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1. – Die Prophezeiung

Schon den ganzen Tag über war es kühl und regnerisch gewesen. Wenn es eins gab, worauf Appius und Lucius an diesem Abend keine Lust hatten, dann war es, mit einem Haufen Leute auf dem Kapitolshügels dem apokalyptischen Geschwafel eines alten tattrigen Greises zu lauschen. Aber der Prophet Anthimos hatte das Volk Roms zu einer Voraussage zusammengerufen, und da gehörte es sich eben, dass man hinging - egal wie das Wetter war.
Missmutig zogen die zwei Brüder ihre wärmsten Kleidungsstücke an und stapften durch den Nieselregen den Hügel hinauf. Die Sicht war schlecht, denn nun begann auch noch, dichter Nebel aufzuziehen.
Als sie oben ankamen, hatte sich schon eine Menschentraube um den alten Seher gebildet. Alle waren aufgeregt und auch ein wenig besorgt, denn die Prophezeiungen Anthimos‘ waren meistens von schrecklicher Natur: Hungersnöte, Kriege, Pestbefälle – was mochte es diesmal wieder sein? Appius und Lucius konnten den Prophezeiungen des Weisen jedoch trotzdem nicht viel Bewunderung entgegenbringen, denn ihrer Meinung nach betrog er die Bevölkerung Roms. Was er weissagte, war meistens sowieso abzusehen: War es etwa nicht logisch, dass ein grausamer Krieg ausbrechen würde, wenn Rom ein anderes Land angriff? Oder, dass es eine Hungersnot geben würde, wenn die Bedingungen für die Felder in diesem Jahr nicht gut waren? Die Beiden konnten einfach nicht einsehen, wieso sie extra zum Kapitolshügel kommen mussten, um sich so etwas sagen zu lassen. Wie naiv das Volk doch war!

Bevor Anthimos seine Botschaft verkündete, musste man – so war es üblich – erst einmal einen weißen Stier opfern. Beim Schlachten des Tieres legte der Alte selbst Hand an. Feierlich wurden dann Teile des Fleisches verbrannt; das Blut ließ man in die Erde laufen um es Hades, dem Gott der Unterwelt, darzubieten. Wegen dem Regen war es jedoch heute nicht so leicht, das Feuer erst einmal in Gang zu bekommen. Schließlich war die Zeremonie dann aber doch über die Bühne gebracht. Nun räusperte sich Anthimos einige Male. Das Volk verstummte augenblicklich. Man konnte die Anspannung förmlich spüren. Schließlich erhob der Seher seine Stimme und verkündete: „Bürger Roms! Ich habe euch heute hier zusammengerufen, um euch eine beunruhigende Mitteilung zu machen.“ Unwillkürlich brachen Appius und Lucius in Gelächter aus, denn mit exakt diesem Satz begann Anthimos jede einzelne seiner Vorhersagen. Unter den ernsten und verärgerten Blicken der Umstehenden verstummten sie aber schnell wieder. Mit geheimnisvoller Stimme sprach Anthimos weiter: „Gestern Mittag saß ich hier oben auf dem Kapitolshügel von Rom, gerade hier wo wir nun stehen. Ich betrachtete die Vögel und die Wolken auf der Suche nach Omen der Götter und sann darüber nach, dass die Menschen ja letztendlich alle sterblich sind und diese Welt verlassen werden, um in den Hades überzuwechseln und einer neuen Generation zu weichen. Über meinen Gedanken bin ich wohl eingenickt, und dann hatte ich diesen merkwürdigen Traum. In diesem war ich ein Feldherr, ein edler Krieger. Ich wandelte durch eine Welt, die mir unbekannt war. Keine Tempel, keine Statuen – ich wusste nicht, wo ich mich befand; und ich war ganz allein. Vorsichtig ging ich weiter, bis ich plötzlich von irgendwoher einen markerschütternden Schrei hörte. Erschrocken wirbelte ich herum und erblickte in der Ferne eine Frau von unbeschreiblicher Schönheit. Sie war es auch, die aus Leibeskräften schrie und mich um Hilfe anflehte. Zunächst konnte ich nicht erkennen, was sie bedrohte, doch natürlich lief ich eilig zu ihr hin, um ihr zu helfen. Als ich endlich ankam, sah ich, dass sich um ihren Körper eine Schlange gewunden hatte. Diese war kurz davor, sie zu erdrücken. Ohne groß zu überlegen, zog ich mein Schwert und hieb der Schlange den Kopf ab. Glücklicherweise schaffte ich dies, ohne die Frau zu verletzen. Der Körper des Untiers fiel leblos von ihr ab, und als er auf dem Boden auftraf, verwandelte er sich. Der Kadaver löste sich auf und an seiner Stelle stieg dichter, blauer Nebel aus dem Boden empor. Ich wusste nicht, was das zu bedeuten hatt. Am Liebsten hätte ich schreiend weglaufen mögen, aber in meiner Furcht war ich wie versteinert. Und dann kam aus dem Dunst eine Stimme, die das Folgende zu mir sagte. Und ich denke, es muss eine Prophezeiung gewesen sein, die die Götter mir durch diesen Traum geschickt haben…“ An dieser Stelle machte der Alte eine bedeutungsvolle Pause. Als er weiterredete, war seine Stimme nur noch ein aufgeregtes Flüstern und die Leute mussten im Kreis enger zusammenrücken, um ihn überhaupt zu verstehen. „Die Stimme sprach in Reimen. Was sie sagte, war...“ Er schien leicht zu zittern – oder war das alles nur Show?

„Gefahr aus einem Streit geboren
Das Böse zum Freunde auserkoren
In Ketten gelegt zur ew’gen Pein
Doch einstmals wird es sich befrei‘n

Das Wesen aus purer Lieb‘ hingegen
Wird wandeln auf geraden Wegen
Und wenn reif schließlich ist die Zeit
Kämpfen mit einem Menschen Seit‘ an Seit‘

Die eigenen Familienbande muss Zalimka verneinen
Und mit ihrem Gefährten die Kräfte einen
Denn wenn die Beiden den Kampf verlieren
Wird Finsternis auf ewig regieren…“

Als der Alte verstummt war, standen die Anwesenden eine ganze Weile stumm vor Schock da. Dann plötzlich, als wäre ein Bann gebrochen worden, fingen alle an, durcheinander zu reden. Panik war in den Gesichtern der Römer zu erkennen. Fragen hingen unbeantwortet in der Luft: War es wirklich eine Prophezeiung gewesen? Wann würde sie sich erfüllen? Wie genau war das alles gemeint? Und würden die Beiden es schaffen, das Unheil abzuwenden? Wie um die Wirkung der gerade verkündeten Worte noch zu unterstreichen, brach in diesem Moment ein Gewitter los. Alle hatten der Erzählung Anthimos‘ gelauscht, sodass keiner auf das Wetter geachtet hatte. In Sekunden waren die Versammelten bis auf die Haut durchnässt. In der Ferne grollte der Donner. Ein kleines Kind fing an zu weinen. „Beim heiligen Zeus!“, rief seine Mutter mindestens ebenso ängstlich und nahm es schützend auf den Arm. Verstört liefen alle auseinander, um so schnell wie möglich nach Hause zu kommen. Wenig später war der Hügel verlassen, nur noch von den Blitzen in ein gespenstisches Zwielicht getaucht.

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Tag der Veröffentlichung: 03.10.2011

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