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Kapitel 1
Fröhliche Weihnachten



Das ganze Leben lang, wartet man auf etwas. Immer wieder, jeden Tag. Von Anfang an, wartet man eigentlich nur auf eine Sache. Den Tod.
Was, wenn ich nicht mehr warten möchte?
Mit diesem Gedanken fing alles an. Ich wollte nicht mehr länger auf etwas warten, dass man sich auch selbst einrichten konnte.
Der Tod war bestimmt keine so grausame Sache, wie alle sagten. Sicherlich, zerstückelt und verbrannt zu werden ist bestimmt nicht die angenehmste Art, aber ich bin der festen Überzeugung, dass es weder Himmel, noch Hölle gibt.
Ich glaube eher an einen Ort, der ganz einem alleine gehört. Seine eigene, neue, kleine Welt. So mit allem was man gerne haben möchte.
Das Leben ist bestimmt nur die Vorstufe, die Vorspeise, auf das Hauptgericht. Ich glaube, der Tod ist das wahre Leben. Wir wissen es nur nicht.
Aber bald würde ich es wissen, denn bald würde ich dort sein.

Es trug sich in einer klaren, eiskalten Winternacht zu, als ich mich aufmachte, mit nackten Füßen und nur einem T-shirt und einer Jeans bekleidet, durch den Schnee watete, um zu dem Nationalpark drei Straßen weiter zu gelangen. Ich dachte, es wäre ein schöner Platz um zu sterben.
Ich hatte ein festes Seil mitgenommen und spürte schon, wie meine Zehen zu erfieren drohten. Aber wenn man tot ist, braucht man keine warmen Füße, wenn man tot ist, ist man glücklich, da fühlt man den Schmerz nicht.
Also lief ich weiter und dachte auch nicht an die eisig kalte Luft, die die Härchen an meinen Armen zum stehen brachte. Der Reflex des Zitterns ließ sich nicht vermeiden und da es draußen stolze minus zwölf Grad hatte, klapperten auch meine Zähne nicht leise. In der Stadt war nicht viel los, denn heute war ein “besonderer“ Tag.
Weihnachten war für mich nie spektakulär gewesen, seit meinem siebten Geburtstag nicht mehr.
Die matschigen Straßen New Yorks, die von dem gelblichen Laternenschein erhellt wurden, wurden schon seit einigen Tagen immer wieder leicht oder stark angezuckert. Eine Schneeflocke landete auf meiner Nase, die gerade und schmal war und ganz leicht in den Himmel zeigte, von dort, wo die weißen Boten des Winters auf den verschmutzten Schandfleck der sich Erde schimpfte, landete.
Arme Dinger, dass sie hier landen mussten, wo sie von Autos überfahren und von Hunden bepinkelt wurden.
Eine scheußliche Vorstellung, so enden zu müssen.
Meine smaragdgrünen Augen erblickten die ersten Bäume des „Central Parks“, dem beliebtesten Freizeitort aller Teenager in ganz New York.
Meine Füße waren schon ganz rot und meine Hände und meine Nase ebenfalls. Meine schwarzen, schulterlangen Haare hatten eine leichte Schneeschicht und waren durchnässt.
Ich hatte keine Angst vor dem, was ich tat, sonst würde ich es nicht so weit geschafft haben. Ich freute mich eher darauf, diese Welt und ihre Monster, die Menschen, nicht mehr ertragen zu müssen.
Wieso sollte ich noch länger leben, wenn es doch alle nur auf das abgesehen hatten, was ich besaß?
Sie alle waren verdammte Heuchler und keiner von ihnen hatte jemals ernsthaft darüber nachgedacht, wie es mir dabei ging, wenn sie mich ausnutzten und demütigten.
Mein zitternder Körper schleppte sich, angetrieben von meinem eisernen Willen endlich dem ganzen einen Schlussstrich zu ziehen, weiter durch den Schnee und den Matsch auf den Straßen.
Ich lief über eine rote Ampel, das Seil in beiden Händen, kaum mehr fähig diese zu bewegen, und wurde von lautem, empörtem Hupen aus meinen Gedanken gerissen.
Ich wandte den Blick leicht nach links und sah dem Autofahrer nach, der mir auf rutschiger strecke gerade so ausgewichen war.
Egal, dachte ich und lief stur weiter. Überall hingen bunte Lichterketten und Plakate waren aufgehängt, auf denen „Fröhliche Weihnachten“ stand.
Ekelhaft, wie es mich anwiderte.
Meine Eltern kümmerte es wohl nicht, dass ich davon gelaufen war. Ich hatte mich sogar von ihnen verabschiedet und sie fragten nicht mal, wo ich hin ginge, oder ob ich nicht Schuhe und eine Jacke anziehen wolle.
Nein, sie sagten, geh nur und hab Spaß. Sie hatten mich nicht mal angesehen. Sie kümmerten sich ja nur um meine kleine Schwester, ein Teufel namens Liz. Sie war schnuckelige drei Jahre alt und ich konnte sie beim besten Willen nicht ausstehen. Überhaupt mochte ich keine kleinen Kinder, vor allem Liz. Mit ihren goldenen Engelslöckchen und den runden Bäckchen sah sie aus wie die Tochter eines Engels, doch allein ihre Gegenwart brachte mich zur Weißglut. Es ging nur noch um sie, Liz hier, Liz da. Ich war unerwünscht und man ließ mich links liegen.
„Der ist groß, der braucht keine Liebe“, so klang es, wenn ich meinen Eltern in die Augen sah. „Der kann für sich selbst sorgen. Der ist ein Junge, wir wollen lieber ein Mädchen, eine Prinzessin, jemanden, den wir lieb haben. Nicht wie ihn. Ihn mögen wir nicht“, herzlos und kalt klangen die Worte in meinem Kopf wider. Auch wenn sie nie ausgesprochen worden waren. Ich fühlte mich, als hätte man sie mir entgegen geschriehen oder auf riesige Plakate überall in der Stadt aufgehängt. „Den brauchen wir nicht. Wir haben Liz.“
Ja, mal sehen ob sie mich nicht doch haben wollen, wenn ich dann tot bin. Erfroren und starr wie eine Kugel am Weihnachtsbaum. Eine lustige Vorstellung, wenn man die Tatsache weg ließ, dass ich dabei die größte und auch die lebloseste Figur am großen Baum im Central Park sein würde.
Ich betrat den nördlichen Teil des Central Parks, denn dieser war nachts wie ausgestorben. Man bekam allein von der Totenstille die hier herrschte, eine Gänsehaut. Gerade gut genug, um mich in aller Ruhe von diesem Schandfleck von Erde zu verabschieden. Meine Augen erblickten das Tor und ich passierte die vereisten Laternenpfähle, links und rechts vom Eingang. Ein Schauer jagte mir den Rücken hinab, als ich den schäbig beleuchteten Weg vor mir sah.
Meine Füße spürten den Schmerz und Kälte schon nicht mehr, als ich weiter lief, durch den Schnee und das Eis. Ich zitterte stark und ich konnte sehen wie der Atem, den ich aus meinem Mund stieß, sich vor mir in kleinen Wölkchen verflüchtigte. Was die Welt nicht alles zu entdecken hatte. Aber die Welt war mir zu langweilig geworden. Siebzehn Jahre lang, jeden Sommer ein anderes Land, jeden Sommer andere Kulturen, andere Sprachen, jeden Sommer Urlaub. Nein, die Welt hatte ich schon gesehen. Vom kältesten Pol bis zur heißesten Wüste.
Die Welt war ein einziger Schandfleck. In meinen Augen, sollte sie endlich befreit werden. Von allen Menschen, jedem einzelnen Heuchler auf dieser Erde.
Die Welt sollte von all denen befreit werden, die sie zu einer Müllhalde machten, die Löcher in sie hinein bohrten und die meterhohe Stahlkolosse auf ihr erbaute.
Die Welt wäre ein wirklich wunderschöner Ort, gäbe es die Menschheit nicht.

Mit einem seufzen hatte ich den Weg zu dem Baum gefunden, den ich mir schon seit einigen Tagen zuvor heraus gesucht hatte. Er war groß und stark genug, um eines Werkzeuges meines Verhängnisses würdig zu sein. Ich kletterte hinauf, was sich als schwieriger erwies als gedacht, da meine Füße schon ganz taub vor Kälte waren. Doch ich schaffte es trotzdem und als ich hoch oben, auf einem der dicken Äste sah, über die anderen Bäume hinweg, da seufzte ich leise.
Ich band das Seil fest um den dicken Ast und legte mir die Schlinge um den Hals. Ich zog sie bis zum Anschlag zu und betrachtete die Stadt ein letztes Mal.
Ein sanftes Lächeln huschte über meine trockenen Lippen und meine müden Augen schlossen sich. Eine ganze Weile saß ich dort oben und lauschte der Stille, welche keine Stille war. Man konnte die Autos auf den Straßen hören und irgendwo, ein paar Blocks weiter, schien ein Weihnachtsmarkt zu sein, doch die eigentliche Stille, die ich verspürte, war die in meinem Kopf und die, in meinem Herzen.
„…Fröhliche Weihnachten“, flüsterte ich leise und rutschte zur Seite.
Als mein Fall von dem Seil um meinen Hals gestoppt wurde und es sich in meine Haut schnitt, reagierte mein Körper, wie jeder Andere es auch getan hätte. Ich strampelte hilflos und japste nach Luft. Meine zitternden, fast tauben Finger rissen hastig an dem Seil um meinen Hals und mit geweiteten Augen und bebendem Körper, verlor ich schließlich die Sicht, auf das erleuchtete New York, mit seinen schimmernden Laternen und blinkenden Lichterketten, dem leuchtenden Empire State Building und dem riesigen Weihnachtsbaum, in der Mitte des Central Parks. Mein Körper wurde schlaff und alles wurde still und dunkel.


Kapitel 2
Ich will nicht mehr!



Die Stille und die Dunkelheit ließen nach einer Weile langsam wieder nach. Ich spürte, wie jemand mein Gesicht berührte und wie sich ein Handrücken sanft an meine Wange schmiegte. Ich vergaß meinen Zorn auf die Welt für den Bruchteil einer Sekunde und öffnete den Mund ein wenig. Ich atmete langsam ein und mein Hals brannte fürchterlich, als hätte man mir scharfe Klingen in den Hals gerammt.
Ich vernahm eine gedämpfte Stimme, die wie durch zehn dicke Glasscheiben zu mir sprach und ein nebliger Schleier verdeckte meine Sicht, als ich meine Augen öffnen wollte.
„Hey, du…Bist du wach?“, flüsterte eine warme Stimme, bei der man sich sofort geborgen fühlte. Ich musste wissen welcher Mensch eine solch wunderschöne Stimme hatte, dass es mir beinahe Angst einjagte.

Voller Erwartung schlug ich meine Lider zurück und blickte in kastanienbraune, glänzende Augen, welche besorgt zu mir hinab sahen.
„oh…“, rutschte es aus mir heraus und ich sah wie verhext in diese unglaublich warmen Augen. Wieder spürte ich die Hand sanft an meiner Wange und erst jetzt bemerkte ich, dass die eisige Kälte, die doch noch vorhin um mich herrschte, verschwunden war.
War ich nun endlich in der Welt, in der ich sein wollte?
Ich warf einen Blick zur Seite und erblickte einen Kamin, der leise knisterte und Licht und wärme spendete. Die emporzüngelnden Flammen warfen Schatten in den Raum und verschlangen diese gleich darauf wieder.
Feuer war mein liebstes Element, schon immer, es war zerstörerisch und in Mengen kaum aufzuhalten.
„Hey… wie geht’s dir?“, fragte die bezaubernde Stimme wieder und meine Gedanken wurden sofort abgelenkt. Ich sah wieder in die kastanienbraunen Augen und öffnete den Mund abermals, doch ich bekam keinen Ton heraus.
War ich zu überwältigt oder einfach nur kaputt?
„…magst du noch ein bisschen schlafen?“, fragte diese Stimme wieder, so sanft, dass mir ganz warm wurde. Erst jetzt bemerkte ich, dass die Stimme einem Jungen gehörte, aber irgendwie war mir das auch total egal.
Was kümmerte es mich, ob ich in meiner eigenen kleinen Welt einen männlichen oder weiblichen Engel an meiner Seite hatte?
Erst jetzt sah ich ihm richtig ins Gesicht, zuvor waren da nur seine Augen gewesen, doch nun lächelten volle, weiche Lippen zu mir hinab, die so sanft aussahen, dass ich sie am liebsten berührt hätte... Er hatte lange Haare, so braun wie seine Augen, die sanft sein freundliches Gesicht umspielten. Sie wellten sich leicht und lagen auf seinen Schultern, anscheinend waren sie nass gewesen.
Der Junge sah mich wartend an und wiederholte dann seine Frage noch einmal, die ich gar nicht war genommen hatte.
„Magst du noch ein bisschen schlafen? Ich stell’ dir ’nen warmen Kakao hin, den kannst du trinken wenn du wieder ein bisschen fitter bist.“
Als er mir sein fesselndes Lächeln preis gab, wunderte ich mich. Gab es Engel, die eine Zahnspange trugen?
Auch egal… Sie passte irgendwie gut zu ihm, fand ich.
Diesmal nickte ich ganz leicht, obwohl es schmerzte, sich zu bewegen.
Ich lag auf dem Rücken, den Kopf leicht zur Seite gelegt, unter einer oder zwei warmen Decken und schloss meine Augen wieder, nachdem ich ihm noch einmal in seine wunderschönen Augen sah.
Innerlich lächelte ich. Das konnte nur der Himmel sein, den ich mir immer erwünscht hatte. Meine eigene, kleine Welt, in der alles perfekt war.

Später öffnete ich meine Augen wieder. Ich fühlte mich etwas stärker und warm war es mir auch. Das Sofa, auf dem ich lag, war unglaublich gemütlich und auch die Decken, die mich wärmten, wollte ich nicht so schnell wieder los werden. In dem Kamin, der mir gegenüber war, brannte noch immer das Feuer und ich starrte eine Weile lang hinein, bis ich mich dem Zimmer wandte, in dem ich aufgewacht war. Es war ein wenig geschmückt und in der Ecke, nahe beim Kamin, stand ein mittelgroßer Weihnachtsbaum, dessen Lichterkette in einem sanften Licht leuchtete. Weihnachten? Ich hasste Weihnachten doch, ich wollte nicht, dass Weihnachten in meiner Welt eine Rolle spielte.
So fest ich konnte, wünschte ich mir die ganze Dekoration und den Weihnachtsbaum weg.
Bah!
Aber…nichts geschah. Mit einem leisen Seufzen schloss ich meine Augen und öffnete sie kurz darauf wieder. Doch alles war, wie zuvor auch schon.
Am Fenster, welches an der Wand zu meinen Füßen war, türmte sich der Schnee auf dem Fenstersims und weiße Flocken schwebten daran vorbei. Mal schneller, mal langsamer.
Langsam drang der Duft von warmem Kakao in meine Nase und ich wandte den Blick vom Fenster ab. Links vor mir, stand ein gläserner Sofatisch, auf dem ein kleines Tablett mit einer dampfenden, duftenden Tasse und drei Keksen stand.
Behutsam versuchte ich, meine schweren Glieder zu bewegen und stützte mich langsam auf. Meine Haare waren noch etwas nass und alles tat mir weh.
Mich beschlich das leise, schmerzende Gefühl, dass ich es doch nicht geschafft hatte. Wo war ich gelandet? Niemals war dies die Welt, die ich mir wünschte, nein, die sah ganz anders aus.
Ich griff nach der Tasse und erschrak, wobei mir die Tasse mit dem Kakao aus der Hand fiel und am Boden zerschellte, als ich meinen Arm sah, der zerkratzt und mit einem Verband teilweise umwickelt war.
Was zur Hölle war mit mir passiert?!
Mein Körper begann zu zittern und ich spürte, wie Tränen in mir aufsteigen und an die Oberfläche stürmen wollten. Zumal wegen des Schmerzes, den ich nun spürte, aber auch, weil ich es nicht wahr haben wollte, dass es nicht geklappt hatte.
Ich wollte doch fort von hier!
Fort von dieser Stadt, diesem Land, fort von dieser Welt.
Ich wollte nicht mehr sein, nicht mehr fühlen, nicht mehr weinen…
Ich rollte mich zusammen und schluchzte laut.
Alles kam wieder in mir hoch. „ICH WILL NICHT MEHR!“, schrie ich mit Leibeskräften und es klang so verbittert und verzweifelt, dass man als Außenstehender selbst hätte weinen können.
Es war ein Hilferuf, hätte ein Therapeut gesagt.


-to be continued-

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 26.11.2010

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