. Allerdings gleiten meine Gedanken immer wieder zu Nicholas. Er hat mir indirekt gestanden, dass er ebenfalls schwul ist. Nur, was heißt das jetzt für mich? Das macht uns noch lange nicht zu freunden. Er hat mich misshandelt und ich weiß nicht, ob es daran liegt, dass es ihm ebenfalls passiert ist, oder ob er eifersüchtig ist, dass ich mich so offen geoutet habe. Ich weiß einfach nicht, was ich tun soll. Soll ich es einfach darauf beruhen lassen? Wahrscheinlich wäre es das beste. Das Beste für wen? Für mich? Für Nicholas?
Angestrengt kaue ich auf meinem Kugelschreiber herum. Mit ihm reden kann ich auch nicht, er lässt es nicht zu. Jedes mal rennt er weg, wenn es heikel wird. Ich will ihm nicht hinterher laufen. Ich bin hier das Opfer! Wieso muss ich mich um meinen Peiniger kümmern? Das hab ich nicht nötig! Und doch lässt es mich einfach nicht los.
Tilo wird mich für verrückt halten, wenn ich es ihm erzähle. Ich bin froh, dass wir uns vertragen haben, aber es wird noch ein wenig dauern, bis es wieder so wird, wie es einmal war. Es ist für uns beide nicht sehr einfach. Aber wir müssen uns einfach die Zeit dazu nehmen, egal wie lange es sein wird. Dasselbe müssen Nicholas und ich machen.
Die Zeit heilt alle Wunden. Ich frage mich, ob an diesem Spruch etwas Wahres dran ist. Ich hoffe es so sehr!

Ich habe Nicholas nicht verpfiffen, obwohl ich allen Grund dazu gehabt hätte. Für das Projekt bekommen wir beide eine ziemlich gute Note bekommen und ich bin soweit zufrieden.
In der Pause sitze ich wieder in meiner Ecke und blicke auf, als ich den Schatten auf mir wahrnehme.
„Das hättest du nicht machen müssen.“, meint er und sieht mich auffordernd an. Ich nicke.
„Hätte ich nicht, aber ich habe es getan.“, erwidere ich. Er steht vor mir und scharrt mit den Schuhen im Kies. Ich beobachte ihn dabei. Er schaut kurz auf und sieht sich auf dem Schulhof um, als würde er nach etwas suchen. Dann sieht er wieder zu mir.
„Ich hab's gemerkt, als ich...“, begann er, brach aber sofort ab. Er druckste etwas herum. Ich ließ ihm zeit, was sollte ich auch anderes machen?
„Ich weiß auch nicht, ich hab mich dabei erwischt, wie ich immer wieder Männern nachgesehen habe. Anfangs dachte ich mir nichts dabei, aber als ich merkte, dass ich für Mädchen nicht so viel übrig hatte, hab ich mich halt anderweitig umgesehen und war nur mit den Mädels zusammen, um den Schein zu wahren. Das erste Mal hab ich mit 'nem Kerl geschlafen, der eine zeit lang hier in der Nähe, als Stricher gearbeitet hatte, bis er festgenommen wurde. Von da an, wusste ich, dass ich auf Kerle stehe. Ich hab es meinen Eltern erzählt. Mein Vater gab meiner Mutter die Schuld und hat sie geschlagen. Ich hab versucht, sie vor ihm zu beschützen, aber dann hab ich seine Schläge abgekriegt. Ständig war die Polizei bei uns, bis es irgendwann eskaliert ist. Er sitzt jetzt im Gefängnis. Als du dich in der Schule geoutet hast, fand ich es schon echt mutig von dir. Aber ich hab halt gemerkt, dass du eigentlich ohne Probleme klar gekommen bist. Das habe ich nicht verstanden. Ich war wütend auf dich. Ich wollte nicht, dass du es so einfach hast und ich so leiden musste. Ich habe mir anfangs nur Spaß draus gemacht und ich weiß, dass ich zu weit gegangen bin. Ich weiß nicht, wie du an meine Sachen ran gekommen bist, aber ich hab's erst da begriffen, was ich die ganze Zeit für eine Scheiße gemacht hab.“, erklärt Nicholas mir.
Es ist schwer ihm zuzuhören, weil er alles ohne Punkt und Komma erzählt. Ich nicke, auch wenn es mir schwerfällt, sein Handeln zu verstehen. Das gibt ihm nun mal nicht das recht, mir so weh zu tun. Ich knabbere auf meiner Unterlippe und grüble, was ich machen soll. Ich schließe meine Augen und hole tief Luft. Ich weiß nicht, ob es eine gute Entscheidung ist, egal, versuchen kann man es ja mal.
Ich sehe Nicholas an und strecke ihm meine Hand entgegen.
„Hi, mein Name ist Alan Mealing. Ich bin schwul und ich weiß, dass du in mich verliebt bist.“
Nicholas sieht mich überrascht an. Er greift zögernd nach meiner Hand und schüttelt sie. „Nicht in dich, in dein Frühstück.“, meint er neckend. Ich muss lächeln. Ich schnappe mir meinen Rucksack und krame darin herum. Ich reiche ihm eine Brotdose.
„Was soll das?“, fragt er mich verwirrt.
„Ich weiß doch wie sehr du meine Kochkünste liebst. Also hab ich dir auch was gemacht, damit ich auch mal morgens etwas in den Magen kriege.“, meine ich schulterzuckend. In meinem Bauch kribbelt es und mein Herz klopft ziemlich ungesund. Es ist beinahe wie damals, als wir uns noch normal unterhalten haben. Ich sehe zu Nicholas, der sich neben mich setzt und die Dose neugierig öffnet. Seine Augen leuchten, das merke ich, als er den Inhalt betrachtet. Ehe ich es mich versehe, ist er auch schon dabei das Mahl zu vertilgen. Zufrieden isst er alles komplett auf und gibt mir die Dose zurück. Er lehnt sich nach hinten und betrachtet das Treiben auf dem Schulhof.
„Wir haben gleich Sport.“, meint Nicholas. Ich nicke nur und knabbere noch genüsslich an meinem Brot. Er betrachtet mich von der Seite.
„Hast du Lust auf eine andere Art von Sport?“, er sieht mich breit grinsend an. Ich zucke zusammen. Fängt er etwa schon wieder damit an?! Ich sehe ihn stur an.
„Ich dachte, dass hätten wir geklärt?“, frage ich Nicholas skeptisch. Er nickt mir zu.
„Haben wir auch. Ich hatte da eher an harmlosen Sex gedacht.“ Er sieht mich geradeheraus an und ich verschlucke mich beinahe an meinem Frühstück. Ich huste und sehe ihn überrumpelt an.
„Meinst du das ernst?“, frage ich zögerlich. Ich will nicht schon wieder auf irgendeinen Mist herein fallen. Mir wird ganz heiß im Gesicht. Wie kann er so etwas einfach so locker daher sagen?
Er springt auf und wischt sich unsichtbaren Dreck vom Hintern. „Komm, lass uns schwänzen!“, meint Nicholas und hält mir die Hand entgegen.
„Ich will da nicht mehr hin!“, erwidere ich keifend. Nicholas lässt seine Hand sinken und kommt näher zu mir, bleibt zwischen meinen Beinen stehen. Er ist nah, zu nahe!
„Es klingelt gleich. Lass uns lieber etwas Spaß haben.“, meint Nicholas ruhig und geht vor mir in die Knie. „Gib's zu, du hast dir auch schon mal vorgestellt, wie es mit mir ist!“
„Was redest du da? So was mache ich nicht!“, wehre ich hastig ab. Genau in dem Moment klingelt es und als ich mich erheben will, hält Nicholas mich zurück.
„Du solltest mal mehr aus dir herauskommen, probiere einfach mal irgendwas hirnrissiges aus!“, fordert er mich auf. Ich sehe ihn skeptisch an. Für ihn ist es ein Zeichen, mich einfach zu packen und über die Schulter zu werfen.
„Whoa! Was wird das?! Lass mich nicht los, Nicholas!“, jammere ich, als ich plötzlich über seiner Schulter hänge. Hoffentlich falle ich nicht herunter! Ich kralle mich in seine Jacke und halte mich an seinem Rücken fest. Panisch sehe ich nach hinten zu ihm. „Nicholas!“
Der grinst lediglich, packt meinen Rucksack und schleppt mich quer über den inzwischen leeren Schulhof, rüber zur Sporthalle. Dahinter lässt er mich zu Boden, wo ich erst mal ein paar Schritte zurück gehe und ihn misstrauisch beobachte. Er lässt meinen Rucksack herunter gleiten und kommt einem Puma gleich, geschmeidig auf mich zu. Ich verspanne mich leicht. Nicholas bleibt vor mir stehen und greift locker nach meinen Armen, fährt daran auf und ab. Er beugt sich leicht vor und ich spüre seinen heißen Atem an meinem Hals. Ich schrecke leicht zusammen und im nächsten Moment spüre ich seine weichen Lippen auf meinem Nacken. Eine Gänsehaut überkommt mich. Ich kralle meine Hände wieder in Nicholas Jacke.
„Macht man so was nicht eigentlich mit jemandem den man liebt?“, frage ich ihn und kneife leicht die Augen zusammen, als er an meinem Hals knabbert.
„Hm? Mach ich doch gerade.“, meint Nicholas ungerührt und bei seinen Worten, weiß ich gar nicht mehr, was ich tun soll. Gerade will ich etwas erwidern, als seine Hände frech auf Wanderschaft gehen. Er presst sich näher an mich und ich schrecke auf, als ich seine Hände an meinem Hintern spüre. Er beginnt ihn zu massieren und ich seufze. Mal wieder erschrecke ich mich über mein eigenes Handeln, das praktisch gar nicht vorhanden ist. Wieso lasse ich ihn gewähren? Okay, ich geb's zu, es lässt mich nicht kalt, wenn er mich berührt. In Sachen Sex mit einem Mann bin ich praktisch noch Jungfrau, auch wenn ich schon welchen mit meiner Freundin gehabt habe. Der allerdings auch schon ziemlich lange her ist. Jetzt denke ich schon wieder zu viel nach, während Nicholas seinen Spaß an mir hat. Und dummerweise regt sich auch langsam etwas bei mir. Wieso muss dieser Junge nur so geschickt sein, woher kennt er auf einmal die Stellen, an denen es mir besonders gut gefällt angefasst zu werden?
„Nicholas.“, keuche ich und zu meinem Entsetzen machen sich meine Hände ebenfalls selbstständig. Hat sich jetzt alles gegen mich verschworen? Sogar mein Körper lässt mich im Stich! Nicholas schiebt mich langsam an die kalte Mauer. Ich stolpere und halte mich an ihm fest, sehe zu ihm auf und direkt in seine dunklen Augen, in denen ich zu versinken drohe.
Ich lege meine Hand auf seine Wange und automatisch senkt er seinen Kopf, genießt diese kleine Liebkosung. Meine Hand wandert weiter hinunter zu seinem Hals und mit meinen Fingerkuppen spüre ich die warme Haut. Ich streife weiter zu Nicholas Nacken und ziehe ihn langsam zu mir herunter. Ich strecke ihm leicht meinen Kopf entgegen und öffne unbewusst meine Lippen ein kleines Stück. Ich sehe, wie er sich über die Lippen leckt und nur noch Zentimeter trennen uns von unserem ersten richtigen Kuss.
Es ist ganz anders, als ich es mir vorgestellt habe. In meinem Bauch kribbelt es und ich habe das Gefühl neben mir zu stehen. Mein Verstand hat sich nun vollends verabschiedet und ich konzentriere mich ganz auf unseren Kuss.
Mutig erwidere ich die Berührungen seiner Lippen und lasse Nicholas vorwitzige Zunge in meinen Mund gleiten. Es wird ein regelrechtes Gerangel, um das Territorium, bei dem keiner von uns gewinnt.
Er schnappt frech nach meinen Lippen und ich höre sein leises keuchen. „Nicholas.“, hauche ich atemlos und lasse ihm kaum eine Gelegenheit seinen Kopf zurückzuziehen. Von seinen Lippen kann ich gar nicht genug bekommen und in mir steigt die Hitze auf, macht sich in meinem ganzen Körper breit und unweigerlich auch in meiner Körpermitte.
Nicholas spürt es und grinst in den Kuss hinein. Er öffnet den Reißverschluss meiner Jeans und geht ein Stockwerk tiefer in die Hocke. Direkt vor meinem Schritt, was mir die Röte ins Gesicht schießen lässt. Er schiebt mein Hemd etwas hoch und küsst meinen Bauch. Ich stöhne und er befreit mich endlich von meinen lästigen Klamotten. Fahrig greife ich in seine Haare, während es sich nun ebenfalls von seiner Hose befreit. Dann steht er auf und küsst mich noch einmal kurz, ehe er mich umdreht und an die kalte Wand presst. Ich spüre seine Finger, das Gleitgel und wie er schmerzhaft in mich eindringt. Erst nach einiger Zeit gewöhne ich mich an das neue Gefühl. Die schmerzliche Süße, zusammen mit dem Gefühl jederzeit erwischt zu werden treiben mich schier in den Wahnsinn.

Ich liege abends im Bett und sinniere über den Tag. Ich habe das Gefühl, mein Kopf ist leer. Noch immer kann ich nicht klar denken. Ein einziger Gedanke geht mir die ganze Zeit durch den Kopf. Ich kann an nichts anderes denken, als an den Sex mit Nicholas. Wir zwei Idioten haben uns das Hirn raus gevögelt und hatten auch noch beide unseren Spaß daran gehabt!
Ich hätte nie gedacht, dass ich zu so etwas mal fähig wäre. Es ist ein komisches Gefühl. Unsere Verabschiedung fiel auch irgendwie karg aus. Ein paar Küsse und dann ist jeder von uns beiden seines Weges gegangen. War's das jetzt? So endgültig?
War der Sex nur eine Art Abschluss des ganzen Martyriums? Ich seufze und drehe mich auf die Seite. Mein Handy beginnt leise eine Melodie vor sich hin zu trällern und erledigt greife ich danach. Ich grinse und nehme ab.
„Hey.“, murmele ich müde.
„Hi, wie geht’s dir?“
„Mein Hintern tut weh, aber sonst geht’s so. Woher hast du meine Nummer?“, frage ich neugierig.
„Wir wohnen hier am Arsch der Welt, hier kennt jeder jeden und ich kenne deine Exfreundin. Hab sie wegen der Nummer ausgequetscht.“, meint Nicholas ungerührt.
„Du schreckst auch vor gar nichts zurück.“, erwidere ich grinsend. Ich habe langsam das Gefühl, dieser Kerl wird sich nie ändern. Ich sehe an die Zimmerdecke und jammere leise vor mich hin, als ich auf dem Rücken zum Liegen komme.
„Wieso rufst du an?“, frage ich nervös und nestele an meiner Bettdecke herum.
„Weiß auch nicht. Wollte halt deine Stimme hören und wissen wie es dir geht.“, erklärt er hastig. Ich schließe meine Augen und atme tief durch. Ich möchte gerade etwas antworten, als er mich unterbricht.
„Kommst du morgen zu mir?“, fragt er hoffnungsvoll. Ich schweige überrascht. Habe ich gerade richtig gehört? Hat er mich tatsächlich zu sich nach Hause eingeladen?
„Also, wenn du nicht magst, dann ist das okay.“, meint er noch schnell.
„Doch.“ Ich halte kurz inne. „Ich komme gern.“
Ich lege kurz danach auf und in meinem Bauch rumort gerade ein Düsenjet. Ich werde sehen, wie Nicholas lebt, wie sein Zimmer aussieht. Ich werde seine Mutter kennenlernen und seine ältere Schwester, die in Niedersachsen lebt, kommt demnächst auch zu besuch.
„Hey, Monty!“ Ich lege mich wieder auf die Seite und sehe auf den Boden. Monty liegt vor meinem Bett und hebt nur kurz den Kopf. „Wenn du dich je verlieben solltest, sei nett zu der Dame, okay?“

Am nächsten Tag habe ich zum Glück frei. Dank der Grippewelle fehlen einfach zu viele Lehrer. Ich springe hastig aus dem Bett, da ich meinen Wecker überhört habe und vollführe beinahe einen Salto, weil ich mich in der Bettdecke verfangen habe. Ich fluche leise und befreie mich genervt. So schnell ich kann, schnappe ich meine Klamotten und laufe ins Badezimmer. Danach füttere ich Monty und binde ihm die Leine um, nebenbei streife ich mir meine Schuhe über und ziehe meine Jacke an. Komplett fertig, zerre ich Monty hinter mir her, der ausgerechnet heute überhaupt keine Lust auf einen Spaziergang hat. Also schleife ich ihn notgedrungen hinter mir her. Alle paar Meter müssen wir anhalten, weil er an einem Grashalm oder einer Blume schnüffeln muss.
„Mach schon, Monty. Ich will heute noch mal ankommen!“, murre ich und trete ungeduldig von einem Fuß auf den anderen. Nach einer schier unendlichen Zeit, kommen wir endlich an. Nervös klingele ich an der Haustür. Ich höre von drinnen Geräusche und ich werde immer nervöser. Die Tür öffnet sich und ich muss schlucken.
„Hey! Schön, dass du gekommen bist.“
Das erste Mal, seit langer Zeit, sehe ich Nicholas mit einem atemberaubendem Lächeln im Gesicht. Und es gilt nur mir!

Epilog: Zurück auf Los!



Ich liege auf Nicholas Bett. Er liegt neben mir und schläft. Ich betrachte ihn, streiche durch seine dunklen Haare und fahre hauchzart mit meinen Fingern über seine Haut. Es ist ein komisches Gefühl, hier zusammen mit ihm zu liegen. Noch vor kurzem hätte ich nie im Traum daran gedacht, jemals mit ihm zusammen zu sein. Ich hätte auch nicht gedacht, dass ich ihm jemals vergeben würde. Es ist immer noch schmerzhaft, daran zurück zu denken. Es wird dauern, bis ich es überwunden habe.
Nicholas regt sich leicht im Schlaf und öffnet blinzelnd die Augen.
„Du bist noch wach?“, murmelt er verschlafen und sieht zu mir auf. Ich lächle ihn an und nicke. Ich beuge mich zu ihm herunter und küsse ihn sanft auf die Wange.
„Konnte noch nicht schlafen.“, meine ich nur und schmiege mich an seinen warmen Körper. „Zähl Montys, vielleicht kannst du dann schlafen.“, erwidert Nicholas müde und zieht mich näher an sich heran. Ich muss kichern und als ich es mir bildlich vorstelle, lache ich laut auf.
Nicholas grinst breit und schließt wieder seine Augen. „Wird wohl nichts mit schlafen heute. Hast du Lust auf eine zweite Runde?“, fragte er mich und sieht mich an. Ich schüttele immer noch lachend den Kopf. „Später.“ Er stupst meine Nase mit seiner an und fährt mit seiner Hand über meinen nackten Körper. Es kribbelt angenehm dort, wo er mich berührt.
„Es tut mir Leid.“ Ich sehe ihm in die Augen. „Was?“, flüstere ich. „Dass ich dir so weh getan habe damals. Ich bin ein Arsch!“, erklärt er. Ich nicke. „Das bist du wirklich.“, stimme ich ihm zu.
Er sieht mich gespielt böse an. Ich grinse frech zurück. „Ich sehe schon, wenn das so weiter geht, hast du bald in unserer Beziehung die Zügel in der Hand.“
Beziehung. Ein komisches Wort. „Sind wir schon in einer Beziehung?“, frage ich ihn. „Glaub schon. Irgendwie so etwas.“, meint Nicholas und gähnt herzhaft. „Hm.“ Ich beobachte ihn und nicke bedächtig. Ich schließe müde meine Augen.
„Ich liebe dich.“
„Ich weiß.“, antworte ich ihm.
Irgendwann werde ich es ihm auch sagen können.
Da bin ich mir sicher...

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Tag der Veröffentlichung: 01.03.2012

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