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„Schau mal, dort wobbelt ein Igel!“, rief Basti entzückt aus. Er und seine Freundin schauen gespannt dem Igel hinterher, wie er im Laub verschwindet.

„Wobbelt... Ich wobbele? Was ist denn das für ein Wort?“, empört sich Igel Igor still bei sich. „Was für eine Wortneuschöpfung. Auf was Menschen nicht alles kommen.“. Wobbeln. Das klingt für Igor nach grüner Götterspeise, solche wie er erst letztens genascht hat, als ein Mensch seinen Becher mit der süßen Masse achtlos in den Busch geworfen hat. Menschen werfen seiner Meinung nach sowieso viel zu viel weg. Ihn stört dabei weniger das Essen, denn das kann er immerhin selber als Abwechslung zu den ganzen Würmern ganz gut gebrauchen. Aber die Dosen, Verpackungen und was den Menschen sonst noch einfällt, stören ihn schon. Erst letztens hat er einer jungen Igeldame helfen müssen, die sich an einem Stück Plastik verfangen hatte.
Aber irgendwo hatte er das Wort 'wobbeln' schon einmal gehört. Nur wo?

„Hi Igor“, unterbrach ihn Inka. 'Na, da habe ich mir ja den richtigen Platz zum verstecken ausgesucht', dachte Igor augenverdrehend bei sich. Inka gehört zu den Tratschtanten im Igelbezirk. Eigentlich sind Igel Einzelgänger, aber das hat Inka irgendwie falsch verstanden. Immer wieder macht sie Annäherungsversuche und anstatt den anderen Igeln aus dem Weg zu gehen, nervt sie diese lieber mit Geschichten, die keinen interessieren – außer die anderen Tratschtanten.

Draußen stehen noch immer die beiden Menschen, die allen Anschein nach ein Pärchen sind und schauten in der Dämmerung auf den Laubhaufen. Als ob sie dort etwas entdecken würden. Igor zumindest hatte Geduld abzuwarten bis sie weg sind. Weniger Geduld dagegen hat er mit Inka. Er hoffte inständig, dass sie heute schon genug geredet hatte. Aber richtig glauben kann er dies auch nicht, immerhin fängt die Nacht gerade erst an. Seufzend erwidert er also die Begrüßung: „Hallo Inka“. „Na, warst du heute schon erfolgreich auf Jagd?“, bevor Igor aber überhaupt nur eine Chance hatte zu antworten, redete Inka schon weiter: „Ich habe ja heute schon drei Würmchen gefangen und irgendwer hat doch tatsächlich Schokoladenmousse weggeworfen, das war ein toller Nachtisch. Warum Menschen aber auch immer ihr Essen wegwerfen. Ich weiß ja, dass es nicht gesund für uns ist. Aber ich kann einfach nicht widerstehen, wenn dort so etwas Leckeres herumliegt. Aber hast du schon gehört? Itschi liegt im Sterben, weil er eine verdorbene Bratwurst angefressen hat. Warum frisst er denn auch Bratwurst? Ach und Indiana und Ivonne haben bekannt gegeben, dass sie Nachwuchs erwarten. Hast du aber gesehen, dass Indiana immer wieder Irene hinterherschaut? Und Irene wird auch immer dicker, vielleicht hat er sie auch geschwängert...“

Igor schaltet ab. Was interessieren ihn Indiana, Ivonne und Irene und wie sie nicht alle heißen. Sicher ist es traurig um Itschi, aber der ist immerhin auch schon sieben Jahre alt. Ein hohes Alter für einen Igel. Inka quasselt indessen weiter. Wie kann ein einziger Igel nur so viel reden, fragt sich Igor. Manchmal benimmt sie sich doch sehr menschlich. Obwohl Igor den Menschen sehr skeptisch entgegensteht, hat er doch auch schon sehr gute Erfahrungen mit ihnen gemacht. Immerhin hat eine Menschenfamilie ihm das Leben gerettet.

Damals war er ein kleiner Igel, sehr klein und mager. Den Winter hätte er eigentlich nicht überlebt, hätte ihn nicht eine Familie gefunden und behutsam aufgepäppelt. Er hat so viel schlechtes von Menschen gehört, aber diese Familie konnte nicht schlecht sein. Sie hat ihm eine große Box gebaut und er durfte im Keller überwintern. Wobei er erst im tiefsten Winter schwer genug war um überhaupt schlafen zu könne. Vorher hat die Familie ihm immer ausreichend Wasser und Nahrung zur Verfügung gestellt, damit er sich Winterspeck anfressen konnte. Aus diesem Grund kann Igor auch die Menschensprache, denn nicht jeder Igel spricht die Sprache der großen Zweibeiner.

Während er mit einem Lächeln über seine damalige Pflegefamilie nachdenkt, redet Inka ununterbrochen weiter. Das sie es mit ihren drei Jahren immer noch nicht zu Nachwuchs gebracht hatte, wundert Igor relativ wenig. Wer soviel redet, hat es schwer in der Igelwelt einen Partner zu finden. Igel sind einfach Einzelgänger. Igor dagegen hat bereits Jungtiere in die Welt gesetzt – mit Ive, der bestimmt hübschesten Igeldame in der Umgebung. Aber nun ist sie zuständig für die Aufzucht der Kleinen und er schaut nur hin und wieder von weitem vorbei, wie sich seine Kleinen machen. Zu nahe möchte er nicht an das Nest mit den fünf kleinen Babys herangehen. Immerhin ist es Ives Aufgabe sie groß zu ziehen und sie würde es nicht mögen, wenn er sich in irgendeiner Form einmischt. Vielleicht kann er sie aber doch besuchen, wenn sie etwas größer sind. Kennenlernen möchte er die neuen Igel nämlich schon. Und über die Namen ist er schon jetzt gespannt. Denn in seinem Igelbezirk ist es so, dass alle Igel einen Namen haben müssen, der mit „I“ beginnt. In anderen Bezirken sind es andere Buchstaben. Wenn möglich soll aber auch kein Name doppelt vorkommen – gar nicht so leicht, wenn in dem Wäldchen, in dem auch Igor lebt, doch relativ viele Igel wohnen.

„Meinst du, er kommt noch einmal raus? Ich möchte ihn so gerne auch einmal sehen.“, hört Igor zwischen dem Gerede von Inka die Freundin des jungen Mannes fragen. „Ich weiß es nicht, aber wir haben ja noch ein bisschen Zeit“, kam prompt die Antwort.

„Zeit? Na super, dann versauer ich hier noch ewig. Als ob ich mich vor denen zeige. Wobei die Frage ist, was besser ist, Inka oder die Menschen.“, dachte er bei sich. Leider hatte er das wohl laut gesagt, denn plötzlich stoppte Inka in ihren Erzählungen und schaute Igor traurig an. Sah er richtig und ihr kullerte gerade eine Träne aus dem Auge? Verdammt, warum hatte er nur laut gedacht. Immer wieder passierte ihm so etwas. Normalerweise kein Problem, weil er sowieso immer alleine war. Aber gerade sehr unpassend. „Entschuldigung“, murmelt Igor. Es tut ihm nicht wirklich Leid, dass Inka endlich still ist. Aber es tut ihm schon Leid, dass er sie wohl verletzt hat. Das wollte er nicht. Schniefend erwidert Inka: „Ihr seid doch alle gemein. Niemand nimmt mich ernst. Warum seid ihr alle so? Warum interessiert ihr euch nicht für das Leben der anderen? Und warum bin ich anders?“. „Ach Inka“, fing Igor an und rückte ein bisschen auf sie zu um ihr zu zeigen, dass sie nicht alleine ist. Es ist ja auch nicht so, als würde er sie nicht mögen. Er findet sie nur anstrengend. „Ich bin einfach ein Einzelgänger, andere Igel interessieren mich nicht. Ich kann da nichts für. Das ist irgendwie angeboren, es fehlt mir an nichts, wenn niemand anderes da ist. Ich weiß nicht, warum es bei dir nicht so ist. Aber du hast doch einige Freunde, die auch nicht gerne alleine sind. Warum bist du denn dann hier und nicht bei denen?“. So viele Worte wechselt er sonst nicht mit anderen Igeln. Es fällt ihm aber auch gar nicht so schwer so viel zu reden wie er gedacht hätte, trotzdem kann er sich nicht mit dem Gedanken anfreunden mit Artgenossen durch den Wald zu schlendern und über Gott und die Welt zu reden. „Ja, ein paar Freunde habe ich. Das stimmt. Aber sobald ich auf andere Igel stoße, reagieren die mit Abneigung und das macht mich traurig. Ich möchte doch nur sein, wie ein normaler Igel nun einmal ist. Aber wenn ich nicht rede, habe ich ein tiefes Loch in mir. Mir fehlt dann einfach was.“.

Das klingt wie bei Menschen. Mit einem lächeln denkt Igor an seine Zeit bei seiner Pflegefamilie, während der Sohn der Familie sich lediglich zu ihm gesetzt hat, ist die Tochter immer gekommen und hat in einer Tour geredet. Sie wollte gar nicht mehr aufhören. Und über was Menschen alles reden: Familie, Schuhe, Essen, was sie wann machen, Probleme, die für Igor gar keine zu sein scheinen. Aber was ihm aufgefallen ist, dass vor allem die Frauen reden. Männer schweigen lieber und denken nach. Vielleicht ist dies auch nur ein Vorurteil von ihm, wie das Vorurteil vieler Igel, dass alle Menschen böse sind. Denn das wusste er aus Erfahrung, das ist eine Lüge. Während er darüber nachdenkt, hört er vor dem Laubhaufen wieder die Stimmen des jungen Paares. „Meinst du er kommt überhaupt noch heraus? Vielleicht ist er auch schon längst weg?“, worauf der junge Mann antwortet: „Nein, ich bin mir ganz sicher, dass er wieder herauskommt. Ich kenne ihn und das ist er, ich bin mir ganz sicher“.

'Wen kennt er? Mich?', Igor war verwirrt. „Was sagen sie?“, fragt Inka ihn: „Ich habe die Menschensprache doch nie gelernt!“. „Ich weiß es nicht“, sagte Igor nachdenklich. Inka hatte ihr Problem scheinbar schon wieder vergessen. Auch eine seltsame Eigenschaft von ihr. Erst guckt sie einen mit großen wässrigen Kulleraugen an und jeder andere Igel bekommt sofort ein schlechtes Gewissen und ein paar Minuten später geht es ihr schon wieder gut. Seltsame Wesen diese Igelfrauen – erst sind sie totunglücklich und haben ein riesen großes Problem und kurz danach ist alles vergessen, weil es etwas Spannenderes gibt.

Plötzlich fällt es Igor wieder ein, woher er den Begriff „wobbeln“ kennt. „Entschuldige mich Inka. Es war nett, dich wiedergesehen zu haben. Ich muss nun etwas erledigen“. „Aber du kannst doch jetzt nicht raus, die Menschen...“, aber das war Igor egal und er bewegte sich so schnell seine kurzen Beinchen konnten aus dem Laub heraus auf die beiden Menschen zu, die auf dem Boden sitzen. „Schau“, flüstert Basti: „Er hat mich erkannt“. Viel hatte Igor nie von Basti gehört. Immer nur „Hallo, Mr. Wobbel“ und „Tschüß, Mr. Wobbel“. Ansonsten hatte der Sohn seiner Pflegefamilie nie etwas gesagt. Wie es zum Ausdruck „der Igel wobbelt“ kam, weiß Igor nicht. Aber was er weiß, ist, dass dieser Mensch ihm nichts Böses möchte, sondern nur darauf gewartet hat seiner Freundin seinen alten Freund vorzustellen. Sacht stupst er die Hand von Basti an, die dieser ihm hinhält. Das muss reichen, immerhin ist das schon mehr Berührung als ein Igel sonst freiwillig zulässt. Vermutlich können es die Menschen nicht sehen, aber er versuchte der Freundin ein Lächeln zu schenken. Kurz bleibt er noch vor den Füßen der beiden sitzen, die ganz still sind um ihn nicht zu verschrecken. Dann macht er sich auf den Weg weiter in den Wald hinein, Essen finden.

Bevor er völlig aus dem Sichtfeld der beiden verschwunden ist, hört er die junge Frau noch sagen: „Wüsste ich es nicht besser, könnte ich schwören, der Igel hat mich angelächelt“. Worauf Basti nur antwortet: „Dann weißt du es nicht besser“.

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Widmung:
Diese kurze Geschichte widme ich meinem Freund, der mir in allen Lebenslagen zur Seite steht und durch den ich überhaupt auf die Idee gekommen bin, eine kleine Geschichte über einen Igel zu schreiben.

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