Pling! Entnervt warf Marion einen Blick auf ihr iPhone. Eine neue Mail. Was wollte ihr Chef denn nun schon wieder? Es war Sonntag, verdammt! In knapp fünfundzwanzig Stunden würden sie sich wieder im Büro gegenüberstehen; sie würde Kaffee kochen und höflich fragen, ob er auch einen wollte, obwohl sie genau wusste, dass er an der Arbeit niemals Kaffee trank. Was konnte es geben, was nicht bis dahin warten konnte? Seufzend entsperrte sie das Smartphone und tippte die Mail an. Das Programm hin einen Moment, dann wurde die Nachricht angezeigt. Marion stutzte: Die Mail war gar nicht von ihrem Chef! Wer sonst kam denn bitte an einem Sonntagmorgen auf die abenteuerliche Idee, ihr an ihre dienstliche Mailadresse zu schreiben?! Mit gerunzelter Stirn begann sie zu lesen.
Liebe @Marionnn___!
Hä? Jetzt war sie vollkommen verwirrt. Das war doch ihr Twitter-Pseudonym! Warum schickte jemand eine Mail an ihre Geschäftsadresse, sprach sie dann aber mit ihrem Twitternamen an? Das ergab keinen Sinn. Und überhaupt, war wollte derjenige von ihr? Sie hätte noch gut zwei Stunden schlafen können! Und – Moment mal! Von wem war die Mail überhaupt? Der Absender schien keine Werbefirma zu sein, aber der Name kam Marion auch kein bisschen bekannt vor. Finn Hubertus. Die Brauchen immer weiter zusammenziehend, las Marion weiter.
Ich weiß, dass es dir merkwürdig vorkommen muss, so aus dem Nichts von mir angeschrieben zu werde; vor allem, weil wir uns bis jetzt nur über Twitter kenne und selbst da kaum Kontakt haben. Ich heiße da @FinnishEmOff; wir haben ein paarmal gemeinsam über das frühe Aufstehen am Montagmorgen gelästert…
Ja, daran konnte sich Marion erinnern. Den Namen @FinnishEmOff hatte sie schon immer etwas komisch gefunden. Aber etwas Anderes war gerade viel wichtiger: Wo zum Teufel hatte dieser Finn ihre Adresse her?! Die Antwort folgte auf den Fuß:
Sorry, dass ich an deine Geschäftsadresse schreibe, aber das war die einzige, die ich finden konnte. Ich habe mal ein wenig gegoogelt…
Na toll, auch das noch. Ein Stalker. Dem sollte es auch leidtun, dass er ihr an diese Adresse schrieb! Private Mails wurden schließlich nicht auf iPhone weitergeleitet und weckten sie dementsprechend auch nicht. Überhaupt musste sie sich mal bei ihrem Chef beschweren. Eigentlich konnte es nicht sein, dass sie immer erreichbar zu sein hatte.
Ich kann dir nicht beweisen, dass ich dich nicht verarsche oder so, es sein denn, du triffst dich mit mir oder rufst mich an; aber ich hoffe einfach mal, dass du mir glaubst. Die Situation ist für mich auch nicht einfach…
Das wurde ja immer besser! Sie sollte die Mail einfach löschen und vergessen. Aber irgendwie brachte sie das auch nicht übers Herz. Die Nachricht löschen und @FinnishEmOff blocken konnte sie immer noch.
Es ist so: Meine Schwester, @Himbeerchen2, ist vor drei Tagen verschwunden…Was das mit dir zu tun hat? Sie hat mir noch eine letzte SMS geschrieben. Take our G6 tix, ask Marionnn___ 2come. Xoxo. Ich weiß nicht, wie sie ausgerechnet auf dich kommt. Ich glaube, sie hat deine Tweets immer ein wenig bewundert. Oder vielleicht dachte sie einfach, dass du Spaß auf der G6 hättest…
Moment, das musste Marion jetzt noch mal lesen. Da war ein Mädchen, die ihre Tweets verfolgt hatte und jetzt verschwunden war. Und das letzte, worum sie ihren Bruder gebeten hatte, war gewesen,er (wie alt der auch immer sein mochte) zusammen mit ihr, Marion, eine DJ-Party besuchte. Gedankenverloren wischte sie die Tränen weg, die unwillkürlich begonnen hatten, ihre Wangen hinunter zu rinnen. Vor Mitleid, vor Rührung, vor Verwirrung…sie wusste es nicht genau. Vermutlich eine Mischung aus all dem. Das iPhone zitterte leicht in ihrer Hand, als sie wie in Trance weiterlas.
Du musst dieses Angebot nicht annehmen. Ich wollte es dir nur gemacht haben, weil Maria es sich so gewünscht hat. Vielleicht gehe ich selbst auch gar nicht auf die G6. Ger Gedanke, da ohne sie hinzugehen, ist einfach zu schmerzhaft. Vielleicht findet die Polizei sie ja bis dahin, aber sie könnte ja inzwischen überall sein. Wir wissen nicht mal, ob sie entführt wurde oder abgehauen ist, wobei es wahrscheinlich ist, dass sie einfach abgehauen ist. Allerdings haben wir keine Ahnung, wo sie sein könnte - alle Verwandten und Freunde haben wir schon gefragt - und ob es ihr gut geht. Wie auch immer; die G6 ist ja erst in vier Monaten. Ich werde sehen müssen, wie ich mich dann fühle, zumal falls Marie bis dahin nicht wieder aufgetaucht ist. Ansonsten kannst du beide Karten haben, ich habe kein weiteres Interesse daran. Geld bringt mir Maria auch nicht zurück.
Eine Bitte habe ich allerdings: Antworte mir. Egal, wie deine Entscheidung ausfällt oder was du über mich denkst, nachdem du diese Mail gelesen hast. Niemand zwingt dich, irgendwas mit mir zu tun zu haben. Aber ich möchte einfach wissen, dass die Nachricht angekommen ist. Dass ich den Wunsch meiner Schwester erfüllt habe. Ich hoffe, du kannst das verstehen.
Liebe Grüße.
Finn
Nachdem sie sie Mail zu Ende gelesen hatte, starrte Marion erst mal eine ganze Weile nur stumm vor sich hin. Konnte sie diesem Finn trauen? Sollte sie das Angebot annehmen? Sie wollte schon seit Jahren mal auf die G6, woher hatte Maria das nur gewusst? Und was antwortete man einem Fremden, der gerade seine geliebte Schwester verloren hatte? Tausende Fragen schwirrten ihr durch den Kopf und auf keine wusste sie eine Antwort. Das fehlte, eine App, die einen bei solchen Entscheidungen unterstützte. Oder sie einem am Besten gleich abnahm. Hieß es nicht immer, es gäbe für alles eine App?
Vielleicht sollte sie einfach noch mal eine Stunde über die Sache schlafen. Dann wäre auch Ben sicher zurück. Er war das Wochenende mit ein paar Kumpels weggewesen. Sie kannte die Jungs alle, das waren ganz nette Kerle. Aber manchmal wollten sie halt auch einfach mal ohne die „Weiber“ weg. Das war okay, schließlich traf Marion sich auch gelegentlich mit ihren besten Freundinnen zu einem Sex-and-the-city-Marathon – Ladies only. Auf jeden Fall würde Ben bald nach Hause kommen, und dann konnte sie die seltsame Mail mit ihm besprechen. Bei dem Gedanken schlich sich ein stilles, glückliches Lächeln auf ihre Lippen. Ben wusste ganz sicher, was zu tun war. Er wusste das doch immer, und konnte so gut mit Worten umgehen… Wie sie ihn liebte, selbst nach vier Jahren noch wie am ersten Tag!
"Hey, Schatz, ich bin wieder da!" Bens Stimme weckte Marion zum zweiten Mal. Nur, dass es diesmal keine Störung war. "Schön!" Marion sprang aus dem Bett und gab Ben einen zärtlichen Kuss. Er schmeckte noch ziemlich nach Bier...na ja, kein Wunder. Trotzdem erwiderte er den Kuss leidenschaftlich. "Hier, Schatz, was dagegen, wenn ich erst mal noch 'ne Runde pennen gehe?", fragte er dann. "Nein, natürlich nicht", antwortete Marion. Aber dann fiel ihr Blick auf das iPhone, das immer noch auf dem Nachttisch lag. "Oder, doch, warte mal kurz..." Sie wusste, dass Ben vermutlich die ganze Nacht keine Minute geschlafen hatte, aber die Sache mit der Mail wollte sie einfach möglichst schnell geklärt haben. Oder hatte sie das am Ende etwa nur geträumt?! Blitzschnell schnappte sie das Smartphone und öffnete den Mailordner. Nein, es war kein Traum gewesen: Da war tatsächlich eine Mail von einem gewissen Finn Hubertus. "Was ist denn, Schatz? Ich bin echt müde..." Wortlos reichte Marion ihm das iPhone, doch statt es zu nehmen, starrte er sie nur völlig irritiert an. "Lies mal!", forderte sie ihn eindringlich auf. Mit skeptischem Blick tat Ben wie geheißen.
Während er mit dem Daumen weiterscrollte, registrierte Marion eine steile Falte, die sich in seine Stirn grub. Auch er schien die Mail höchst seltsam zu finden; wenn es auch nicht unbedingt seine Art war, gleich vor Rührung in Tränen auszubrechen. Aber ihm hatte ja auch keiner Karten für die G6 geschenkt.
"Und?", fragte Marion, als Ben ihr das iPhone zurückgab. "Das ist doch nur so eine Abzockmasche. Wenn du darauf antwortest, hast du vermutlich automatisch einen Jahresvorrat an Babywindeln bestellt." Marion lachte, doch das Lachen klang seltsam hohl. "Aber das ist ganz einfach", setzte Ben fort, "du schlägst den Typen mit seinen eigenen Waffen: Google ihn!" Auf die Idee war Marion noch gar nicht kommen. War ja klar gewesen, dass Ben sowas gleich einfiel. Er wusste einfach wirklich immer eine Lösung. "Das ist eine gute Idee! Gute Nacht, Schatz." Ein letzter Kuss, dann verschwand Ben ins Badezimmer, um sich umzuziehen. Marion nahm indessen ihr iPhone wieder zur Hand und tippte den Namen "Finn Hubertus" in die Suchmaschine ein. Die Ergebnisse waren schnell geladen und mit einem Anflug von Nervosität begann sie, die Überschriften zu lesen. Schulfeste, Judoverein,
Sprachwettbewerbe... Twitter. Verkäufer von Babywindeln würden doch keine komplette Person faken, nur, damit sie darauf hereinfiel -oder?! Der erste Link führte Marion auf die Website eines Gymnasiums. Anscheinend hatte dieser Finn auf dem letzten Sommerfest der Schule das Publikum mit einem Gedichtvortrag begeistert. So was dachte sich doch keiner aus. Schon gar nicht so eine ganze Schulhomepage, die doch ganz normal und seriös aussah. Damit stand für sie also fest: Finn
Hubertus war ein Mensch wie jeder andere. Blieb nur noch die Frage: Wollte sie ausgerechnet mit ihm auf die G6 gehen?
Marie zitterte. Das mochte daran liegen, dass es halb zwei in der Nacht war und der Wind ihr die Haare ins Gesicht peitschte – nicht unwesentlich trug dazu aber vermutlich auch bei, dass sie vor der Tür eines Menschen strand, den sie noch nie zuvor getroffen hatte. Und trotzdem hatte er sich Tag für Tag in endlosen Skypechats ihre Probleme schildern lassen und versucht, ihr zu helfen. So gut es eben ging. Ihr Hauptproblem war nun mal, dass dir mit ihrer Mutter nicht mehr zurechtkam. Als Marie klein gewesen war, hatten die beiden sich super verstanden und ihrem Bruder und ihrem Vater unter dem Motto „Frauen müssen zusammenhalten!“ kleine Streiche gespielt. Aber in ihrem vierzehnten Lebensjahr hatte sich das Verhältnis der beiden zueinander mit einem Schlag krass verändert. Sie stritten nur noch, oft über unwichtige Kleinigkeiten. Mit der Zeit war es nur immer schlimmer geworden. Regelmäßig – eigentlich täglich, wenn nicht sogar täglich – hatte Marie sich gewünscht, nicht mehr zu Hause leben zu müssen und ihrer Mutter aus dem Weg gehen zu können. Mit ihrem Vater verstand sie sich auch nicht viel besser.
Und irgendwann zwischen all den Zankereien und zuknallenden Türen hatte Marie James kennengelernt. Sie waren auf einer dieser unzähligen Chatseiten einander zugelost worden und hatten schon am ersten Tag stundenlang miteinander geschrieben. Schließlich, bevor er sich verabschieden musste, hatte James Marie seinen Skypenamen verraten. Seither waren die schriftlichen Unterhaltungen zu einem fast täglichen Ritual geworden. Obwohl die beiden sich im realen Leben noch nie begegnet waren, entwickelte sich über die Monate eine tiefe Freundschaft. Wenn es Marie schlecht ging, wusste sie, dass James sie verstehen würde – oft sogar besser als ihre Freundinnen in der Schule. Und wenn James ein Problem hatte, ließ Marie auch mal die Hausaufgaben bis spät in die Nacht liegen, um ihm zuzuhören und sich Lösungen zu überlegen. James war drei Jahre älter als sie: Sie war inzwischen fast 17, er hatte vor kurzem seinen 20. Geburtstag gefeiert. Er machte eine Ausbildung und hatte eine eigene Wohnung. Und als sie ihm geschrieben hatte, dass sie es einfach nicht mehr länger zu Hause aushielt und am Liebsten abhauen würde, hatte er ihr angeboten, fürs Erste bei ihm einzuziehen, wenn sie wirklich einen anderen Ausweg sah. Marie war total glücklich gewesen, als er ihr seine Adresse gegeben hatte und sie eingeladen hatte, jederzeit vorbeizukommen. Und obwohl er fast vier Stunden von ihr entfernt wohnte, hatte sie keinen Moment gezögert, nach einem besonders heftigen Streit mit ihren Eltern und diesmal sogar ihrem Bruder – der sich aus diesen Angelegenheiten oft lieber einfach heraushielt – ihre Tasche zu packen, ihr letztes Weihnachtsgeld für ein Ticket auf den Kopf zu hauen und in den letzten Zug zu springen. Es hatte eine Weile gedauert, bis sie das Reihenhaus mit der richtigen Hausnummer gefunden hatte, aber die Naviagtionsapp ihres Smartphones hatte ihr gute Dienste geleistet. Jetzt jedoch, wo sie tatsächlich hier stand, konnte sie eine ganze Weile nichts Anderes tun, als wie gebannt den Namen auf dem Klingelschild anzustarren. Was, wenn sie sich im realen Leben gar nicht mit James verstand? Und wie wörtlich hatte er dieses „jederzeit“ gemeint? Würde er sie anblaffen, wenn sie um diese Uhrzeit an seiner Tür klingelte? Oder gar wieder rauswerfen? Was sollte sie dann tun? Sie hatte kein Geld mehr und ein Zug zurück fuhr jetzt ohnehin nicht mehr. Verdammt, warum hatte sie nicht vorher gefragt, ob sie wirklich vorbeikommen könnte? Sie hatte sich in ihrer Verzweiflung viel zu sehr auf seine Worte verlassen. Was, wenn er das alles am Ende sowieso nur geschrieben hatte, weil er davon ausgegangen war, dass sie eh nicht wirklich herkommen würde? Oder, noch schlimmer, wenn er ihr einfach irgendeine Adresse genannt hatte und gar nicht hier wohnte?
Kurz entschlossen zog Marie den Schal fester um den Hals, stellte ihre Tasche ab und zwang sich, ihre Hand zum Klingelknopf zu bewegen. Es gar nur eine einzige Möglichkeit, all diese Fragen zu beantworten und nebenbei bemerkt nicht elendig zu erfrieren. Ihr Herz raste so schnell wie vermutlich nicht mal nach dem verhassten Ausdauerlauf, aber es gab kein Zurück mehr. Der Klingelknopf gab nach. Irgendwo drinnen erklang eine Glocke.
Mit klopfendem Herzen wartete Marie. In wenigen Augenblicken konnte sie James entweder endlich in die Arme schließen – oder sie würde ihn mit ihrem spontanen Besuch zur unhöflichen Uhrzeit vermutlich für immer vergraulen. Bei diesem Gedanken wurde ihr schlecht. Das durfte einfach nicht passieren! Sie würde ihren besten Freund verlieren.
Es kam ihr wie eine Ewigkeit vor, die sie horchend vor der Tür stand und wartete. Was zum Teufel hatte sie sich nur dabei gedacht, hierher zu kommen? James musste morgen arbeiten, er war garantiert nicht begeistert, mitten in der Nacht aufgeweckt zu werden. Schon gar nicht von einem kleinen dummen Schulmädchen, das er gar nicht kannte und das sich plötzlich bei ihm einquartierten wollte. Und überhaupt, wie sollte sie ihr Fehlen im Unterricht morgen erklären? Ihre Eltern würden ihr garantiert keine Entschuldigung schreiben. Sie sollte einfach nie wieder hingehen. Eigentlich hatte sie, während sie wütend ihre Sachen zusammengesammelt hatte, sowieso spontan beschlossen, die Schule zu schmeißen. Immerhin hatte sie trotz allem einen recht guten Realschulabschluss hinbekommen, und irgendwas würde sich später schon finden. konnte sie ja sogar mit James zusammen wohnen bleiben, bis… Die Gedanken überschlugen sich in ihrem Kopf. James hatte die Tür immer noch nicht geöffnet. War er am Ende gar nicht zu Hause, weil er spontan bei einem Kumpel übernachtete? Oder, noch schlimmer, bei seiner Freundin, die jetzt eifersüchtig auf Marie sein und dafür sorgen würde, dass sie schnell wieder abhaute? Auf der anderen Seite hatte James nie erwähnt, dass er eine Freundin hätte. Vielleicht hatte er die Klingel einfach nicht gehört, weil er zu fest schlief? Oder hatte er vielmehr beschlossen, sie zu ignorieren? Gegen die Panik ankämpfend, die in ihr aufzusteigen begann, klingelte Marie noch einmal. Diesmal lies sie den Finger mehrere Sekunden lang auf dem Knopf liegen. Die Türglocke schrillte durch die Nacht wie ein Alarm. Fast wunderte sich Marie, dass noch keine Nachbarn wachgeworden waren und sie beschimpften – oder gar eine Anzeige wegen nächtlicher Ruhestörung erstatteten. Auf der anderen Seite war ja nicht mal James selbst bis jetzt aufgewacht; vielleicht hatte sie Glück und die Nachbarn hörten das Läuten gar nicht. Wenn sie Pech hatte, hörte er sie aber auch nicht. Und selbst wenn er sie hörte, konnte es ja immer noch sein, dass… Die Lawine an Zweifel und Fragen brach erneut in ihrem Kopf los, während sie noch stärker zitternd als zuvor verzweifelt auf die verschlossene Haustür starrte. In der Dunkelheit konnte sie das Muster nicht genau erkennen, aber die nächste Straßenlaterne spendete gerade so viel Licht, dass sie erkennen konnte, dass sie sehen konnte, dass sie blau gestrichen war. Wofür stand die Farbe blau noch mal? Grün stand für die Hoffnung, rot für Wärme und Liebe. Blau war die Farbe der Kälte, oder? War das ein Omen, dass sie heute Nacht erfrieren oder sich zu Tode erkälten würde, weil James sie nicht rein ließ? In irgendeiner Kultur war blau bestimmt die Farbe der Dummheit. Wie hatte sie nur so naiv sein könne, zu glauben, dass -?
Ihr Herz stockte. Die Tür wurde einen Spalt geöffnet und eine tiefe, kräftige Stimme fragte: „Was gibt es denn um diese nachtschlafende Zeit so Wichtiges?“
Plötzlich hatte Marie das Bedürfnis, loszuweinen. Ob es vor Erleichterung oder Angst war, wusste sie nicht genau, aber es war ja auch egal. Ein viel wichtiger Gedanke schoss ihr augenblicklich durch den Kopf: Wie peinlich! Da weckte sie James schon mitten in der Nacht auf, und dann heulte sie ihn auch noch voll. Da konnte er ja nur von ihr genervt sein. Aber es war ja längst zu spät, um die Tränen zurückzuhalten. Lautlos strömten sie ihre Wangen hinunter und sie traute sich nicht einmal, sie wegzuwischen oder zu schniefen – vielleicht geschah ein Wundern und er bemerkte ihr nasses Gesicht in der Dunkelheit gar nicht.
„Hallo?“, rief die Stimme nun leise. Marie wurde bewusst, dass sie noch gar keine Antwort gegeben geschweige denn sich irgendwie bemerkbar gemacht hatte. Sie atmete tief durch; unschlüssig, was sie sagen sollte. Schließlich stellte sie sich erstmal einfach so hin, dass die Person im Hausflur sie durch den Türspalt sehen konnte. Erkennen würde er sie nicht, denn er wusste gar nicht, wie sie aussah. „Wer…was zum…“, murmelte die Stimme drinnen irritiert. Man konnte hören, dass die Person, zu der die gehörte, gerade geweckt worden war und Marie hatte sofort ein schlechtes Gewissen. Aber jetzt war es ja sowieso zu spät. Jetzt konnte sie sich nur noch entschuldigen und darauf, dass James ihr verzeihen würde. Stumm betete sie, dass sie nicht allzu erbärmlich aussah, als die Tür plötzlich ganz geöffnet wurde. „Was…?“, setzte James erneut an, aber da hatte sich Marie ihm schon um den Hals geworfen. „James!“, rief sie. „Ich…ich…es…“ Weiter kam sie nicht. Während James ihr etwas unbeholfen über den Rücken strich, brach sie erneut in Tränen aus; diesmal so geräuschvoll, dass jede Erklärung zunächst unmöglich war. Eine ganze Weile standen sie einfach nur so da. Er hielt sie im Arm, ohne überhaupt zu wissen, wen er da vor sich hatte, und sie weinte sich die Augen aus dem Kopf…
Tag der Veröffentlichung: 22.07.2012
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