Wer Fehler findet, kann sie behalten.
Ich würde mich aber über Kommentare und Kritiken zum Inhalt freuen.
Leandro lief mit schnellen Schritten auf das Haus zu. Nun, der Begriff „Haus“ war vielleicht nicht ganz treffend. Es war eher eine Art riesige Villa. Doch es war ganz sicher nicht das, was man sich unter „Villa“ in der Regel vorstellte. Die unzähligen Fenster waren verdunkelt mit schweren Vorhängen, der Garten war voller Unkraut und hatte wohl schon lange keinen Gärtner gesehen und die Außenfassade war fast bis zur zweiten Etage von Wildpflanzen überwuchert. Der Zaun war mit Stacheldraht versehen, doch an einigen Stellen war dieser durchgerissen, als wäre ein Riese vorbeigelaufen und hätte seine Schere am Draht ausprobiert. Trotzdem verstrahlte dieses Gebäude etwas Herrisches aus. Man fühlte sich, so lächerlich es auch klingen mochte, klein und unbedeutend.
Inzwischen war Leandro sich nicht mehr so sicher, ob er sein Gehalt auch tatsächlich erhalten würde, aber eigentlich war ihm das nicht sonderlich wichtig. Es ging ihm vielmehr darum, dass er für die nächste Zeit ein Dach über dem Kopf hatte und er brauchte einfach nur irgendjemanden, der ihm dreimal täglich eine Mahlzeit geben konnte, ob warm oder kalt war ihm eigentlich nicht wirklich wichtig. Für jemanden wie ihn, der sein Leben lang stets mit schiefen Blicken gemustert und dann ignoriert oder gehänselt worden war, spielte die Temperatur der Mahlzeit nur eine sehr geringe Rolle, wichtig war nur, dass er überhaupt eine bekam.
Er erreichte eine kleine Treppe, die zur Eingangstür führte. Diese war wohl auch für besonders breitschultrige und große Männer etwas angsteinflößend. Einen Moment zögerte er. Das hier war ein großartiges Angebot. Es würde ihm eine hohe Rente bringen, selbst wenn er nach einigen Jahren gefeuert werden sollte. Das hier sicherte ihm nicht nur seine Gegenwart, es würde auch seine Zukunft sichern. Aber war es wirklich das, was er tun wollte? Das interessiert dich jetzt nicht, Leandro,
sagte er sich selbst. Wichtig ist nur, dass du die nächste Zeit sicher bist. Diese Leute hier könnten dir eine neue Zukunft eröffnen!
Leandro sog die Luft tief ein und ließ sie dann schnell und auf einen kurzen Stoß entweichen. Schon nach einigen Sekunden hatte er sich vollkommen beruhigt, Nervosität war verflogen und er hatte vollständig die Kontrolle über seine Gesichtszüge. Seine Hand hob sich und er wollte klingeln. Erst jetzt besser, bemerkte er, dass es an dieser Tür, oder besser, an diesem Tor
, keine Klingel gab. Irritiert trat er einige Schritte zurück und ließ seinen Blick langsam nochmal über die Tür gleiten, doch so sehr er sich auch bemühte, er fand einfach nichts, was auch nur annähernd an eine Klingel erinnerte. Schon am Gartentor hatte er sich gewundert. Da hatte er jedoch einfach das Tor durchschritten ohne sich groß einen Kopf darum zu machen. Da das Tor nicht abgeschlossen war, sollte sich hinterher auch niemand bei ihm dafür beschweren. Aber jetzt konnte er ja schlecht ins Haus hinein spazieren.
Erst jetzt fiel ihm ein Türklopfer auf. Beinahe hätte er laut über sich gelacht. Wie konnte man so blöd sein und einen Türklopfer übersehen? Schnell trat er davor, hob das schwere eiserne Ding und ließ es fallen. Er stöhnte leise auf. Gott, war das schwer! Im Haus gab es eine Art Echo, das in ein schnelles, immer lauterwerdendes Trippeln überging.
„Sie wünschen?“, fragte ihn eine junge Frau, gänzlich in den Klamotten der Bediensteten aus irgendeinem Film mit Königen, Rittern, Prinzessinnen und ähnlichen Leuten. Das Einzige, was wirklich merkwürdig war, war, dass sie eine Sonnenbrille trug, die ihre Augen vollständig versteckte und die sicherlich nicht zu der restlichen Kleidung passte.
„Ähm“, Leandro stockte kurz, doch er fing sich sofort wieder. „Ich heiße Leandro Patenrogo.“
Einige Momente lang stand im Gesicht des Dienstmädchens die Frage „Wer hat denn heute noch solche merkwürdige Nachnamen?“, doch das änderte sich bald in ein „Was zum Teufel will dieser Typ denn hier?“. Leandro lächelte freundlich. „Ein gewisser Leo White hat mich hierher gebeten. Ich soll mich um seine Kinder kümmern.“ Jetzt stand im Gesicht des Mädchens: „Leo White? Wer ist das?“ Leandro versuchte fast krampfhaft sein Lächeln aufrecht zu erhalten. „Ähm, sind Sie sich sicher?“ Inzwischen hatte Leandro das Gefühl, die Schwerkraft drücke ihm seine Mundwinkel runter. Er wehrte sich dagegen und antwortete dem Mädchen mit einem kurzen „Ja!“ – zu mehr fühlte er sich momentan einfach nicht im Stande.
„Lassen Sie ihn bitte rein, Dacia, ich habe ihn hergebeten“, tönte plötzlich der Türrahmen. Schockiert trat Leandro einige Schritte zurück, er konnte sich nicht vorstellen, warum ein Türrahmen mit metallischer Stimme einem Dienstmädchen Befehle erteilen sollte, doch dann sah er, dass auf Augenhöhe eine Sprechanlage ins Holz des Rahmens eingebaut war. Er stellte fest, dass zwei Dinge ihn stark irritierten, erstens war die Anlage im Holz vollständig eingearbeitet und war auch noch im gleichen Farbton wie das Holz des Rahmens, sodass man die Anlage fast nicht sah und zweitens befand sich dieses merkwürdige Ding etwas oberhalb des Türschlosses und das war ja nun nicht gerade ein Ort, wo man seine Türsprechanlage einbaute.
Äußerlich ließ er sich jedoch nichts von seinen Gedankengängen anmerken. Stattdessen fragte Leandro vorsichtshalber: „Sind Sie Leo White?“ – „Das ist…“ die Stimme lachte plötzlich leise, „…eines meiner…“ jetzt zögerte die Stimme, „…nun ja,… Pseudonyme, wenn man es so ausdrücken darf.“ Auf einmal kam ein Gefühl, nein, eher ein Bedürfnis in Leandro hoch – es war das Bedürfnis auf dem Absatz kehrt zu machen, zu fliehen, bevor es zu spät war. Er wusste nicht wovor er so unbedingt wegrennen wollte, doch das schien sein Unterbewusstsein nicht zu stören. Das Einzige, was ihn davon abhielt fortzulaufen war die Verlockung auf ein hohes Gehalt und die Vorstellung, einige Jahre in dieser Villa kostenlos zu schlafen und zu essen, sprich gratis in einer Art Traumhaus zu wohnen. Okay, zugegeben, ein recht heruntergekommenes Traumhaus, aber immerhin.
„Bitte folgen Sie mir“, forderte Dacia ihn auf und er durchschritt, etwas zögerlich, das Eingangsportal, unwissend, dass er nie wieder würde umkehren können.
Dacia führte ihn durch unzählige Flure, Zimmer und sogar Säle. Es verwirrte ihn, dass sie den Überblick behielt und mehr als einmal hatte er das Gefühl, hier bereits schon gewesen zu sein. Endlich blieb sie vor einer recht eindrucksvollen großen Tür stehen und klopfte.
„Herein“, ertönte eine ruhige Stimme aus dem Inneren. Leandro verschlug es die Sprache. Er kannte die Stimme, denn er hatte sie unzählige Male auf CD und Video gehört. Als er noch in der Schule gewesen war, hatte er einen Theaterkurs besucht und dort hatten sie ihre Ergebnisse stets auf Video und manchmal auf CD aufgenommen. Diese Stimme kannte er daher. Wenn es die Stimme eines Bekannten gewesen wäre, hätte er die Kontrolle über seine Stimme nicht verloren. Doch diese Stimme gehörte keinem alten Freund oder so, diese Stimme war seine Stimme.
Leandro atmete tief ein und aus, versuchte sich wieder vollständig in den Griff zu bekommen. Es gibt manchmal Leute, die haben ähnliche Stimmen
, dachte er, doch wieder war das Unterbewusstsein anderer Meinung. Es war fast so, als hörte er die Stimme seines Unterbewusstseins, wie es sagte, Lächerlich, du weißt ganz genau, dass eine so große Ähnlichkeit kein Zufall sein kann!
Dacia öffnete die Tür und wies ihm einzutreten. Wieder sträubte sich etwas in ihm tief drinnen. Dieses Etwas wollte so schnell wie möglich weg von hier. Kurz schüttelte Leandro den Kopf, er zwang sich durch die Tür zu gehen, er wollte wissen, wer da mit seiner Stimme sprach. Seine Neugier war größer als seine Vorsicht, war größer als seine Furcht.
Manchmal steht man fassungslos da und fragt sich, was man eigentlich falsch gemacht hat, was man eigentlich verbrochen hat, dass so etwas passieren konnte, dass Gott, falls er tatsächlich existierte, einem so etwas antat. Ich habe mich das nie gefragt. Nicht weil ich keine Fehler gemacht hätte, nicht weil ich perfekt wäre, Gott behüte, das ist ganz und gar nicht so. Aber ich weiß ganz genau, warum ich mich jetzt in dieser Lage befinde. Denn dieser Fehler vor fast einem Jahr, dieser Fehler war der Beginn, der Auslöser, wie auch immer man es nennt, für all die Probleme, die ich jetzt habe. Und im Gegensatz zu den meisten Menschen weiß ich ganz genau, wie ich es hätte rückgängig machen können. Doch jetzt ist es zu spät.
Als Leandro den Raum betrat, war er nicht sonderlich überrascht, dass der Raum abgedunkelt war. Er hatte in diesem Haus einfach schon zu viele Merkwürdigkeiten erlebt.
Vor sehr langer Zeit, er war damals vielleicht acht oder neun Jahre alt gewesen, hatte ihm einmal jemand eine Tracht Prügel versetzt, weil er seine ehrliche Meinung zu einem Bild abgegeben hatte. Er hatte damals einfach doppeltes Pech gehabt, zum einen, weil er zu ehrlich war und zum anderen, weil er neben dem Künstler gestanden hatte. Aus dieser Episode hatte er eine Lektion gelernt. Man war frei zu denken
aber nicht frei, was Sprache, Stimme, Mimik und Gestik anging. Das war einer der Gründe gewesen, warum er den Theaterkurs besucht hatte. So hatte er gelernt sein Äußeres vom Inneren zu trennen.
Diese Situation damals hatte zwar wenig mit der jetzigen zu tun, aber aus irgendeinem Grund musste er immer daran denken, wenn er Innerlich das Gegenteil vom Äußeren war. Gleichzeitig erinnerte er sich daran, in einem Zeitungsausschnitt vor etwa fünf Jahren gelesen zu haben, dass jener „Künstler“ von damals wegen Gewalttätigkeiten auf einer Ausstellung im Gefängnis saß. Da war wohl jemand anderes ehrlich gewesen...
Leandro atmete wieder tief durch, diesmal ging es nicht darum nicht verprügelt zu werden, diesmal ging es darum seinen Arbeitsgeber von seinen Qualitäten zu überzeugen. Es durfte ihn nicht interessieren, was der Mann für merkwürdige Eigenschaften und Angewohnheiten hatte.
„Guten Tag“, begrüßte Leandro den anderen Mann in diesem Raum. Er konnte ihn nicht sehen, doch er konnte sich denken, dass er in dem Sessel saß, der mit der Rückenlehne in Leandros Richtung gedreht war, so dass man nicht sehen konnte, ob und wer dort saß.
„Hallo, Leandro, ich bin Kevin Nogorpate. Freut mich dich kennen zu lernen. Nenn mich bitte Mr. Spider.“ Leandro ignorierte die Tatsache, dass er geduzt wurde und antwortete stattdessen so freundlich es ging: „Freut mich ebenfalls. Ich hoffe ich kann Ihren Ansprüchen gerecht werden. Natürlich werde ich mein Bestes ge...“ Mr. Spider, Nogorpate, wie auch immer, unterbrach ihn. „Lass das Rumschleimen, es nervt. Aber ich möchte, dass du eines weißt. Du bist nicht hier, um den ,Job' zu bekommen. Du bist hier, um mir meinen Sohn wiederzugeben. Haben wir uns verstanden?“ Mit den letzten Worten wirbelte er herum und zeigte Leandro sein Gesicht.
Leandro sog die Luft scharf ein und seine Augen weiteten sich. Sein Verstand hatte die Worte Nogorpates noch nicht verarbeitet, doch seine Augen teilten dem überlasteten Gehirn etwas mit, was sämtliche Sicherungen im Gehirn durchbrennen ließ. Der Mann hatte einen prächtigen Schnurrbart und etwas längere Haare als Leandros. Außerdem hatte Nogorpate keine gebrochene Nase. Doch ansonsten war er genau das, was Leandro in ein paar Jahren sein würde - äußerlich zumindest. Die gleichen Augen, die gleiche Haarfarbe, die so einzigartig waren, denn es war eine sehr seltene aber schöne Farbe, etwas zwischen Bronze und Gold, aber ohne das sonst oft vorhandene nervige Glitzern. Wie war das möglich?
„Überrascht?“, fragte er lachend. Dieses Lachen war durchaus ernst gemeint, aber es jagte Leandro einen Schauer über den Rücken und er hatte das Gefühl, dass in diesem Raum die Temperatur drastisch gesunken war. „Um es komplett zu machen setze ich jetzt noch einen drauf." Nogorpate lachte wieder sein kaltes Lachen. „Leandro, ich bin dein Vater und ebenfalls der Vater deines toten Zwillingsbruders. Du wirst den Platz deines Bruders einnehmen. So tun, als wärst du er." Leandro schluckte, er konnte noch nicht alles verdauen. „Und wenn ich mich weigere?", fragte, nein krächzte, er vorsichtig und leise.
Nogorpate schnaubte. „Andernfalls“, er zog plötzlich eine Waffe und richtete sie auf Leandros Brust, „wirst du deinem Bruder Gesellschaft leisten.“
Dacia setzte die Sonnenbrille ab und strich sich durch die langen Haare. Sie mochte ihren Chef nicht wirklich, er stellte immer so merkwürdige Forderungen. Zum Beispiel sollte sie beim Empfangen der Gäste immer diese merkwürdige Brille aufsetzen, obwohl sie überhaupt nicht zur Dienstuniform, die ebenfalls eine dieser Forderungen waren, passte. Oder sie sollte das Essen erst abkühlen lassen und dann wieder aufwärmen. Das war doch so was von schwachsinnig!
Andererseits waren ihr diese Forderungen lieber als die Geschichten, die einige Freundinnen von ihr manchmal erzählt hatten. Oft wurde ihr allein vom Zuhören schlecht. Dass die Freundinnen das nicht sonderlich störte, konnte Dacia nicht verstehen. Oft hatte das zu Freundschaftsbrüchen geführt. Dacia ließ niemals zu, dass jemand sie sexuell belästigte und das zeigte sie auch, nicht gerade sanft. Und das wiederum konnten die Anderen oft nicht verstehen. Naja, mit dem dritten Dan in Karate und außerdem einiger Erfahrung mit Waffen hatte sie noch Jeden von dummen Gedanken abgehalten.
Auf diese Weise hatte sie es bisher immer geschafft Problemen mit ihren Vorgesetzten aus dem Weg zu gehen oder sie zu beseitigen. Doch das Problem, das sie mit Kevin Nogorpate hatte, konnte sie nicht ganz verstehen und deswegen konnte sie es auch nicht „beseitigen". Sie empfand etwas für ihn, das sie nicht benennen konnte, sie wusste nur, dass es negativ war.
Etwas krachte. Dacia wirbelte herum. Das Geräusch kam aus dem Arbeitszimmer. Sie rannte den Flur zurück. Im gleichen Moment, in dem sie die Tür erreichte, ertönte ein Schuss. Dann ein Schrei. Und noch ein Schuss. Und noch einer. Und noch einer. Und immer wieder Krachen.
Wie angewurzelt stand Dacia da. Als sie sich endlich gefasst hatte, streckte sie die Hand aus. Ihre Hand rüttelte an der Klinke doch die Tür gab nicht nach. Einige Momente lang rüttelte sie noch, dann drehte sie sich um und rannte in Richtung einer der Abstellkammern. Dort war eine Axt oder ein Hammer oder so. Dann könnte sie die Tür öffnen. Plötzlich blieb sie stehen. Ihr fiel ein, dass jemand geschrien hatte. Sie rannte in eine andere Richtung. Der Krankenwagen war wichtiger als die Axt. Was sollte sie denn machen, wenn der Mann, der sie bezahlte tot war? Sie wollte nicht, dass ihre Geldquelle versiegte. Schnell wählte sie die Nummer der Polizei. Die Schüsse verklangen plötzlich und sie musste sich zusammenreißen um nicht in Richtung der Abstellkammer zu laufen. Öffnen konnte sie die Tür auch nach dem Anruf. Nach dem Hilferuf.
„Äh", Leandro starrte seinen „Vater" an. Es war nicht das erste Mal, dass irgendjemand eine Waffe auf ihn richtete, also war er nicht sonderlich darüber schockiert. Aber ihn störte es, schon immer hatte es ihn gestört. Außerdem hatte ihm einmal vor einiger Zeit jemand von seinen Eltern erzählt. Und dieser jemand sagte, dass sie tot seien.
„Leandro, ich weiß, du glaubst mir nicht. Doch ich sage die Wahrheit. Deine Mutter und ich, wir hatten Gründe dich wegzugeben", versuchte Nogorpate zu erklären, doch Leandro unterbrach ihn mit einer Handbewegung. In seinem Kopf sortierte er blitzschnell Daten und schließlich kam er zu zwei Ergebnissen. Erstens, dieser Mann war verrückt und er musste zweitens lügen, um aus dieser unangenehmen Situation, und das war sie wirklich, unangenehm, wieder raus zu kommen. „Ja, das verstehe ich. Wenn du die Wahrheit sagst, dann muss ich wohl oder übel tun, was du sagst... Ich bin mir noch nicht ganz sicher, ob es so ist wie ich es interpretiere, aber ich glaube ich vertraue dir vorerst. Ich bin froh endlich einen Vater zu haben", log er das Blaue vom Himmel runter.
Nogorpate betrachtete fast fasziniert das Gesicht des Jungen, welches von Tränen förmlich überspült wurde. Und es freute ihn, dass dieser Junge, sein Sohn, so würdevoll weinte. Bei normalen Menschen wurde das Gesicht fleckig oder knittrig, viele zogen Grimassen. Doch Leandro hatte nur leicht rötliche Augen, abgesehen von den Tränenspuren, sah er aus, als hätte er nur gegähnt. Er sah genauso aus wie Nogorpate, wenn er weinte, zumindest dachte dieser von sich, dass er so weinte.
Leandro währenddessen hing ganz anderen Gedanken nach, er schmiedete Pläne. Schließlich kam er zu einem Endergebnis, er wollte als erstes aufhören mit seinem, natürlich unechtem, Weinen, das tat er auch sofort.
„Ausgeweint?", fragte Nogorpate fast zärtlich. Langsam nickte Leandro und steckte seine Hände in die weiten Hosentaschen, sodass sogar die Handgelenke darin verschwanden und Leandro wie ein Schluck Wasser in der Kurve da stand. „Komm her, mein Kleiner", forderte Nogorpate noch zärtlicher als vorher ihn auf. Plötzlich tat er Leandro fast leid, doch er ignorierte dieses nagende Gefühl, dieses etwas, das man „Schuldgefühl" nannte.
Vorsichtig schlurfte er auf seinen „Vater" zu. In seinem Inneren tobte ein Kampf. War es richtig, was er jetzt vorhatte? Um sich wieder zu beruhigen, fuhr er sich über die Augen, als müsse er sich Tränen aus den Augen wischen. Alles ganz einfach
, redete er sich ein. Du musst ihm nur die Waffe abnehmen.
Jetzt stand er nur noch wenige Schritte von ihm entfernt. „Du wirst sehen, es ist ein schönes Leben...", meinte Nogorpate zuckersüß, doch Leandro spürte wieder, wie sich feine Härchen aufstellten.
Und dann ging alles ganz schnell. Leandro wusste nicht was geschah. Seine
Reflexe waren zu langsam. Ein Schuss ertönte und er spürte fast gleichzeitig, wie ein Punkt knapp unterhalb der Rippen, also etwas über dem Becken, taub wurde. Noch ehe er es wirklich begriff wurde die Stelle heiß, sehr
heiß. Die Hitze verwandelte sich in Schmerz und dieser breitete sich mit einer großen Geschwindigkeit aus. Hinter ihm krachte es, aber er konnte das Geräusch nicht zuordnen.
Ich wurde gerade angeschossen!
, fuhr es Leandro durch den Kopf. Aber es tat nicht so sehr weh, wie er sich immer solche Wunden vorgestellt hatte. Was nicht bedeutete, dass es nicht weh täte. Jemand schrie auf und Leandro brauchte eine Weile, um zu bemerken, dass er es war, der schrie.
Nogorpates Hand zitterte, doch er hielt die Waffe fest. „Deine schauspielerischen Fähigkeiten sind gut, aber nicht so gut wie meine. Außer dem kann ich Gedanken lesen." Er stand auf und ging auf den mittlerweise zusammengesunkenen Leandro zu. „Ich hatte einen guten Vorschlag, wenn du getan hättest, was ich dir gesagt hatte, dann wäre dein Leben viel schöner. Du wärst der Sohn eines reichen Mannes, du wärst beliebt bei den Mädchen... Warum willst du dieses Leben nicht?" Langsam, als wolle er es auskosten, stärker zu sein, richtete er die Waffe auf die rechte Schläfe des Jungen.
„Ich habe meinen Sohn, deinen Bruder, geliebt. Aber du bedeutest mir nichts. Es macht mir nichts aus, dich jetzt zu töten." Leise seufzte er, er hatte gehofft, dass dieser Versuch gelingen würde. Sein Erbe wäre in sicheren Händen gewesen, doch er hatte nicht wirklich auf diesen Plan A gezählt. Plan A hatte noch nie 100%-ig funktioniert, auch diesmal hatte er schon von Anfang an einen Plan B gehabt.
Mit der nächsten Ausatmung drückte er ab. Zwei Mal. Er wollte kein Risiko eingehen. Man konnte einen Schuss vielleicht wie durch ein Wunder überleben. Doch zwei Schüsse zu überleben war einfach nicht möglich, nicht wenn die Waffe so nah an der Schläfe dran war.
Ein roter dichter Nebel machte Nogorpate für kurze Zeit blind, er taumelte einige Schritte zurück, um so schnell es ging wieder klare Sicht zu erlangen. „Es tut mir leid, aber das musste sein. Ich konnte ihn nicht am Leben lassen. Er sah Pete einfach zu ähnlich. Außerdem habe ich ihn angelogen, was sein Theater anging, wenn er nicht so oft die Waffe angeguckt hätte, wäre ich auf ihn reingefallen", murmelte er leise in eine Ecke des Raumes und jetzt, da sich der Nebel lichtete, konnte er das Bild einer Frau sehen.
Sie war schön, man konnte ihr alter schwer schätzen, doch Nogorpate musste nicht schätzen, denn er kannte das Alter seiner verstorbenen Frau, der Mutter des Jungens, den er gerade getötet hatte.
Ob er sich es nur einbildete? Sie schien ihn anklagend anzustarren. Er hob die Waffe und drückte ab. Die Wand rechts neben dem Bild barste und weißer Nebel vermischte sich mit den wenigen roten Tropfen, die noch in der Luft hingen. Wieder drückte er ab - und traf einen Punkt über dem Bild, er schoss und schoss, doch ein magischer Schutz schien das Bild vor seinen Schüssen in Sicherheit zu bringen.
Als auf das Krümmen des Zeigefingers kein Knall und kein Krachen mehr ertönte, stellte er fest, dass sein Magazin leer war.
Cam hatte Recht, wir hätten nicht zu überstürzt handeln sollen. Aber wir beide waren so voller Liebe zueinander, wir konnten nicht länger warten. Jedes Mal, wenn er mich ansah, waren seine Augen so voller Liebe, ich hätte es nicht ertragen können, wenn ihm oder unserem Kind, das Tag für Tag in meinem Bauch heranwuchs, etwas zugestoßen wäre. Und ich weiß, dass er mich genauso sehr liebte. Endlich gewöhne ich mich langsam an mein neues Leben. Aber ich halte es oft nicht in der Dunkelheit aus. Wenn es dunkel ist, habe ich nämlich das Gefühl, ein kleiner namenloser Geist würde um mich herum schweben. Anklagend. Das macht mir mehr Angst, als wenn alle Killer der Welt hinter mir her wären.
„Nein, Himmel Herrgott nochmal, sind sie irgendwie geistig schwerbehindert oder so?", schrie Dacia in den Hörer. „In diesem Haus liegt vielleicht eine Leiche und Sie sagen mir, ich solle anrufen, wenn ich wieder nüchtern sei? Ich bin auf jeden Fall nüchterner als Sie!!!" Wütend pfefferte sie den Hörer auf die Gabel und zog ihr Handy raus. Jetzt war es an der Zeit ihr Ass auszuspielen. Oder sollte sie lieber sagen, ein Ass von Dutzenden auszuspielen?
Mal sehen, wie weit sie mit dieser Nummer kam.
Nach zwei langen Pieptönen meldete sich eine tiefe ruhige Stimme: „Dacia, du schon wieder! Was gibt's diesmal? Alieninvasion oder der dritte Weltkrieg?" Mit einem Seufzer der Erleichterung antwortete sie schnell: „Nein, weder, noch. Aber nah dran, mein Arbeitsgeber wurde vielleicht ermordet!" „Oh", machte die Stimme und antwortete gelassen: „Keine Sorge Liebes, dein Held ist gleich da." Dacia lächelte leicht und antwortete: „Aber vergiss die Ärzte und deine Untergebenen nicht. Und ach so, falls du weißt wen ich meine, würdest du bitte einen gewissen Alex Parker feuern? Er wollte mir meine Geschichte nicht ..." Ein Tuten unterbrach sie. „Na gut", murmelte sie leise. „reden wir weiter, wenn du hier bist."
Sie steckte das Handy weg und rannte zur nächsten Abstellkammer. Dann machte sie sich mit Axt und Erste-Hilfe-Kasten unter dem Arm auf den Weg zum Büro.
Leandro rappelte sich auf und blickte sich um, um zu erkennen, wo er sich befand. Doch entweder war er blind oder es war tatsächlich stockduster hier. Nach einer Weile begann er sich zu fragen, ob er tot war. Er tastete nach der Wunde und stellte fest, dass es immer noch verdammt weh tat, wenn er sie auch nur berührte. Jetzt gab es zwei Möglichkeiten. Entweder war er noch am Leben oder auch Tote konnten Schmerzen empfinden. Da es nicht gerade angenehm war, sich vorzustellen, wie er bis in alle Ewigkeit mit diesem Schmerz leben müsste, beschloss er kurzerhand, an die erste Variante zu glauben.
Er versuchte seine Gedanken zu sortieren und stellte fest, dass er zwischen dem Augenblick, als Nogorpate die Waffe auf ihn richtete und dem Augenblick, als er sich aufrappelte, nichts einordnen konnte. In seinem Gedächtnis befand sich eine Lücke, die er nicht erklären konnte.
„Ah, bist du endlich aufgewacht?" Leandro wirbelte herum und strauchelte beinahe, es war immer noch so dunkel, dass er wirklich gar nichts sah. Die unbekannte Stimme schien aus der Nähe zu kommen und doch kam es ihm so vor, als wäre sie verdammt weit weg. Es war einfach nur gruselig.
„Wer... wer ist da?", rief er vorsichtig. Schauriges Gelächter ertönte, es war laut, sehr laut und schien von überall zu kommen, schien, als ob es aus tausenden Mündern gleichzeitig kommen würde. „O Gott", murmelte Leandro und drückte sich die Hände gegen die Ohren. Langsam drehte er sich um die eigene Achse und brüllte: „Hör auf! Sei still!" Doch das Lachen verwandelte sich in ein hysterisches Kichern, ein irres Gelächter, das jeden verrückt machte, der es nicht selbst von sich gab.
Wieder stolperte Leandro über seine eigenen Füße und diesmal fiel er der Länge nach hin. Ein dumpfes Pochen und ein stechender Schmerz signalisierten, dass er auf das Kinn gefallen und sich auf die Zunge gebissen hatte. Das Kreischen wurde leiser und wieder lauter, wie Wellen. Ein metallischer und doch leicht süßlicher Geschmack breitete sich seinem Mund aus, es war ekelerregend, es war der Geschmack von Blut.
Leandro verlor das Bewusstsein.
Nogorpate blickte verwirrt auf einen Punkt auf dem Teppich. Es dauerte fast zwei Minuten, bis eine Nachricht sein Gehirn erreichte. Dort, wo die Leiche seines Sohnes hätte liegen müssen, war nichts. Nun, wenn man es genau nahm, waren dort zwei Einschusslöcher, dicht beieinander, sodass man fast nicht erkennen konnte, dass es sich nicht nur um ein einzelnes handelte.
Wie konnte das sein? Er hatte den Blutnebel gesehen und den dumpfen Schlag gehört, als die Leiche umfiel. Das konnte niemand überleben! Und es war ja wohl das unwahrscheinlichste überhaupt, dass sich eine Leiche oder ein lebendiger Mensch, der Unterschied schien ihm nicht allzu groß, in Luft auflöste!
Es musste eine logische Erklärung geben, eine Antwort auf all seine Fragen. Ungeduldig mit zitternden Händen lud er seine Pistole nach. Kaum war er fertig, da rannte er bereits zur Tür. das automatische Schloss, es war so programmiert, dass es auf und zu schnappte, sobald er sich näherte oder entfernte, klickte und er trat durch die Tür.
Sie schwang zu, als er den Flur hinunter schritt und das Schloss sorgte wieder dafür, dass die Tür nicht mehr zu öffnen war.
Als junger Mann war er als Jäger berühmt berüchtigt gewesen. Im doppelten Sinne, denn es gab nichts, das er nicht in die Hände bekam, wenn er es wollte. Er war der Jäger. Und der Junge die Beute.
Nach ein paar Metern drehte sich Nogorpate um. Leise fluchte er, auf dem Boden hatte er eine Blutspur hinterlassen. Natürlich wollte er nicht, dass jeder seine Spur sofort aufnehmen konnte. In seinem Kopf rasten die Gedanken und sein Blick fiel auf eine Tür, die leicht geöffnet war, als wolle sie ihn einlassen. Nogorpate kannte das Gebäude gut genug, er wusste, dass sich in diesem Raum einige Anzüge und Schuhe für Notfälle befanden.
Entschlossen lief er auf das Zimmer zu. Den Jungen würde er schon früh genug finden, dieser hatte ja eine Wunde, die ihn langsamer machen würde. Das würde die Verfolgung erleichtern. Doch Nogorpate legte keinen Wert drauf, selbst zum Gejagten zu werden. Und neue Kleidung würde ihm durchaus dabei helfen, seine Spuren zu verwischen.
„Hi, meine kleine Prinzessin", begrüßte sie ein Mann von etwa 40 Jahren. „Ich bin weder adlig noch klein", knurrte Dacia zurück. „Und außerdem haben wir gerade Besseres zu tun, als uns gegenseitig zu sagen, wie gern wir uns haben, George." Der Mann -George- lachte. „Alles klar, kümmern wir uns also um das Überleben deines Gehaltes."
Dacia reagierte nicht auf sein Lachen, aber sie schaffte es auch nicht ganz ernst zu bleiben. „Da lang", sie nickte in eine Richtung. „Nimm lieber ein paar deiner Männer mit, mindestens einer der beiden ist bewaffnet." George hob die Augenbrauen. „Mindestens einer der beiden ist bewaffnet? Schön, dass ich das jetzt erfahre, ich meine, schön, dass ich jetzt weiß, mit wie vielen Leuten wir es zu tun haben. Allerdings, wenn ich jetzt so darüber nachdenke, ich glaube ich weiß nur, dass es sich um einen Notfall handelt und dass dein Gehalt möglicherweise tot ist und...", Dacia unterbrach ihn, in dem sie ihm den Ellenbogen zwischen die Rippen stieß. „Hör auf von toten Gehältern zu sprechen, das klingt ja so, als ob es lebendige Wesen wären!", schimpfte sie. „Okay, gut, dann sage ich halt Geldquelle", besänftigte George sie. „Aber jetzt wäre ein guter Zeitpunkt das bisher geschehene zu erklären."
„Ich erkläre es auf dem Weg“, antwortete Dacia und zog George in Richtung eines Flures. „Du bist der Boss“, murmelte George mit einem ironischen Unterton. Er verdrehte genervt die Augen, machte sich los und folgte ihr schnellen Schrittes.
In einem der Flure verlor er sie schließlich aus den Augen, da es so viele Gänge gab und sie sehr schnell lief. Er rief laut ihren Namen. Fast gleichzeitig hörte er Schritte, die, so schien es ihm, auf ihn zusteuerten. Erleichtert lief er auf sie zu und prallte direkt in einen Mann hinein. "Entschuldigen Sie bitte, äh, Sir, haben Sie vielleicht zufällig Dacia gesehen?" Der Mann blickte George an, als hätte er einen Verrückten vor sich. Zumindest hatte George dieses Gefühl. So genau konnte man das nicht erkennen, denn dieser Mann war von oben bis unten in Schwarz gekleidet, also Hut, Sonnenbrille, Schal, Anzug und Schuhe, sodass man sein Gesicht nicht wirklich sehen konnte.
„Nein! Und jetzt lassen Sie mich los, Sie Möchte - Gern - Hollywood - Amerikaner!", blaffte der Mann zurück. George brauchte eine Weile um zu bemerken, dass er diesen Mann unbewusst am Arm gepackt hatte. Aber er ließ nicht los, denn er war nun beleidigt. „Was heißt hier ,Möchte - gern - Hollywood - Amerikaner´?", knurrte er leise. „Na wegen ihrem ,Sir´!", verteidigte sich der Mann wütend. „Das ist lediglich eine Angewohnheit!", entgegnete George leise und bedrohlich, er mochte es nicht, wenn man ihn beleidigte. „Wo ist Dacia?", wechselte er das Thema doch der gefährliche Unterton blieb. „Was weiß ich!", rief der Mann aus und machte sich energisch los.
Dabei verlor er seinen Hut und George blickte auf leicht gewelltes und ergrautes Haar. Was ihn stocken ließ, war jedoch die Farbe, denn er hatte solch eine Farbe noch nie gesehen. Es war wie eine Mischung zwischen Gold und Bronze.
Dacia drehte sich um und stellte fest, dass George sich nicht mehr hinter ihm befand. „George?", fragte sie zögerlich in die Richtung, aus der sie gekommen war. „George!", rief sie schließlich nach einer Weile lauter und energischer. Als immer noch keine Antwort kam, ging sie schnellen Schrittes ein Stück den Weg zurück, den sie gekommen war.
Da hörte sie aus der Ferne immer lauter werdende Rufe. „George!", rief sie laut und signalisierte ihm, wohin er kommen musste. Nach einer knappen Minute stand er schließlich leicht außer Atem vor ihr. „Oh Gott!", beschwerte er sich. „Das ist hier ja das reinste Labyrinth!" Dacia drehte sich um und antwortete im Weitergehen über die Schulter: „Ganz so schlimm ist es eigentlich nicht. Man gewöhnt sich dran."
George folgte ihr im Laufschritt und rief laut: „Hey, warte auf mich!“ Den unfreundlichen Mann mit den ungewöhnlichen Haaren hatte er ganz vergessen.
Als sie um eine von vielen Ecken bogen blieb Dacia plötzlich abrupt stehen. George rannte beinahe in sie hinein und wollte gerade beginnen ihr Vorwürfe zu machen, doch da bemerkte er ihren Blick. Fassungslos blickte sie auf den Boden und George folgte ihrem Blick. Auch ihn erschreckte, was er da sah. Auf dem Teppich, der einst vermutlich einen blassen Orangeton gehabt hatte, nun aber eher ein fleckiges helles Braungrau aufwies, waren Schuhabdrücke zu sehen. Eigentlich waren es nicht sonderlich deutliche Flecken, nur so deutlich, wie die Spur, die jemand hinterlässt, der durch eine Pfütze getreten ist.
Was ihnen allerdings den Atem stocken ließ, war die Tatsache, dass diese Flüssigkeit blutrot – im wahrsten Sinne des Wortes – war. Dacia fing sich als erstes. Langsam und vorsichtig folgte sie der Spur in die entgegengesetzte Richtung, bis sie vor einer Tür stand. „Sag mir nicht, dass das hier das Büro deines Chefs ist“, meinte George leise, doch Dacia lächelte traurig und antwortete schlicht: „Doch…“
Sie streckte die Hand aus und drückte die Klinke herunter. Die Tür gab nicht nach. „Merkwürdig“, murmelte George leise und Dacia blickte ihn verwirrt an. „Naja“, erklärte er. „Ich kenne dich inzwischen gut genug um zu wissen, dass du doch eigentlich schon längst die Tür zerstört haben müsstest… Und da dies nicht der Fall ist, fand ich es merkwürdig.“
Zustimmend nickte Dacia. „Ja, ursprünglich hatte ich das auch vor, aber dann ist mir die Natur dazwischen gekommen…“ Nun blickte George sie verwirrt an, doch Dacia schwieg beharrlich, denn sie hatte nicht vor, ihm zu sagen, dass ihr der Gang zur Toilette wichtiger gewesen war.
„Egal, was machen wir jetzt?“, lenkte Dacia ab und deutete mit dem Kinn zur Tür und George zuckte mit den Schultern und schlug vor: „Tür aufbrechen!“
Binnen weniger Sekunden zauberte Dacia eine etwa dreißig Zentimeter große Axt unter der Dienstkleidung hervor. Vor Überraschung weiteten sich Georges Augen. „Wo zum Teufel hast du das Ding her?“, fragte er fassungslos. Dacia lachte gefährlich. „Offenbar kennst du mich doch nicht so gut… Mit dem Ding gehe ich schlafen. Das ist mein kleiner Teddybär…“ Sie log zwar schamlos, denn diese Axt hatte sie in der Abstellkammer gefunden, bevor sie die Toilette aufgesucht hatte, aber der Blick, den George nun aufsetzte, war es ihr wert.
„Zurücktreten bitte!“, rief Dacia mit einer übertriebenen Geste aus und George brachte sich so schnell es ging außer Reich–, und vorsichtshalber auch außer Wurf–, weite von Dacia. Er hörte ein Splittern und schon flogen ihm die Reste der Tür um die Ohren. Es war doch immer wieder ein Wunder, wie jemand eine Axt so benutzen konnte, dass es hinterher aussah, als wäre eine Bombe hochgegangen – im wahrsten Sinne des Wortes.
Noch während George fassungslos auf den Ort starrte, an dem bis vor kurzer Zeit noch eine Tür gewesen war, durchschritt Dacia das Loch und kam gleich darauf wieder heraus. „Was ist los?“, fragte George. „Keiner mehr drin“, antwortete Dacia. „Du könntest jetzt höchstens noch einige deiner Männer rein schicken, um Ermittlungen gegen einen mutmaßlichen Mörder zu stellen, aber viel nutzen wird es dir nicht.“ George hob die Augenbraun. „Mord?“, wiederholte er. „Woher willst du das wissen?“ Dacia zuckte mit den Schultern und deutete auf die Öffnung. „Sieh selbst hinein“, forderte sie ihn auf und er gehorchte.
Der Raum war nicht sonderlich groß im Vergleich zu den Sälen, durch die er auf dem Weg hierher schon durchschritten hatte, doch er war trotzdem ziemlich groß. Der Teppich war durchtränkt von einer dunkelroten Flüssigkeit und im Boden waren zwei Einschusslöcher zu erkennen. Langsam drehte er sich im Kreis um die Lage zu erfassen. Sein Bild blieb an einem Bild haften und es stockte ihm der Atem. Dacia sah es und sprach ihn darauf an: „Was ist mit der Frau?“ George ließ sich Zeit mit der Antwort, doch dann brachte er gequetscht hervor: „Diese Frau heißt Claire. Sie war meine große Liebe.“
Leandro wachte mit einem Röcheln auf. Er war ungünstig gefallen, sodass er nicht schlucken konnte und sich das Blut im Mund gesammelt hatte. Hustend setzte er sich auf und blickte sich um. Sein Mund war trocken, obwohl er bis gerade eben mit einer Flüssigkeit gefüllt gewesen war, und es fühlte sich verdammt eklig an.
Eine Weile verging, ehe er bemerkte, dass es nicht mehr stockduster um ihn herum war. Vorsichtig stand er auf, doch er musste feststellen, dass das nicht leicht war. Der Boden schien sich zu bewegen und Leandro fragte sich, ob es nur Einbildung war, dass sich die Gegenstände am Boden zu bewegen schienen. Der Saal, besser, die Halle, in der er stand war riesig und in den wenigen Sekunden, in denen Leandro stand, sah er, dass er sich ungefähr in der Mitte befand.
Es gab unzählige unterschiedliche Türen, große, kleine, schmale, breite, hohe, niedrige,… Auf dem Rücken liegend betrachtete Leandro nun die Decke, die sich ebenfalls ziemlich stark bewegte. Wer auch immer der Maler gewesen war, er musste ein ausgesprochenes künstlerisches Genie gewesen sein.
Das Bild war riesig. Unzählige kleine Szenen verschmolzen zu einem einigen Punkt, der so hell strahlte, dass Leandro geblendet den Blick abwenden musste. Und doch schien dieser Punkt ihn anzuziehen, als wäre er ein riesiger Magnet und Leandro ein winziges Stück Eisen.
Sich gegen dieses Gefühl sträubend betrachtete Leandro die anderen Szenen, doch er konnte nichts erkennen, denn zu diesem schrecklichen Schaukeln gesellte sich nun auch noch ein Nebel, der es ihm unmöglich machte etwas zu erkennen. Seine Hände tasteten nach einem Punkt, an dem sie sich festhalten könnten, doch er stieß nur gegen feste raue Gegenstände. Was waren das für Dinge? Den nächsten Gegenstand, den er zwischen die Finger bekam hob er hoch, um ihn sich vor das Gesicht zu halten. Es sah so aus, wie ein Stein nur war er viel leichter und hohl. In etwa so groß wie der Kopf eines Erwachsenen und rau, leicht gräulich, hohl, zwei Löcher, ein geriffelter Spalt, zwei kleine Höhlen, nicht vollständig geschlossen, wie anfangs angenommen, sondern ein mindestens Handteller großes drittes Loch… Die Erkenntnis traf ihn wie ein Blitz.
Sein Mund öffnete sich zu einem Schrei, doch er brachte keinen Ton heraus, denn er verlor das Bewusstsein. Aber eine Tatsache brannte sich in sein Gedächtnis ein. Er hielt einen menschlichen Schädel in der Hand.
Gott, wenn es möglich ist, dann möchte ich endlich erlöst werden. Ich vermisse meine Kinder und ihren Vater. Bitte, tue mir das nicht länger an, ich halte das bald nicht mehr aus! Warum nur war die Strafe so schwer? Ist es denn ein Verbrechen zu lieben? Cam, ich vermisse dich, ich vermisse dich, du kannst mich bestimmt verstehen, denn ich weiß, dass du mich genauso sehr vermisst…
Als Leandro wieder erwachte, befand er sich noch immer in dieser merkwürdigen Halle. Nach und nach lichtete sich eine Art Nebel in Leandros Kopf und es fiel ihm leichter zu denken. Es ekelte ihn noch immer an, dass er in mitten von unzähligen Skeletten lag. Vorsichtig setzte er sich auf und schob die Knochen beiseite, um wenigstens nicht auf ihnen sitzen zu müssen.
Eine Minute später stellte er verärgert, angeekelt und irritiert fest, dass die Schicht aus Knochen sehr dick war. Bestimmt hatte er schon einen halben Meter tief gegraben und noch immer war kein Boden in Sicht. Seine Hand stoppte und er fuhr sich durch die leicht verschwitzten Haare. Was zum Teufel machte er hier? Wie war er überhaupt hier her gekommen? Was hatte es mit dieser merkwürdigen Halle auf sich? So viele Fragen und er wusste noch nicht einmal, wen er fragen sollte.
Sein Magen knurrte. Dann knurrte er wieder und Leandro stellte schockiert fest, dass es momentan wichtigeres gab, als diese Fragen. Obwohl er keine Ahnung hatte, wo er war, so wusste er jedoch eines mit Sicherheit. Hier war er vermutlich der einzige Lebende und wenn er sich nicht selbst aufessen wollte, dann musste er schnellst möglichst einen Weg nach draußen finden. In seinem Gedächtnis regte sich etwas, als hätte er ein wichtiges Detail übersehen. Doch er konnte sich beim besten Willen nicht erinnern.
„George…“, sanft schüttelte Dacia an seiner Schulter. Doch George rührte sich nicht. Wie versteinert stand er nun schon eine halbe Stunde so da und blickte das Bild fassungslos an. „Was ist denn zwischen euch vorgefallen, dass du dich so benimmst?“, fragte Dacia und runzelte besorgt die Stirn. Wieder reagierte George nicht und Dacia beschloss zum äußersten zu greifen. Irgendwo lief ein Mörder mit Leiche im Gepäck durch die Gegend und der zuständige Polizist stand versteinert vor dem Bild einer alten Flamme. Das war eine Notsituation und das rechtfertigte Dacias Handlung.
Sie verpasste ihm eine Ohrfeige. Leider hatte das nicht die gewünschte Wirkung. Statt in die Realität zurück zu kehren blickte George Dacia verdutzt an und fragte: „Aua, Claire, was sollte das denn?“ – „Ich bin nicht Claire…“ – „Ach was, bist du etwa ihre Zwillingsschwester?“ – „Nein! Weder noch! Ich sehe ihr ja noch nicht einmal ähnlich!“ – „Was soll das, Claire? Ist das wieder eines deiner Spiele?“ – „Nein, verdammt! Ich…“, Dacia fuchtelte wild mit den Armen vor Wut.
Da fiel ihr Blick auf eine kleine Tafel unter dem Bild. „Für meine geliebte Frau, die für ihre Söhne ihr Leben gab. In ewiger Liebe Alex“, stand dort in der Schrift ihres Bosses. Hä? Alex?, schoss es ihr durch den Kopf, doch wichtiger erschien ihr die Tatsache, dass diese „Claire“ tot war. „Hör mal George, Claire ist tot. Sie wird nie wieder hier sein, es sei denn sie ist ein Geist…“
Der letzte Teil war als Scherz gedacht gewesen, doch George machte große Augen und fragte fast wie ein Kleinkind: „Bist du etwa ein Geist?“ – „Nein, natürlich nicht!“ – „Also bist du nicht tot, oder?“ – „Nein, ich bin nicht tot, oder sehe ich etwa so aus? Und sag bloß nichts Falsches!“ – „Dann hast du gelogen. Du bist nicht tot.“ – „Hä? Was? Das habe ich nie behauptet!“ – „Doch, du sagtest ‚Claire ist tot‘ und du hast gerade selbst zu gegeben, dass du nicht tot bist. Ach, übrigens, seit wann sprichst du in der dritten Person von dir?“ – „Ich!!! Bin!!! Nicht!!! Claire!!!“, brüllte Dacia zurück und verpasste ihm bei Gelegenheit gleich noch eine, in der Hoffnung, er würde endlich wieder zurück kommen.
„Claire!“, rief George empört zurück. „Was ist los mit dir? Erst verpasst du mir eine und dann erzählst du, du seiest nicht Claire. Ist heute etwa der Erste April?“ Dacia gab es auf.
Es hatte keinen Sinn, weiter mit George zu diskutieren, denn er würde ja doch nicht von seinen Wahnvorstellungen abkommen. Momentan schien ihr am sinnvollsten, so zu tun, als ob sie tatsächlich Claire wäre.
„Also gut George, du hast mich erwischt, ja heute ist der Erste Vierte. Aber jetzt komm, wir müssen zwei Männer finden, einer von ihnen könnte ein Mörder sein…“ – „Claire?“ – „Ja?“ – „Mach das nie wieder, okay? Den Gedanken, du könntest tot sein, ertrage ich nicht.“ – „Entschuldige.“ – „Claire?“ – „Was ist denn nun schon wieder?“ – „Wir haben uns so lange nicht gesehen…“ – „Ja, stimmt, kann sein…“ – „Bekomme ich keinen Wiedersehenskuss?“ – „Nein!“ – „Warum nicht?“ – „Spinnst du? Was heißt hier ‚Warum nicht?‘, das ist doch logisch!“ – „Das verstehe ich nicht… Wir wollten doch heiraten… Was an einem Kuss wäre denn unlogisch?“ – „Ich kann dich nicht küssen.“ – „Warum?“ – „Weil, weil… weil ich verheiratet bin.“ – „Das klang aber gerade wie eine Notlüge…“
Tja, George, wenn du wüsstest, wie recht du hast… „Ich wollte dir nur nicht das Herz brechen“, antwortete Dacia und warf theatralisch die Arme in die Luft und seufzte. „Schon… okay… Glaube ich…“, gab George zurück und nickte traurig vor sich hin. Er tat Dacia leid, aber momentan konnte sie nicht viel für ihn tun. Sie mochte ihn zwar, doch sie war nicht bereit, ihn zu küssen.
„Komm, es gilt einen Mörder zu jagen!“, rief Dacia aus und trat durch die Tür. George folgte ihr gehorsam. Nachdenklich blieb Dacia stehen. Wenn sie jetzt überstürzt handelten würden sie eventuell ins offene Messer laufen.In ihrem Kopf nahm ein Plan Gestalt an, der nicht ganz risikolos war, der jedoch momentan der einzig Machbare war. Warum nur musste George ausgerechnet in diesem Augenblick verrückt werden? Aber ihn hier stehen lassen konnte sie nicht und sie wollte nicht unbedingt zu seinen Männern zurückkehren, denn diese würden unweigerlich Fragen stellen. Fragen, auf die sie keine Antwort geben wollte, denn jetzt hatte sie Besseres zu tun als verhört zu werden.
„Warte hier“, befahl sie George und ging noch einmal ins Zimmer hinein. Vorsichtig tastete sie die Wand ab. Nach wenigen Sekunden fand sie, was sie suchte und drückte. Lautlos glitt ein Stück der Tapete zur Seite und machte den Blick auf ein kleines Fach frei. Dacia hatte vor einiger Zeit zufällig ihren Chef dabei erwischt, wie er dieses Fach öffnete. Die Art, wie er sich hinterher aufführte, lies darauf schließen, dass etwas Wichtiges drin lag.
Bingo, dachte Dacia und holte einen drei mal drei mal drei Zentimeter großen Würfel hervor. Sie wusste zwar noch nicht, was es war, aber es war sicherlich wichtig. Irgendetwas Modernes, Technisches. Schnell aber vorsichtig verstaute sie ihn in ihrer Schürze, dann holte sie noch einige andere ebenso hochmoderne, technische und (zum Glück) kleine Geräte heraus, deren Funktionsweise sie größtenteils nicht kannte.
„Claire? Kommst du?“ – „Ja, gleich!“ Dacia warf einen Blick auf das Gemälde. Dann holte sie ein Gerät, das sie als Kamera identifizierte, heraus und machte ein Foto. Man konnte ja nie wissen, wozu man so etwas brauchte.
„Im Frühtau zu Berge wir zieh’n, fallera!“ Lauthals singend lief Leandro nun schon seit knapp einer halben Stunde auf den ‚Horizont‘ zu, doch er musste frustriert und ein wenig verängstigt feststellen, dass er sich scheinbar nicht von der Mitte entfernte. Obwohl er die ganze Zeit gerade auf die Wand zulief, erreichte er sie einfach nicht. Da ihm dieser Ort inzwischen regelrecht gespenstig vorkam, sang er, leider nicht wirklich gut, sämtliche Lieder deren Text er einigermaßen kannte.
Das lenkte ihn soweit vom Denken ab, dass er nicht wahnsinnig wurde. Jetzt, da er, gegen seinen Willen, über die Stunden, – oder Tage – die er hier verbracht hatte, nachgedachte fiel ihm auf, dass er anfangs nicht bei klarem Verstand gewesen war. An das erste Mal, das er aufgewacht war, erinnerte er sich nur sehr, sehr schwach, genauso auch an das zweite Mal. Doch ab da wurden die Erinnerungen genauer und schärfer.
Noch immer jedoch hatte er das Gefühl, das er seinen Geist nicht ganz unter Kontrolle hatte. Nachdenklich fuhr er sich durch die Haare und schnalzte mit der Zunge. Mist! Er hatte schon wieder aufgehört zu singen….
„Leise rieselt der Schnee…“, begann er wieder zu singen. Nach der zweiten Strophe bestand der Text größtenteils nur noch aus Lalas und so beschloss er, das Lied zu ändern. Dummerweise war sein Repertoire auf Grund der Waisenhaus–Kindheit sehr beschränkt, er hatte damals zu bestimmten Anlässen wie Weihnachten und Musikunterricht jedes Jahr die gleichen Lieder gesungen.
Hatte er wirklich einen Zwillingsbruder? Wie war sein Name? Hatte er ihm wirklich ähnlich gesehen? Wie waren seine Eltern gewesen? Hießen sie wirklich Nogorpate? Oder Patenrogo? War Leandro sein wirklicher Name? Warum hatten seine Eltern ihn weggegeben? Warum ihn und nicht seinen Bruder? Es gab so viele Fragen und auf keine von Ihnen wusste er Antworten…
Plötzlich krachte er gegen eine Wand und viel nach hinten um. Verblüfft hob er den Kopf. Weit und breit war nichts zu sehen. Verwundert kratzte er sich am Kopf und schnalzte dann missbilligend mit der Zunge. Er hatte schon wieder vergessen zu singen. Wieso nur vergaß er das immer wieder?
Schnell rappelte er sich wieder auf und blickte eine Weile nachdenklich nach vorne. Dann atmete er tief durch, hüpfte ein wenig auf der Stelle und lockerte seine Schultern wie ein Sprinter vor dem Start. Schließlich machte er einen Schritt. Nichts geschah. „Hab ich mir wahrscheinlich nur eingebildet…“, murmelte er und stellte dann schockiert fest, dass er Selbstgespräche führte.
Verärgert zog er eine Grimasse. Vorsichtig setzte er noch einmal den einen Fuß vor den anderen. Als immer noch nichts geschah lächelte er zufrieden – und krachte beim nächsten Schritt wieder in die unsichtbare Wand.
Leandro kam sich vor wie eine Witzfigur. Warum passiert sowas immer nur mir?, dachte er und blickte trotzig auf die unsichtbare Wand. Nach einigen Sekunden hatte er einen Einfall. Mit spitzen Fingern hob er einen Knochen vom Boden auf und warf ihn nach vorn. Dieser prallte an irgendetwas ab.
Mit gerunzelter Stirn machte er einen Schritt nach rechts und wiederholte die Prozedur. Das Ganze machte er so lange, bis ein Knochen nicht mehr zurückprallte. Vorsichtig ging er auf diese Stelle zu und warf nun einen Knochen zur Seite. Er prallte zurück und traf ihn am Kopf. Zufrieden nahm er die Tätigkeit wieder auf.
Nach zwei weiteren Knicken stellte er fest, dass es sich um ein fast quadratisches Etwas handelte, das auf irgendeine Weise „getarnt“ war. Leandro warf einen Knochen nach oben, so dass dieser oben liegen bleiben würde. Doch der Knochen blieb nicht dort und rutschte wieder herunter, wobei er sich die Mühe machte, vorher ein Mal auf Leandros Kopf zu fallen.
Noch immer nicht zufrieden mit dem Erkunden dieses Dings, nahm Leandro nun einen Knochen in die Hand und begann vorsichtig die Wand abzuklopfen. Nach einer Weile gab die Wand an einer Stelle nach und Leandro sah plötzlich eine schwebende Schalttafel vor sich. Da alles andere weiterhin unsichtbar blieb, schien es, als würde sie schweben.
Auf der Tastatur waren die herkömmlichen 26 Zeichen des Alphabets in Großbuchstaben zu sehen. Zusätzlich waren da noch alle arabischen Ziffern von Null bis Neun und das ß.
Versuchshalber drückte Leandro auf das L. Auf einem winzigen Display erschien das Wort „QETAXEEFU XU FUABU“. Verunsichert blickte Leandro die Tafel an. Was zum Teufel sollte das denn bedeuten? Die Schrift wechselte und er las nun: „QETAXEEFU HE NESOHEVVIOSU“.
„Was zum Teufel heißt das?“, brüllte Leandro das Ding an und auf dem Display erschien: „FALSCHES PASSWORT“. „Aber, das habe ich vergessen!“, log er. „DEIN PROBLEM“, antwortete die Schalttafel. „Okay, Leandro, was machen wir jetzt?“, murmelte er und schlug sich entsetzt die Hand vor den Mund. Oh nein! Das konnte nicht wahr sein! Jetzt hatte er schon zweimal innerhalb einer Stunde mit sich selbst gesprochen! „SCHAFFST DU ES DANN IRGENDWANN WIEDER ZUR SACHE ZU KOMMEN?“, erschien auf dem Display und Leandro wurde bewusst, dass sich die Schalttafel über ihn lustig machte. Wie frustrierend.
„Gibt es eine Möglichkeit, das Eingeben des Passworts zu übersehen?“, fragte er, dachte gleichzeitig: „Ich rede mit einer Maschine… Soweit kommt’s noch…“ und kam sich lächerlich vor. „NEIN“, kam sofort die Antwort. „Aber ich bin doch nicht der Erste, der hier vorbei kommt, oder?“ – „JA, UND?“ – „Wie viele kennen denn das Passwort?“ – „ALLE“ – „Okay, dann bin ich sicherlich nicht der Erste, der es schon mal vergessen hat, oder?“ – „DOCH“ – „Aber gibt’s denn keinen Plan B oder so?“ – „NEIN“
Es ging fast eine Viertelstunde lang so weiter bis die Schalttafel plötzlich nicht mehr antwortete. Leandro klopfte vorsichtig auf den Display. Nichts rührte sich. „Bist du jetzt beleidigt?“, fragte er zögerlich, denn er wusste nicht genau, ob Schalttafeln Gefühle haben konnten. Doch sie antwortete noch immer nicht.
Dacia und Leandro hatten keine Ahnung, wo sie hinein schlitterten, aber derjenige, der die Fäden aller in den Händen hält wusste es genau. Seine Augen glitten über die vielen kleinen Bilder um ihn herum bis er fand, wonach er suchte. „Leinad, folge dem Jungen, er braucht jetzt Hilfe… Leachim, du führst das Mädchen durch Zeichen. Sie müssen zu uns finden. Zu uns und zueinander, das Schicksal aller liegt in ihren Händen.“
Gehorsam verbeugten sich die beiden und verschwanden lautlos, Leinad in einer smaragdgrünen und Leachim in einer saphirblauen Wolke. Der Allwissende pflückte das Bild aus der Luft und tippte es an. Die Personen darauf schienen plötzlich lebendig zu werden. „Hilah, Milah, ihr benachrichtigt bitte alle Bewohner von Kohula und Viphula der Kampf wird bald beginnen…“
Texte: Die Rechte für den Inhalt liegen alle bei mir.
Tag der Veröffentlichung: 07.10.2011
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Arabella