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Kapitel 1

Das Wesen

Vorsichtig hebe ich meinen Kopf… Vor mir, ein Wesen welches von Traurigkeit, Einsamkeit und Selbstzweifel langsam, in einem schleichenden Prozess, zu einer leeren Hülle hin vegetiert…
Schwarze Haare, die bis zur Schulter reichen, der Pony seitlich vor ein Auge geschoben… Auf einer Seite blitzt ein meerblaues Auge zwischen dicken schwarzen Augenrändern hervor… Schmerz und Leid spiegelt sich im Gesicht dieses Wesens wider…
„wer bist du?“, fragte ich es…Doch es stellt mir nur dieselbe Frage… Ich komme näher zu ihm hin, das Wesen rückt mir entgegen… Langsam, legen wir die Hände aufeinander…Es ist eiskalt… Wir sehen uns in die Augen, die Köpfe so dicht beieinander, dass sich unsere Nasenspitzen beinahe berühren… „Wer bist du?“, frage ich abermals, doch wieder bekomme ich dieselbe Frage nur zurück. Es sieht so traurig aus… Verletzt… Einsam… Noch immer sehen wir uns in die Augen… Langsam versinke ich in dem tiefen meerblau der Augen meines Gegenüber… „Was hast du getan?!“, peitscht eine laute, boshafte Stimme von weit entfernt zu mir her. Ich zucke zusammen und drehe den Kopf nach hinten. „Vater!“, fiepe ich leise. Ein großer Mann mit langen, welligen Haaren und einem drei Tages Bart kommt auf mich zu, den Blick deutlich auf mich gerichtet, die Miene verzerrt… Er sieht wütend aus… Ich schließe die Augen und hoffe, dass es gleich zu Anfang dunkel wird… Ich spüre nur noch, wie ich auf den Boden geworfen werde und eine schwere Faust mich ins Gesicht trifft…

Schwer atmend wachte ich auf. „Scheiße!“ knurrte ich leise und rieb mir die Schläfen. Ich drehte mich auf die Seite und legte die Hände vors Gesicht, bereute es aber sofort. „ah! Mist…“, ich setzte mich auf und stieg vorsichtig aus dem Bett. Langsam trat ich vor den Spiegel. Vor mir tauchte das ineinander fallende Wesen auf, welches mich in meinen Träumen ansah. Ich beugte mich vor und strich mir vorsichtig über Nase und Wangenknochen, welche aufgeschrammt und noch immer rot waren… Schmerz durchzitterte meinen Körper, als ich die wunden Stellen berührte. Ich zuckte leicht zusammen und legte leise seufzend den Kopf gegen den Spiegel. „Ich wollte doch nur anders sein…“ Nach einer Weile drehte ich dem Spiegel den Rücken zu und ließ meinen müden Blick durch das Zimmer schweifen… Hohe Decken, bodentiefe Fenster, verzierte Bordüren beim Überlauf von Wand zu Decke… Ich stand in meinem großen zweiteiligen Zimmer, mit meinem Blick noch immer über den Raum schweifend… Der Raum in dem mein Bett stand, hatte fünf Wände… Die Wand an der ich mich befand, war mit großen Postern von meinen Lieblingsbands zu gepflastert… Nur der breite Ganzkörperspiegel, der in der Mitte hing, war nicht mit Postern überklebt. An der schräg stehenden Wand neben mir, fand man eine weiß gestrichene Flügeltür vor, die jedoch nicht geschlossen war. Ging man dort hindurch, käme man in mein ‚Ankleidezimmer’, wie es meine Mutter so gern nennt… Ich sage dazu einfach nur Kleiderschrank…
An der nächsten Wand war ebenfalls eine Türe, weiß gestrichen und zu geschlossen… Von dort aus gelangt man über den Flur, die große Treppe hinunter in den Koch-, Ess- und Wohnbereich… Mir schräg gegenüber strahlte ein großer, ebenfalls weißer, Flügel durch den Raum und wartete darauf, ihn mit himmlischen Klängen zu füllen… Nun entgegengesetzt der Posterwand, an der ich noch immer lehnte, befand sich ein breiter Durchgang, der ins andere Zimmer führte, in dem sich eine große Leinwand mit bequemen Sesseln, ein Billard Tisch und eine große Schreibtischecke mit Computer und Musikbox befanden. Von diesem Raum aus, kam man auch in mein Badezimmer… Links von mir, stand mein großes, kreisrundes Bett, mit rot-brauner Bettdecke und vielen kuscheligen Kissen… Neben meinem Bett schlummerten drei Gitarren vor sich hin, mitsamt einem Verstärker und diversen anderen Dingen… Der Boden meines Zimmers war aus einem hellen Parkett und meine Wände waren in einem sanften Beige gestrichen…
Ja, man könnte durchaus sagen, ich hatte alles was ich mir nur wünschen kann, aber materieller Reichtum lässt nicht über das Hinweg sehen, was ich Daheim durchstehen muss…

Ich seufzte leise und schritt durch mein großes Zimmer und das darauf folgende. Vorsichtig öffnete ich die Tür und ging ins Badezimmer. Nach ca. einer halben Stunde kam ich wieder zurück in mein Zimmer, geduscht, die Haare geföhnt und geglättet, die Augen wie immer schwarz umrandet. Ich verschwand für kurze Zeit in meinem großen Kleiderschrank und kam mit einem halbwegs gepackten Koffer wieder zurück. Seufzend ließ ich mich auf mein Bett fallen und zupfte an meinem schwarzen Hoodie, auf dem in grünen Neonfarben „let’s Rock!“ aufgedruckt war. An meiner ebenfalls schwarzen Hose hing ein silberner Pyramiden-Nietengürtel und an den Händen trug ich fingerlose Handschuhe mit schwarz-grünem Karomuster. „November!“, hörte ich meine Mutter von unten rufen, „Steh auf, das Frühstück ist fertig!“

Ja, ihr habt richtig gehört. Mein Name ist November… Die Geschichte dahinter erfahrt ihr später noch. Ich bin 17 Jahre alt und lebe in einer sehr reichen Familie. Ich bin Einzelkind und obwohl mich meine Eltern verwöhnten, wollte ich immer ein normales Leben führen… Ich bin im Grunde genommen wie all die anderen 17 jährigen Jungs auch… Abgesehen von meinem auffälligen Äußeren und meiner manchmal sehr femininen Art, bin ich nicht irgendwie verhaltensauffällig… Ich liebe die Musik und spiele manchmal in einer Band… Neben der Musik spielt auch der Sport eine große Rolle, doch was meine Ernährung betrifft habe ich eine kleine Macke… Ich esse kaum etwas und wenn, dann ausschließlich Salat… Aber das liegt nicht daran, dass ich dünn sein will, mich zu dick finde oder sonst was, nein, das liegt daran, dass ich einfach nichts anderes vertrage. Salat und Gemüse… Ich würde oft gerne einfach irgendwo hin gehen und mir Pommes oder einen Burger schmecken lassen, aber leider sagt das dann alles nach wenigen Stunden wieder „hallo“, und das kann ich überhaupt nicht gebrauchen…. Auf eine Schule gehe ich leider nicht, denn ich werde zu Hause unterrichtet… Es ist anstrengend und ich muss sehr viel lernen… Ich weiß eigentlich überhaupt nicht, wozu das gut sein soll, denn meine Eltern meinen, mit meinem Erbe bräuchte ich keines Falls arbeiten gehen… Nun ja, zurück zur eigentlichen Geschichte…

Ich hüpfte aus dem Bett, schnappte meinen Koffer und ging auf die Türe zu, blieb aber kurz davor stehen… Ich drehte mich noch einmal um und sah zu meinen Gitarren… „hm…“, nach kurzer Zeit überlegen packte ich meine Akustik Gitarre ein und holte noch ein paar andere Sachen, die ich in einem Rucksack verstaute. Mit der Gitarre auf dem Rücken, dem Koffer und dem Rucksack in der Hand, ging ich nach unten. „Bin schon fertig Mum…“, murmelte ich leise und stellte die Sachen ab. Ich ging zum großen Esstisch und setzte mich, aß jedoch nichts. Meine Mutter und ich saßen allein am Tisch und ich trank lediglich ein paar Schlucke aus dem Glas vor mir. „Hast du alles gepackt?“, fragte meine Mutter. „Ähm… Ja, ich hab alles.“, nuschelte ich hinter dem Glas hervor. „ Gut. Dein Flieger geht um elf, dein Vater fährt dich hin…“, sie sah mich ausdruckslos an. Ich zuckte zusammen, als die sagte, mein ‚Vater’ würde mich fahren. „Kann-kannst du mich denn nicht fahren??“, flehte ich. Sie schüttelte den Kopf, stand auf und räumte die Teller weg. Ich kaute auf meiner Unterlippe und bekam ein wenig Panik. „Bitte Mum!“ ich stand auf und war schon fast den Tränen nahe. „Benimm dich endlich wie ein Kerl du Nichtsnutz!“, raunte mein Vater hinter mir. Abermals zuckte ich heftig zusammen und wirbelte herum. Ich starrte in ein missbilligendes Gesicht. „Geh endlich zum Frisör du siehst schrecklich aus! Und hör auf damit, dich zu schminken!“, grollte er wütend. Er packte mich am Handgelenk und drückte zu. „Nh… Du tust mir weh!“ ich versuchte mich aus seinem Griff zu befreien, doch er war einfach zu Stark. Er holte mit der flachen Hand aus und gab mir eine kräftige Ohrfeige, sodass meine Wange zu glühen begann… Ich verzog das Gesicht und biss mir auf die Zunge, um nicht los zu schluchzen… Ich gab keinen Mucks mehr von mir, bis er mich los ließ und ich auf die Knie fiel. Meine Wange brannte und ich spürte wie ich kaum Luft bekam… „Steh auf, Bursche! Ich warte nicht zehn Jahre auf dich!“, rief mein Vater und ich rappelte mich nach Luft japsend auf. „…“, ohne ein weiteres Wort nahm ich meinen Koffer, den Rucksack und meine Gitarrentasche und ging nach draußen. Ich wischte mir die Tränen aus dem Gesicht, die langsam über meine Wangen liefen und schloss die große Eingangstüre hinter mit… „Tschüss mum…“ flüsterte ich leise. „Wird’s bald?!“, peitschte mein Vater. Ich drehte dem riesigen weißen Anwesen meinen Rücken zu und lief auf den großen, schwarzen Chevrolet zu, der in der Einfahrt parkte. Vor unserem Anwesen war die ovale Einfahrt mit gepflastertem Weg, auf dem man mit dem Auto bis zum Eingang vorfahren konnte… Links am Haus vorbei, gelangte man bis nach hinten, zum großen Garten…
Ich packte meine Gitarrentasche und den Koffer in den Kofferraum und setzte mich hinten ins Auto, den Rucksack auf dem Schoß. Meine Wange schmerzte noch immer, doch ich schnallte mich ohne ein weiteres Wort an…

Ich hatte die ganze Zeit über im Auto nicht gesprochen, während mein Vater mich mit Schimpfwörtern und Drohungen bewarf. Ich hatte ihn einfach ausgeblendet und die Zeit verging recht zügig. Ich konnte es kaum erwarten, endlich im Flieger zu sitzen und von meiner nervigen Familie und den nervigen Angestellten so weit wie nur möglich fort zu sein. Vor allem vor meinem Vater… Ohne ein Tschüss sprang ich auf dem Parkplatz vor dem Flughafen aus dem Auto, das Flugticket in der einen Hand und die andere Hand an der pochenden Wange. Ich holte meine Sachen aus dem Kofferraum und schlug ihn zu. Sofort fuhr mein Vater los und ließ mich alleine stehen. Ich sah ihm nicht lange nach und ging sofort in Richtung Check in. Ich checkte ein, gab meine Koffer und meine Gitarre weg und ging mit meinem Rucksack auf dem Rücken weiter zur Wartehalle. Vorher musste ich durch die Kontrolle und den Metalldetektor, jedoch wurden in meinem Rucksack lediglich meine Piercings, mein Kugelschreiber und sonst nichts gefunden. Nachdem ich eine ganze Weile warten musste, durfte ich endlich zum Flugzeug, durch einen Gang. Ich sah mich um und ging zu meinem Platz… Ich war noch immer müde, doch ich wollte nicht schlafen, denn dann würde ich wieder diesen schrecklichen Traum haben, der mich seit ich klein bin verfolgt…
Ich sah mir einen Film an und hörte am Schluss noch etwas Musik. Immer wieder starrte ich zum Fenster hinaus und beobachtete die vorbeiziehenden Wölkchen, wie sie miteinander dahin zogen, über den Menschen, unter uns… Ich seufzte leise… *Wäre ich doch auch nie allein…*, dachte ich mir traurig. Nach einer ganzen Weile, setzte das Flugzeug zum Landeanflug an und ich musste mich anschnallen. Ich steckte mein Handy in die Tasche und schnallte mich an….

Nun stand ich in der großen Halle und wartete auf mein Gepäck… Ich betete darum dass die Götter mir gnädig seien und mir meine Gitarre wieder brachten… Der Koffer wäre nicht so schlimm gewesen. Schon hier sahen mich viele Menschen an, als wäre ich von einem völlig fremden Planeten, doch ich beschloss ganz einfach sie nicht zu beachten. Ich hatte diese Blicke so satt, dass ich sie schon manchmal gar nicht mehr bemerkte. Dann endlich, nach einer halben Ewigkeit, rollte mein Koffer auf mich zu, zusammen mit der Gitarrentasche. *Hoffentlich haben sie die nicht kaputt gemacht…*, knurrte ich in Gedanken. Ich packte meine Sachen und verschwand in eine etwas größere Halle. Dort kaufte ich mir erst mal einen Kaffe, denn ohne den, würde ich auf der Fahrt zum „Brooklyn Laker Sports Camp“, in welchem ich meinen Sommer verbringen würde, einschlafen… Fünf Wochen fort von daheim! Ich freute mich riesig darauf, denn ich war schon ein paar Mal dort gewesen und hatte sogar Freunde gefunden, die ich nur dort sehen konnte, da sie so weit von mir entfernt wohnten.
Und ich hatte mich sogar verliebt… In ein Mädchen aus dem Camp, welches unglaublich gut skaten konnte… Ich war schon ziemlich aufgeregt und wollte sie unbedingt wieder sehen… Gerade trank ich den letzten Schluck des Pappbechers aus und warf ihn geschickt in einen entfernt stehenden Mülleimer, als ich plötzlich meinen Spitznamen hörte. „Noviii!“ Verwundert drehte ich den Kopf nach hinten und mein Herz schlug plötzlich schneller. „Sue!“, rief ich erfreut und hüpfte über die Bank auf sie zu. Sie kam mit einem schweren Koffer und einer großen Tasche auf mich zu und wir nahmen uns in die Arme. „Schön dich zu sehen…“, flüsterte ich leise und sie drückte sich an mich. „Ich hab dich echt vermisst, warum warst du denn so selten online?“, fragte sie ein wenig enttäuscht und ließ mich los. Ich rieb mir den Hals und zuckte mit den Schultern. „Keine Ahnung, ich hab das total vergessen… Verzeih mir…“, ich starrte bedrückt zu Boden. Sie piekste mir mit einem Finger kichernd in die Seite und legte ihr Gepäck auf die Bank. „Ist in Ordnung“, murmelte sie, „jetzt sehen wir uns ja ne ganze Weile“ Ich ging seufzend zu ihr und setzte mich wieder hin. „Was hast du da eigentlich gemacht?“ sie beugte sich zu mir hinunter und deutete auf meine Nase, die noch immer aufgeschrammt war, und auf meine Wange, die nicht besser aussah… „Ähm…“, ich hatte ihr nie erzählt, dass mein Vater mich schlug… „Gegen ne Tür gelaufen glaub ich… Ich kann mich nicht mehr daran erinnern.“, log ich schnell. „aaaaha…“, Sue zog eine Augenbraue empor. „Dann glaube ich dir das mal…“, meinte sie schmunzelnd. Sie hielt sich den Bauch. „uff… ich hab Hunger… Sag mal, saßen wir im gleichen Flugzeug?“, hakte sie nach. „Ich glaube nicht. Sonst hätten wir uns beim Flughafen gesehen.“, antwortete ich und musterte sie. Sie war so wunderhübsch wie immer… Ihre langen, blonden Haare fielen ihr geschmeidig über beide Schultern, ihre grün leuchtenden Augen passten super zu ihrem modischen T-shirt und ihr schmales, perfekt geschnittenes Gesicht passte super zu ihrer sportlichen Figur. Langsam versank ich in ihrem Anblick und ich bekam nicht so recht mit, was sie mir eigentlich sagte. „Novi, hörst du mir überhaupt zu??“, hakte sie nach und tippte mir auf die Stirn. Ein Schmunzeln zuckte über mein Gesicht. „Tut mir leid, was hast du gesagt?“, ich legte lächelnd den Kopf schief. Sie schüttelte den Kopf und ließ einen kurzen Seufzer hören. „Ich geh mir was zum Essen holen… Möchtest du auch was?“, fragte sie und musterte mich mit ihrem Blick. „Nein, danke… Du weißt doch dass ich nur Salat essen kann…“, grummelte ich leise und verdrehte die Augen. „Ach so, ja… Du hast recht. Also ich komme gleich wieder!“, meinte sie lächelnd und verschwand für kurze Zeit. Ich beobachtete die Jungs und die Mädchen mit oder ohne ihre Eltern, welche an mir vorbei liefen. Ein paar davon kannte ich sogar aus dem Camp, doch sie sagten nichts, da die meisten von dort, mich nicht leiden konnten… Ich weiß nicht, ob das an meinem Aussehen, meinem Verhalten oder daran liegt, dass ich nur 175 cm groß bin… Ich kaute auf meiner Unterlippe und suchte mit wachsamen Blicken nach einer Uhr. „Oh… der Bus müsste bald da sein…Wo bleibt Sue?“, dachte ich laut. Ich stand auf und lief ein wenig herum, jedoch immer so, dass ich meine und Sues Taschen im Blick hatte. Meinen Rucksack trug ich auf dem Rücken. Nach wenigen Minuten kam sie endlich zurück und hielt ein großes Sandwich in der Hand. „Damit solltest du dich aber beeilen, der Busfahrer mag es gar nicht, wenn man so was im Campbus isst.“, lachte ich und ging zurück zu unserem Gepäck. Ich nahm meinen Koffer, die Gitarrentasche und sah zu Sue. „Geht das, mit dem Tragen, oder soll ich dir helfen?“, bot ich ihr an, doch sie schüttelte lediglich den Kopf. „Okay…“, seufzte ich. *Da möchte man ein Mal Kavalier sein und man darf nicht…*, brummte ich in Gedanken… Ich ging neben ihr in Richtung Ausgang. Schon von weitem sah ich immer mehr Jugendliche aus dem Camp, die ich die letzten Jahre schon gesehen hatte… Ich freute mich zwar darauf, mit einigen davon reden zu können, doch ich wäre am liebsten mit dem Zug gefahren, denn in Reisebussen wurde mir immer ziemlich schnell, ziemlich schlecht…

Kapitel 2

Alte Bekanntschaften…

Bevor ich mich überhaupt richtig umsehen konnte, wurde ich auf ein Mal von hinten überfallen. „Woah!“, rief ich und stolperte. Ich stürzte in die Arme eines großen Jungen, welcher mich auffing. Vorsichtig richtete ich mich wieder auf und sah in das Gesicht meines Retters. „Danke…“, nuschelte ich und rieb mir den Nacken. Der Junge war unglaublich groß… Ich hätte ihn auf 1,90m geschätzt… Er hatte, genau wie ich, lange, schwarze Haare, die bis zu den Schultern hingen, welche jedoch bei ihm hinten kürzer waren, sodass er sie aufstellen konnte… Er war definitiv zum ersten Mal im Camp, denn ich hatte ihn noch nie vorher gesehen. Und wenn, dann hätte ich ihn sicherlich bemerkt. „Kein Ding“, meinte er lächelnd. An seinen Lippen hingen links und rechts ein Piercing und auch am linken Nasenflügel war das Metall zu sehen. Ich stand dort wie angewurzelt und wurde von Aarons Grinsen aus meiner Starre gelöst. „Mensch, du verlierst immer das Gleichgewicht!“, lachte er. Aaron war einer meiner ersten Kumpels im Camp. Er hatte blonde und etwas kürzere Haare als ich, welche wild verwuschelt mit viel Haarspray an ihrem Platz klebten. Er war nur ein kleines Stück größer als ich, sodass ich meinen Kopf nicht, wie bei dem Neuen, beinahe in den Nacken legen musste. „Na mein Kleiner, alles klar?“ fragte er lachend und wuschelte mir durch die Haare. „Hey!“, schrie ich empört, musste aber ebenfalls lachen. Es tat gut endlich mal wieder lachen zu können… „Du bist unmöglich!“, schimpfte ich mit gespielt beleidigtem Ton in der Stimme und strich mir die Haare wieder auf die richtige Seite ins Gesicht. „Danke, gleichfalls“, lachte Aaron. „Machst du dieses Jahr wieder am Talentwettbewerb mit?“, fragte er grinsend und hob eine Augenbraue. Ich dachte nach und zuckte mit den Schultern. „Weiß nicht.“, murmelte ich leise. „Was hast du die ganze Zeit über gemacht? Durftest du endlich in `ne normale Schule?“, löcherte er mich weiter. Ich schüttelte den Kopf. „Nein… Und zudem musste ich auch noch eine neue Sprache lernen… Jetzt kann ich Englisch, Deutsch, Japanisch und Französisch… Naja, letzteres weniger, weil ich darauf echt keine Lust hatte.“, lachte ich leise. Aaron stöhnte genervt auf. „Deine Eltern sind echt schlimm!“, er sah mich mit bedeutendem Blick an. Ich fing an zu lachen. „Du hast ja keine Ahnung“, kopfschüttelnd wurde meine Miene wieder ernster. Um ihn zu beschäftigen, setzte ich zur Gegenfrage an: „Was hast du die ganze Zeit gemacht?“ Während Aaron begann, wie ein Wasserfall von seinem Geburtstag, den Feiertagen und allem anderen zu erzählen, was sicherlich die ganze Fahrt über dauern würde, suchte ich mit meinem Blick nach Sue, die plötzlich verschwunden war, sagte ab und zu „ja“, und, „aha“, damit Aaron dachte, ich würde ihm zu hören. Nehmt es mir nicht übel, aber es ist unglaublich wie lange er reden kann…
Als ich sie endlich entdeckte, zweifelte ich einen Moment daran, dass sie es wirklich war, denn sie stand bei dem Neuen, der mich aufgefangen hatte. Sie redeten ausgelassen miteinander und ich spürte langsam, dass mir das Ganze nicht sonderlich gefiel. Mein Gesichtsausdruck wurde leicht wütend, als Aaron plötzlich mit erzählen stoppte. Er folgte meinem Blick. „Wer is’ das denn?“, fragte er verwundert. „Voll der Riese!“, lachte er. Ich gab lediglich ein brummen von mir. „Keine Ahnung… Aber ich mag den Kerl nicht.“, grummelte ich leise. Aaron musterte erst den neuen, riesigen Jungen und dann mich. „Komm, wir gehen mal zu Sue.“, meinte er grinsend, nahm seine Sachen und ging zu den Beiden. Ich blieb eine kurze Zeit lang stehen und beobachtete das Ganze. „Ob sie zusammen sind…?“, fragte ich mich leise. Seufzend, mit niedergeschlagenem Blick, ging auch ich zu den Dreien. „Sag mal, woher kennt ihr euch eigentlich?“, fragte Aaron gerade heraus, direkt wie er immer war. Sue legte einen Finger an ihre Wange und dachte nach. „Ich glaub das war während der Winterferien, oder?“, sie sah fragend zu dem Großen. Ich verschränkte die Arme und kaute auf meiner Unterlippe, denn das Ganze wurde mir langsam zu blöd. „Ja, du hast mich beim Skifahren umgenietet“, lachte der Junge. Sue und Aaron fingen ebenfalls zu lachen an, nur ich blieb stumm und starrte auf den Boden. Ich spürte ihre Blicke auf mir, was mich zunehmend unruhiger machte. „Hey, ist alles in Ordnung bei dir?“, fragte Sue und legte eine Hand auf meine Schulter. Wieder musste ich nach einer Ausrede suchen und ich hasste es, sie anlügen zu müssen. „Ich…hab nur Bauchschmerzen…“, murmelte ich leise, ließ den Blick aber auf dem Boden. „Oh… kommt wahrscheinlich von der Zeitverschiebung.“, meinte Sue seufzend und sah dann wieder zu dem Neuen. „Sag mal, wie heißt du eigentlich?“, fragte Aaron plötzlich an diesen gewandt. „Ich?“, hakte er nach und hob eine Augenbraue. „Levent. Aber du kannst auch Vens sagen“, er hielt Aaron die Hand entgegen. Genau in diesem Moment ertönte das Raunen eines Busses und ein großer, blauer Reisebus tauchte neben ihnen auf. „Also, Vens! Dann viel Spaß im Camp!“, lachte Aaron und schüttelte Levent’s Hand. Ich, schon längst beleidigt, karrte meinen Koffer zum Kofferraum des Busses und versuchte ihn hinein zu lupfen. Doch es war für einen kleinen, schmächtigen Typen wie mich unmöglich, denn der Koffer war zu schwer und die anderen lagen kreuz und quer durcheinander. Nach kurzer Zeit packte jemand meinen Koffer und schob ihn geschickt in eine der Lücken. „huh?“, ich sah abermals in das Gesicht von Levent. „hmpf. Danke.“, brummte ich und verschwand im Bus. Schwer seufzend und besorgt über den Zustand meines Magens während der Fahrt, ließ ich mich weit vorne auf einen der schwarz-blau karierten Sitze fallen… Ich zog meine Jacke aus, da es im Bus unglaublich stickig war und mir somit nur noch schneller übel wurde…

Ich legte seufzend den Kopf gegen die Fensterscheibe und sah nach draußen… Die anderen standen noch immer unten auf dem Gehsteig und redeten miteinander. Ich grummelte leise etwas Unverständliches vor mich hin, als plötzlich ein Mädchen, direkt neben mir, von einem etwas breiter gebautem Jungen zu Boden geworfen wurde. „Hey!“, rief ich und sprang auf. Ich half dem Mädchen auf die Beine. Sie nuschelte ein geschluchztes „Danke“, und ging nach hinten zu ihren Freundinnen. Der Junge begann zu lachen und hinter ihm standen zwei seiner Kumpanen. „Was willst du denn, du ZWERG?“ prusteten sie. Ich warf ihnen einen vernichtenden Blick zu. „Ihr könnt doch nicht einfach irgendwelche Mädchen durch den Bus schubsen!“, protestierte ich laut. Der breite Kerl grinste mich hämisch an. Bevor ich irgendwie auch nur den Versuch starten konnte, ihm aus zu weichen, landete ich hart auf dem Boden. „nh-!“, ich verzog das Gesicht vor Schmerz, denn er hatte mich direkt auf die Wange geschlagen. „Hahaha! Siehst doch wie ich das kann!“ lachte er und stieg über mich drüber, wobei er mir noch in den Magen trat. Wie kaum anders zu erwarten, tat es ihm sein Gefolge gleich. Ich hielt mir den Bauch und spürte schon jetzt, dass das nachher kein gutes Ende nehmen würde. Das Mädchen, welches ich `beschützt` hatte, kam zu mir und half mir auf. Sie war ein Stück kleiner als ich, etwa 1,62m …
„Tut mir leid, das ist meine Schuld“, fiepste sie entschuldigend. Sie war fast schon den Tränen nahe. Ich hielt mich an einem der Sitze fest, denn so langsam wurde mir schwummrig. „Äh… Ja, ne, ist in Ordnung… Halt dich einfach von denen fern.“, riet ich ihr und ging, leicht gebeugt, zurück zu meinem Platz. Ich ließ mich wieder auf den Sitz am Fenster fallen und lehnte den Kopf leise ächzend gegen die Scheibe…
Ich zuckte zusammen als der Busfahrer nach weiteren Minuten plötzlich hupte, damit die restlichen Jugendlichen einstiegen. Ich hob den, mittlerweile stark pochenden Kopf und hielt nach Sue Ausschau….
Nach einigen Bekannten, von der mich vielleicht ein fünftel begrüßte, stolperten endlich Aaron, Sue und zu meinem Bedauern auch Levent in den Bus. Aaron pflanzte sich sofort neben mich. „Ah, hey, ähm-!“, ich protestierte nicht lange dagegen, denn schon fuhr der Busfahrer los und ich musste den Blick gerade aus richten, um mich nicht gleich zu Anfang übergeben zu müssen. Sue und Levent setzten sich ein wenig weiter nach hinten. Aaron musterte mich und ich sah aus dem Augenwinkel zu ihm. „Was hast du mit deinem Gesicht angestellt?“, fragte er stirnrunzelnd. „Das war vorhin schon so“, nuschelte ich leise und heftete meinen Blick wieder nach vorne. Aaron sah mich etwas ungläubig an und seufzte leise: „Wie du meinst…“
Die Fahrt war lang, Aarons Worte schnell und mir ging es gar nicht gut. Wie nicht anders zu erwarten, hatte es knappe fünf Minuten gedauert, bis mir übel wurde. Mit jedem Meter und jedem holpern des Busses wurde mir schlechter und die Kurven waren das Schlimmste. Ich klammerte mich an meinen Sitz und versuchte ruhig zu atmen, doch ich japste eher nach Luft. Die Übelkeit holte mich schneller ein als sonst, was wahrscheinlich an den Tritten in den Magen lag, die ich von meinen lieben, neuen Freunden geschenkt bekommen hatte. Und genau so wie beim `Abschiedsgeschenk` von meinem Vater, brannte meine Wange…
Das Gefühl, mich jeden Augenblick übergeben zu müssen, schlich sich langsam in mir ein und ich war anscheinend sichtlich erbleicht, was kaum möglich war, da ich ohnehin schon solch helle Haut hatte…
„Novi, was is` los?“, fragte Aaron plötzlich mit leicht panischer Stimme. „Ist dir schlecht?“, hakte er nach und nahm schon mal etwas Abstand. Ich nickte und mein Gesichtsausdruck wurde verzweifelt. „Soll ich fragen ob der Bus kurz anhalten kann?“, wieder nickte ich heftig. Aaron sprang auf und ging nach vorne zum Busfahrer. Zum Glück waren wir momentan auf einer Art Landstrecke, sodass der Busfahrer nach kurzer Zeit anhielt. Ich stand auf und ging nach draußen… Links und rechts hinter mir lag die kaum befahrene Straße. Ich spürte wie die Übelkeit immer mehr seine Hand um mich schlang. Ich stolperte in ein Waldstückchen, das direkt neben der Straße war und schon nach wenigen Metern passierte es.
Zu meinem Erschrecken spuckte ich nicht nur den Salat von gestern Abend und die zwei Liter Wasser aus, sondern auch noch jede Menge Blut…
Mein Körper begann stark zu zittern und mir wurde eiskalt und warm zugleich. Ich versuchte zurück zum Bus zu gehen, doch nach ein paar Schritten durch das Unterholz, stürzte ich. Ich blieb einfach liegen und rührte mich nicht, denn das Aufstehen konnte ich jetzt erst recht schon mal vergessen. Komplett entkräftet rollte ich mich zusammen. Mein Atem war flach, sodass es keine Ewigkeit dauerte, bis sich alles drehte.
Ich sah ein paar Füße auf mich zu laufen, welche ihre Schritte beschleunigte, als sie näher kamen. „Hey, kleiner…“, flüsterte eine Stimme neben mir, doch ich erkannte nicht, wer es war. Jemand nahm mich geschickt auf den Rücken und trug mich zurück zum Bus, so dass die Anderen uns nicht sehen konnten. Er setzte mich auf dem vordersten Sitz im Bus ab und schnallte mich an. Ich hörte noch einige Stimmen, bis ich dann schließlich vollends weg trat.

Kapitel 3
Hüttenkameraden



Ich wusste nicht wie lange ich bewusstlos war, doch als ich spürte, wie mich die Sonne blendete, öffnete ich langsam die schweren Augenlider. Ich blinzelte ein paar Mal, denn noch war alles leicht verschwommen um mich herum. Mit der Zeit jedoch, erkannte ich, nun schon etwas klarer, eine braune Holzdecke. Leise stöhnend drehte ich mich vom Rücken auf die Seite und suchte mit meinem Blick meine Umgebung ab. Ich befand mich in einer Hütte. Sie kam mir sehr bekannt vor, denn in genau dieser Hütte, der Hütte Nummer 13, hatte ich auch meinen letzten Sommer im Camp verbracht, gemeinsam mit Aaron. Vorsichtig setzte ich mich auf und hielt mir den Kopf. Ich fühlte mich unglaublich leicht, was wahrscheinlich daran lag, dass ich nun einen komplett leeren Magen besaß. Ich ließ den Blick durch das Zimmer schweifen, die Holzböden und Wände waren wie letztes Jahr, an ein paar Stellen bekritzelt, was jedoch nicht von mir oder Aaron stammte. Die zwei großen Betten standen sich gegenüber, jeweils auf beiden Seiten ein kleines Nachttisch-Schränkchen und an der Wand, links von mir, befanden sich zwei große Fenster, mit extra breitem Fenstersims zum Hinsetzen. Rechts neben mir, prankten zwei rustikale Kommoden, eine davon würde wohl ich in Anspruch nehmen. Mein Koffer lag neben meinem Bett und auch meine Gitarre und mein Rucksack fanden sich dort vor.
Ich fuhr mir gähnend durch die Haare und stand langsam auf. Mit einem leisen Seufzer ging ich zur Türe, die sich gegenüber den Fenstern befand. Direkt an der Wand rechts davon, war eine Türe zu einem kleinen Badezimmer. Ich sah nur kurz noch ein Mal nach hinten, um mich zu vergewissern, dass Aaron nicht in der Hütte war und ging dann nach draußen, auf die gemütliche Veranda. Von hier aus hatte man einen super Ausblick auf die große Liegewiese, die Sportplätze und den Badesee. Ich seufzte ein weiteres Mal, glücklich, endlich wieder hier zu sein…
Langsam ging ich die drei Stufen der Veranda hinunter und lief über einen Kiesweg, der an anderen Hütten vorbei führte, in Richtung der Gemeinschaftshütte, in der es einen großen Speisesaal mit Cafeteria, eine Aula mit Bühne und einen Aufenthaltsraum für Jungs und Mädchen gab. Draußen liefen einige Jugendliche herum, die ich jedoch nicht kannte. Nach kurzer Zeit kam ich an der großen Gemeinschaftshütte an und man konnte von draußen schon hören, dass einiges los war. Ich atmete ein Mal tief durch und öffnete eine der vier Türen, die nach innen führten. Möglichst unauffällig betrat ich den Speisesaal und blieb erst Mal stehen, um zu schauen, wo meine Freunde saßen. Als ich sie schließlich am gleichen Tisch wie letztes Jahr entdeckte, ging ich zu ihnen, gefolgt von einigen Blicken und leisem getuschel. Es war klar gewesen, dass mein Zusammenbruch nicht unter denjenigen bleiben würde, die im Bus saßen. „Hey, kleiner!“, rief Aaron grinsend und winkte mir zu. Ich fragte mich, ob er es war, der mich aus dem Wald geholt hatte, denn kein Anderer nannte mich „kleiner“ auch wenn ich ziemlich klein bin. Sie nennen mich eher „Zwerg“ oder „Gnom“ oder sonst was. Ich sah zu ihnen und entdeckte Sue, die gerade zu mir sah und mich anlächelte. Neben ihr, saß Levent. Meine Miene verfinsterte sich und ich setzte mich leise grummelnd neben Aaron, möglichst weit entfernt von meinem neuen Feind.
„Na, alles senkrecht?“, fragte Aaron grinsend und klopfte mir auf den Rücken. „Ne…“, brummte ich und starrte auf den Tisch. Die Anderen aßen Linseneintopf, zu meiner Erleichterung, denn dieses Essen kann ich bis heute überhaupt nicht leiden.
Noch immer wurde hinter meinem Rücken über mich getuschelt und ich stützte leicht genervt den Kopf in beide Hände. „Willst du dich nicht lieber wieder hinlegen, Novi?“, fragte Sue und warf mir einen besorgten Blick zu. „Ne“, antwortete ich abermals. „hm“, während Sue sich wieder zu Levent drehte und mit ihm redete, wurde meine genervte Miene, zu einer niedergeschlagenen Miene. „Alter, jetzt sag mal, was ist los?“, drängte mich Aaron und sah mich ebenfalls besorgt an. „Sonst warst’ immer voll happy wenn wir hier zum ersten Mal wieder da waren! Irgendwas stimmt doch nicht mit dir“, stellte er fest. Ich stieß einen lauten Seufzer aus und stand wieder auf. „Ich… erklärs dir später…“, murmelte ich und verschwand wieder, ohne irgendein Wort zu den Anderen. Ich warf Sue noch mal einen traurigen Blick zu, als sie sich verwundert zu mir um sah und verschwand dann durch die Türe.

„Dieser blöde Vollidiot!“, schimpfte ich laut, während ich über die leere Wiese stapfte. „Dieser hundsblöde, dumme, Vollidiot!“ ich nahm einen Stein, der am Ufer des Sees lag und warf ihn mit aller Kraft über die Wasseroberfläche, wo er mit lautem Platschen unterging. Ich lief über den Steg, ein Stück hinaus auf den See und ließ mich dann auf die Knie fallen. „Verdammter…nh…“ Aus meiner Wut über Levent wurde Verzweiflung und Selbstzweifel an mir selbst. Ich legte den Kopf in die Hände und schluchzte leise. Ich wollte das einfach nicht. Ich liebte Sue, seit ich sie das erste Mal getroffen hatte, seit ich zum ersten Mal in ihre Augen blickte. Und meine ganzen Hoffnungen, dass sie mich einst auch so sehr lieben würde, würden durch irgendeinen dahergelaufenen Riesen zertrampelt werden? Nein, das durfte einfach nicht sein.
Ich versuchte, mich wieder einigermaßen zu sammeln und wischte mir die Tränen aus dem Gesicht. „So ein Weichei wie mich will kein Schwein…“, schluchzte ich leise. Ich setzte mich richtig hin und zog die Beine dicht an den Körper, sodass ich den Kopf auf die Knie legen konnte. Als ich Schritte hinter mir hörte, hob ich den Kopf, drehte mich aber nicht um. Sie kamen immer näher und Sue setzte sich neben mich. „Hey…“, sie suchte nach meinem Blick, doch ich sah stur auf den See hinaus. „Was ist?“, fragte ich leise, mit erstickter Stimme. „Das wollte ich dich eigentlich fragen…“, seufzte sie leise. Als ich nach einer Weile jedoch, noch immer keine Antwort gegeben hatte, brach sie die stille. „Ist es wegen mir?“, fragte sie vorsichtig. „Teilweise…“, nuschelte ich leise. „Wegen Vens?“, hakte sie weiter nach und legte den Kopf schief. „Wir sind nur Freunde, wirklich.“, beteuerte sie. Ich legte den Kopf auf die Knie. „Stimmt doch gar nicht. Ich seh doch wie du ihn ansiehst…“, brummte ich leise. „Wie meinst du das? Wie seh ich ihn denn an?“, fragte sie stirnrunzelnd. „Ach komm, jetzt tu nicht so… Du siehst ihn genau so an, wie ich dich die ganzen Jahre über angesehen habe…“, platzte es aus mir heraus. Ich hätte mich am liebsten viergeteilt und nach Honkong geschickt! Hätte ich nur nichts gesagt! Aber dazu war es nun auch zu spät. Eine sehr unangenehme Stille schlich sich zwischen uns… Sue schien es die Sprache verschlagen zu haben… „m-meinst du damit…?“, versuchte sie zu fragen, doch sie brachte den Satz nicht zu Ende. Ich seufzte leise. „ja, wahrscheinlich tu ich das…“, brummte ich niedergeschlagen.
„November... Seit wann?“, fragte sie mit überraschter Stimme. „Seit ich dich das erste Mal gesehen habe“, gab ich leise zu. „Warum hast du mir nie was gesagt?“, locherte sie weiter. „Weil ich nicht wollte, dass es unsere Freundschaft kaputt macht!“, erklärte ich. „Aber das ist ja jetzt eh egal, jetzt hast du ja deinen Vens“, den Namen meines Feindes spuckte ich mit äußerst viel Galle. Ich sah aus dem Augenwinkel wie Sue den Kopf schüttelte. „Nein… Du verstehst das nicht Novi, Levent ist nicht wie die Anderen er-“ „Er ist ein Idiot und ich kann ihn nicht leiden!“, unterbrach ich sie und sprang auf. „Also da er ja so TOLL ist wie du sagst, kannst du mich ja gerne in den Wind schießen! Ciao!“
Wutentbrannt stapfte ich über die Wiese zurück zu meiner Hütte. Langsam begann sich alles zu drehen… Ich ließ die völlig verdatzte Sue hinter mir und krallte mich in meinen Arm. Mein Kreislauf spielte das ganze Spielchen nicht mehr länger mit, denn schon kurz nachdem ich die Türe hinter mir zu geknallt hatte, sank ich zu Boden.

„Ein wirklich wunderbarer erster Tag im Sommercamp“, seufzte ich meinem Spiegelbild entgegen. Das Wesen sah mich niedergeschlagen an. Ich legte meinen Kopf auf die angezogenen Knie, wie vorhin auf dem Steg und starrte das Wesen im Spiegel an. Seine Augen glitzerten, denn die langsam aufsteigenden Tränen sammelten sich darin. Ich war ja schon immer ziemlich nah am Wasser gebaut, was mir so einige Male wenig Hilfreich war…
Ich spürte, wie meine Wangen plötzlich warm wurden und umklammerte meine Beine noch fester, als ich einen himmlischen Duft vernahm… „Woher kommt das?“, fragte ich mein Spiegelbild erschrocken, dennoch war ich ganz ruhig. Ich bekam wie immer keine Antwort. „Egal… Es gefällt mir…“, murmelte ich leise und schloss die Augen mit einem Lächeln auf den Lippen....

Wieder wusste ich nicht, wie lange ich weg getreten war, doch eines war mir von vorne herein klar. Jedes Mal hatte mich jemand in mein Bett gelegt, denn auch jetzt öffnete ich die Augen und spürte die weiche Matratze unter mir. Ich suchte mit meinen Augen das Zimmer ab, doch alles war wie zuvor, keiner war im Raum. An mein Ohr jedoch, trat das plätschernde Geräusch einer Dusche. Ich wollte mich aufsetzen, doch ein plötzliches Stechen im Kopf, ließ mich wieder zurück in die Kissen fallen. „auaa…“, knurrte ich und rieb mir die Schläfen. Neben meinem Bett stand eine kleine Schüssel mit Salat und eine Flasche Wasser. „Oh…“, ein Lächeln huschte über mein Gesicht, verblasste jedoch dank der Kopfschmerzen recht schnell wieder. „Danke Aaron.“, flüsterte ich leise und startete einen weiteren Versuch, diesmal ganz behutsam, mich auf zu setzen. Ich lehnte mich gegen die Wand und blinzelte ein paar Mal, doch das nun aufsteigende Schwindelgefühl blieb vorhanden. „uff…“, leise ächzend griff ich nach der Salatschüssel und aß etwas davon. Ganz langsam ließ das Schwindelgefühl nach, bis die Schüssel leer war. Ich stellte sie weg und streckte meine müden Knochen. Mit einem Rumms landete ich wieder in den Kissen und drehte mich auf den Bauch, die Augen geschlossen. Jedoch in genau diesem Moment, ging die Türe des kleinen Badezimmers auf und ich hörte Schritte an mir vorbei laufen. Ich war, ehrlich gesagt, zu kaputt um mir große Gedanken darüber zu machen wer es sein könnte, aber ich war mir eigentlich schon ziemlich sicher gewesen…
Als ich kurze Zeit später einen Reißverschluss und das Geräusch einer Gitarre hörte, die heraus genommen wurde, zuckte ich zusammen und öffnete die Augen, sah jedoch nur zu meiner Gitarre. Sie war noch an Ort und stelle. „Hey, bist’ endlich wach?“, fragte eine freundliche Stimme, die jedoch definitiv nicht zu Aaron gehörte. Ich hob langsam meinen Blick und meine Augen weiteten sich. „du?!“, knurrte ich und setzte mich mit finsterer Miene ruckartig auf. „mh…“, wieder begann sich alles zu drehen, doch das war mir im Moment egal. Levent saß mir gegenüber und sah mich verwirrt an. „Geht’s dir besser?“, hakte er nach und ich hätte darauf schwören können, dass irgendwas Fieses folgen würde. „Was geht dich das eigentlich an? Was machst du in meiner Hütte?“, polterte ich und bemerkte erst jetzt, dass er anscheinend seine eigene Gitarre auf dem Schoß hatte. Er sah mich noch immer verwirrt an. „Tut mir leid, ich wurde in diese Hütte eingeteilt, das konnte ich mir leider nicht aussuchen“, sagte er ruhig und hob unschuldig eine Hand. „Nh-nein!“, presste ich hervor und stand auf. Das Karussell wurde allmählich schneller und ich konnte mich kaum aufrecht halten. „Dann… will ich in eine andere Hütte!“, protestierte ich und ging auf die Tür zu. Levent legte die Gitarre weg und sprang auf. „Beruhig dich mal, du kannst jetzt nicht durch die Gegend rennen! Du solltest dich ausruhen!“, beteuerte er und kam zu mir. Wut stieg in mir hoch. Nein, ich wollte nicht dass gerade dieser Idiot mir irgendwelche Ansagungen machte. Nichts wie weg? Sagt man so einfach… Doch das geht gar nicht so leicht, wenn man jede Sekunde umfallen könnte.
Er hielt mich an der Schulter fest und ich wirbelte herum. „Las mich-!“, ich verstummte schlagartig, denn auf einmal wurde mir für den Bruchteil einer Sekunde alles schwarz vor Augen. Ich sackte zu Boden, wurde aber von Levent aufgefangen. „Ich habs ja gesagt kleiner…“, seufzte er und hielt mich fest. Jetzt wurde mir so einiges klar… Er hatte mich aus dem Wald geholt, er hatte mich ins Camp getragen und auch er hatte mich vorhin ins Bett gelegt. Ich öffnete die Augen wieder und wollte mich aus seinem Griff befreien, doch der unglaubliche Duft der an ihm hing und größtenteils wahrscheinlich auch die Tatsache, dass ich nur noch eine kraftlose Hülle war, hinderten mich daran. Noch immer drehte sich alles und ich sah stur in irgendeine Richtung, bloß nicht zu Levent. „Warum bis du nur so stur“, seufzte er und nahm mich kurzerhand auf die Arme. „Mh- Hey!“, rief ich, was ich jedoch sofort bereute. „huhh…“, ich hielt mir eine Hand vor Augen und versuchte gleichmäßig zu atmen. „L-lass mich endlich runter…!“, zu meinem Leid klang meine Stimme nicht wütend, sondern eher flehend…
Ich spürte wie ich wieder auf mein Bett gelegt wurde. Er war unglaublich sanft zu mir, als wäre ich aus hauchdünnem Glas, was ich momentan und vor allem in seinen Händen, wahrscheinlich auch war, denn er war nicht nur sehr groß, sondern auch ziemlich stark…
Sein Duft betäubte mich, als hätte ich noch nie etwas Schöneres gerochen, doch genau das war es, was mir allmählich Angst bereitete. „Warum tust du das?“, fragte ich mit schwacher Stimme, doch ich bekam keine Antwort. Ich hörte eine wunderschöne Melodie, gezupft auf der Gitarre, begleitet von einer sanften Stimme. Mir wurde kalt, anders konnte ich es nicht beschreiben, ich wollte nicht dass ich ihn mag, ich wollte ihn hassen und verdammen und ich wollte dass er für immer von hier verschwindet… Doch um ehrlich zu sein, wollte ich in diesem einen Moment nur noch zuhören. Es war unglaublich beruhigend, doch mein Herz schien sich davon nicht beeindrucken zu lassen. Er pochte stark und langsam fühlte es sich an, als würde sich meine Kehle langsam zuschnüren. Erst als er aufhörte zu singen und zu spielen, bemerkte ich, dass meine Wangen ganz feucht waren. „Hey, du weinst ja…“, flüsterte Levent und legte die Gitarre wieder weg. „Was ist los mit dir?“, fragte er mit seiner sanften Stimme. Ich schüttelte lediglich den Kopf und vergrub mein Gesicht in den Kissen. „Willst du nicht mit jemandem darüber reden?“, versuchte er weiter. „Nicht mit dir!“, presste ich mit erstickter Stimme hervor. Ich hörte ein leises, bedauerndes Seufzen.
Es war mir schon immer ein Rätzel gewesen weswegen Sue mich nicht liebte, doch allmählich begriff ich. Levent war das genaue Gegenteil von mir. Naja, abgesehen von den Haaren und den Piercings.
Wieder zweifelte ich an mir selbst und schien langsam daran zu verzweifeln… Ich fühlte mich elend. „Kann ich nicht irgendwas für dich tun?“, bot Levent mir an. „Lass mich einfach in Ruhe…“, fiepste ich mit verzweifelter Stimme. Ich hätte ihn gern einige Dinge gefragt, zum Beispiel woher er Gitarre spielen gelernt hatte, ob er Geschwister hat und so weiter, doch Momentan stand mir die Tatsache im Weg, dass Sue ihn anscheinend mehr mochte wie mich.
Der Tag verging rasch und ich blieb die ganze Zeit über in meinem Bett liegen…

Kapitel 4
Am Lagerfeuer…


Erst gegen Abend, als die Sonne schon langsam am Untergehen war, ging es mir einigermaßen besser. Levent war die ganze Zeit über da geblieben und hatte ein Buch gelesen. Als ich das leise Klingeln eines Handys hörte, öffnete ich langsam die Augen und setzte mich auf. Ich blinzelte ein paar Mal, bis ich wieder klar sehen konnte und rieb mir die Schläfen. „Geht’s dir wieder besser?“, wollte Levent wissen, doch ich gab ihm keine Antwort. Seufzend wandte er den Blick wieder zu seinem Buch. Ich suchte in meinem Rucksack nach dem Handy, bis ich es schließlich fand und den Anruf in letzter Sekunde annahm. „Ja…?“ Es war Aaron. „ Aha…Ja, ich bin rechtzeitig da…Bis gleich…“, murmelte ich ins Handy. Ich verschwand im Badezimmer mit ein paar Sachen zum Anziehen und meinem Rucksack. Es dauerte etwa eine Dreiviertelstunde bis ich geduscht hatte, meine Haare getrocknet und geglättet waren und ich wie immer meine Augen mit schwarzem Kajal umrandete. Ich steckte mir die Snakebites an die Lippen und die Spirale in die Ohrlöcher. Schließlich war ich fertig und kam wieder aus dem Bad, frisch nach Apfel duftend. Ich warf die Sachen einfach auf mein Bett, schnappte mir noch meine Jacke, die das ganze Outfit abrundete. Ich trug schwarze Röhrenjeans mit silbernen Kettchen daran, meine Lieblingsschuhe, ein grellgrün-schwarzes Karohemd im Schachbrettmuster und Fingerlose Handschuhe, mit demselben Muster wie das T-shirt. Die Grundfarbe der Jacke war weiß, mit einem lustigen Motivaufdruck von der Linie „Cupcake Cult“. Ich zog sie mir über und ging dann nach Draußen. Ich hatte noch gar nicht bemerkt, dass Levent schon fort war. Auf der riesigen Liegewiese tummelte sich der Großteil der Jugendlichen aus dem Camp um ein großes Lagerfeuer. Ringsum waren Sitzgelegenheiten in For von Baumstämmen platziert, jedoch lagen sie hier und dort auch auf der Wiese oder hatten sich einen Stuhl mitgebracht.
November lies den Blick schweifen und ging zu einer Truppe etwa seines Alters, unter denen sich auch Sue, Aaron und seine anderen Freunde befanden.
Aaron empfing ihn mit einer Flasche Bier und legte ihm einen Arm um die Schulter. „Alles klar man?“ fragte er grinsend. Er war eindeutig angetrunken. „uff…“, ich wedelte mit meiner Hand vor meinem Gesicht herum. „Du riechst nach Alk“, lachte ich und genehmigte mir einen Schluck.
Ich hatte schon lange keinen Alkohol mehr getrunken, weswegen er mir umso besser schmeckte. Außerdem war es meine Lieblingssorte. Lemon. Die Flasche war schnell geleert und die Sonne ging langsam unter. Ich setzte mich zu den Anderen und redete mit ihnen. Levent war auch da, was mich zwar ärgerte, aber ich widmete mich nun ohnehin eher meinem Trinken zu. Die Betreuer sahen immer mal wieder vorbei, doch irgendwann ließen auch sie es bleiben. Zwei, drei oder vier Flaschen später, begann ich mich sogar mit Levent unterhalten. Das Gespräch gestaltete sich mit jedem Schluck des Alkohols freundschaftlicher und irgendwann lachten wir sogar gemeinsam. Sue sah besorgt zu mir, denn sie kannte mich gut und sie wusste, dass ich so viel Alkohol nicht vertrug. Als sich bei mir schon alles leicht drehte und ich kaum mehr bei klarem Verstand war, packte sie mich am Arm und zog mich hoch. „Komm mal mit“, brummte sie und zog mich mit sich, fort von den Anderen. Ich hielt meine wahrscheinlich achte Flasche Bier in der Hand und lachte, während sie mich fort zog. Irgendwann blieb sie plötzlich stehen und ich stolperte beinahe über meine eigenen Füße. „huff…“, lachte ich und hielt mich gerade noch an ihr fest. Ich ließ mich auf den Hosenboden fallen und nahm wieder einen Schluck aus der Flasche. „Hörst du endlich mal auf damit?“, fauchte sie und nahm mir die Flasche aus der Hand. „hey…“, Entgeisterung spiegelte sich in meinem Gesicht deutlich wider. „Findest du nicht, dass du genug getrunken hast für heute?“, feixte sie. „Ne.“, gab ich knapp zurück. Ihr Gesichtsausdruck war entweder wütend oder sehr sehr zornig, ich konnte es nicht genau erkennen, da alles leicht verschwommen war. „Du bist echt unmöglich. Du kannst dir doch nicht einfach alles aus dem Kopf saufen was dich bedrückt!“, vielleicht war sie ja doch eher empört? „Was sollte ich deiner Meinung nach denn dann tun?“ fragte ich. Was sich leicht gelallt anhörte. „Hör einfach auf damit und rede mit den Menschen wenn du Probleme hast! Fang endlich mal an für das grade zu stehen, was deine Meinung ist!“, warf sie mir vor die Füße. Ich senkte mit einem mulmigen Gefühl in der Magengegend den Blick, wusste aber nicht ob es an meinem, nun doch schlechten Gewissen, oder am Alkohol lag… Ich hörte ihr schon gar nicht mehr zu, denn mir wurde langsam aber sicher sehr, sehr unwohl. Ich legte mich auf den Rücken ins kühle und weiche Gras und schloss die Augen. „TZzz… Du hörst mir ja eh nicht mehr zu. Ich geh wieder“, grummelte Sue und verschwand. Nun war ich wieder alleine und dachte darüber nach, was sie gesagt hatte. Naja zumindest über den Teil, den ich mitbekommen hatte.

Nach einer Weile, die Übelkeit war ein wenig abgeflaut, hörte ich, wie sich jemand neben mich setzte. Da es, bis auf das schwache Licht des Feuers, welches schon ziemlich eingegangen war und nicht mehr mit seiner einstigen Größe protzen konnte, ziemlich dunkel war, konnte ich auch mit offenen Augen nicht wirklich erkennen wer das war. Noch immer drehte sich alles ein wenig bei mir und ich spürte plötzlich eine Hand an meiner Wange. Ich konnte nicht genau entscheiden ob sie einem Mann oder einer Frau gehörte, denn sie war zwar recht groß, aber unglaublich sanft…
Ich spürte einen warmen Atem auf meinem Gesicht und suchte mit meinem Blick nach Anhaltspunkten, doch selbst als mein Gegenüber mit nur noch wenige millimeter entfernt war, konnte ich nicht erkennen um wen es sich handelte. Ich roch den himmlischen Duft von den schönsten Blumen dieser Welt und schloss die Augen. Hatte ich diesen Duft nicht schon einmal vernommen? Wieder öffnete ich die Augen, noch immer spürte ich den Atem auf meinem Gesicht, die sanfte Hand an meiner Wange… Ich ließ mich hinreißen von diesem unglaublichen Wesen welches einem Engel zu gleichen schien.
Sanft berührten sich unsere Lippen und mein Herz begann zu rasen. Ich konnte entfernt ein leises Gepfeife hören, doch so wirklich nahm ich es nicht wahr. Ich war voll und ganz darauf fixiert, diesen wunderschönen Moment nicht gehen zu lassen, doch so sanft wie er begann, endete er auch wieder. Dieser unbeschreibliche Engel löste sich von mir und ich konnte hören wie er sich entfernte…
Eine Träne lief über meine Wange. Noch nie war ein Mensch, wobei ich noch immer bezweifle dass es ein Mensch war, so sanft und liebevoll zu mir gewesen. Ich wollte unbedingt herausfinden wer es war, welches Mädchen es war. Doch dort würde ich mich auf eine lange Suche begeben müssen.
Das winzige Lichtlein vor meinen Augen verschwamm langsam und ich schlief noch immer auf der Wiese liegend ein.

Kapitel 5
Blackout



Warmes Licht drang an mein geschlossenes Auge. Ich drehte mich leise grummelnd auf die Seite und zog mir die Decke über den pochenden und stechenden Kopf. Das war zu viel des Guten gewesen. Ich wusste nichts mehr vom Abend zuvor. Das einzigste was ich noch bewusst mitbekommen hatte, war das große Lagerfeuer und ein kleiner Plausch mit Vens. Ich dachte noch eine ganze Weile darüber nach, bis mir jemand auf die Schulter tippte. „Hey Kleiner. Kommst mit frühstücken?“, fragte eine sanfte Stimme neben meinem Ohr und ein mir so bekannter Duft umgab mich, dass ich fast schon hypnotisch „ja…“, sagte. Ich setzte mich langsam auf, gähnte, streckte mich und verschwand dann für kurze Zeit im Badezimmer. Ein müdes, unausgeschlafenes, völlig verpeiltes Etwas starrte mich aus dem Spiegel an. „du schon wieder“, murmelte ich leise und putzte mir erst mal die Zähne. Seufzend kämmte ich meine verwuschelten Haare glatt und umrandete mit einem Kajal meine eisblauen Augen. Ich stieß einen leisen Seufzer aus und gähnte nochmals. Auf Haare glätten hatte ich keine Lust, außerdem waren sie noch einigermaßen glatt… „Kommst?“, fragte Vens und ich warf ihm einen Blick zu. Etwas in meinem Körper begann komisch zu kribbeln und ich hielt mir den Bauch. „Ja…“, murmelte ich leise und folgte ihm aus der alten Hütte hinaus, zur großen Gemeinschaftshütte. Ich hatte beschlossen, das Kriegsbeil erst einmal zu begraben, denn wenn ich schon mit ihm in einer Hütte wohnen muss, kann ich mich ja unmöglich ständig mit ihm streiten oder ihn nur ignorieren. Das tut ihm nicht gut, was mir in dem Fall zwar egal war, aber mir tat das ebenfalls nicht gut.
Seufzend ließ ich mich in der großen Halle mit den vielen Tischen auf irgendeinen Platz an unserem Stammtisch fallen. Sue saß ebenfalls schon dort und lächelte mich leicht verschmitzt an. Ich warf ihr einen fraglichen Blick zu, wandte mich dann aber zu der kleinen Auswahl an Brötchen und Belag. Es war mein Glückstag, dann sie hatten auch ein wenig Salat dabei, den mir glücklicherweise, alle vom Tisch überließen. „Danke Leute…“ murmelte ich mit leicht gebrochener Stimme. Sie hörte sich mal wieder unglaublich kaputt und kratzig an, wie so oft, nachdem ich mich zugetrunken hatte…
Ich aß also den Salat, die anderen ihre belegten Brötchen. Ich spürte Levents Blick auf mir, drehte mich aber nicht zu ihm um, denn etwas sagte mir, dass ich dann einer Frage aus dem Weg gehen konnte. Und eines war ganz klar, ich hasste nichts mehr, als wenn mir unnötige Fragen gestellt wurden. Viele Menschen denken ich spinne, weil sie den wahren Grund nicht kennen, warum ich nur Salat esse. Sie zwingen mich dazu Fleisch zu essen oder Hühnereier, so zu sagen als Mutprobe. Sie denken ich würde das nicht essen weil ich es nicht essen will, aber wie ihr ja bereits schon wisst, kann ich einfach nichts anderes essen!
Seufzend legte ich die Gabel weg und ließ den Kopf neben der Schüssel auf den Tisch fallen. „Bist du immer noch müde, Novi?“, fragte Sue und legte den Kopf schief. Aaron saß neben mir. Es war wirklich komisch, denn er hatte noch kein einziges Wort mit mir gewechselt. „Ja…“, murmelte ich müde und hob den Kopf wieder vom Tisch. Ich beobachtete einen Weile lang das bunte Treiben der anderen Jugendlichen und entdeckte inmitten einer Schar von kichernden Mädchen, das eine Mädchen, welches ich im Bus verteidigt hatte. Als sich unsere Blicke trafen, lief sie knallrot an und drehte mir den Rücken zu. Sie flüsterte ihrer Freundin irgendetwas zu, die daraufhin zu mir sah. Ich schüttelte schmunzelnd den Kopf, doch mein Lächeln verblasste recht schnell, als ich Aarons grimmige Miene zu Gesicht bekam. „Was’n mit dir?“, fragte ich leicht erschrocken. „Nix“, knurrte er und bohrte mit seinem Löffel in seiner Müsli Schüssel herum.
„Sag doch, Mensch!“, drängte ich ihn, doch er schüttelte nur den Kopf. „Dann sag mir wenigstens wegen wem du so sauer bist?“, bot ich ihm an und hob eine Augenbraue. Was war nur los? Sonst erzählte er mir alles, jede Einzelheit, selbst von Dingen, die ich überhaupt nicht wissen wollte. Nur wenn er wütend auf mich war, wollte er nicht mit mir reden.
Im Stillen darüber nachgrübelnd, was ich wohl angestellt hatte, sah ich mich weiter im Raum um. Einige Schüler warfen mir verschmitzte Gesichtsausdrücke zu, andere sahen eher angewidert aus…
„Kann…kann mir mal einer sagen, bitte, was hier eigentlich los ist?“, fragte ich leicht gereizt, denn das ganze ging mir ziemlich auf den…naja… ziemlich auf die Nerven!!
Sue warf mir einen Mitleidigen Blick zu. „Du weißt echt nichts mehr von gestern Abend, oder?“, fragte sie quer über den Tisch. Alle Augen am Tisch schwankten von mit, über Sue und zu Vens, der der einzigste war, welcher sein Frühstück weiter aß. „Sonst würd’ ich doch wissen warum mich alle so dumm anglotzen!“, entgegnete ich. Sue stand seufzend auf und winkte mich zu ihr. „Komm mit. Ich zeigs dir.“ Mit deutlichem Fragezeichenblick folgte ich ihr. Mein Kopf pochte noch immer stark. Ein nicht überhörbares Getuschel ging durch die Reihen. „Idioten…“, grummelte ich leise in mich hinein. Sue brachte mich in den Raum, der sich „Gemeinschaftsraum“ schimpfte und ging zu einem Laptop. „Willst das wirklich sehen?“, fragte sie vorsichtshalber, während sie ins Internet ging. Ich nickte und setzte mich neben sie. „Okay. Aber bitte schrei nicht…“, bat sie und suchte auf Youtube ein Video. Allein was sie in das Suchfeld eingab, ließ mich stutzen. Ich ahnte nichts Gutes als sie eines der Videos anklickte, die mit dem Titel „Two gays kissing“ beschriftet waren. Ich hielt die Luft an und starrte mit großen Augen auf den Bildschirm…

Men Körper begann leicht zu zittern und ich legte den Kopf auf die Knie. Ich saß in einer kleinen Gasse zwischen den großen Sporthallen und fluchte vor mich hin. Es war eisig kalt geworden über den Tag und die Sonne hatte sich kein einziges Mal gezeigt…
Zusammengekauert saß ich auf dem Boden, in der Hoffnung dass mich niemand finden würde. Ich hatte gesehen was in der letzten Nacht, als ich völlig dicht war, passiert sein musste. Es gefiel mir kein bisschen was ich dort gesehen hatte. Ich war aus dem Gemeinschaftsraum gestürzt um mich hier zu verschanzen. Ich wollte eigentlich in den Wald, doch die Möglichkeit, dass ich mir dort etwas antue war zu groß. Ich war schon immer sehr tollpatschig gewesen, doch ich hatte noch nie so etwas erlebt. Ich spürte wie meinem Körper etwas fehlte und ich kam nicht auf den Gedanken, dass es an diesem Kuss liegen könnte, welcher mich so sehr berührt hatte…
„Verdammt… Dad darf das niemals heraus kriegen“, schluchzte ich leise und Tränen liefen über mein Gesicht. Vorsichtig zog ich die Beine noch etwas enger an den Körper und legte meinen Kopf darauf. Das Zittern wollte kein Ende nehmen und wurde langsam immer stärker. Meine Kopfschmerzen machten das jedoch leider auch nicht besser, weswegen zwischen den Tränen auch einige Schmerzenstränchen ihren Weg an die Luft fanden…
Ich hörte Schritte, die sich langsam und in sanftem Rhythmus näherten, hob jedoch nicht den Kopf. Ich hasste es wenn mich jemand weinen sah. Außerdem war mein Kajal ziemlich verlaufen.
„November…?“, flüsterte Levents wunderschöne Stimme vor mir. „W-was willst du?“, schluchzte ich leise. Ich spürte wie mein Herz schneller zu schlagen begann und in mir eine sanfte Wärme empor stieg. „Mich bei dir entschuldigen“, murmelte er und setzte sich direkt vor mich. Widerwillig hob ich den Kopf und wischte mir die Tränen aus dem Gesicht. Als ich auf meine Hände sah, fluchte ich leise, denn mein Kajal war wirklich über mein ganzes Gesicht verlaufen. „mist…“, knurrte ich leise und versuchte es mit dem Ärmel so gut wie möglich zu entfernen. „Wieso willst du dich entschuldigen…?“, fragte ich schließlich und sah Levent so teilnahmslos wie möglich an, was jedoch recht schwierig war, da meine Augen brannten und ich immer wieder eine Träne verdrücken musste. „Ich wusste nicht dass du in Sue verliebt bist und-“, ich unterbrach ihn. „Das ist doch jetzt eigentlich ziemlich egal, meinst du nicht? Ihr zwei seit doch das Pärchen des Jahrhunderts!“, fauchte ich und sah ihn grimmig an, doch meine Miene verblasste schnell wieder als ich in seine unglaublich intensiv grünen Augen sah. Vens schüttelte schmunzelnd den Kopf, was mich stutzen ließ. *Warum schmunzelt er?* „Sie hat’s dir nicht gesagt, oder?“, fragte er lächelnd und legte den Kopf schief. „Ehm… Nein, was meinst du?“, kam es irritiert von meiner Seite.
„Ich steh überhaupt nicht auf Mädchen“, meinte er noch immer lächelnd. Ich hob beide Augenbrauen und mein Herz machte einen kleinen Salto. *Was soll das?* „Du willst mich aber nicht verarschen oder?“, fragte ich sicherheitshalber nach. „Nein, im Gegenteil. Ich will dass du weißt dass ich niemals mit Sue zusammen sein könnte oder es geschweige denn wollen würde. Wir sind wirklich nur Freunde“, stellte er klar. Ich sah ihm noch immer in die Augen und kam einfach nicht von ihnen los. Ich spürte wie mein Herz noch immer ziemlich schnell schlug, doch ich wusste nicht wirklich, woran das lag. Als ich spürte, wie die Hitze in meinen Kopf stieg wandte ich endlich den Blick ab. Meine Wangen färbten sich leicht rötlich und ich legte den Kopf wieder auf die Knie. Ich kaute auf meiner Lippe herum und wollte einfach dass er wieder ging. Wie auf Stichwort stand Levent auf. „Ich hoffe wir können irgendwann Freunde werden…“, flüsterte er und ich konnte es kaum glauben, seine Stimme klang ziemlich traurig und niedergeschlagen…
Etwas in mir schrie, schrie nach Levent, doch ich unterdrückte es. Alles was aus meinem Mund kam, war ein hervorgequetschtes „bye“, worauf sich seine Schritte entfernten. Als ich sie nicht mehr hören konnte, hob ich den Kopf. Ich atmete tief durch und strich mir über die glühenden Wangen. Nun war mir nicht mehr kalt. Viel mehr war e mir zu warm momentan, sodass ich aufstand und mich erst mal streckte. „Man… Was war dass denn eben?“, brummte ich leise und strich mir über die linke Brust. Mein Herz schlug wieder in normaler Schnelligkeit und ich seufzte erleichtert auf.
„Und was nun?“, fragte ich mich selbst, woraufhin ich mich für Sport entschied. Schließlich war ich dafür hier her gekommen. Und für meine Freunde. „Aaron…“, seufzte ich mit trauriger Stimme. Ich musste heraus finden was mit ihm los war, aber zuerst wollte ich mich ein wenig ablenken.

Nach ca. einer halben Stunde stand ich in Tennisklamotten auf dem Trainingsplatz. Einen Partner zum Spielen hatte ich nicht, weswegen ich gegen die Ballmaschine ankämpfte. Das Ungetüm spuckte gleich zwei Bälle auf einmal, doch ich traf fast jeden davon. Mit voller Wucht schlug ich die Bälle zurück und sank schnaufend zu Boden, als die Maschine sich endlich ausgespuckt hatte. „hmpf…“, ich ließ mich auf den Rücken fallen und strich mir über die schweißbenetzte Stirn. Ein sanftes Blau zog sich über den Himmel und das Rauschen der Bäume im Wind beruhigte mich ein wenig…
Ich schloss die Augen und sank in einen leichten Schlaf. Ich befand mich auf einer Wiese und sammelte kleine Gänseblümchen. Ein Lächeln zog sich über mein Gesicht und ich summte leise eine Melodie vor mich her. Plötzlich legte jemand von hinten seine Arme um mich und ich ließ erschrocken die Blumen fallen. „huch? So schreckhaft heute?“, fragte die wunderschöne, bezaubernde Stimme von Levent neben meinem Ohr. Er kicherte leise und mein Herz begann zu rasen. „Ich-äh…“, stammelte ich hervor, verlor aber meine Stimme als Levent mich sanft am Hals küsste. Ich wollte protestieren, doch mein Körper wehrte sich nicht dagegen, im Gegenteil, er wollte es. Ich wollte es. Ich drehte meinen Kopf so weit wie möglich nach hinten und sah dem Jungen in die grün leuchtenden Augen, der mein Herz schneller schlagen ließ. Er ließ mich los und ich drehte mich ganz zu ihm um, meine Hände glitten sanft über Levents Wangen und wir kamen uns wieder näher.
Gerade als sich unsere Lippen ein zweites Mal berühren wollten, zerriss das Bild vor mir und meine Hände flutschten durch Levent hindurch. „Nein!“ schrie ich entsetzt und versuchte ihn zu erfassen, doch er hatte sich schon komplett aufgelöst, ehe ich mit der Wimper zucken konnte. „Warum ich…“, schluchzte ich leise und schloss die Augen…

„mmh…“, leise stöhnend öffnete ich die Augen. Mein Körper fühlte sich bleischwer an und ich konnte mich kaum bewegen. Was hatte ich nur angestellt? Ich starrte an das sterile Weiß, welches die Decke des Zimmers in dem ich mich befand, ziemlich trostlos wirken ließ. Eines war glasklar. Ich befand mich nicht in meiner Hütte, geschweige denn im Camp. Denn solch einen Raum gibt es dort nicht. Als sich meine Augen an das helle Licht gewöhnt hatten, vernahm ich ein leises, regelmäßiges Piepsen, welches sachte an mein Ohr drang und mir nicht Gutes verhoffen ließ. Langsam bewegte ich meine Finger über den glatten Stoff meiner Decke. Ich drehte den Kopf nach links und rechts, doch keiner war hier. Ich lag ganz allein in einem leeren Krankenzimmer der Notaufnahme. Um Himmels Willen konnte ich mich nicht daran erinnern was hätte passiert sein können. Das Einzigste was ich noch mitbekommen hatte, war mein Traum.
Wie gern ich doch in diesen Traum zurückgekehrt wäre… Ich seufzte leise und strich mir unter der Decke über den Arm. „ngh!“, ich verzog vor schmerz das Gesicht, doch um zu Fluchen fehlte mir die Kraft. Erst in diesem Moment bemerkte ich einen unglaublichen Druck auf meinem Kopf und einen ziehenden, stechenden Schmerz in meinem ganzen Körper. Ich nahm die zitternde Hand unter der Bettdecke hervor und strich mir vorsichtig übers Gesicht. Ich zuckte ein weiteres Mal zusammen, als ich spürte, dass ich Schrammen im Gesicht hatte. Selbst meine Lippe schien Schaden genommen zu haben. Ich strich, leicht in Panik, weiter nach oben und befühlte einen weichen Stoff. Sie hatten mir den Kopf verbunden. Diese ganzen Eindrücke waren eindeutig zu viel für meinen wahrscheinlich schwer verletzten Kopf, sodass er wieder auf stur schaltete und mich in meinem schwarzen Nichts zurück ließ.


Kapitel 6
November’s beginning



„Bitte Ayla, du musst ihn nehmen!“, flehte eine schlanke Frau, welche eingehüllt in einen grauen Mantel war und ein schlafendes Baby in den Armen hielt. Das kleine Kind war warm eingewickelt und schlummerte vor sich hin. Lange, strohblonde Haare fielen der Frau mit dem Baby über die Schulter und wellten sich sanft, bis hinunter zu ihrer Hüfte. Sie schien verzweifelt und Tränen liefen über ihr zartes Gesicht. „Er wird ihn in fremde Hände geben, wenn du ihn nicht annimmst, bitte Ayla, tu meinem kleinen Engel das nicht an!“, flehte sie die Frau an, welche im Schatten eines großen Anwesen stand. Sie seufzte leise. „In Ordnung Alicia…“, seufzte die Frau endlich, nach rund zwei Stunden. „Oh ich danke dir, danke, danke, danke!“, schluchzte die Frau mit den langen, blonden Haaren namens Alicia. Ayla nahm sie in den Arm und strich ihr kurz über den Rücken, dann nahm sie den kleinen Jungen in ihre Arme. „Er ist wirklich süß. Wie heißt er?“, fragte Ayla und sah Alicia in ihre glitzernden Augen. „Er hat noch keinen Namen… Aber ich will ihm einen besonderen Namen geben, einen Namen, den ich nie vergessen werde. Er ist am letzten Novembertag geboren worden.“, seufzte Alicia leise und streichelte ihrem Sohn über die kleine Stirn. Eine weitere Träne lief über ihre Wange. „Nennen wir ihn doch November?“, schlug ihre Schwester Ayla vor. Die Beiden Frauen sahen sich in die Augen. Aylas Augen waren braun, genau wie ihre kurzen, lockigen Haare, die zu einem Zopf im Nacken zusammen gebunden wurden. Es war kaum zu glauben, dass Alicia und Ayla Zwillingsschwestern waren, denn sie schienen die äußerlich größten Unterschiede zu haben, die man sich bei Geschwistern vorstellen konnte. Alicias meerblaue, funkelnde Augen leuchteten förmlich und ihre ellenlangen, strohblonden Haare wiegten sich sanft im Winde der Nacht. Draußen war es kalt, mittlerweile war es Dezember geworden. Einige Haarsträhnen fielen in Alicias Gesicht, was ihr ein fast schon kindliches Aussehen gab. Sie redete noch eine Weile mit Ayla und verabschiedete sich dann, wieder leise weinend, doch dieses Mal war es vor Glück und Traurigkeit zugleich. „Bis dann mein Engel… Wir werden uns bestimmt wieder sehen…“, flüsterte sie mit leicht zitternden Stimme und küsste den kleinen November auf die Stirn. Mit schnellen Schritten und ohne sich noch ein Mal um zu drehen, verschwand Alicia von dem großen Grundstück, hinein in die Dunkelheit der Nacht.

„Und er bleibt nun bei uns?“, fragte die sanfte Stimme des Mannes, der in dem großen, gemütlichen Wohnzimmer, vor dem knisternden Kamin saß. Das flackernde Licht der Flammen ließ die Schatten auf den Wänden tänzeln. Er hatte pechschwarzes, glattes Haar, welches ihm leicht ins Gesicht fiel. Ein bezauberndes Lächeln umzuckte seine Lippen, als Ayla nickte und ihm den kleinen Jungen in die Arme legte. „Er soll November heißen“, flüsterte sie leise. Lucifer lächelte warmherzig und strich dem Winzling sanft über die Wange. Auch er hatte unglaublich leuchtende, blaue Augen, welche im Schein des Feuers zu glitzern begannen. Er beugte sich zu dem schlafenden November hinunter und flüsterte ihm leise etwas ins Ohr. „Willkommen in der Familie mein Engel…“ er küsste ihn sanft auf die Wange und hielt ihn noch die ganze Nacht im Arm.


Kapitel 7
Eine Chance



„War er schon bei Bewusstsein?“-„Ja, aber nur sehr kurz. Sein Kreislauf ist wirklich instabil.“
Ein leises Seufzen ging durch den Raum und Aaron setzte sich neben meinem Bett auf einen Stuhl. Er schluckte schwer und strich sich ein paar Tränen aus dem Gesicht. „Warum passiert ihm immer so etwas…?“, schluchzte er mit erstickter Stimme. Die Krankenschwester legte ihm eine Hand auf die Schulter. „Ich lasse sie ein bisschen allein, aber wenn er aufwacht, dürfen sie ihn um Himmels Willen nicht aufregen.“, warnte sie und verschwand nach draußen.
Aaron strich sanft über meine Hand, welche neben mir auf der Matratze lag. „Bitte wach wieder auf…“, flüsterte er leise. Er schien wirklich Angst um mich zu haben, doch ich konnte mich nicht bewegen, die Augen nicht öffnen, ich konnte keinen Mucks von mir geben. Alles war einfach nur dunkel. Das einzigste was ich hörte, waren Stimmen und das Piepsen des EKG’s. „Ich brauch’ dich doch… Bitte November…“, flehte er fast schon und seine Stimme war so verletzt und zittrig, wie ich sie noch nie gehört hatte… Ich zweifelte schon fast daran, dass es wirklich Aaron war, der da mit mir sprach…
„…ich…ich liebe dich doch…“, schluchzte er, wobei ihm die Stimme versagte. *Er…liebt mich?* Mein Herz begann etwas schneller zu schlagen, doch nicht so wie bei Levent. *Aber… Wir waren doch immer wie Geschwister, wie Zwillingsbrüder… Er kann doch nicht… Ich versteh nicht warum? Warum hat er mir nichts gesagt?* Meine Gedanken zischten nur so kreuz und quer durch meinen Kopf. „N-November?“, stammelte Aaron und hielt meine Hand. „Was soll das, hör auf, du machst mir Angst!“, kam es von ihm, tatsächlich, seine Stimme war verängstigt. *Was? Was ist los? Sag mir was hier los ist! Warum mache ich dir Angst? Aaron! Aaron? ….Hallo…?* Nichts mehr. Rein gar nichts mehr konnte ich hören. Auch nicht das regelmäßige Piepsen an meinem Ohr. Das war mein Ende, ich hatte versagt. Mein Vater würde sich einen neuen Sklaven suchen müssen. Ich war…endlich…frei. Ein lang gezogener Seufzer glitt durch meinen Körper und brachte eine luftabschnürende Kälte zu mir. Ich zitterte leicht, doch dann stand ich auf einer grünen Wiese. Um mich herum nichts als wunderschöne Landschaft. Die Sonne am Himmel löste das Zittern aus meinem Körper und ich atmete erleichtert auf. Ich trug noch immer den Krankenhauskittel. „Iieh…“, ich verzog das Gesicht und zupfte daran herum. Ein erstickter Schrei stieß aus meiner Kehle hervor, als sich der Kittel plötzlich in mein Lieblingsshirt und meine Lieblingshose verwandelte. „uff… Besser.“, lachte ich leise. Ich sah mich eine Weile um, hörte den Vögelchen beim Zwitschern zu und genoss die warme Sonne auf meiner blassen Haut. Es war schön hier. Nicht so kalt und steril wie in diesem schrecklichen Krankenhaus. Ich hatte sie schon immer gehasst und ich hatte es so oft wie möglich vermieden dort hin gehen zu müssen. Als ich in der Ferne ein Tor entdeckte, lief ich ein wenig schneller, bis ich schließlich dort an kam. „Hallo…?“, fragte ich ein wenig kleinlaut. „I-ist da jemand?“ Ich legte meine Hände um die goldenen Stäbe des riesigen Tors. „Hinter dir“, flüsterte eine Stimme neben meinem Ohr und ich zuckte zusammen. Ich ließ das Tor los und drehte mich um. „huh? Levent?!“ meine Augen weiteten sich. „Willst du wirklich schon gehen?“, fragte er mit unglaublich sanfter, verführerischer Stimme. „Ich-…gehen? Wohin ?“, kam es etwas verwirrt zurück. „In das Reich des Lichtes. Wo dein Leben beginnt. Von neuem“, meinte Levent und schenkte mir ein lächeln. Mein Herz schlug ein wenig schneller. „Von…neuem…Nein! Niemals! Das mache ich nicht noch mal alles von Anfang an durch!“, protestierte ich lautstark. Levent entsprang ein leises kichern. „Doch nicht dein letztes Leben. Das ist vorbei. Naja… zumindest, sobald du durch dieses Tor gehst.“, meinte er grinsend und deutete auf das riesige, goldene Tor hinter mir. „Aber… Was ist mit Aaron? Mit Sue…?“, meine Stimme wurde immer leiser. „Was ist mit dir? Warum bist du hier? Warum weißt du so viel über diesen Ort?“
„Ich bin hier, weil ich dein Engel bin. Ich bin aber nicht Levent, ich habe nur die Form desjenigen angenommen, den DU“, er legte seine Hände auf meine Schultern und sah mir in die Augen. „Am meisten liebst“
Ich wollte protestieren, doch mein rasendes Herz sagte mir, dass er eigentlich Recht hatte…
Eine Träne lief über meine Wange, ich wusste nicht was ich tun sollte. „Was…was mach ich denn jetzt?“ stammelte ich verzweifelt. Mein Engel, in der Form von Levent, nahm mich in den Arm, wobei mir ziemlich warm wurde. Er strich mir sanft über den Rücken. „Es ist noch nicht an der Zeit für dich zu gehen… Du hast noch viel vor dir. Dein Leben war nicht das Schönste und du hattest so viel Schatten auf deiner Seite, jetzt ist es an der Zeit, dass du ein wenig glücklicher wirst. Nutze deine Chance! Nur wenige Menschen bekommen sie. Und so gut wie keiner bekommt sie zwei Mal.“, flüsterte er sanft in mein Ohr. Ich nickte leicht und schloss di Augen, noch immer leise schluchzend…
Mein Schluchzen verschallte und alles um mich herum wurde in ein tiefes, trauriges Schwarz gehüllt. „nh…“, leise stöhnend öffnete ich die Augen und sah mehrere verschwommene Gesichter über mir. „Ganz ruhig…“, flüsterte eine bezaubernde Stimme, rechts von mir. Eindeutig. Sie musste Levent gehören, denn mein Herz begann abermals schneller zu Schlagen, was sofort auf dem EKG zu hören war. Ein erleichtertes Seufzen kam von weiter hinten, jedoch erkannte ich erst, dass es Sue war, als sie Aaron in den Arm nahm, der anscheinend völlig mit den Nerven am Ende war. Er saß ziemlich verzweifelt auf einem Stuhl und klammerte sich leise schluchzend an sie.
Ich wandte meinen Blick, welcher sich nun langsam klarte, zu Levent und errötete leicht. Schnell sah ich wieder fort und mein Herz schlug nur noch schneller. Ein Lächeln umzuckte Levents Lippen und er strich mir über die Stirn. Mein Herzschlag wollte sich überhaupt nicht mehr normalisieren. Ich sah ihm in die leuchtenden, grünen Augen und schmolz dahin, als er mich sanft anlächelte. „Du hast uns allen einen unglaublichen Schrecken eingejagt, weißt du das?“, fragte er mich und hob beide Augenbrauen. „Nicht nur dass du gerade fast gestorben wärst.“, seufzte er und schüttelte den Kopf. „Wir haben dich auf dem Tennisplatz gefunden, etwa 20 Stunden nachdem du weggetreten bist, meinte der Arzt.“ Ich brauchte eine Weile bis ich wirklich verstand was er sagte. „Ähm…“, stammelnd suchte ich nach Worten, doch es wollte kein Satz aus meinem Mund ertönen. „Ruh dich erst mal aus. Dein Kreislauf ist zusammen geklappt… Aber wie es scheint…“, grinsend deutete er mit einer Kopfbewegung in Richtung EKG. „geht es deinem Herz schon besser“ er beugte sich zu mir hinunter und ich erstarrte als er mich auf die Stirn küsste. Unglaublich aber wahr, begann mein Herz wieder schneller zu schlagen und mir wurde unglaublich warm… Ich schloss die Augen und ruhte mich aus, jedoch nur, weil Levent es gesagt hatte.

Kapitel 8
Ein Geheimnis



Gähnend drehte ich meinen müden Körper auf die Seite und öffnete langsam die Augen. Mein Blick fiel sofort auf die große Salatschüssel und ein Lächeln zog sich über mein Gesicht. Ich hob leicht den Kopf, doch niemand war mehr im Raum. Ich stützte mich vorsichtig aus den Kissen empor, was sich als schwieriger erwies als es aussah, und setzte mich aufrecht hin. Vorsichtig nahm ich die Schüssel und die Gabel die daneben lag in die Hände und begann zu essen. Mein stets knurrender Magen dankte es mir, in dem er Ruhe gab. Leise seufzend stellte ich die Schüssel nach der Hälfte wieder zurück und sah mich nochmals im Zimmer um. Als ich zum Fenster sah, bemerkte ich, dass es draußen zu regnen begonnen hatte. Die kleinen und großen Regentropfen prasselten leise gegen die Scheibe und hinterließen spuren, als wären es Tränen. Der trostlose Regen machte mich traurig, ebenso wie die eiserne Stille die in der Luft hängen geblieben schien. Ich rieb mir mit den Fingerkuppen über die Schläfe und sank wieder zurück in die Kissen. Ich hasste Krankenhäuser.

Mit der Zeit wurde ich hibbelig, ich wollte hier nur noch raus, das ganze wurde mir zu blöd. Ich trommelte mit den Fingern auf meiner weißen Bettdecke, starrte an die weiße decke, die weißen Wände oder auf den grauen Fußboden. Dieses sterile hier und dort machte mich ganz kirre und ich überlegte mir schon, ob ich nicht einfach alle Kabel von mir losreißen und davonlaufen soll. Den Weg zum Camp kannte ich auswendig, es würde einen knappen Tag dauern wenn ich zu Fuß gehe. Aber dann würde ich wenigstens an bunten Wiesen vorbei kommen und nicht nur weiß sehen. Es kitzelte mich in den Fingerspitzen, doch ich mahnte mich selbst, draußen regnete es und wenn ich mit 40 grad Fieber im Camp ankommen würde, dürfte ich gleich wieder hier her…
Ruhig bleiben, das ist die Lösung.
Ich schloss meine Augen und drehte mich auf die Seite. Ich wusste nicht wie lange ich dort so still lag, doch der prasselnde Regen, der ab und zu stärker und dann wieder schwächer war, beruhigte mich ein wenig. Irgendwann hörte ich, wie einige Ärzte zur Visite herein kamen, doch ich tat einfach so, als würde ich schlafen. Eine Weile später hörte ich Stimmen. Nein, nicht in meinem Kopf.
Ich öffnete die Augen und suchte mit meinem Blick das Zimmer ab, bis ich Aaron und Sue entdeckte. Sie redeten leise miteinander und schienen mich gar nicht zu bemerken…
Ich drehte den Kopf nach links und sah, dass ich nicht mehr an das EKG angeschlossen war. Man hatte mich über Nacht sogar in ein neues Zimmer gebracht. Innerlich seufzend sah ich wieder zu Aaron und Sue, doch was ich sah, gefiel mir überhaupt nicht… Mein Herz zersprang förmlich und Tränen stiegen mir in die Augen. *Wie kann er mir das antun?* Ich drehte mich auf den Bauch und vergrub mein Gesicht im Kissen. Aaron schien bemerkt zu haben, dass ich wach war und löste sich aus dem zärtlichen Kuss von Sue. Er ging zu mir und legte mir eine Hand auf die Schulter. „Hey, November…“, flüsterte er leise. „Lass mich in Ruhe!“, schluchzte ich in mein Kissen. Ich wollte ihn nicht mehr sehen. Ich hasste ihn dafür, dass er Sue geküsst hatte, denn er wusste schon seitdem ich mit ihm befreundet war, dass ich mich in sie verliebt hatte…
„Novi, bitte versteh das doch…“, flüsterte Sue und trat neben Aaron. Nein, ich wollte sie nicht verstehen. Nicht an diesem Tag und sicherlich auch nicht am nächsten. „Ich kann dir nicht geben was du suchst, Novi“, flüsterte Sues Stimme neben meinem Ohr. Wie ich es hasste und zugleich liebte, wenn sie das tat. Ich drehte den Kopf von ihr weg und noch immer liefen Tränen über mein Gesicht. „November…Bitte lass unsere Freundschaft daran nicht zu Grunde gehen… Ich mag dich wirklich sehr, aber eben nur wie einen …Bruder“, versuchte sie wirklich zu sagen wie einen Bruder? Für mich hörte es sich ganz so an, als wollte sie kleinen Bruder sagen… „November, bitte sag doch was…“, bat sie mit trauriger Stimme, doch ich reagierte nicht mehr. „Bitte verzeih mir und vor allem Aaron“, flüsterte sie wieder dicht neben meinem Ohr und ich musste mir ein Schluchzen verkneifen. Sue verschwand aus meinem Zimmer, während ich mir die Bettdecke über den Kopf zog. Anscheinend war Aaron schon fort, denn ich lag geschlagen drei stunden unter der stickigen Bettdecke, mit brennenden Augen und feuchtem Gesicht. Plötzlich vernahm ich Schritte die auf mich zu gingen. Jemand setzte sich neben mein Bett auf einen Stuhl und beobachtete mich, das Knäuel unter der Decke. „Hey, Kleiner, schläfst du?“, fragte Levents sanfte, verführerische Stimme und mein Herz begann zu rasen. Ich schluckte schwer und schob die Decke ein Stück nach unten. Ein Schwall aus kühler Luft kam mir entgegen und ich senkte sofort den Blick, als ich wirklich Levent vor mir hatte…
„Du weinst ja“, er klang verwirrt und mitfühlend zugleich, „Was ist passiert?“
Es dauerte eine Weile, bis ich meine Sprache wieder fand, doch dann erzählte ich ihm alles. Von Anfang an, seit dem ersten Tag als ich Sue begegnet bin. Levent war wirklich ein guter Zuhörer und ich konnte mir keinem so gut reden wie mit ihm. Er war so verständnisvoll und einfühlsam wie kein anderer Mensch den ich kannte. Er war das, was ich immer vermisst hatte und genau aus diesem Grund, das ist mir nun klar, liebte ich ihn.
Aber das konnte ich ihm natürlich nicht sagen, nein, ich hatte mich noch nie getraut jemandem zu sagen dass ich sie liebe, geschweige denn einem Jungen. Ich wusste ja nicht ein Mal dass ich mich überhaupt in einen Jungen verlieben konnte!
Levent schenkte mir ein sanftes schmunzeln, was mein Herz schmelzen ließ und ich atmete tief durch, bis ich wieder klar bei Sinnen war. Ich warf ihm einen Blick zu und blieb an seinen grasgrünen Augen hängen…
„Kannst…du mir eine Frage beantworten?“, druckste ich leise. „Klar, schieß los“, lachte Levent offen. „Warum hast du mich geküsst?“, fiepste ich noch leiser.
Levents lächeln verblasste und er sah zu Boden, was mich stutzen ließ. „D-du musst nicht antworten, wenn du nicht willst!“, versicherte ich ihm. „Doch… Weißt du…Ich wollte das eigentlich gar nicht… Es war nur“, er holte tief Luft, „Es war eine Mutprobe der Anderen, die waren alle total betrunken und sie konnten ja nicht wissen dass ich wirklich nur auf Jungs stehe. Das Ganze war eine blöde Idee und nur wegen mir bist du im Krankenhaus.“, er klang auf einmal verletzt und entschuldigend, was mich ziemlich irritierte. Ich setzte mich vorsichtig auf und sah ihn Levents trauriges Gesicht. „Hör auf damit“, hauchte ich.
„Was?“, fragte er verwirrt und sah mich mit glasigen Augen an. „Hör auf damit…Diesen Gesichtsausdruck ertrage ich nicht…“, vorsichtig stellte ich die Füße auf den Boden und Levent sah mich fragend an. „Sag mir… War es für dich nur eine Mutprobe? Oder bedeute ich dir wirklich etwas?“, wollte ich wissen und meine Stimme zitterte leicht.
Levent schüttelte den Kopf und sah mir noch immer in die Augen. „Nein“, sagte er knapp , „wenn ich ehrlich sein soll… Hab ich seit dem Tag nur noch an dich gedacht“, gab er zu und senkte den Blick zu Boden. Ich ging einen schritt auf ihn zu, fixierte ihn mit meinem Blick und legte ihm sanft meine Hand unters Kinn. Wie auswendig gelernt, hob er den Kopf und wir waren nur noch wenige Millimeter voneinander entfernt. Meine glitzernden, meerblauen Augen sahen in Levents grasgrüne, leuchtende Augen und ich spürte seinen warmen Atem auf meinem Gesicht… „Ich träumte von dir…“, flüsterte ich leise, „Und du warst auch der Engel der mich wieder zurück geholt hat.“ Levent legte eine Hand an meine Wange und mein Herz schlug einen Salto. Ich spürte wie meine Wangen langsam erröteten und schloss die Augen. „…“
Levents weiche, sanfte Lippen berührten meine und ich musste mir eine weitere Träne verkneifen. Einen zärtlichen Kuss später. Lösten wir uns voneinander. Levent schenkte mir sein Lächeln, welches ich so sehr liebte und flüsterte leise: „leg dich wieder hin…“ Ich tat wie mir geheißen und legte mich langsam wieder zurück in mein Bett. Levent stand auf und beugte sich über mich. „Das muss aber unser Geheimnis bleiben, okay?“, fragte er mit einem schmunzeln im Gesicht. „…versprochen“, hauchte ich und abermals schlug mein Herz einen Salto, als er mich ein zweites Mal küsste…
Ich wusste dass es für mich unglaublich schwierig werden würde, die anderen nicht bemerken zu lassen, doch ich wollte es wenigstens versuchen, für Levent. Wir redeten noch sehr lange miteinander, lachten gemeinsam und fanden immer mehr über den anderen heraus. Levent war wirklich ein toller Mensch. Er setzte sich für die Schwächeren ein, er liebt die Musik genau so sehr wie ich, er schreibt eigene Songs, er hat sieben Geschwister, davon fünf Jungen und zwei Mädchen und er lebt sogar in meiner Nähe! Gerade mal eine Stunde mit dem Auto entfernt wohnt er in einer Großstadt. Und er studiert dort in einer Uni, worum ich ihn sehr beneide, denn dort hat er viele Freunde…
Alles in allem würde ich mein Leben gerne gegen seines austauschen. Auch ihm erzählte ich nichts davon, dass mein Vater mich schlug und misshandelte… Niemand wusste das. Und so sollte es auch bleiben.


Kapitel 9
Ein Kuss und ein Schlag ins Gesicht



Ich blieb noch zwei Tage im Krankenhaus, bis ich wieder vollkommen fit war. Levent fuhr mich mit seinem Motorrad zurück zum Camp, was ziemlich aufregend war. Ich klammerte mich in den Kurven an ihn und gab immer wieder ein ängstliches Quieken von mir, doch ich wusste, dass er niemals mit Absicht einen Unfall bauen würde. Schließlich war er der Engel aus meinem Traum, der mich zurück geholt hatte und das konnte nur Gutes bedeuten.
Mit noch immer schnell schlagendem Herz und einer Menge Adrenalin im Blut, stieg ich von seiner Maschine ab. Er nahm mir den schwarzen Helm ab und drückte mir einen sanften Kuss auf die Lippen, was mich leicht erröten ließ. „Vorsicht, nachher sieht das noch jemand…“ flüsterte ich und nahm, auch wenn ich das nicht wirklich wollte, ein wenig Abstand. „Hier ist doch niemand“ lachte Levent leise und zog mich zu sich. Er küsste mich zärtlich, wobei ich ihm nicht widerstehen konnte. Gerade als ich doch noch einen Kuss wollte, löste er sich von mir. *Du bist gemein!* Er grinste mich an und wie auf Stichwort hörte man das Quietschen der Reifen eines großen, schwarzen Autos. Es bog hinter uns in die Einfahrt und rollte langsam an uns vorbei, auf der Suche nach einem freien Parkplatz. „Woah… wer ist’n das?“, fragte ich mit großen Augen. „Keine Ahnung, aber wer immer das auch sein mag, derjenige scheint viel Geld zu haben“, murmelte Levent leise, „Komm, gehen wir…“, er lief voraus und ließ mich stehen. „huh? Jetzt warte doch!“, rief ich und sprintete los, bis ich ihn einholte. „Du mit deinen langen Beinen…“, schimpfte ich leise und schüttelte den Kopf, als nur ein Lachen von Levent zu mir herunter drang. „Tja, Kleiner. Du hättest eben früher mehr Fruchtzwerge essen müssen“
Immer wieder warf ich einen Blick über die Schulter, bis ich endlich sah, wer da ausstieg. Ich wollte meinen Augen kaum trauen und blieb wie angewurzelt stehen. Ein Junge, etwa 1,80m groß, stieg aus dem Wagen. Er hatte an beiden Armen und über den ganzen Oberkörper, bis zum Hals hin verteilt, Unmengen an Tattoos. Seine Haare waren knapp schulterlang und kaffeebraun. Sein Pony war schräg zur Seite geschnitten, sodass die Augenpartie frei war. Er hatte ein breites Lächeln auf dem Gesicht und zog eine Tasche aus seinem Auto. Er schloss es ab und kam auf uns zu. Levent packte mich am Handgelenk und zog mich mit sich, bis der Junge plötzlich etwas rief. „Hey, Vens!“, lachte er und Levent stoppte. Er drehte sich zu dem Anderen um und sah ihn mit leicht genervtem Blick an. „ksh! Lass mich los!“, zischte ich und Levent ließ mich los, jedoch nur um den Jungen kurz in den Arm zu nehmen. „Hey Oliver. Ich dachte du wolltest dieses Jahr nicht kommen“, murmelte er und zog eine Augenbraue hoch. Der Junge namens Oliver sah von Levent zu mir und wieder zurück. „Ich hab mich um entschieden“ , meinte er schulterzuckend und hielt mir die Hand hin, „Hi, ich bin Oliver“, stellte er sich grinsend vor. Ein wenig zittrig nahm ich seine Hand und schüttelte sie. „…jah, ich kenn dich…“, murmelte ich etwas schüchtern. „Oh, dann hörst du also meine Musik?“, fragte Oliver grinsend. Ich nickte und schluckte ein wenig schwer. Ich konnte es immer noch nicht glauben dass gerade der Sänger meiner absoluten Lieblingsband vor mir stand. Und Levent kannte ihn auch noch! Persönlich! Unfassbar dass er mir das nicht gesagt hatte! „Deinem verwirrten Gesichtsausdruck zu urteilen hat dir mein großer hier nicht gesagt dass wir Geschwister sind, oder?“, fragte er lachend. „was?!“ Ich sah Levent mit großen Augen an, „Nein, leider hat er mir das verschwiegen!“ Ich boxte ihm leicht in die Seite, woraufhin Levent zu lachen anfing. „Tut mir leid Schatz“, kicherte er.
Natürlich lief ich, dankbar für meine verräterisch helle Haut die jede kleine Pulserhöhung sofort anzeigte, rot an. Wie ich es hasste…
„Schatz?“, fragte Oliver hörbar grinsend. *Super…* stöhnte ich in Gedanken und verschränkte beleidigt die Arme. Levent lachte wieder und wuschelte mir durch die Haare, woraufhin ich einen Schrei los ließ und zehn Meter Sicherheitsabstand einnahm. „Idiot!“, schimpfte ich und strich mir die Haare wieder ins Gesicht. Nachdem Oliver noch irgendwas mit Levent besprach, wobei ich jedoch nicht zuhörte, sondern nur beleidigt und gekränkt auf den Boden starrte, tippte mir jemand auf die Schulter. „hm…?“, ich drehte mich um und starrte in Levents entschuldigendes Gesicht. „Verzeihst du mir?“, fragte er mit glitzernden, leuchtend grünen Augen. „mmhm…“, ich verzog den Mund, konnte seinem Anblick jedoch nicht lange widerstehen. „och Mensch, ja, okay“, grummelte ich und bekam einen kurzen Kuss auf die Wange, den ich mir jedoch sofort wieder weg wischte. „Du sollst das doch nicht in der Öffentlichkeit machen!“

Ich saß seufzend in meinem Bett und zupfte ein wenig auf meiner Gitarre herum, während Levent mir gegenüber saß und mich zeichnete. Plötzlich klingelte sein Handy und er zog es hastig aus seiner Hosentasche. „Was…?Ja… Okay, ich komme sofort.“, er legte auf, warf sein Handy aufs Bett und schnappte sich seine Jacke. „Tut mir leid Schatz, aber ich muss dringend los… Ich komm bald wieder!“, mit diesen Worten ging er durch die Tür, die jedoch kurz darauf noch mal auf ging. Levent kam grinsend auf mich zu und nahm meinen Kopf in beide Hände. Sanft drückte er mein Kinn hoch, sodass ich ihm in die Augen sah. „Stell keinen Blödsinn an“, murmelte er schmunzelnd und küsste mich zärtlich. Gerade als ich meine Arme um seinen Hals legen wollte, löste er sich von mir und ging zur Türe. „Bis dann“, er winkte kurz und zog sie dann hinter sich zu.
„Oh man!“, ich ließ mich auf die Seite fallen und legte meine Gitarre weg. *Warum macht er das immer?* Ich vergrub mein Kopf im Kissen und wurde immer schläfriger.
Ich bemerkte schon gar nicht mehr, dass jemand nach etwa einer Stunde die Tür öffnete und herein kam.
„November heißt du, nicht wahr?“, fragte Olivers tiefe Stimme neben meinem Ohr, sodass ich leicht zusammen zuckte. Ich drehte mich auf den Rücken und sah ihn mit großen Augen an.
„Du bist also der Kleine, der das Herz meines Bruders erobert hat“, er schmunzelte ein wenig verschmitzt. „Er hatte ja schon immer ein Auge für die kleinen, wehrlosen Dinge des Lebens, nicht wahr?“, fragte er mit sehr bedenklichem Unterton und hob eine Augenbraue. Ich sah ihn ein wenig verwirrt an und setzte mich auf, wurde aber sofort wieder zurück aufs Bett gedrückt. „W-was soll das?!“, fragte ich ein wenig panisch, „lass mich los!“
Oliver beugte sich über mich und drückte beide Hände an den Handgelenken zusammen. „Lass los! Sofort!“, rief ich nun doch leicht ängstlich, doch ich konnte mich wirklich nicht wehren, denn Oliver war zu stark für mich. Er drückte meine Hände nach oben, über meinen Kopf und hielt sie auf dem Bett gedrückt fest. „Lass mich los!“, schrie ich abermals, diesmal etwas lauter, „SOFORT! Mhh-…!“ Oliver presste seine freie Hand auf meinen Mund und ich bekam durch die Nase nur schwer Luft…
Meine Atmung ging etwas schneller und ich bekam es wirklich mit der Angst zu tun. „hm“, Oliver grinste diabolisch und nahm langsam seine Hand von meinem Mund. Vor Panik bekam ich tatsächlich kein Wort heraus, nicht mal schreien konnte ich mehr. „…Du gefällst mir, weißt du das?“, flüsterte Oliver mit verführerischer Stimme und ich kniff die Augen zusammen. *Verdammt, was hast du vor?!* Mein Körper begann stark zu zittern und ich wollte nur noch hören dass das Ganze ein Traum war.
Ich wurde aus meinen Hoffnungen gerissen, als ich plötzlich spürte, wie sich Olivers Lippen auf meine pressten und er mit seiner freien Hand in meine Hose strich. Nun läuteten aber wirklich alle Alarmglocken, doch ich lag da wie gelähmt. „mh…“, Tränen kullerten langsam über mein Gesicht und ich bekam kaum mehr Luft. *Los…lassen… hör auf damit…*
Genau in diesem Moment ging die Türe auf und Oliver wurde von mir fort gezerrt. „Du scheiß Penner!“, schrie Levent und holte aus. Er traf Oliver direkt am Wangenknochen, sodass er zu Boden stürzte. „Alter…“, keuchte er und hielt sich die schmerzende Wange.
Ich hatte mich zusammengekauert und mit die Decke über den Kopf gezogen.
„Verschwinde! Raus mit dir!“, grollte Levent und packte Oliver an den Handgelenken. Er stieß ihn durch den Türrahmen und knallte die Tür hinter ihm zu.

„November… wach auf, bitte…“, flehte Levent leise neben mir. Ich öffnete langsam die Augen. Was war passiert? War ich eingeschlafen? Ich drehte de Kopf zu ihm und sah in sein lächelndes Gesicht. „Endlich… Was Oliver getan hat tut mir verdammt leid, ich hätte da sein müssen, dann wäre das niemals passiert!“, seine Miene wurde traurig und er senkte den Blick. „Sch-schon okay… Ist ja nichts passiert…“, murmelte ich mitgenommen. „Du bist zusammengebrochen“, stellte Levent klar und seufzte leise. „Echt?“, vorsichtig setzte ich mich auf, wobei ich freundlicherweise gestützt wurde. Levent war mir wirklich eine unglaubliche Entlastung. „Aber kein Wunder… Ich war schon immer…“, ich seufzte laut, denn Oliver hatte recht gehabt, „sehr zerbrechlich.“ Ich ließ niedergeschlagen den Kopf hängen, doch mein Herz schlug wieder schneller als Levent sich neben mich setzte und mich sanft in den Arm nahm. „Ich pass auf dich auf… Tut mir leid dass ich dich alleine gelassen habe…Aber das war wirklich in Notfall. Beim Skaten hat sich einer das Bein gebrochen und bekam keine Luft mehr, ich musste mich darum kümmern“, erklärte er mir. Ich sah ihn mit hochgezogenen Augenbrauen an. „Warum musstest du da helfen?“, fragte ich ein wenig verwirrt. „Na ich bin die Aushilfe für den Typen der sich um die Verletzten kümmert, sie ins Krankenhaus fährt und so“, lachte Levent und wuschelte mir durch die Haare. „hmpf…“, ich pustete mir eine Strähne aus dem Gesicht und seufzte. „Achso. Warum hast du mir nichts davon gesagt?“ „Na, du hast ja nie gefragt!“ Wir lachten beide und Levents Augen leuchteten. Mein Herz schlug immer noch ziemlich schnell, doch ich traute mich nicht ihn einfach zu küssen. Als hätte er meine Gedanken gelesen verstummte er plötzlich und strich mir zärtlich über die Wange, weswegen ich Gänsehaut bekam. Er sah mir tief in die Augen und ich spürte seinen warmen Atem auf meinem Gesicht, was mir ein wenig den Atem stocken ließ. Immer wieder sah ich von Levents grasgrünen leuchtenden Augen zu seinen Lippen und wieder zurück, bis ich schließlich die Augen schloss als wir uns sanft küssten…
Der Vorfall mit Oliver steckte mir noch immer tief in den Knochen, doch Levent schaffte es, mich das für kurze Zeit vergessen zu lassen…
Ich wollte niemals, nie wieder jemand anderen an meiner Seite haben, doch etwas in mir mahnte deutlich die Zeit die mir bleiben würde mit ihm zu genießen.

Kapitel 10
Alles was uns nicht umbringt, bringt uns näher zusammen.



Wie lange hatte ich nur darauf gewartet von einem Menschen so geliebt zu werden? Ich wusste es nicht genau und eigentlich war es mir auch egal, denn jetzt, endlich, war ich nicht mehr allein. Natürlich hatte ich noch meine Freunde mit denen ich in den nächsten zwei, drei Wochen viel Sport machte, schließlich war ich dafür ja da gewesen, doch während den Pausen bei Levent zu sein tat mir unglaublich gut und ich konnte mich viel schneller von kleinen Verletzungen erholen. Dass die anderen rausbekommen dass wir ein Paar waren, war ja eigentlich klar wie Klosbrühe gewesen. Aber irgendwie hatte es den Anschein als wären sie zu naiv um zu glauben, dass es wirklich der Wahrheit entsprach. Die Videos von mir und Levent auf Youtube wurden allesamt gelöscht, worüber ich ziemlich froh war.
Noch immer war es wie am ersten Tag als ich wusste dass ich mich in Levent verliebt hatte. Bei jeder kleinen, zärtlichen Berührung begann mein Herz schneller zu schlagen und ich vermisste das Gefühl der Wärme schon richtig, wenn ich nicht bei ihm war.
So war das auch an einem sonnigen Tag, draußen auf den Sportplätzen.
Ich stand vollkommen gedanklich abgeschweift auf dem Spielfeld und bemerkte gar nicht, wie der Ball ein ums andere Mal an mir vorbei gespielt wurde. Erst als Aaron mich aus meinen Gedanken riss, in dem er mir eine Flasche Wasser über den Kopf leerte, bemerkte ich, dass das Spiel schon vorbei war.
„Alter, November!“, schimpfte er und schlug mir leicht mit der leeren Plastikflasche gegen den Kopf, „Was ist nur los mit dir ?! Du bist gar nicht mehr bei der Sache! Ständig verspielst du den Ball oder stehst nur tatenlos rum!“ Ich senkte den Blick. „…’tschuldigung…“, murmelte ich kleinlaut. „Jetzt sag mal, was ist los?“, Aaron suchte meinen Blick, doch ich hielt ihn starr zu Boden gerichtet. „Es ist nichts, ich hab nur so viel im Kopf“, ich legte meine Hände an die Schläfen und lief in Richtung Dusche. „Hey, November! Warte doch!“ Aaron holte zu mir auf und lief neben mir her. „Willst du nicht mehr mit spielen?“ „Nein, ich steh doch eh nur rum…“, brummte ich leicht gekränkt und verschwand in der Umkleide.
„Was kann ich denn dafür…“, seufzte ich niedergeschlagen und sank auf eine der Bänke. Ich streifte meine Schuhe von den Füßen, zog mir die Socken aus und stapfte mit ein paar frischen Klamotten in Richtung Dusche. Zum Glück gab es hier neben der großen Gemeinschaftsdusche auch noch Einzelkabinen…
Ich duschte mich nicht lange und zog mir dann meine schwarze Röhrenjeans und das, etwas zu große, schwarze T-shirt mit meiner Lieblingsband an. Als ich es betrachtete fluchte ich leise, denn mir fiel das mit Oliver wieder ein. *Dieser… Blöde Mistkerl…* Er hatte sich nun seit drei Wochen nicht mehr bei mir, geschweige denn bei seinem Bruder blicken lassen, was ich einerseits wirklich gut fand, andererseits auch ein wenig schade. Ich hätte gerne einen Bruder gehabt und ich wollte nicht, dass die Beiden wegen mir solch einen Streit hatten.
Ich starrte in den Spiegel und verstaute meine Wäsche in meiner Tasche.
Seufzend strich ich mir die haare glatt, die sich jedoch schon wieder wellten. „Scheiße da…“, knurrte ich und schnappte meine Sachen. Gerade wollte ich aus der Tür verschwanden, da wurde ich fest gehalten und zurück gezogen. „hey, was zum-?“, ich drehte den Kopf nach hinten und zuckte stark zusammen. „nh-lass los!“ brüllte ich so laut ich konnte, doch Oliver dachte nicht einmal daran. Er legte mir einen Knebel an und schloss mit einem Schlüssel den er vom Hausmeister geklaut hatte, die Türen ab.
„So“, lachte er und zerrte mich in die Duschen. Er fesselte meine Hände hinter meinem Rücken zusammen und ich spürte wie die Panik in mir aufstieg. Mein Puls stieg gefährlich und ich bekam kaum Luft mit dem Knebel vor dem Mund. Oliver drückte mich gegen die Wand der Gemeinschaftsdusche und stellte ein oder zwei Duschen an, wahrscheinlich, damit man uns nicht hören konnte. Er zog mir grinsend das T-shirt aus und küsste mich plötzlich wieder. *Levent…Bitte…Hilf mir!*, flehte ich, doch kein Wort kam aus meinem geknebelten Mund. Mein Körper begann stark zu zittern und ich kniff die Augen zusammen. Ich hatte Angst davor was passieren würde, Angst davor, dass er mir weh tun würde. Ich hatte diese schreckliche Panik, weil ich ganz genau wusste was passieren würde, denn im Moment, tat Oliver nichts anderes als mein Vater.
Meine Atmung wurde immer unregelmäßiger als ich an meinen Vater dachte und mein Körper verkrampfte sich. Oliver öffnete meine Hose und strich mit seiner Hand hinein, sodass mir der Atem stockte. Ich biss die Zähne aufeinander und eine Träne lief über meine Wange.
Eine unglaubliche Hitze stieg in mir empor und mir wurde schwummrig…

…Ich hörte das Tropfen von Wasser neben mir und öffnete die schweren Augen. *Warum passiert mir das immer?*, fragte ich mich, doch ich merkte, dass ich noch immer geknebelt war. Oliver war verschwunden. Verdammt. Erst jetzt fiel mir wieder ein was passiert war. Ich spürte wie schwach mein Körper war. Wieder hatte ich schreckliche Angst. Wer würde mich finden? Wie sollte ich das Ganze erklären? Ich wollte nicht mehr reden, ich wollte nur noch… Ja, was wollte ich eigentlich?...

„Warum ist die Welt so ungerecht…“, flüsterte eine sanfte, verführerische Stimme neben meinem Ohr. Ich spürte Levent große Hand über meinen Kopf streicheln und ließ die Augen geschlossen. Das war es, was ich wirklich wollte. Nur diesen einen Menschen. Für immer. Er beugte sich zu mir herunter und küsste mich sanft auf die Wange. „Ich liebe dich, ich hoffe das weißt du…“, warum flüsterte er? Ich spürte seinen warmen Atem auf dem Gesicht und wollte nun die Augen öffnen, doch irgendetwas hinderte mich daran. *Was passiert hier?*
Ich wusste nicht wie lange wirklich, ich nun schon so da lag, aber es kam mir vor wie Jahre. Als ich die Augen endlich wieder öffnen konnte, mich umsehen konnte, war kein Mensch in meiner Hütte. Eine seltsame stille schlich sich durch den Raum, sodass ich Gänsehaut bekam. Ich versuchte ruhig zu atmen und setzte mich ganz langsam auf.
„Levent…?“, flüsterte ich leise und suchte jeden Winkel ab. „Aaron? Sue?“, langsam erhob ich mich und taumelte zur Tür. Aus dem kleinen Badezimmer kam kein Mucks. Vorsichtig öffnete ich die alte Holztüre und lugte nach draußen. Es regnete stark und eine unheimliche Atmosphäre lag über dem Camp. Regen prasselte auf den Boden nieder, ließ die Erde aufweichen und den Wasserspiegel des Sees steigen. Ich zog mir eine Jacke an und legte die Kapuze über den Kopf. Was zum Teufel war hier nur los?
Ängstlich stapfte ich durch den eiskalten Regen, der meine Stoffjacke tränkte und mir die Sicht erschwerte. Ich zitterte vor Kälte und mein warmer Atem kondensierte in der Luft zu kleinen Wölkchen.
Ich zuckte zusammen als mein Magen laut knurrte und mein aufmerksamer Blick streifte über die Fenster der Hütten, hinter denen jedoch keinerlei Licht brannte. Die Angst vor dem was hätte passiert sein können wurde immer größer und meine Schritte schneller. Der Regen umfasste mich mit seiner eisigen Klaue aus Furcht und ich malte mir die schlimmsten und grausamsten Höllenszenarios aus, was der Grund dafür war, dass alles aussah wie in einem Horrorfilm.
„…“, ich traute mich nicht zu sprechen, aus Angst vor der Stille, Angst davor, was in den dunklen Ecken des Camps lauern könnte. Ich hätte rennen können, doch meine schweren Füße, welche langsam im Morast versinken zu schienen, wollten mir nicht auf so lange Dauer und solch große Belastung tragen. Deshalb schlich ich voran und zuckte immer wieder erschrocken zusammen, als ich das schleimige Matschgeräusch vernahm, welches von meinen Schuhen ausgelöst wurde, sich jedoch anhörte, als würde jemand hinter mir laufen.
Die Angst flackerte leicht um in Panik und ich drehte mich immer wieder um.
Endlich kam ich bei der großen Gemeinschaftshalle an und mein Herz rutschte mir vor Erleichterung beinahe bis in die Schuhe, als ich die Jugendlichen lachend und plaudernd in der Cafeteria entdeckte. Ich streifte mir den Dreck von den Schuhen und atmete tief durch, zog mir die Kapuze tiefer ins Gesicht und ging dann hinein. Mollige wärme und ein Duft aus einer Mischung von Pizza und Nudelgerichten kam mir entgegen.
Mein Herz schlug höher und die Erleichterung stand mir deutlich ins Gesicht geschrieben, als ich Aaron, Sue und Levent entdeckte. Sie winkten mir freundlich zu und ich finde es heute noch lächerlich, wie ich mir ausdachte, die Welt wäre unter gegangen.
Seufzend setzte ich mich dicht neben Levent und sah in die Runde. „Wie geht’s dir?“ fragten Sue und Aaron im Chor, woraufhin ich zu Lächeln begann. „Jetzt besser“, meinte ich mit angeschlagener Stimme. Levent nahm unter dem Tisch meine Hand und ich lief in einem leichten Rot an. Er streichelte mir sanft über den Handrücken und schob mir seinen Salat hin. „Hier, du musst unbedingt was essen“, er drückte mir die Gabel in die Hand und ich sah ihn dankend an. Ich drückte leicht seine Hand. „Danke“, seufzte ich und begann damit, den Salat zu essen. Auch wenn Salat wirklich, wirklich nervig auf Dauer war, etwas anderes konnte ich nicht essen und etwas anderes hatte ich seit meinem siebten Lebensjahr auch nicht gegessen.
Ich musste dafür jedoch öfters Tabletten nehmen um die mangelnden Stoffe die mein Körper brauchte, auszugleichen.

Am Nachmittag saßen wir, in dicke Decken eingekuschelt zusammen auf der Veranda meiner Hütte. Es regnete noch immer, doch unter dem Dach war es sehr gemütlich, vor allem in den großen Holzsesseln, die wie eine Schale waren und mit dicken Polstern ausgelegt waren. Aaron und Sue saßen gemeinsam in einem und ich und Levent ebenfalls. Ich kuschelte mich dicht an ihn. Wie sehr hatte ich es vermisst seine Wärme zu spüren, wie er mich sanft streichelte…
Aaron hatte Sue im Arm und die Beiden kamen wirklich super damit klar dass Levent und ich ein Paar waren, auch wenn ich wirklich Schiss davor hatte, es ihnen zu sagen. Zum Glück hatte Levent das Reden übernommen und so wurde unser Geheimnis zu einer offenen Tatsache. Die Sehnsucht nach Levent war schon in den letzten paar Tagen so groß geworden, dass ich mich selbst dann riesig freute, wenn er vom Klo zurück kam. Ohne ihn war ich immer ruhiger und redete kaum, aber wenn er an meiner Seite war und mir sein bezauberndes Lächeln schenkte, schlug mein Herz höher und ich wollte nicht anderes mehr tun als mit ihm zusammen zu sein.
Wie sollte ich es nur aushalten, die ganze Zeit über nicht im Camp, wenn er nicht bei mir war? Ich wollte gar nicht daran denken! Und das musste ich zum Glück im Moment auch nicht…

Eine Frage plagte mich, doch ich traute mich nicht sie zu stellen. Levent nahm mir das Fragestellen ab und rückte sofort, als hätte er meine Gedanken gelesen, mit der Antwort heraus. „Oliver sitzt in Untersuchungshaft.“, murmelte er und streichelte mir sanft über die Schulter. Aaron und Sue sahen mich mitleidig an. „November, das tut mir so verdammt leid! Ich hätte dich nicht gehen lassen sollen!“, warf er sich selbst vor, doch ich schüttelte nur den Kopf. „Mach du dir mal keine Vorwürfe, es wäre ohnehin irgendwann passiert…“, murmelte ich leise. Das platschen des Regens beruhigte mich ein wenig, auch wenn ich im Bezug auf Oliver und das was er mir angetan hatte, ziemlich hibbelig wurde. Levent verstärkte seinen Griff ein wenig und sah mir in die meerblauen Augen, die leicht glasig waren. „Ich werde nicht zulassen dass er damit durch kommt, das verspreche ich dir. So etwas wird nie wieder passieren.“ Ich nickte nur, doch ich wusste genau, dass er sein Versprechen nicht halten konnte. Wenn es um Oliver ging vielleicht schon, aber nicht bei meinem Vater.
Wieder erschauderte ich, als ich an ihn dachte und klammerte mich an Levent. *Tu mir nicht weh, tu mir nicht weh, bitte, Papa!* hallte meine eigene, ängstliche Kinderstimme durch meinen Kopf. Ich war damals fünf Jahre als gewesen und hatte meine Wände mit Wachsmalkreiden bemalt, weil wir das im Kindergarten auch machen durften. Ich wusste ja nicht dass es falsch war und dass das im Kindergarten ein großes weißes Plakat an der Wand war. Ich dachte dass ich das daheim auch machen konnte, weil es mir solchen Spaß bereitet hatte.
Mein Vater hatte mich schon immer geschlagen wenn ich etwas falsch machte, doch er nannte es eher, er gibt mir damit einen „schubs“ in die richtige Richtung. Naja, er kann ja sehen zu was ihn das gebracht hat. Er hasst mich mehr als früher und kommt nicht damit klar wie ich aussehe. So langsam wurde mir das jedoch egal, bald würde ich 18 sein und dann konnte ich endlich, endlich fort von ihm! Mit diesem Gedanken ließ es sich schon viel leichter leben und ich fühlte mich in Levents Armen unglaublich sicher.
Aaron, Sue, Levent und ich redeten noch ziemlich lange über die verschiedensten Dinge. Es machte spaß zusammen ein wenig zu plaudern und wir lachten viel. Was würde ich nur ohne meine Freunde tun? Die Antwort war mir klar. Ich würde sterben wollen.


Kapitel 11
Eine Warnung



Ich spürte sanften, warmen Atem auf meiner Haut, als ich die Augen langsam öffnete. Licht drang durchs Fenster herein und erhellte den gemütlichen Raum. Ich fühlte mich müde und schlapp. Erst jetzt bemerkte ich, dass ich in Levents schützenden Armen lag, die er um mich gelegt hatte. Mir war ziemlich warm, doch ich war mir nicht ganz sicher ob es an Levent oder an der Sonne lag, die uns direkt ins Gesicht schien. Ich blickte zu Levent hinauf und schmunzelte leicht. Anscheinend war ich gestern Abend auf der Veranda eingeschlafen und er hatte mich in mein Bett gebracht, ohne mich zu wecken.
Er war immer unglaublich hilfsbereit und warmherzig. Langsam fragte ich mich, ob ich jemanden wie ihn überhaupt verdient hatte. Noch immer betrachtete ich seine sanften, friedlichen Gesichtszüge während er schlief. Seufzend schmiegte ich meinen Kopf dicht an Levents Brust und lauschte seinem regelmäßigen Herzschlag…

Nach einer Weile hob ich leise seufzend den Kopf und krabbelte vorsichtig aus dem Bett. Ich atmete langsam ein und aus und stand dann, etwas wackelig auf den Beinen, auf. Müde war ich nicht mehr, doch ich konnte mich kaum aufrecht halten. „Verdammt“, brummte ich leise, „was ist nur los…“
Ich taumelte ins Badezimmer und starrte in den Spiegel. Ich hatte eine große Schramme auf der Wange und als ich langsam meinen Pullover auszog, entdeckte ich lauter baue und rote Flecken. „…Oliver…“, keuchte ich leise und taumelte rückwärts, bis ich mit dem Rücken halt an einer Wand fand, um nicht hin zu fallen. Alles wurde kurz schwarz und ich sah Olivers fieses Grinsen vor mir, als er mich missbrauchte. Wieder wurde alles kurz schwarz und ich öffnete die Augen. Ich fand mich auf dem Badezimmerboden wieder. Jemand streichelte mir sanft über die aufgeschrammte Wange.
Ich konnte alles nur sehr verschwommen sehen. „…L-levent?“, krächzte ich leise.
„Nein mein Kleiner“, zischte Olivers Stimme und meine Augen weiteten sich vor Schreck. Mein Herz raste und Panik stieg in mir empor. Ich schnellte hoch und presste mich gegen die Wand. „Was willst du von mir???!“, schrie ich panisch. Oliver lachte leise, verstummte aber recht schnell.
„von dir?“, er legte den Kopf schief und stand auf, sodass er mir das Blickfeld zur Tür versperrte, welche offen stand. „…Heute…gar nichts.“ Olivers fieses Grinsen schlich sich wieder in sein Gesicht und das machte mir Angst. „Wa-warum bist du dann hier?“, stammelte ich mit zitternder Stimme und versuchte einen Blick ins Zimmer zu erhaschen, doch Oliver gab mir keine Chance an ihm vorbei zu sehen.
Er packte mich plötzlich grob am Hals, sodass ich keine Luft mehr bekam und röchelnd nach Atem rang. „W-wo…ngh…wo ist Levent?“, stöhnte ich mit schmerzverzerrter Stimme. Oliver strich mir die schwarzen Haare aus dem Gesicht und sah mir in die Augen. Sein Blick brannte sich in mein Gedächtnis ein. Schadenfreude lag darin… Etwas sehr unheimliches umgab Oliver…
„Nicht mehr hier. Er hat dich verlassen. Für immer.“, er schüttelte den Kopf und sah mich mit gespieltem Mitleid an. Ich schüttelte kräftig den Kopf, soweit es Olivers Hand zuließ, die sich um meine Kehle geschlossen hatte.
„Nein-ngh-das…er-würde-niemals-gehen!“, presste ich mit verzerrtem Gesicht hervor. Oliver lachte leise und schüttelte den Kopf als er mich losließ und mit gespielt tragischer Stimme sagte: „Jeder muss einmal gehen mein lieber November. Glaub mir, mein Brüderchen war es nicht wert. Ich habe ihm den Abgang… nur ein wenig erleichtert.“
Mein Herz machte einen gewaltigen Aussetzer. „Lüg mich nicht an!“, schrie ich plötzlich, „ER IST NICHT TOT!“
Doch Oliver lachte nur und beugte sich zu mir vor. Leise flüsterte er in mein Ohr: „Siehe selbst…“ Oliver trat zur Seite und mein Blick fiel auf das Schrecklichste Schaubild dad sich jemals vor meinen Augen aufgetürmt hatte…
Levent lag blutverschmiert auf dem Boden, um ihn herum eine riesige Blutlache. An den Stellen seiner Haut, die nicht aufgeschlitzt worden waren, an denen kein Blut klebte und kein Stoff die Haut verdeckte, war er bleich.
Es war ein Leichenbleich das mir den Magen umdrehte, mich vollkommen erstarren ließ und was mir das Herz ganz langsam mit einem sterbenden Geräusch in den Ohren, zertrümmerte. Ein brennender Schmerz machte sich in meinem Körper breit und ich wollte einfach nicht glauben, dass das, was meine trügerischen Augen mir dort zur Schau stellten, wirklich wahr war. Nein. Ich wollte nicht glauben dass Levent, der einzigste Mensch der mir endlich das gab was ich immer wollte, was man sich mit allem Geld der Welt nicht kaufen konnte, tot war.
Ich schrie. Ich schrie vor Schmerz, vor Traurigkeit, vor Leid und vor allem schrie ich, weil ich nun wieder das kalte, erdrückende Gefühl der Einsamkeit auf mit liegen spürte.
Die Einsamkeit, die als großes schwarzes Loch, das alles um sich herum in sich verschlang und nie wieder etwas davon blicken ließ, den Platz meines Herzens einnahm.
Sollte das wirklich schon das Ende gewesen sein?
„Das, mein Lieber, mein kleines Novemberchen, war eine Warnung.“, flüsterte Olivers erbarmungslose Stimme neben mir und alles, was mein Auge erblicken konnte, löste sich auf.
Es wurde schwarz um mich herum.

„Schatz… Wach auf Schatz…“, Levents besorgte, bezaubernde Stimme drang an mein Ohr.
„…“, langsam öffnete ich meine Augen und sah ihn vor mir. Völlig unversehrt und noch genau so wunderschön wie immer. „Gott sei dank!“, ich brach in Tränen aus und fiel in Levents Arme, der mich sanft auffing. „Was ist denn los Schatz?“, fragte er mit sanfter, beruhigender Stimme. Ich klammerte mich an ihn. Ich war so verdammt glücklich, dass das Ganze bloß ein dummer Traum gewesen war. „Ich bin so froh dass du noch lebst!“, schluchzte ich leise.
Levent legte seine Arme um mich und streichelte mir tröstend über den Rücken. „Hast du schlecht geträumt mein Engel?“, fragte er leise. Es beruhigte mich unglaublich in seinen Armen zu liegen, seine sanfte Stimme zu hören und seinen Herzschlag auf meiner Brust zu spüren. Leise flüsterte ich: „Ja…“, doch mehr bekam ich nicht heraus. Wir saßen noch eine ganze Weile so da, Arm in Arm, schweigend und hörten dem Anderen beim Atmen zu.

Etwas später saß ich auf der Veranda auf Levents Schoß, er hatte die Arme um mich gelegt und ich hatte ihm von dem Traum erzählt, verschwieg ihm jedoch den letzten Satz.
„Ich verspreche dir, ich werde dich niemals so alleine lassen…“, flüsterte er leise und streichelte mir über den Bauch.
„…Levent…?“, fragte ich leise und drehte den Kopf ein wenig nach hinten. Levent legte sein Kinn auf meine Schulter und sah mich fragend an. „hm?“
„Ich liebe dich…“, hauchte ich zaghaft. Levent schmunzelte leicht und küsste mich sanft.
„Ich dich auch…“

Kapitel 12
O varium fortune



Levent und ich beschlossen, an so einem schönen, sonnigen und vor allem warmen Tag and den See zu gehen und dort mit unseren Freunden ein wenig zu relaxen. Ich packte mir also eine Tasche, während Levent zu den Hütten von Aaron, Sue und noch ein paar andern ging.
Nachdem ich zwei große Badetücher, Sonnencreme, etwas zu trinken und meinen MP3-Player eingepackt hatte, setzte ich mich mit der Tasche nach draußen und wartete ungeduldig auf Levent. Ich wollte ihn am liebsten keine Sekunde lang mehr alleine lassen, doch andererseits würde er bestimmt keine Klette als Freund haben.
Ich saß also in Badeshorts, Flipflops und einem viel zu großen T-shirt auf der Veranda, die Füße auf die Sitzfläche der Bank gestellt und hielt Ausschau nach Levent…
„Wo bleibt er denn…“, grummelte ich leise in meine Knie. Endlich erblickte ich ihn.
Er kam grinsend auf mich zu und deutete in Richtung See. Aaron, Sue und drei Andere waren schon dort. Ich hatte sie komischerweise gar nicht wirklich bemerkt.
Levent stapfte die Stufen zur Veranda hinauf, blieb vor mir stehen und küsste mich sanft auf die Stirn. Ohne ein Wort ging er nach drinnen, kam jedoch sofort mit einer gepackten Tasche wieder heraus. „Na komm“, er nahm mich an der Hand und ich ließ mich ein Stück weit ziehen, bis ich dann schließlich zu ihm aufschloss. Ich spührte die Blicke der Anderen auf mir, doch ich wusste genau, dass die Jungs und die beiden Mädels am See nichts gegen mich und Levent hatten. Sie waren die paar wenigen, die völlig neutral unserer Beziehung gegenüber standen.
Lächelnd kamen wir bei ihnen an und Aaron war der Erste, der mich begrüßte. „Hey. Alles klar Kumpel?“, fragte er grinsend. Ich nickte nur. Der Traum steckte mir noch immer tief in den Knochen. Sue schob Aaron bei Seite und nahm mich in den Arm, was mich schmunzeln ließ. „Hey, November…“, sie ließ mich wieder los und sah mir verständnisvoll in die Augen. „Vens hat uns von deinem Traum erzählt“, flüsterte sie mit gesenkter Stimme.
Ich schüttelte den Kopf. „Mir geht’s gut, kein Grund zur Sorge…“, versicherte ich ihr und begrüßte die anderen drei. Mikel, Jason und Lynn. Mikel und Lynn sind Zwillinge. Sie sind beide strohblond, haben blaue Chromaugen und jede Menge Sommersprossen im Gesicht. Sie sind immer gut drauf und kennen keine Vorurteile. Beide sind erst 16, also ein Jahr jünger als ich. Jason ist 18, er hat lange, braune Haare, die ihm bis zur Schulter reichen und alle gleich lang sind. Man könnte sagen, er sei ein richtiger Metalhead.
Mit einem weiten >>Slipknot<< T-shirt und einer ausgefransten Stoffhose, die er als Badehose verwendete, dem >>Slayer<< Armband und einer Kette mit einem Hexagramm, sah sein Metal-look perfekt aus. Er kam mit ziemlich verpeiltem Blick auf mich zu (so schaute er immer drein, wenn er nicht gerade seine Lachanfälle hatte) und wuschelte mir erst mal durch meine frisch geglätteten Haare. „Waaah! Idiot!“, schrie ich, musste aber dann doch lachen. „Ruhe du Zwerg“, grunzte er und schenkte mir sein breites Grinsen.
Ich strich mir die Haare wieder vors Auge und zog dann eines der großen Badetücher aus meiner Bombertasche, die mit Flicken und Buttons verziert war. Es war mein Lieblingsbadetuch, denn darauf prangte der Name meiner Lieblingsband. Ich legte mein Badetuch zu den anderen und setzte mich. Anschließend zog ich meinen MP3-Player heraus und ließ ein bisschen Musik laufen. Mikel und Lynn sprangen ins Wasser und zogen Aaron mit sich, der sie als Strafe unter Wasser tunkte.
Jason strich sich die Haare aus dem Gesicht, setzte sich mir gegenüber auf ein schlichtes, graues Badetuch und redete mit Sue, die sich ebenfalls hinsetzte. Levent legte sein Badetuch dicht neben meines und lächelte mich an, als er sich darauf hinlegte, das Gesicht gen Himmel gerichtet. Er hatte sein T-shirt ausgezogen und es sich über die Augen gelegt, da ihn die Sonne blendete. Ich betrachtete ihn eine Weile und hörte dann Jason und Sue bei ihrem Gespräch zu. Aaron rannte plötzlich klitschnass auf uns zu, packte mich um den Bauch und zog mich mit einem lauten Triumpfschrei über den Steg ins Wasser. Ich konnte noch rechtzeitig Luft holen und spürte auch schon wie meine Kleidung sich vollsog, schließlich hatte ich noch das viel zu große T-shirt an, und alles immer schwerer wurde. So schnell ich konnte schwamm ich an die Oberfläche und japste nach Luft. Ich drehte den Kopf in alle Richtungen, doch von Aaron war nirgends eine Spur.
„WOAH!“, mit einem vom Wasser erstickten Schrei wurde ich am Fußgelenk unter Wasser gezogen und hatte vor Schreck völlig vergessen die Luft an zu halten. Ich spührte wie mir das Wasser in die Lungen strömte und mir schlagartig die Luft wegblieb… Es war ein schreckliches Gefühl keine Luft mehr zu bekommen…
Vor meinen Augen sah ich Aarons verschwommenes Gesicht, welches mit einem Grinsen wieder auftauchte. Ich nahm es ihm nicht übel, er war eben so ein Mensch der nicht nachdachte, bevor er handelte. Ich konnte nur gedämpft hören wie jemand meinen Namen rief.
Ich spürte dass etwas Großes hinter mir ins Wasser sprang, mich packte und an Land zog. Ich begann stark zu husten, drehte mich auf die Seite und würgte das Wasser hervor, welches sich in meinen Lungen gesammelt hatte.
„Mensch Aaron, du immer mit deinen saublöden Späßen!“, schimpfte Lynn und man konnte ein klatschendes Geräusch hören, gefolgt von einem lauten „Au!“ und einem genervten Grummeln.
Aaron kniete sich vor mich und legte den Kopf leicht schief. „Sorry November…“, murmelte er leise. Ich atmete schwer, doch ich bekam ein zaghaftes Schmunzeln zustande. „…“ Ich schüttelte einfach nur den Kopf. Langsam drehte ich mich auf den Rücken, bekam wieder ordentlich Luft und fand meine Sprache auch gleich wieder. „kein Problem!“, lachte ich leise hustend. Levent half mir, mich aufzusetzen. „Kein Problem?“, fragte er ungläubig. „Du hättest ersaufen können!“, erinnerte mich Sue. „Bin ich aber nicht, oder?“, ich sah sie mit vielsagendem Blick an. Sue seufzte leise und verdrehte die Augen. „Is’ schon okay, mir geht’s gut.“, ich lächelte in die Runde, stand auf und ließ mich auf mein Badetuch fallen. „Willst du nicht dein Shirt ausziehen?“, fragte Jason und setzte sich wieder mir gegenüber. Ich schüttelte den Kopf, denn ich wollte nicht, dass meine Freunde sahen, wie mager ich wirklich war…

Seufzend schloss ich die Augen und genoss die warme Sonne auf meiner bleichen Haut. Levent setzte sich neben mich und rieb mir den Rücken trocken. „Cremst du mich ein?“, fragte ich leicht grinsend. Levent lachte leise und flüsterte: „Hatt’ ich vor.“
Er nahm die Sonnencreme aus meiner Tasche, ließ ein wenig davon in seine Hand und rieb mir damit den Rücken ein. „hmm…schön…“, seufzte ich und schloss meine Augen wieder. „Könntest Masseur werden!“, scherzte ich. „Hättest du wohl gerne“, lachte Jason und schob sich ein paar Chips aus einer großen Tüte in den Mund. Levent sah von mir zu Jason und den Chips. „Gib mir mal einen?“, sagte er grinsend, woraufhin Jason ihm die Tüte hin hob.
Levent schüttelte den Kopf. „Meine Hände sind klebrig“ Jason verdrehte die Augen und steckte Levent einen großen Kartoffelchip in den Mund. Ich mochte das nicht wirklich sehen, aber ich vertraute Levent blind, auch wenn mich das gerade eben ein wenig eifersüchtig machte. Ich beschloss, mir nichts anmerken zu lassen. „Donkö“, gluckste Levent hinter dem Chip hervor. Er massierte mich noch eine Weile lang, bis er sich schließlich neben mich legte.
Lynn und Sue kamen wieder zu uns und unterhielten sich leise kichernd. Ich verstand mal wieder nur die Hälfte, gab es schließlich auf und hörte Jason und Levent bei ihrem Gespräch zu. Es ging um Jasons Lieblingsband >>Slipknot<<, bei der der Bassist vor ein paar Tagen tot aufgefunden worden war. Levent lag auf dem Rücken und sah zu Jason hoch, der gerade beteuerte, wie sehr ihn das ankotzte. Ich setzte mich ein wenig auf, jedoch nur, um meinen Kopf auf Levents Bauch zu legen. Levent streichelte mir sanft über die nassen Haare und ließ sich nicht bei seinem Gespräch stören. Ich schloss leise seufzend meine Augen wieder und hörte den Beiden einfach nur zu. Ich wusste nicht wieso, aber irgendwie hatte ich das Gefühl, dass etwas passieren würde. Ich konnte dieses Gefühl nicht beschreiben, es war tief in mir drin, mit warnendem Blick. Doch momentan ignorierte ich es, da ich einfach nur die Zeit mit Levent genießen wollte.
Ich schluckte schwer, als ein neues Lied aus meinem MP3-Player ertönte… „O varium fortune…“, murmelte ich leise *oh wechselhaftes Glück…*

Kapitel 13
Ohne dich, kein Ich



Jason, Levent und ich, saßen, beziehungsweise lagen, noch ziemlich lange so in der Sonne. Sue, Aaron, Mikel und Lynn saßen um uns herum. Jason verschwand kurz zu seiner Hütte und ich konnte mir schon denken was er machen wollte. Ich ließ die Augen geschlossen und wartete bis ich seine Schritte wieder hören konnte, welche sich schließlich näherten. Ich war fast schon am einschlafen, doch Jason ‚weckte’ mich, indem er mein Lieblingslied auf seiner Westerngitarre spielte. Ich begann fast schon automatisch zu singen, während Jason mich mit der Gitarre begleitete. Die anderen hörten uns zu und Levent summte leise mit. Als das Lied zu Ende war und langsam ausklang, ließ ich einen leisen Seufzer los, der in lautem Geklatsche unterging. „Ich wusste ja überhaupt nicht dass du so toll singen kannst?“, Levent lächelte mich an, als ich die Augen öffnete und zu ihm hoch sah. „So gut bin ich gar nicht“, murmelte ich leise. „Natürlich bist du gut, du hast die beste Stimme im Camp du Zwerg!“ lachte Jason und boxte mir auf die Schulter. „autsch… meinst du? Find ich nicht so…“, Lynn und Mikel unterbrachen mich gleichzeitig: „Red keinen scheiß!“ Ich weiß bis heute noch nicht wie sie das immer hin bekamen…
Ich gab mich also schließlich geschlagen und schüttelte den Kopf. „Gut, gut… dann habt ihr eben recht“, seufzte ich grinsend. „Na siehst? Ist doch super, das verlangt nach einer Zugabe!“, lachte Jason und spielte ein weiteres Lied, wobei nun auch Aaron, Sue, Mikel, Jason, Lynn und Levent einstimmten. Zu siebt singen… Es war wirklich schön, denn wir hatten eigentlich alle recht schöne Stimmen.
Nach einer Weile setzte ich mich auf und schüttelte meine nun trockenen und demzufolge auch leider sehr lockigen Haare… Ich hasste meine Locken.
„Wo willst’n du hin?“, fragte Mikel, als ich aufstand und in Richtung See ging. „Meine Locken töten!“, lachte ich und rannte über den Steg hinein ins Wasser. Das kalte Wasser nahm meinen Körper für kurze Augenblicke ein und ich erstarrte für wenige Sekunden, bis ich schließlich wieder an die Oberfläche kam, um Luft zu holen. Ich strich mir die, nun wieder glatten Haare aus dem Gesicht und sah zu den Anderen, als Levent plötzlich: „Achtung!“, rief und neben mir mit einem lauten PLATSCH ins Wasser sprang.
Lachend tauchte er neben mir auf und drückte mir einen Kuss auf die Wange, was mich ein wenig erröten ließ…
Ich grinste ihn an und wir schwammen so weit zum Ufer, dass Levent gut stehen konnte. Da ich viel kleiner war als er, klammerte ich mich mit meinen Armen um seinen Hals und mit den Beinen um seinen Bauch. Wir sahen uns eine ganze Weile lang einfach nur in die Augen. Seufzend schmiegte ich mich an ihn und er legte seine Arme um mich.
„Süüüüüß!“, quietschte es von unserem kleinen ‚Lager’ her. Ich drehte den Kopf nach hinten und entdeckte Lynn und Sue. Wie ein kleines Kind streckte ich ihnen die Zunge entgegen und rief: „Macht doch’n Bild, davon habt ihr länger was!“ Die zwei nahmen das anscheinend ernst und zogen ihre Handykameras aus ihren Taschen. „iiiew….Foto…“ quietschte ich und vergrub meinen Kopf in Levents Schulter, der zu lachen begann. „Kamerascheu?“ hakte er grinsend nach und streichelte mir im Wasser sanft über den Rücken. Ich nickte. „Manchmal schon…“ Ich hob den Kopf wieder und sah zu Lynn und Sue…
„Worauf warten die?“, fragte ich verwirrt, als sie noch immer ihre Handys in unsere Richtung hielten. „Auf einen Kuss“, lachte Levent und legte seine große, sanfte Hand an meine Wange. Er drehte meinen Kopf leicht zu sich und ich sah ihm in die wunderschönen Augen. „Warum?“, fragte ich, immer noch verwirrt und legte den Kopf schief. „Keine Ahnung. Mädchen mögen so was.“, gluckste Levent und strich mir sanft mit dem Daumen über die Lippen… Ich schüttelte leicht den Kopf und sagte leise: „Versteh einer diese Frauen.“
Levent lachte wieder. Wie ich es liebte sein lachen zu hören…
„Hab ich dir schon mal gesagt, dass du unglaublich schöne Augen hast?“, fragte Levent plötzlich leise. Ich schüttelte nur den Kopf. Levent flüsterte mit sanfter Stimme: „Ich könnte jede Sekunde darin versinken…“ Mir wurde ganz warm und ich konnte einfach nicht anders.
Sanft küsste ich ihn und er erwiderte meinen Kuss ebenso sanft. Ich konnte leises Gequietsche hören. Schmunzelnd löste ich mich von ihm und Levent strich mir über die Wange.
„…warum weinst du denn?“, fragte er leise flüsternd. Ich schüttelte den Kopf und schmiegte mich wieder an ihn. „Nicht so wichtig...“, hauchte ich. Er strich mir sanft wieder über den Rücken und summte eine beruhigende Melodie.
„Was würde ich nur ohne dich tun?“, seufzte ich traurig. Levent schüttelte den Kopf. „Denk bitte nicht an so was, ich bin hier und ich liebe dich und ich werde dich niemals verlassen, das verspreche ich dir.“, hauchte er mit unglaublich sanfter Stimme. Ich nickte leicht und seufzte. Wenn Levent so mit mir sprach, konnte ich meine Sorgen für einen Moment lang einfach vergessen…

Kurze Zeit später gingen Levent und ich wieder aus dem Wasser. Am Himmel wurde es langsam dunkel. „Och neeee… Jetzt wird’s kalt…“, stöhnte Jason genervt. „Mensch, war doch so schön warm.“, Lynn seufzte traurig. Mikel und Aaron standen auf, packten Sue unter den Armen und zogen sie auf die Beine. „Na los, wir gehen Holz suchen, für ein Feuer!“, schlug Mikel grinsend vor und zog Sue mit sich. „Eh! Aber nicht mit mir! Nehmt jemand anderen mit!“, protestierte sie und Mikel verdrehte die Augen als er sie los lies. Levent hob die Hand. „Ich komm mit!“, die Drei zogen davon, in Richtung dunkler Wald. „Seid vorsichtig!“, rief ich ihnen hinterher, doch sie waren schon verschwunden. „Ach, denen passiert nix, die sind hart im nehmen“, lachte Lynn. „Genau!“, stimmte Sue ihr zu und klopfte mir auf die Schulter. Sie lächelte mich aufmunternd an und ich nickte seufzend. „okay…“
Jason lenkte mich ab, indem wir Karten spielten. Nach der ersten Runde, die Jason wie fast immer gewann, gingen wir mit unseren Sachen zur Feuerstelle. Es dämmerte schon ziemlich und der Horizont färbte sich in roten und gelben Farbtönen. „…wow…“, seufzte ich und ging zurück, wo die Sachen der anderen Jungs lagen. Ich nahm Levents Rucksack, sein Badetuch und sein T-shirt, dass er vergessen hatte, anzuziehen und brachte sie zu meinem Rucksack. „Warum brauchen die denn so lang?“, so langsam wurde ich hibbelig, ich machte mir schreckliche Sorgen…
„Ach, die finden bestimmt nur spärröich trockenes Holz, es hat doch gestern so stark gere-„, ein schmerzverzerrter Schrei, der einem das Blut in den Adern gefrieren und die kleinen Häärchen auf der Haut aufstellen ließ, unterbrach Jason.
„Fuck, was war das denn?!“, fragte er erschrocken und sprang auf. Ganz eindeutig. „D-das kam…aus dem Wald…“, ich schluckte schwer. Panik durchzog meinen Körper, als wäre ich in einen Schockfroster geraten. Meine Füße begannen zu gehen, zu laufen und schließlich zu rennen.
„Verdammt, November, warte!“, schrie Jason mir hinterher und er wollte zu mir aufholen, doch irgendwie war ich schneller als er. „Du weißt nicht wo das herkam, November!“, warnte er mich, doch ich wollte nicht hören. Ich rannte weiter, hinein in den Wald.
Ich musste wieder an diesen beschissenen Traum denken. „LEVENT!“, schrie ich durch den dunklen Wald, doch ich bekam keine Antwort. Die Panik und Angst, ihn nie wieder zu sehen, zuckte wie ein riesiger Blitz immer wieder in kurzen Abständen durch meinen Körper. Ich wollte ihn einfach nur heil und lebendig wieder sehen!
„LEVENT!“, immer wieder rief ich seinen Namen. Dieser Wald, der mir schon ab meinem allerersten Besuch Angst einjagte, war mir auf einmal viel zu ruhig und viel zu einsam. Tränen aus Angst und Sorge um den wichtigsten Menschen in meinem Leben glitzerten in meinen Augen und kullerten über meine Wangen um die Wette. *Bitte verlass mich nicht… Bitte halte dein Versprechen…*
Die Bilder dieses schrecklichen Traums zuckten durch meinen Kopf und ließen mich laut aufschluchzen. Mit meiner Schnappatmung bekam ich kaum mehr Luft, ich stolperte über die Äste, die auf dem Boden herum lagen und bemerkte, dass es immer schneller, immer dunkler wurde. „Levent!“, meine Stimme klang verzweifelt und gab langsam nach. Meine Sicht verschwamm, da sich die Tränen in meinen Augen sammelten.
Zwei Hände packten mich an den Schultern und ich zuckte stark zusammen. „Levent?!“, ich drehte mich um, doch ich wurde sofort enttäuscht.
Mikel sah mich mit trauriger und teilweise sogar entsetzter Miene an. Ich sackte zusammen und landete auf dem Boden. „Wo ist Levent…Sag mir wo er ist… ich will ihn sehen…“, schluchzte ich leise. Mikel kniete sich neben mich hin und strich mit die Tränen aus dem Gesicht. „Beruhig dich erst mal“, flüsterte er sanft, doch er würde mich nicht beruhigen können, das konnte nur Levent und ich wollte mich auch nicht beruhigen.

Ich schlug seine Hand weg und rappelte mich auf. „kh…“, alles wurde kurz schwarz, doch dann konnte ich wieder sehen. „Nein!“, schrie ich ihn plötzlich an. Mikel zuckte ein wenig zusammen und stand wieder auf, doch mich interessierte es nicht was er sagen wollte, ich wollte nur wissen wo der Sinn meines Lebens war, ich wollte Levent sehen und ihn bei mir haben. Jetzt. Auf der Stelle.
„Ich will verdammt noch mal wissen wo er ist.“, schluchzte ich. Meine Nerven und mein Körper machte das langsam nicht mehr mit. „Warum ist… warum ist er nicht bei dir, ihr wart doch Feuerholz holen“, schluchzte ich verzweifelt, „bring mich zu ihm!“
Schritte konnte ich hören. Und Jasons Stimme, wie er leise sagte: „November, es tut mir leid Mann… Es tut mir leid…“, er klang niedergeschlagen, mitgenommen. Wusste er wo Levent war? Ich drehte mich zu ihm um. „W-was… was tut dir leid??“, stotterte ich und konnte mich kaum mehr aufrecht halten. Ich sank wieder zu Boden und legte den Kopf in die Hände… Noch immer rannen mir unzählige Tränen über die Wangen. „Kann…mir jetzt…einer… nh… erklären was hier…verdammt noch mal… los ist?“, schluchzte ich mit erstickter Stimme.
„November…“, Jason kniete sich vor mich und sah mir in die Augen. „Levent… er ist… er ist tot.“
Nein…. Nein.
Das wollte ich ihm nicht glauben…
Das wollte ich nicht hören…
Um mich herum verlor alles seine Schönheit, seinen Sinn. Ohne Levent…war ich eine leere Hülle. Ein Wesen, das in den Spiegel sah und nicht erkannte, dass das, was ihm gegenüber stand, es selbst war.
Nichts. Das war ich.
Nichts.


Letztes Kapitel
1 Jahr, 10 Monate und 13 Tage später.



Ich hatte Levent jeden Tag besucht. Anfangs hatte ich geweint, doch mit der Zeit gewöhnte ich mich daran, nicht mit ihm sprechen zu können, beziehungsweise, keine Antwort zu bekommen. Mein Alltag wurde gedämpft und ich lächelte nur noch sehr selten. Jeden Tag dachte ich an ihn und trotz der anderen Dinge die ich zu tun hatte, zum Beispiel die Arbeit, die ich nun hatte, nahm ich mir Zeit für ihn. Jeden Abend und an den Wochenenden auch nachmittags, brachte ich ihm eine Blume. Ich bemerkte anfangs erst, wie die Zeit verging, als die ersten Blumen zu welken begannen.
Fast zwei Jahre waren schon vergangen, seit der Sache im Wald. Es hatte sich auch recht schnell aufgedeckt wer der Täter war, was mir selbst Angst machte und mich nachts nicht ruhig schlafen ließ.
Oliver hatte, aus Rache, Levent niedergestochen. Dreizehn Stiche in die Brust und den Bauch. Warum aus Rache? Levent hatte ihn wegen Missbrauchs an einem Jugendlichen, also mir, angezeigt, wofür er ins Gefängnis kommen sollte. Anscheinend war ihm danach alles egal und er wollte Levent töten. Ich verstehe ihn bis heute nicht. Sie waren doch Brüder. Natürlich machte ich mich selbst für die ganze Sache verantwortlich.
Nun, jedenfalls hat Oliver nun eine Strafe von 42 Jahren ab zu sitzen und lässt mich und Levent erst einmal in Ruhe.
Was?
Ihr denkt immer noch dass er gestorben ist?
Nein, um Gottes Willen nicht. Doch obwohl ich unendlich dankbar und erleichtert war, wurde es eine lange, sehr traurige und sehr, sehr einsame Zeit. Er war in ein tiefes Koma gefallen und die Ärzte wussten nicht, wann er wieder aufwachen würde.
Ich saß jeden Tag also an seinem Bett und hatte mir angewöhnt, ihm einfach alles zu erzählen. Mein Therapeut hatte gemeint, das würde mir helfen.
Also erzählte ich ihm.
Ich erzählte von meinem 18. und von meinem 19. Geburtstag, vom Tot meines Vaters, welcher an Herzversagen gestorben war, von meiner Mum, die einen neuen Mann hat, Florian. Er ist sehr nett und die Beiden wohnen zusammen in dem großen Anwesen. Ich würde bald eine kleine Schwester bekommen. Ich erzählte ihm auch von der kleinen Villa, die ich mir gekauft hatte. Sie stand ein wenig versteckt in einer wunderschönen Bucht, doch sie war ein bisschen zu groß für mich ganz alleine und deshalb fühlte ich mich immer etwas verloren darin. Ich war lieber unterwegs um mich davon abzuhalten, mir schlimme Dinge an zu tun. Ja, ich hatte oft den Gedanken gehabt, mich eine Klippe hinunter zu stürzen oder mich vor einen Zug zu werfen oder ganz einfach, mir den goldenen Schuss zu verpassen. Doch irgendwann, als meine Freunde mich besuchten und meine vernarbten Arme sahen, überredeten sie mich dazu, eine Therapie zu starten. Manchmal tut es gut mit einem Menschen zu sprechen der einem auch antwortet.
Außerdem erzählte ich ihm von Aaron und Sue, die bald Zwillinge bekommen würden, zwei kleine Jungs. Sie hatten mir erzählt, sie wollen sie November und Levent nennen.
Das war einer der Momente in denen ich lächelte.
Ich erzählte Levent von jedem Tag, an dem ich ihn besuchte, was ich gemacht hatte oder noch vor hatte. Was ich bleiben ließ und dass ich nachts von ihm träumte.
Und dass waren dann die Momente, in denen ich wieder zu weinen begann.
Ich erzählte. Und ich hoffte, er hörte mir zu.
Er hatte sein Versprechen nicht gebrochen. Er war bei mir geblieben. Stumm und taub und blind und gelähmt. Aber ich liebte ihn trotzdem. Jeden Tag. Jede Stunde. Jede Sekunde meines einsamen Lebens. Ich würde ihn niemals hergeben. Nicht für alle Liebe die die Welt mir schenken will. Denn ich wollte nur Levent und seine Liebe. Denn etwas anderes machte für mich überhaupt keinen Sinn.
Mein Leben? Das war er. Alles Andere war nur der Schaum auf den hohen Wellen des Meeres. Unbedeutend… Es spielte sich alles nur im Hintergrund ab. Ich lebte, wenn ich Levents Hand nahm und seinen Puls spüren konnte. Ja, dann lebte ich.
Innerlich war ich zerbrochen. Nicht einmal der nette Therapeut konnte mir helfen mich wieder neu auf zu bauen. Das schaffte keiner.
Innerlich war ich gestorben.

So saß ich also, wie jeden Tag, neben Levents Bett… Ich hatte ihm alles erzählt. Ich sah auf die Uhr. Die Besucherzeit war bald vorbei. Stumm stand ich auf, ließ Levents Hand los und beugte mich leicht über ihn. Ich fühlte mich unendlich leer. Ich hatte wieder geweint…
Vorsichtig küsste ich ihn auf die Stirn, wie ich es immer zum Abschied tat. Langsam ging ich zur Türe und legte meine Hand auf die Türklinke. „Ich liebe dich“, sagte ich noch und wollte die Türe öffnen, doch irgendwas… irgendwas hielt mich davon ab.
Da war es wieder. Dieses komische Gefühl, dass etwas passieren würde. Vielleicht würde ich ja auf dem Weg zu meinem Auto von jemandem überfahren werden? Naja, ich wollte mir keine Hoffnungen machen, denn dieses Wort, gab es in meinem Wortschatz schon gar nicht mehr. Noch immer stand ich mit diesem komischen Gefühl in der Magengrube an der Türe, die Hand auf der kalten Klinke und wusste nicht, ob es wirklich das Gefühl von damals am See, oder einfach nur meine Bauchschmerzen waren. Ich hatte schon lange nichts mehr gegessen. Ich war noch bleicher und dünner geworden als ich als Teenager war. Meine Wangen waren leicht eingefallen und meine langen schwarzen Haare, die mir schon ein gutes Stück über die Schultern hingen, waren unordentlich und verstrubbelt.
Hässlich, das war ich.
Etwas in mir begann mich wieder zurück zu Levent zu ziehen und ich wusste nicht ob ich diesem Gefühl trauen sollte. Würde er jetzt vielleicht sterben?
Ich blieb neben ihm stehen und sah auf sein regloses Gesicht.
Aber…
Es...war doch gar nicht so reglos…? Ich wollte meinen Augen nicht trauen, als Levent langsam die Augen öffnete. Mir wurde ganz warm…
Was war das? Freude hatte ich es früher genannt… Dieses warme, wohlige Gefühl in meinem Brustkorb. Ja, ich freute mich, aber wieso fing ich dann an zu weinen?
Levent bewegte seine Augen und sein Blick wanderte über die graue Lampe an der weißen Decke, über die weiße Wand mit den grauen Bilderrahmen und den bunten Bildern darin, zu mir. Er sah mir in die Augen.
Mein…Herz, denke ich, machte einen kleinen Aussetzer. Wir sahen uns tatsächlich in die Augen. Nach einem Jahr, zehn Monaten und dreizehn Tagen sahen wir uns endlich wieder in die Augen.
Ich blieb still. Levent öffnete langsam seinen Mund und ich hörte seine wunderschöne Engelsstimme sagen hören: „…ich liebe dich…“
So unglaublich schön… Ich hatte den sanften, warmen Klang seine Stimme schon vollkommen vergessen.
Ich traute dem noch nicht so ganz, was mir da gezeigt wurde. „Warum weinst du, Schatz?“, fragte er mich leise. Diese Frage hatte er mir schon einmal gestellt, doch damals hatte ich ihm keine richtige Antwort gegeben.
Ich beugte mich wieder leicht zu ihm herunter und schmiegte meine Wange an seine Brust, sodass ich seinen Herzschlag hören konnte. „Weil ich dich so sehr liebe…“, flüsterte ich mit ruhiger Stimme, was mich sehr wunderte. Doch jetzt war alles egal. Ich hatte meinen Engel wieder.
Ich hatte mein Leben wieder.
Ich hatte ihn wieder.
Und ich ließ ihn nie wieder gehen…

Impressum

Texte: (c) all by Paula Hoffmann
Tag der Veröffentlichung: 20.04.2010

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