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Prolog


Prolog



Als ich das erste Mal bei Dr. Lin war, hatte ich sie nur angestarrt. Ich hab mir ganz sorgfältige ihre grünen, großen und mit schwarzem Kajal umrandeten Augen angesehen. Ihre Wimpern waren, genauso wie die Augenbrauen, sehr dicht und es kam mir fast so vor, als wären sie unecht.
Ihre Stirn war hoch, ihre Nase war klein aber breit.
Der Mund war herzförmig und ziemlich groß.
Sie hatte bei unserem ersten Gespräch – wenn man es denn so nennen wollte – einen grünen Pullover und eine weiße Jeans an.
Irgendwie fand ich, dass sie gar nicht nach einer Ärztin für Bekloppte aus sah.
Eher wie eine PR Managerin oder so.
Sie starrte mich auch an.
Nach fast einer Stunde räusperte sie sich.
„Wann willst Du mich das nächste Mal sehen?“
Ich war ziemlich überrascht, dass sie vermutlich wollte, dass wir uns noch mal „sehen“.
„Nächsten Dienstag, genau um 14 Uhr“, sagte ich hohl.
„Alles klar. Erzählst Du mir dann deine Geschichte, Pina?“, fragte sie mich.
„Natürlich, Dr. Lin“.
Bei unseren nächsten Treffen, die jetzt jeden Dienstag, genau um 14 Uhr erfolgten, erzählte ich ihr immer ein Bruchstück von meiner Geschichte.
Immer wieder machte ich Pausen, um den Blick auf die befahrende Straße oder die kargen Bäume zu werfen.
Dr. Lin war sehr geduldig mit mir, dass musste man ihr lassen.
Sie ließ mir die Zeit, die ich brauchte.
Wenn ich bei unseren 60 Minuten nur einen kleinen Teil erzählt hatte, so freute sie sich, nächsten Dienstag den nächsten Teil zu hören.
Doch diesmal kamen wir an einer sehr interessanten Stelle an und ich merkte, dass ich diesmal mehr als die volle ganze Stunde erzählen würde, um mit all dem abzuschließen, was mein Leben verändert hatte.


„Nun, erzähl, was war… der Auslöser?“, fragte Dr. Lin.
Ich schaute auf ihre Gesundheitsschuhe, als ob sie mich an etwas erinnern lassen würden.
„Ich glaube, es war im Dezember, nur noch drei Wochen oder so vor Weihnachten. Meine Mutter ging einkaufen und ich musste auf meine Schwester aufpassen…
Ich hatte am Computer für eine Französischklausur gelernt, und als ich fertig war, wollte ich mich auf mein Sofa, wo meine Schwester malte und rum schnitt, legen.
Ich habe ihr gesagt, sie solle ihren Kram mal zur Seite legen oder aufräumen, ich könne mich ja nicht legen. Sie hat so genervt reagiert und dann habe ich lauter gesagt, wenn sie malen wolle, dann solle sie in ihr Zimmer gehen.“
Ich schaute auf die Bäume, die nun wieder einwenig mehr Blätter trugen, trotzdem waren sie immer noch hässlich.
„Dann hat mein Stiefvater los geschrieen, was den bei uns los sei.
’June versaut mir mein ganzes Sofa mit ihren Schnipseln und ich will mich endlich mal auf mein Sofa legen, aber sie hat alles versaut! Wenn sie malen will kann sie ja nach unten gehen’ habe ich gesagt.
Meine Schwester trampelte dann nach unten und ich schaute Fern.
Irgendetwas war wohl nicht so gegangen, wie June es wollte, da hat sie angefangen zu schreien, wie Scheiße das alles wäre und so.
Meine Mutter kam genau in dem Moment rein und hat los geschrieen.
’Kannst Du denn nicht einmal auf deine Schwester aufpassen! Meine Fresse, bist du gehässig! Immer schickst du deine eigene Schwester weg, und sagst sie solle sich verpissen? Was bist du für eine blöde Sau? Hau ab hier! Immer willst du nur fressen und vor der Glotze hängen! Immer willst du nur faulenzen! Du faules Stück!’.
Alles was sie gesagt hatte, wurde durch meinen Stiefvater bestätigt.
Ich hasse euch alle, dachte ich.
’Ich wollte nicht, dass June alles dreckig macht, weil du ja so einen Putzfimmel hast und immer alles blitze blank sein muss! Deswegen habe ich nur gesagt, wenn sie basteln will, soll sie ihn ihr Zimmer gehen!’
Doch da platze schon mein Stiefvater rein, ich hätte „Verpiss dich“ und noch so eine Scheiße gesagt.
’Na, da haben wir es doch! Du fiese Ratte!’, meinte meine Mutter und ging runter.
Unten sagte sie noch so Sachen wie ‚Fotze’, ‚Dreckssau’ und noch so schlimme Wörter.
Ich weinte.
Aber dann packte ich einen Entschluss, den ich bis heute nicht bereue.
Ich habe mir aus meinen Geldpot meine gesparten dreihundert Euro genommen, mein Handy, mein Ladekabel, viele Klamotten, ein Buch, eine Flasche Wasser und meine Geldbörse.
Ich hatte mich schnell angezogen und bin dann aus meinem Fenster auf unsere Garage gesprungen. Vorher hatte ich noch einen Brief geschrieben“, sagte ich.
„Was stand da drin?“, fragte Dr. Lin.
Ich musste nicht lange überlegen, ich habe es mir die ganzen Monate gemerkt.
„Dass ich jetzt gehen würde, dass sie es sich nicht wagen sollten, mich zu suchen, sonst würde ich abhauen, in ein anderes Land. Das war’s.
Na, ich bin dann halt aus dem Fenster gesprungen, hinein in den nächsten Bus.
In die Stadt.
Weit weg, von allen Problemen.
In den Zug.
Nach Köln.
Meine Eltern haben mich in der Zeit zehn Mal angerufen, bin aber nie dran gegangen.
Hab im Zug mein Handy aufgeladen, eine Kapuze über mein Gesicht gezogen und Musik gehört.
In Köln bin ich erstmal McDonalds gegangen, Essen.
Hab dann im Internet nach Jugendhotels geschaut, die in Köln sind.
Hab dann eins gefunden, für fünfundzwanzig Euro die Nacht. Bin da hin gegangen, hab erzählt ich wäre mit einer Freundin hier, die aber in ein anderes Hostel gelandet ist.
’Ist okay’, meinte die Alte an der Rezeption.
Und dann bin ich schlafen gegangen.
In der Zeit haben mich meine Eltern dreißigmal angerufen.“
“Bist du irgendwann mal dran gegangen?“.
„Nein. Denn hätte, ich dass gemacht, hätte ich nicht das erlebt, was ich in Köln erlebt hatte.
Nämlich die schönste, aufregendste und beste Zeit in meinem ‚Leben’.

Job und Geld



Der erste Morgen in dem Jugendhostel war okay, die Betten waren erstaunlicher Weise gemütlich, und gemüffelt hat es auch nicht.
Ich habe mich gewaschen und die Sachen von gestern angezogen.
Ich hatte tierischen Hunger und in dem Preis war Frühstück leider nicht inbegriffen.
Ich packte meine Sachen in den Safe, der im Zimmer stand und ging runter in die Rezeptionshalle.
“Wo kann man denn hier gut und billig Frühstücken…“, ich schaute auf das Namensschild, dass der junge Mann an der Rezeption trug
„…Johny?“.
Er schaute auf.
„Bei uns. kostet nur fünf Euro extra.“
Er lächelte.
„Mit Getränke, und all you can eat?“, lachte ich.
„Ne, Getränke sind noch mal extra, aber all you can eat ist drin.“
„Ne, sag mal, wo kann man gut und billig frühstücken?“, fragte ich erneut.
„Wenn du jetzt hier rechts um die Ecke gehst, bis zur Ampel und dann rechts, so hundert Meter, da kommt ein Café, die bieten für 3,50¤ einen Kaffe, zwei Brötchen und ein Ei an. Schmeckt ganz gut, und ist billig, ganz nach deinen Wünschen….“, er schaute auf meine Brüste und suchte das Namensschild, was ich natürlich nicht hatte.
“Pina.“, sagte ich kurz.
“Pina“, sagte er lächelnd.
„Danke“, meinte ich und ging zu dem besagtem Café.
Als ich an dem Café ankam, war ich ziemlich überrascht. Es war ein schönes Café.
Man konnte draußen als aus drinnen sitzen, ich wollte lieber drinnen, draußen war es ziemlich kalt.
Ich ging in das Café und ich fiel vor Wärme und von dem Geruch von frischem Kaffee fast um.
Es war herrlich und ich freute mich darüber, dass ich Johny gefragt hatte.
Ich ging zum Tresen und bestellte das Frühstückspaket „Morgenmuffel“, das wirklich nur 3,50¤ kostete.
Ich zog meine Jacke aus und suchte mir einen Platz am Fenster.
Ich schaute nach draußen auf die inzwischen verschneite Strasse und dachte zum ersten Mal wieder in an meine Familie.
Was sie wohl jetzt machten?
Wie ging es meiner Schwester?
Hatten sie schon die Polizei benachrichtig?
Meine Freunde angerufen?
Plötzlich stand die Kellnerin neben mir und stellte mir ein Tablett mit einem gekochten Ei, eine kleinen Kaffe, zwei Brötchen und Marmelade hin.
„Guten Appetit“, wünschte sie mir und ging.
Zuerst nippte ich an meinem Kaffee, der genauso schmeckte, wie er roch.
Einfach zauberhaft, das Leben hier in Köln.
Wenigstens für diesen Moment.
Aber ich machte mir ein bisschen Sorgen um das Geld.
Mit dem Geld, womit ich hergekommen bin, reichte es noch höchstens eine Woche.
Eine Woche, mehr nicht.
Ich grübelte. Wenn ich nicht auf der Straße landen wollte, dann musste ich mir wohl oder übel einen Job suchen.
Leichter gesagt als getan.
Ich kannte mich in Köln null aus, wusste noch nicht mal wo man hier gut shoppen konnte oder so.
Also fielen Jobs wie Medikamentenkurier weg.
Scheiße.
Ich ging auf Toilette und bemerkte nur rein zufällig einen kleinen Flyer am Tresen.
Ich nahm in die Hand und – als ob es ein Wink des Schicksals war – vergab eine Firma Schülerjobs auf dreihundert Euro Basis.
Ich überflog den Zettel und schnell wurde mir klar, dass man in einem Schwimmbad als Küchenhilfe arbeiten konnte.
Für dreihundert Euro könnte ich vielleicht irgendwo als Untermieter oder so wohnen.
Ich ging auf Toilette, aß mein Frühstück zu Ende, bezahlte und machte mich ins nächste Internetcafé auf.
Ich irrte kurz in der Stadt herum, bis ich ein Internetcafé fand.
Ich bezahlte für eine halbe Stunde zwei Euro und suchte im Internet nach der Kölner Zeitung.
Rasch fand ich die Internetseite der Kölner Stadt Anzeigen und klickte auf „Zeitungsanzeige aufgeben“.
Ich wurde auf eine Seite weiter geleitet, wo ich eingeben musste ob die Anzeige gewerblich oder privat war.
Ich klickte Privat an und wurde erneut weiter geleitet.
Ich wählte die Rubrik „Immobilien“ aus, wählte „Gesucht“ aus und schrieb einen kleinen Text dazu:

Kleines, möbliertes Zimmer gesucht!
Ich bin neu in Köln und suche ein Zimmer
bei einer WG oder Familie bis 200¤ warm.
Festes Einkommen, bitte melden unter: 01601445675

Die Anzeige kostete mich dreißig Euro und ich hoffte, dass ich so schnell wie möglich Rückmeldungen bekommen würde.
Ich rief direkt danach bei dem Schwimmbad an und fragte nach dem Schülerjob.
Ich musste nur zum Vorstellungsgespräch am nächsten Tag kommen und wenn ich Glück hatte, würde ich den Job bekommen.
Ich irrte noch eine Weile durch Köln, aß noch eine Pommes, schaute mir den Dom an, hängte auf der Domplatte rum, spielte mit dem Schnee, der sich langsam in Wasser und Matsch verwandelte und ging dann wieder zurück ins Hostel.
An der Rezeption saß noch immer Johny und er lächelte mich frech an als ich mit roter Nase und eiskalten Finger rein kam.
„Und, wie war das Essen, Pina?“.
Ich lächelte. „Ausgesprochen gut, Johny. Danke für den Tipp. Es ist echt ein tolles Café.“
„Woher kommst du eigentlich?“, fragte er.
Ich schluckte. „Aus… Frechen, und du?“.
„Ich bin und bleib ein Kölner“.
Er lachte.
Ich lachte auch.
„Hast du heute noch was vor, Pina?“, er schaute verschmitz auf meine Hände.
Ich war überrascht.
Johny war nicht viel älter als ich.
Vielleicht 18,19,20.
„Ähm…nein“, antwortete ich.
„Hast du vielleicht Lust… na ja mit mir in das Café zu gehen? Heute Abend, sechs Uhr?“.
Ich lächelte.
„Gerne.“
„Cool. Ich warte dann am Café, um sechs Uhr.“
„Um sechs Uhr“, wiederholte ich und machte auf dem Absatz kehrt.
Wow, ein Tag hier und schon ein Date, super Pina!
Ich lachte über mich selber.
Johny war ziemlich nett und lustig und es schien, als würde er gefallen an mir finden.
Er war auch mein Typ, aber ich mache mich nicht direkt an jemanden dran.
Erst will ich sehen, wie der drauf ist.
Ich schaute auf meine Uhr.
Es war erst drei Uhr und ich hatte noch drei Stunden Zeit.
Ich setzte mich auf mein Bett und schaltete mein Handy ein.
„Oh mein Gott“, sagte ich laut.
Sage und schreibe vierzig Anrufe in Abwesendheit.
Mal von meinem Stiefvater, mal von meiner Mutter, mal von meinem richtigen Vater.
Wow, er kümmerte sich auch mal um mich.
Meine Eltern hatten sich getrennt als ich vier war.
Meine Mutter hatte kein Bock mehr auf seine Panik und Psycho Attacken gehabt, deswegen trennte sie sich von ihm und zog mit mir in eine kleine Wohnung.
Meine zwei Brüder ließ sie bei meinem Vater, obwohl sie mit wollten.
Aber mein Vater hatte sie so manipuliert, mit seinem Getue er sei ja so krank, dass sie bei ihm blieben.
Ziemlich scheiße.
Am Anfang der Trennung kümmerte sich mein Vater sehr gut um mich, brachte mir kleine Geschenke und war einfach immer da.
Als er aber eine „kleine“ Reise nach Russland unternahm, traf er seine jetzige Frau.
Und wie heißen fast alle Frauen in Russland?
Richtig, Olga!
Nichts gegen Russen, aber die Frau war einfach schrecklich!
Blond gefärbte Haare, Smokey Eyes und roter Lippenstift…
Sagt doch wohl alles oder?
Na, auf jeden Fall konnte ich sie – obwohl ich noch so klein war – nicht ausstehen!
Vielleicht, weil meine Mutter immer schlecht über sie redete, und vielleicht hat es sich bei mir eingenistet, schlecht über Olga zu denken und zu reden.
Das bemerkte auch Olga und sagte zu meinem Vater, meine Mutter wäre eine Hexe.
Krass, oder?
Aber meinen Vater konnte nichts und niemanden davon abhalten, diese Frau zu heiraten und später einen Sohn mit ihr zu zeugen.
Ich war heilfroh, dass es ein Junge war, denn somit hatte ich den Ich-bin-doch-deine-einzige-Tochter Punkt!
Nun, viel genützt hat es mir nicht, vor allem nicht als ich ihr letztes Weihnachten vor der ganzen Familie den Rotwein ihn ihren Ausschnitt gekippt hatte und sagte: „Du magst es doch, etwas zwischen deinen Titten zu haben, nicht?“.
Olga war empört und schaute meinen Vater an.
Ich wusste, was er sagen würde, und somit nahm ich mir meine Jacke und verpisste mich.
Nach diesem Vorfall meldete ich mich nie wieder bei meinem Vater und er auch nicht mehr bei mir.
Er bekam von da an nichts mehr von meinem Leben mit, wie gut ich in der Schule war, dass ich Abitur machen wollte und danach Medizin studieren wollte, dass ich immer besser als meine Freunde sein wollte, dass mein Stiefvater mich beschissen behandelte und dass alles Scheiße in meinem Leben war, all das bekam er nicht mit.
Und somit verachtete ich ihn, und es wunderte mich, dass er meine neue Nummer überhaupt kannte.
Wahrscheinlich hatte meine Mutter ihn angerufen, dass ich abgehauen wäre.
Ich schaltete das Handy wieder aus und erneut auf die Uhr.
Halb vier.
Ich durchwühlte meine Sachen und legte mir ein Outfit das aus einer Jeans, einem karierten Hemd und Turnschuhen bestand.
Wir wollten ja nur was Essen gehen.


Um kurz vor Sechs ging ich zum Café und sah, dass Johny auch schon da war.
Er saß an einem Tisch, auf dem eine Kerze brannte, in der Ecke und schaute nach draußen.
Ich atmete noch einmal tief durch und marschierte in das Café.
Es war schön warm und es lief leise, instrumentale Musik.
Das Café wirkte plötzlich sehr romantisch und ich schämte mich fast für meine lässige Kleidung.
Aber als ich sah, dass Johny genauso angezogen war, verflog das Schamgefühl schnell.
„Hey, Pina, da bist du ja!“, sagte Johny und zeigte auf den Stuhl gegenüber von seinem.
„Hey“, sagte ich.
„Hast du schon bestellt?“.
In dem Moment kam die Kellnerin, die mich auch heute Morgen bediente und lächelte.
„Was wollt ihr trinken?“, fragte sie und schaute Johny ziemlich intensiv an.
Ich hob die Augenbraue.
„Ich bekomme eine Cola“, sagte Johny.
„Gerne“, erwiderte die Kellnerin freundlich.
Dann sah sie mich an und ihr Lächeln verschwand.
„Und du?“.
Ich schaute sie kurz an.
„Cola“, sagte ich kurz.
Die Kellnerin nickte und steckte ihren Zettel in die Seitentasche ihrer Schürze.
Ich schaute Johny an.
Er schaute mich an.
„Die war nett, nicht?“, meinte ich lachend.
„Ja wohl, eine sehr nette Bedienung!“, meinte Johny ebenfalls lachend.
„Wieso bist du eigentlich hier, Pina?“, fragte er.
Ich richtete mich auf.
Mit der Frage hatte ich nicht gerechnet.
Aber das Leben ist ja keine Matheaufgabe, mh?
„Ähm… ich wollte… einfach mal… raus.“
„Kenn ich“, meinte Johny kurz.
„Ach ja?“.
„Wirklich. Mal andere Menschen sehen, andere Dinge. Andere Straßen. Andere Bäume. Einfach alles anders sehen.
Mal den Kopf frei kriegen, an nichts denken müssen. Den Moment genießen.“
Wow, war der Philosoph?
„Ja, du sprichst mir aus dem Herzen“, meinte ich.
Da kamen unsere Getränke.
„Einmal die Cola für den charmanten Herrn“, sagte die Kellnerin.
Was war an einer Cola zu bestellen charmant?
Die Alte hatte ein einen Vollknall.
Meine Cola stellte sie tonlos hin und sah Johny noch mal an.
„Und was wollt ihr Essen?“.
Johny sah mich an.
Ich schüttelte leicht den Kopf.
Er nickte kaum sehbar.
„Nichts, meine Freundin und ich wollen so schnell wie möglich nach Hause, unser Bett wartet, nicht wahr, Schatz?“.
Ich schluckte.
„Ja.“
Die Kellnerin schaute erst Johny und dann mich an.
„Na dann, wer nicht will, der hat schon.“
Als sie weg war, musste ich mir das Lachen verkneifen.
„Bombastisch, haste gesehen wie die geglotzt hat?“, lachte Johny.
Dann wurde er ernst.
„Bock auf ne richtig geile Party?“, fragte er.
Ich trank meine Cola in drei Schlücken aus.
„Immer doch!“.


Die geile Party – wie es Johny nannte – befand sich in einem riesigen Plattenbau.
So einen den man aus diesen Sendungen kennt, wo die Familien irgendwelche Probleme haben und das alles gefilmt wird, und man total merkt dass nur alles gespielt ist und die „Schauspieler“ total Scheiße sind.
Genauso ein Plattenbau war die Location.
Der Putz blätterte an den Balkonen und vor allem auf der Tür ab.
Der Spielplatz verdiente seinen Namen nicht.
Überall sammelten sich Bierflaschen, Kippen und – wer weiß – Spritzen?
Rechts und Links neben der Tür waren kleine als auch große Graffitis.
Sie waren keine Kunstwerke, sondern einfach so schnell, mir nichts, dir nichts, hingesprayt.
Johny sah meinen misstrauischen Blick.
„Alles okay?“.
Ich schaute ihn an, dann kurz zum Plattenbau, dann wieder in seine Augen.
„Ja, ich weiß. Nicht gerade Edelschuppen, aber lass dich nicht von der Fassade täuschen, meistens ist es ganz anders, als du denkst!“



Hätte ich das mal früher gewusst, wäre ich nicht in diese ganze Scheiße reingerutscht.
Dieser Satz hämmerte mir fast jede Nacht im Hirn, bis ich schlief.
Aber selbst dann träumte ich noch von Johny.



Ich nickte
Warum stellte ich mich so an?
Mein Gott, wer weiß, vielleicht war da echt ne coole Party im Gange und ich machte jetzt einen auf braves Mädchen.
Ich war doch eh schon verdammt.
Ich hatte meine Familie verlassen, ich war abgehauen.
Mehr konnte mir doch nicht passieren.
Im Flur stank es nach Pisse, altem Hund und irgendwelchen stark gewürzten Gerichten.
Einfach nur widerlich.
Johny nahm einfach meine Hand und wir gingen über die Treppe sechs Stockwerke nach oben.
Aus Tür 65 dröhnte so eine art Techno-Musik, oder so was.
Auf jeden Fall waren es harte Bässe und es dröhnte wie sonst was.
Johny hämmerte gegen die Türe.
Langsam konnte ich ein Gegröle ausmachen.
Wow, da gings ja richtig ab!
Plötzlich riss jemand die Tür auf.
Zwei blaue und gerötete Augen starrten erst Johny und dann mich an.
Es war ein junger Mann, vielleicht Mitte zwanzig.
Er war sehr schmächtig, hatte eingefallene Haut, dünne Haare und hielt einen Joint in der Hand.
Oh mein Gott – einen JOINT!


Ja, da war ich noch erschrocken vom Anblick eines Joints.
Glaubt mir, später würdet ihr dieses Ding am liebsten Heiraten.



„Johny. Wen haste denn da mitjebracht?“, fragte Joint-Man.
„Das ist Pina. Ich hab gehört, hier steigt wieder einer deiner Partys, haste noch ein bisschen?“, fragte Johny.
Ich schaute ihn geschockt an.
Das bemerkte auch Joint-Man und schaute mich kopfschüttelnd an.
„Ich glaub, deine Freundin hat es nicht so mit Joints.“
Johny schaute mich an.
„Es ist geil! Du vergisst alles. Und es macht Spaß! Glaub mir! Du musst dir nicht einen kompletten Kiffen, wenn du nicht willst…“, sagte Johny.
Ich überlegte kurz.
Was war denn schon dabei, einen kleiner Joint würde doch nicht den Weltuntergang bedeuten, oder?
Ich nickte.
Johny wollte gerade in die Wohnung des Joint-Man’s als der den Weg mit seinem Arm versperrte.
„Das ist keine Kinderparty, Puppe. Hier wird geballert und Sachen gesnieft, von denen du nicht mal wusstest dass es sie gibt. Also probier erstmal, wenn du’s verträgst, gehörst du dazu“, meinte Joint-Man und hielt mir den Joint, der ziemlich glühte, vor die Nase.
Der Joint roch leicht süßlich, was mich überraschte.
Ich nahm den Joint zwischen dem Zeige und Ringfinger und zog ganz vorsichtig dran.
Obwohl ich es vorsichtig machte, musste ich husten und mir tränten die Augen.
Jedoch hielt das nur für wenige Sekunden an.
„Wie alt ist sie?“, fragte Joint-Man.
„Fünfzehn, bald sechzehn“, antwortete ich.
„Naja, geht ja noch. Kommt rein, bevor die Nachbarn austicken. Ein Wunder dass die noch nicht die Polizei angerufen haben“, meinte Joint-Man und ließ uns rein in sein Drogen Paradies.

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Tag der Veröffentlichung: 19.12.2012

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