In einer nicht datierten Zeit, fernab von jeglichem Vernunfts- und Realitätsgedanken der heutigen Gegenwart, war nichts von großartiger Bedeutung. Die Stadt ohne Namen lag stumm da, in ihr nächtliches Schwarz-Weiß gehüllt. Er schlich durch die verdreckten Straßen, welche Orientierung in ihrem wirren Beschilderungsdschungel heuchelten und einem niemals endenden Labyrinth glichen. Doch er kannte sich aus. Der Wind wirbelte den Staub der Jahre auf. Er hatte Hunger. Sein Körper sehnte sich nach Nahrung. Es frischte auf. Die Wolken reihten sich verheißungsvoll am dunklen Himmel auf, als wollten sie ihm ein Zeichen geben. Ein Opfer war in der Nähe. Der verführerische Duft lockte ihn, führte ihn in eine Richtung.
Blonde Haare tropften nass in ein blasses Gesicht. Den Kopf auf die Arme gestützt, einen sturen Blick zur Seite. Der Junge saß direkt unter einer Regenrinne, und ließ das dunkle Wasser auf seine Haut hinab gleiten. Überall an seinem Körper klebte der farblose Dreck, missbrauchte, zerstörte sein fast vollkommenes Bild von Unschuld. Von ihm ging trotz der Nässe ein betörender Duft aus, der Duft der Sünde und der Jugend. Er musste den Jungen unbedingt haben. Als der Blonde die sich auf ihn zu bewegenden Schritte hörte, sah er auf. Wortlos wurde ihm die Hand hingehalten. Verwirrt blickte er auf die blasse Handinnenfläche. Zögerlich legte der Junge seine Hand in die des Fremden. Ihm wurde aufgeholfen. Sie standen sich stumm gegenüber, die tiefroten Augen in die des anderen versunken. Er war mindestens zwei Köpfe kleiner als der Schwarzhaarige und mindestens 4 Jahre jünger. Ohne ein Wort drehte er sich um und ging in die Dunkelheit hinein. Abwartend blickte ihm der Junge, der an der Grenze zum Erwachsensein stand, nach, hoffte darauf, dass der schwarzhaarige Fremde, dessen Augen seinen so sehr ähnelten, stehen bleiben würde. Doch er kehrte nicht um. Schließlich folgte der Junge ihm blind in die Finsternis. Die schmale Hand klammerte sich dabei etwas verloren an die schwarze Lederjacke des Fremden.
Der junge Mann schritt voran, vorbei an grauen Trümmern, die die schweratmenden Straßen dieses gottverlassenen Ortes säumten. Die namenlose Stadt war ein einziger sterbender Organismus, ein System, das schon lange versagt hatte. Hier zählte nichts. Noch nicht einmal das spärliche Leben, das verzweifelt bemüht war sich durch den verrottenden Beton zu zwängen und sich der verglühenden Sonne entgegen zu recken, das mühevoll versuchte zu überleben. Stolpernd folgte der Junge ihm nach. Er versuchte verzweifelt die Jacke seines Lotsen nicht loszulassen, aus Angst davor ihn in dieser alles verschluckenden Dunkelheit zu verlieren. In der Ferne hallte das Geschrei einer Frau auf, doch keiner der beiden Suchenden blieb stehen. Schließlich stoppte er. Der Junge lief in ihn hinein. Perplex drängte er sich an den muskulösen Rücken und sah sich vorsichtig um. Der Mann, dessen Haare tiefschwarz waren, öffnete eine Tür in einer dunklen Seitengasse. Er trat hinein, spürte den Jungen noch in seinem Rücken. Achtlos warf er seine Schuhe neben die Eingangstür. Der Junge stellte sein Schuhpaar sauber und geordnet daneben. Langsam und darauf bedacht keine unnötigen Geräusche zu machen, tastete er sich in der Wohnung des Fremden vor. Sie war für jene, städtische Verhältnisse geräumig, aber nur einfach, ohne große Mühe oder liebevolle Details eingerichtet. Nur lebensnotwendige Gegenstände im Schwarz-Weiß der Stadt gehalten. Nun flog die Jacke des jungen Mannes durch die Luft. Der Junge hob sie auf und warf sie mit seinem schwarzen Kapuzenpulli über einen Stuhl. Er setzte sich. Direkt gegenüber desjenigen, der ihn aus unbekannten Gründen mitgenommen hatte. In der Stadt ohne Namen war es unüblich Fremde in das eigene Heim zu geleiten, geschweige denn sie aufzunehmen. Er musterte den Anderen aus denselben tiefroten Augen. Sein Gesicht war blass, in seinem Ausdruck lag etwas Hartes, Raues. Obwohl er offensichtlich noch nicht das zweite Jahrzehnt überschritten hatte, war da eine Bitterkeit, die eiskalt vom Leben sprach. Wirr fielen die schwarzen Haare in sein Gesicht. In dem schwarzen Hemd wurde seine körperliche Stärke betont, doch gleichzeitig war da eine Zerbrechlichkeit, die von einer dunklen Vergangenheit erzählte. Irgendetwas war da, das ihn an diesem Mann faszinierte. Sie hatten die ganze Zeit über noch nicht ein einziges Wort miteinander getauscht. Dennoch wollte er ihm folgen, mit ihm gehen.
Ruhig ging der Atem des Mannes. Sein Blick wanderte über den Jungen. Die Haut war hell. An seinem Hals prangten wie getupft Muttermale, die an dem langen, glatten Nacken entlangführten. Er hatte große, mandelförmige Augen. Die Lippen waren geschwungen. Alles an dem Jungen schrie förmlich danach dem Mann Appetit zu machen. Dieser junge, unschuldige Körper sollte endlich sein Opfer werden! Er stand auf, ging zu dem Stuhl auf dem der Junge hockte, hin und beugte sich vor. Die roten Augen vor ihm weiteten sich und der heiße Atem wurde zittrig. Beide Hände auf die schmächtigen Schultern gelegt, ein fester Blickkontakt. Beherzt vergrub er die Zähne in das zarte Fleisch. Der Strom des Lebens schlug ihm entgegen, genüsslich trank er. Der Junge hob den Blick an die Decke. Zögerlich wanderten die Hände auf den Rücken seines Gegenübers. Unter den zitternden Fingern spürte er die starken Schulterblätter, die sich im Takt des Trinkvorgangs auf-und ab bewegten. Warum blieb der Junge so endlos ruhig? Warum versuchte er den Mann nicht von sich zu stoßen? War das der Einfluss der Stadt ohne Namen, in der jegliches Leben seinen Sinn verloren hatte? Eine unglaubliche Hitze stieg im Rachen des jungen Mannes auf. Er röchelte, ließ von seinem Opfer ab. In seinem gesamten Körper pulsierte eine unbeschreibliche Energie, abertausende Blitze schienen in seinem Innern in einer niemals endenden Schlacht zu toben. Er strauchelte nach hinten und hielt sich den Hals. In seinem Kopf war es schwarz. Und doch wirbelte alles wie gewaltige Kraftströme durcheinander. Das Geräusch seines wild schlagenden, verzweifelt pumpenden Herzens regierte in seinen Ohren, er spürte wie seine Atmung entgegen des natürlichen Rhythmus Alarm schlug. Erschrocken stand der Junge, der gerade den Sinn in seinem Leben als Opfer jenes Mannes gefunden hatte, auf. Hilflos machte er einen Schritt auf den am Boden liegenden Schwarzhaarigen zu. Seine Hand bewegte sich. Berührte ihn an der verkrampften Schulter, hielt sie verunsichert fest. Ein ungeheurer Schmerz durchzuckte den Bluttrinker. Glückseliger Schmerz! Wie lange hatte er keinen Schmerz mehr empfunden? Seine Atmung beruhigte sich. Das Blut in seinem Innern hörte auf zu kochen. Der Schweiß an seinen Schläfen begann sich abzukühlen. Friedlich lag er da und schaute an die Decke. Sein Körper hatte Nahrung bekommen. Er war zufrieden. Ängstlich schob sich das Gesicht des Blonden in sein Blickfeld. Das halbstarke Kind legte seinen Kopf auf die Brust des Schwarzhaarigen, um den Herzschlag zu prüfen. Seufzend streichelte er die weichen Haare des Jungen, sodass dieser sich von dem Schock erholen konnte. Schnell hob der Junge den Kopf und sah errötet zur Seite. Dort wo er ihm die Zähne in die Adern gejagt hatte, waren die bis gerade noch blutverschmierten Wunden verschwunden. Der Blick des Schwarzhaarigen blieb an der unverwundeten Stelle seines Halses geheftet. Dieser enorme Heilungsprozess bedeutete entweder, dass der blonde Halbstarke derselben Brut abstammte wie er selbst oder aber…
Er musste sich vergewissern. Ohne ein Wort schob er den Jungen leicht zur Seite und erhob sich. Die schwarze Lederjacke übergezogen war er, nachdem er noch kurz die Hand zum Abschied gehoben hatte, aus der Tür verschwunden. Der Junge blickte ihm hinterher, wartete auf seine Rückkehr.
Durch die engen Gassen zwang er sich in Richtung eines befreundeten Arztes. Die Nacht war noch jung. In einer der Hauptgassen der namenlosen Stadt hatten sich Unmengen an Ärzten, Heilpraktiker, Heilkundler, Kräuterkundler, Medizinmänner und Krauthexen niedergelassen. Sie alle versprachen Heilung der psychotischen Auswirkungen der namenlosen Stadt, sie alle kannten Mittel um diesem ungetauften Wahn zu entkommen. Doch ihr Wissen war hier nutzlos. Man konnte der Stadt ohne Namen nicht entkommen. Wer einmal mit ihr in Kontakt getreten war, der war auf ewig in ihrem Netz gefangen, war in Ketten gelegt, die sich bei jedem Versuch zu entfliehen noch enger um den gerichteten Hals schnürten. Der schwarze Schatten wanderte an dem Lichtermeer der Reklametafeln der Heilergasse entlang, verschloss vor ihrer Besessenheit zu heilen, zu retten, zu befreien und vor ihrer schier grenzenlosen Gier nach dem Geld ihrer Opfer, die all ihre Kameraden waren, die Augen. Er verstand dieses Bestreben nach Ehre und materiellen Gütern selbst nach all der Zeit, die er hier als gefallener Gefangener der namenlosen Stadt verbracht hatte, nicht.
Licht im Meer der Lichter.
Die Tür war leicht geöffnet. Oberhalb des Türrahmens war nur simpel und flackernd vermerkt, dass hier ein Doktor hauste. Er trat in die verrottete Stube hinein, sie war unbeleuchtet. In der Ecke stand ein kleiner, unscheinbarer Tisch, eine heruntergebrannte Kerze stand darauf. Ein abgesessener Stuhl war daneben. Auf der anderen Seite des Raumes hingegen fand er das genaue Gegenteil vor. Ein weißer, reiner Aufnahmetisch, ein perfekt eingeräumter Beistelltisch, ein Rollhocker. Oberhalb hing ein Untersuchungslicht. Ein riesiges Bücherregal daneben erzählte von gewaltigem Wissen und enthusiastischer Neugier. Der Doktor war gespalten in Person und Seele. Ein typisches Phänomen der Stadt ohne Namen. Der Schwarzhaarige erkannte selbst in dieser Dunkelheit jedes noch so kleine Detail. Der Gesuchte verbarg sich in einer Ecke, betrachtete den dunklen Schatten durch seine Hornbrille. Die Hand in Denkerpose unter das Kinn geführt, grinste er ihm entgegen. „Willkommen, mein Freund. Wie kann ich dir denn heute behilflich sein? Willst du wieder meine Blutbank anzapfen? Oder verlangt es dir eher nach meinen heilenden Händen?“ Über den eigenen Sarkasmus kichernd, kam der Doktor, der sich selbst Dr. Speaker nannte, herangetänzelt. Der Dunkelhaarige musterte seinen Freund ruhig. Er kannte ihn schon seit dessen Kindheit. Fröhlich verzog der Brillenträger seinen Mund. Im großen Mundraum verbargen sich messerscharfe Zähne und eine spitze Zunge. Speaker stand der Name also vortrefflich. Der Doktor begutachtete den Älteren interessiert, berührte ihn ohne Hemmungen am gesamten Körper, ohne überhaupt nach dessen Anliegen zu fragen. Schließlich fragte der Schwarzhaarige ihn, ob ihm irgendetwas Merkwürdiges an dem blutsaugendem Wesen auffiel. Grübelnd setzte sich der Akademiker auf den Hocker und wies wortlos auf den Aufnahmetisch. „Jetzt wo du es sagst… Irgendetwas ist anders, Freund… Wurdest du endlich mal wieder richtig durchgerammelt?“ Lachend wie eine Hyäne klatschte sich der Studierte auf die Schenkel. Löste damit aber keine Reaktion beim Gegenüber aus, weshalb er sich mit herunterhängenden Mundwinkeln wieder seiner eigentlichen Aufgabe widmete. Äußerlich war dem jungen Mann nicht viel anzusehen. Er zeigte keinerlei Krankheitssymptome, die in seiner Brut besonders wütete. Noch hatte er irgendwelche Alterserscheinungen zu vermerken. „Du bist so jung und so schön wie eh und je- OH!“ Erstaunt rückte der Arzt näher heran, blickte in die tiefroten Augen seines Freundes. Mit einem Licht leuchtete er hinein und erhielt als Antwort ein gefährliches Glimmen. Mit der einen Hand weiter ins Auge leuchtend und mit der anderen Hand in einen Gummihandschuh schlüpfend, widmete er sich dem Mund. Vorsichtig schob er die Lippen des Unmenschen und legte die allesdurchbohrenden Eckzähne des Bluttrinkers frei. Sie waren spitz und lang, doch irgendwie schienen sie seit der letzten Untersuchung noch kräftiger geworden zu sein. „Du scheinst deine Kräfte ausgeweitet zu haben… Sag, mein Freund. Hast du in letzter Zeit… einen Brutskameraden… in dich aufgenommen?“ Er schwieg. Der Doktor beobachtete ihn. Schließlich erwähnte der junge Mann, dass er diesen Jungen aufgenommen hatte. „Interessant… Das heißt, du hast einen Artsverwandten zu dir geholt… und gedenkst ihn dir noch vollständig einzuverleiben?“ Er verneinte. Solche Gedanken hatte er sich nie gemacht. Er lebte einfach, wie das Leben mit ihm spielte, besorgte sich seine Beute in unregelmäßigen Abständen dann, wenn er seinen Trieb nicht mehr niederringen konnte. Dieser innere Kampf um Vernunft oder Wahnsinn war das einzige, was ihn richtig forderte. Alles andere war egal. Unnötig war nur dieses unsinnige Töten um die eigenen Urinstinkte zu befriedigen. Er wusste nicht, warum er keinem dieser Blutmonster ähnelte. Seine wenigen Opfer. Ließ er alle, alle einfach am Leben.
„Sei vorsichtig, mein Freund. Kannibalismus oder besser das Blut eines Artsgenossen kann schädigend sein. Wer weiß, was es für Auswirkungen auf deinen Körper haben kann… Obwohl es grad eher danach aussieht, als wärst du Untoter vitaler als sonst.“ Er lachte wieder auf und rieb sich unter der dicken Hornbrille die glasigen Augen. Der Angesprochene schwieg noch immer. Mit einer knappen Verbeugung verabschiedete er sich und trat aus der Dunkelheit der Stube in das Licht der Straße. Das chaotische Flüstern der Gassen hieß ihn abermals Willkommen, nahm ihn wieder in ihre Mitte. Aber der Blutsauger konnte nicht in ihr Zentrum gesogen werden. In seinem Kopf regierte ein anderer Wahn, der ihn in der namenlosen Stadt existent hielt.
Er stand wieder vor der eigenen Tür. Als er sie öffnete, wurde er von Helligkeit empfangen. Das Licht im Wohnzimmer brannte. Der Junge war auf dem Boden gegen das Sofa gelehnt ins Land der Träume geflohen. Das helle Haar leuchtete, der Duft stieg ihm in die Nase, die gleichen tiefroten Augen waren verborgen. Sünde war vergeben. Der Durst kehrte wieder. All die Jahre hatte er den Trieb ohne Probleme niederkämpfen können. Er hatte Hunger gelitten, Menschennahrung zu sich genommen, einfach das genommen, was er bekam. Geduld war Tugend. Betörend wanderte die Verführung weiter voran. Die Luft war nicht mehr dieselbe. Er bildete sich ein einen schnelleren Herzschlag im kalten Brustkorb zu spüren, der tiefe Rhythmus schien in seinen Ohren gegen den eigentlichen Wahnsinn zu kämpfen, ihn zurückzudrängen. Das kalte, fremde Blut stieg an, wurde zur Flut, zum Meer, zum Ozean. Eine unbekannte Hitze ergriff ihn, umklammerte ihn, würgte ihn. Der Hals des Jungen lag frei. Jung, frisch, saftig, unverwundbar. Der junge Mann war nie ein mächtiger Bluttrinker gewesen. Die Natur hatte ihm einfache Fähigkeiten geschenkt. Ein Reinblut war er nicht. Sein Trieb war nicht der eines Räubers, eines Jägers. Diese Blässe lockte ihn. Es kratzte ihm im Hals. Es verlangte ihm nach dem warmen Blut, das in seinem Innern an ihm entlang fließen würde. Es verlangte ihn nach dem Genuss, dem süßen, schmerzhaften, der sich wohlig in seinem Innern ausbreiten würde. Seine Zähne pulsierten, bereit sich in das Fleisch zu bohren. Sein gesamter Körper spannte sich an. Jäger gegen Opfer. Die Jagd hatte begonnen. Der Widerstand war gebrochen.
Sehnsüchtig riss er den Jungen am Arm packend in die Höhe. Sofort blickte ihn das gleiche Augenpaar an. Der Jüngere hob die freie Hand, öffnete den Mund zum Gruß. Doch sein Gegenüber war nicht mehr aufzuhalten. Ein Krachen ging auf den Jungen nieder, als kraftvoll die Zähne in das Fleisch eindrangen. Kälte traf auf Hitze. Die Körperwärme des Hellhaarigen ging in seinen Angreifer über. Wieder ließ der Junge es geschehen. Er konnte nicht mehr aufhören. Er konnte sich dem Trinkdrang nicht entziehen. Hitze zu Gift. Genuss zu Schmerz. Ein Röcheln jagte durch den Trinker, der Junge wurde zu Boden geschleudert. Der Körper des Mannes richtete sich verzweifelt auf, die kalten Hände wanderten an den zugeschnürten Hals. Die tiefroten Augen glimmten wie Kohlen im Feuer auf. Schmerz regnete auf den Unmenschen nieder. Grauenhafte Geräusche drängen hervor. Krämpfe durchzogen den Körper. Der Junge starrte verwirrt und verängstigt den Kämpfenden an. Nicht imstande etwas gegen den Schmerz zu tun. Stumm, still kam er einige Schritte auf ihn zu. Langsam kehrte der normale Atem zurück. Ohne Worte wischte der Jüngere den kalten Schweiß seines Wohltäters von der Stirn. Er bildete sich ein, dass der Schmerz weniger geworden war. Er würde das Blut auch weiterhin trinken, den Schmerz besiegen.
Die Energie durchstieß ihn. Unaufhaltsam wie ein Schwert, das sich sein nächstes Opfer suchte. Welche Kraft! Pure Macht! Gemächlich erhob er sich vom kalten Boden. Nur noch ein wenig länger wollte er die Zirkulation des Lebens in seinem trostlosen Körper spüren, sie verinnerlichen, sich verzweifelt und fast schon wahnhaft an sie klammern. Die roten Augen des Jungen versuchten ihm tief in die Seele zu blicken, doch wurden nur bitter enttäuscht. In seinem Innern war nichts als einsame, verfluchte Leere. Und Dunkelheit. Dieselbe grauenvolle Dunkelheit, die in der namenlosen Stadt alles, was mit ihr in Berührung kam, in Gefangenschaft nahm und sich gnadenlos einverleibte.
Ganz sachte bewegte sich der schwarze Schatten in das Schlafzimmer, machte kleine, unmerkliche Schritte, als hätte er Angst, dass das Blut in ihm sich verflüchtigen würde, wie ein schwacher Duft, der mit dem Wind davonflog. Er durfte diese Energie nicht verlieren. Das Gefühl des Lebens füllte jede einzelne, verrottete Ader in ihm. Sein Gesicht verzerrte sich zu einer grauenerregenden Maske, er hielt sich das pochende Auge. Brennendes Feuer im Blick. Kurz wandte er sich um und deutete dem Jungen den Schlafplatz. Der Knabe folgte der zitternden Hand, ein großes Bett mit schweren, bleichen Laken. Zögerlich machte der Blonde Schritte darauf zu, sein Gegenüber im Auge behaltend. Blickkontakt war nicht mehr. Die Nacht war in dessen Gesicht getreten. Der Halbstarke schlüpfte in eines der Laken, umarmte die Knie, während er die dunkle Gestalt mit den Augen verfolgte. Der junge Bluttrinker wanderte gebrechlich und schwach an dem Bett vorbei. Dort stand eine Truhe inmitten des Raumes. Mit einem Rauschen öffnete sie sich ohne Berührung des Fremdlings von selbst. Sofort füllte sich das Zimmer mit einer einnehmenden Kälte. Der blonde Jüngling zog die anderen Laken dichter an sich heran, vergrub das Gesicht halb in dem Duft des Bleichmittels, beobachtete aber weiter. Ein bläuliches Licht entströmte, hieß den Dunkelhaarigen Willkommen und nahm ihn vollkommen in Besitz. Die Augen geschlossen, stieg er hinein und war gänzlich darin verschwunden. Von Neugierde gepackt, sprang der Jüngere auf, die Tücher schützend um sich schlingend. Tapsend kam er näher und starrte hinein in das bläuliche Licht. Der fremde Mann lag auf der Seite, die Beine angewinkelt, die Hände dicht herangezogen, den Kopf gebeugt. Erinnerte den Jungen an eine wunderschöne, Verderben versprechende Porzellanpuppe, die bei jeder kleinsten Berührung zu zerbrechen drohte. Lange, volle Wimpern zierten die Augen des Dunklen, als genau jene sich öffneten und zur Seite sahen, direkt in das Herz des Jungen. So schien es ihm. Er machte ein paar Schritte weg von der Truhe, den Blick aber stets auf den Liegenden gerichtet. Diese leichte Verunsicherung, ein undeutbarer, süßlicher Schweißgeruch, der in der frierenden Luft lag, geweitete Pupillen in einer bitterroten Iris und ein laut klingender Herzschlag, der den Jägerinstinkt in ihm erweckte. Er hatte wieder Durst, berührte die Kehle, die vertrocknete. Der Wahnsinn in ihm führte einen erbitterten Kampf gegen Vernunft und Verstand an. Aber sein Körper war von dem Gift, das auch Medizin war, zu schwach, als dass er den Sieg des einen über den anderen hätte in die Weiten tragen können. Er schloss wieder die Augen. Langsam schob sich der Deckel der Truhe zu, raubte dem Jungen den Blick der Neugierde. Ihm blieb also nichts weiter übrig als zurück in den Kokon aus schwerem Stoff und durchdringenden Chlorgeruch zu kriechen. Er bedeckte sich gänzlich, nur noch der blonde Kopf lugte hervor. Wie der einer einsamen Person, die unter einer Lawine aus Schnee und Eis begraben auf jenen Richter wartete, der ihr den finalen Gnadenstoß versetzte.
Etwas Schweres landete auf dem Bauch des schlafenden Jünglings. Er erwachte und erhob sich irritiert, sich die müden Augen reibend. Vor dem Bett stand der junge Mann. Er hatte dem Jüngeren einen gefüllten Jutesack hingeworfen. Darin befand sich nur eine spärliche Anzahl an Lebensmitteln, arm für die Menschheit, reich für die namenlose Stadt. Dankbar nahm der Erwachte es an, aß das trockene Brot und biss vom harten Käse ab. In einem gewissen Automatismus begegneten sich ihre Blicke. Rot gegen Rot. Der junge Mann wandte sich sofort wieder ab, während der Blonde versuchte diesen Funken Sehnsucht nach dessen Aufmerksamkeit niederzuringen und in einen klaren, reinen Zustand des inneren Stillstands und der Stille zu gelangen. Ein Husten entwand sich aus den Atemwegen des Schwarzhaarigen. Die Füße leiteten ihn ins Wohnzimmer. Dort an seinem bescheidenen Stuhl und seinem winzigen Tisch lag ein aufgeschlagenes Logbuch mit schwarzen, blanken Seiten. Ein paar nackte Fußsohlen folgten ihm tapsend nach.
Er setzte sich. Der Junge neben ihn auf dem Boden. Eine weiße Feder und ebenso eine weiße Farbe wurden hervorgeholt. Er begann zu schreiben. „Tag 3421: Schöner Morgen, wolkenlos, Smog-Glocke über der Stadt. Der Junge ist versorgt, Brot, Käse, Wasser. Durst ist momentan gestillt. Die schwarzen Schatten sind verschwunden. Das Spiegelbild ist wieder reflexionslos, zeigte kein Gesicht mehr. Keine Augen, die in jede Spalte hin folgen.
Der junge Mann schrieb seine Gedanken auf, um möglichst bei klarem Verstand zu bleiben. Und um nicht die eigene Identität zu vergessen, denn die namenlose Stadt raubte jedem den Namen und Bedeutung. Sollte es Ironie des Schicksals sein, dass die Farbe mit der jedes Wort, Buchstabe für Buchstabe schrieb, mit jedem Tag, an dem die blutrote Sonne über der namenlosen Stadt aufging, mehr und mehr verblasste? Verblasste wie ein Selbst, das letztlich gar kein Selbst war? Er versuchte einfach nicht daran zu denken, schrieb einfach weiter. Der Junge stand daneben, unwirklich, stumm und still. Nur das Kratzen der Feder auf dem bloßen Papier füllte die Stille. Schließlich legte er Stift und Buch beiseite, lehnte den Kopf zurück und starrte die bröckelige Decke an. Ein lautloses Seufzen entschwand aus seiner Kehle. Er bildete sich ein, dass die Kraft, die ihn sich gestern noch vollständig fühlen ließ, aus jeder Zelle sickerte und auf ewig verloren gehen würde. Was war das für ein Gefühl? Was war, wenn ihn nach und nach seine gesamte Lebensenergie verlassen würde? Verunsicherung. Nachdenken. Ungewissheit. Schweißperlen spannten sich wie ein untrennbares Netz auf seiner Stirn. Die Wärme stieg in den längst schon erkalteten Körper. Würde er endlich von dem Wahnsinn dieser verdammten Stadt befreit? Zweifel stiegen in ihm auf. Aber die Gewissheit, dass Erinnerungen des unbetitelten Biestes an ihn nur alsbald in die Ewigkeit verschwinden würden, drängte diese beiseite und verschluckte sie vollkommen.
Der blonde Jüngling zitterte. Hatte sein Wohltäter bereits genug von ihm und würde ihn wieder zurück in die unbenannte Dunkelheit der Einsamkeit, des Verlassenseins, der Verdammnis und des Vergessenseins schicken? Er wünschte sich, dass es nicht so war. Aber er würde still alles ertragen und akzeptieren. Regungslos saß der Schwarzhaarige da, ließ den starren Blick in die Leere schweifen. Er hob eine Hand, ließ die blasse Haut im Lichte der aufgehenden Sonne wandern. Marmorfarben, aber matt. Tausender kleiner Äste streckten sich in einem undurchdringbaren Netz aus, umspannten den Handrücken des Mannes. Er erstarrte. Was hatte das zu bedeuten? Er, ein Bluttrinker, ein Schlafloser, ein Unsterblicher hatte eine Verletzung? Zaghaft berührte er die Wunde. Wohliger, süßer Schmerz durchbrach den Zustand des Schockes, doch das aufgenommene Blut quoll nicht heraus. Im Gegenteil. Es bereitete sich unter der Oberfläche unaufhaltsam fort. Nach und nach durchzogen die roten Arme des Blutflusses die gesamte weiße Hand. Der heiße Atem des Jungen schlug ihm plötzlich entgegen. Ängstlich hielt er die Hand des Erwachsenen in der seiner. Die zitternden Lippen, die zu einem schmollenden Strich zusammengepresst waren, öffneten sich augenblicklich, als wollten sie Worte der Kommunikation hinausjagen, hinaus in die stumme, kommunikationslose Welt der Stadt ohne Namen. Der sogenannte Wohltäter schüttelte die Hand des Aufgenommenen ab, verband und schnürte ab, bis seine eigene Hand nur noch in weiße Bandagen gehüllt war. Ruckartig stand er auf, deutete dem Jungen, das er ausgehen wollte. Und ließ den Jungen und sein anderes Ich allein.
Wahllos, ziellos wankte er durch die unbekannten Straßen dieser Stadt. Der Stadt in der das Chaos sie immer und immer wieder an den Rand der Verzweiflung brachte. Er würde wieder durch diese Trostlosigkeit, diese Welt des Sterbens, die eine Welt von Verlorenen und Vergessenen und von Verlieren und Verdammten war, wandern. Das was er immer tat. Der tägliche Kampf gegen das Vergessen und das Vergessen werden. Obwohl es niemanden gab, der ihn aus der Erinnerung hätte entfliehen lassen können. Aber er war auch niemand erinnernswertes. Er war bloß schwarzhaarig, rotäugig, hellhäutig, durchschnittlich schön oder hässlich, dünn und nicht der stärkste, sprach selten und hatte auch sonst keine besondere Gabe. Obwohl er Bluttrinker war. Aber selbst das gab ihm kaum Bedeutung. In dem Grau der unbenannten Stadt war ein nur ein kleiner, schwarzer Fleck, den man beiläufig, ohne weiteren Gedanken daran zu verschwenden dort platziert hatte, wo er nun mal war. Schlurfend kam er in einer dunklen Seitengasse zum Stehen. Die verbundene Hand stützte sich an einer Hausfassade. Sie schmerzte. Er verkrampfte in der Wand bildeten sich Risse. Es bröckelte. Lachend blickte er den Verband an, das Netz aus Adern schimmerte voller Stolz hindurch. „Hoch der Hände! Gib Geld! Sofort!“ Ein Vermummter stand hinter ihm, berührte den Rücken mit der Spitze eines Messers. Ruckartig wandte der Bluttrinker sich in dessen Richtung und riss den bewaffneten Arm in die Höhe. Ein Krachen ging durch den ausgemergelten Körper des Maskierten. Sein gellender Schrei würde keine Menschenseele anlocken. Und wenn doch, dann würde es zu spät sein. Unglaublicher Durst, aber auch Zorn und Energie durchpumpten ihn zur selben Zeit. Die rotglühenden Augen, die das Dunkel der Gasse erleuchtete, waren auf ihn gerichtet. Die spitzen Zähne durchbohrten den Mann. Binnen Sekunden war er blutleer. Er aber vollgepumpt. Aber der Geschmack war widerwärtig, von derart niederer Qualität, dass es ihm sofort wieder den Hals hinaufkroch. So schnell wie er das Blut in sich aufgenommen hatte, so schnell verließ es auch den Körper des Bluttrinkers. Die roten Massen ergossen sich über ihn. Erschöpft sank er zusammen, in dem Meer aus Blut, der Flüssigkeit, die er selten aufnahm und wenn dann nur zaghaft wenig und genüsslich. Neben ihm die Leiche. Sein erstes Opfer. Wie war es dem Schwarzhaarigen möglich einen Menschen, der offensichtlich mitten im blühenden Leben stand in wenigen Sekunden vertrocknen zu lassen? Bluttrinker seines Kalibers, seines Niveaus brauchten mindestens 15-20min. Er hustete. Dort lag er nun. Das Gesicht voller Blut, der Körper voller Blut. Er blickte auf seine Hände. An der einen unverbundenen Hand klebten Überreste der menschlichen Haut an den Fingernägeln. Ein Kratzen im Hals, Brechreiz. Die Hand, die in Leinen gehüllt war, war vollkommen unbeschadet. Das Weiß des Verbandes war im Gegensatz zu anderen Körperstellen gänzlich unbefleckt.
Der Schwarzhaarige riss die Augen weit auf. Er musste mehr von dieser Kraft haben. Und er brauchte mehr Blut. Der abartige Nachgeschmack seines Opfers lag ihm noch immer auf der Zunge. Langsam erhob er sich. Lehnte sich an eine Hauswand, Rot auf Grau zeichnete sich stark ab. Schritt für Schritt kam der junge Mann seiner Blutquelle näher. Überall in der Stadt hinterließ der Rotäugige, der nun in der grauen Stadt nicht mehr als schwarzer Fleck, sondern als rote Schande wandelte, Spuren. Aber keiner beachtete den blutgetränkten Mann. Die Menschen hatten gegen den Erinnerungsverlust zu kämpfen. Nur der Egoist überlebte mit eigener, wahrer Identität. Blindheit war da vorprogrammiert. Sein Körper steuerte unverzüglich auf diese kleine Nebengasse zu, in der sein eigenes Reich begann. Er hatte das Gefühl in seiner Endlosschleife zu stecken. Es schien, als würde jeder Schritt, den er vorwärts tat, in der Luft verdampfen, obwohl er sich schleppend dem Ziel näher brachte. Den Instinkten folgend, als er die entkräfteten Lider schloss, spürte er schließlich das vertraute Material der Tür unter den trockenen, rissigen Fingern.
Als er eintrat, öffnete er die Augen. Das gleiche Augenpaar. Starrer Blick auf das Gesicht gerichtet. Ein plötzliches Wandern der Pupille. Ein Hochziehen der Augenbrauen folgte. Leicht aufgeplusterte Nasenlöcher, ein Senken der Mundwinkel. Entsetzen. Der Schwarzhaarige lachte, als er das Zurückweichen des blonden Jungen bemerkte. Rot war eine starke Farbe. Rot war warm. Warm wie das Blut des geopferten Dahingeschiedenen. Ein Dahingeschiedener, der überlebt hätte, wäre er dem Bluttrinker zuvor begegnet. Kichernd fiel er seinem aus der Gosse gerettetem Knaben entgegen. Früher war er so schwach gewesen, aber jetzt würde er endlich die Macht erhalten, die ihn durch die Natur verwehrt geblieben war. Endlich würde er dem Ruf der Bluttrinker gerecht werden können. Endlich aus der verdammten Stadt ohne Namen ausbrechen können. Und dann in der weiten, freien Welt, wo Städte Namen hatten und Farben Farben waren, den neugewonnenen Stolz und diese wahnsinnige, fremdartige Energie zum Besten geben.
Sein Meister lag in seinen Armen, lachend, kichernd, sich in den schaumigen Mund fassend, wo die Eckzähne zu bedrohlichen Hauern herangewachsen waren. Die Wärme des Blutes und der Geruch des Toten, der am Gebieter klebte, betäubte die Sinne des Blonden. Er würgte, riss sich aber zusammen. Schließlich war sein Herr ein Bluttrinker und Blut sein steter Begleiter. Mit den Ärmeln seines weißen Hemdes mischte er grob über das Gesicht seines Gegenübers, der sich noch immer krümmte und seinen Verstand nicht mehr von dem Lachen befreien konnte. Der Junge berührte vorsichtig sein Gesicht, das Beben, das Zittern wollte nicht enden. Er beugte sich vorne über, nahm den Kopf des anfallerleidenen Mannes in beide Hände und nahm die wild um sich blickenden Augen mit den seinen gefangen. Augenblicklich wurde es still in der Wohnung des Dunkelhaarigen. Die Atmung beruhigte sich, das Zittern verlor sich, der benebelte Blick gelöst. Sein Oberkörper bewegte sich noch weiter über ihn, bot ihm den weißen, wundenlosen Hals an. Er biss sofort zu. Das Geräusch des Schluckens war zu hören. Der Schmerz, den der Junge nie zur Schau gestellt hatte, war schon lange nicht mehr präsent. Er war einfach verschwunden. Manchmal hatte der stille Junge das Gefühl seit der Begegnung mit seinem Wohltäter ein anderer, gar ein anderes Wesen zu sein. Stumm blinzelte er zu dem Mann, der sich noch immer an seinem Hals zu schaffen machte. Er hatte eine gewaltige Veränderung durchgemacht. Diese Wandlung von ruhigen, fast friedfertigen Bluttrinker zum energietrotzenden, tödlichen und wahnsinnig werdenen Monstrum war erschreckend. Und wenn sie weiter so von statten laufen würde, dann würde der Jüngling Angst haben. Noch nie zuvor hatte er wirklich Gefühle entwickelt. War er seit jeher ein einsamer, verstoßener Junge, der ohne ein Wort zu sagen jegliches Leid zu ertragen hatte. Ganz egal, wie viel er zu verschmerzen hatte, Stille war seine Aufgabe. So dachte er jedenfalls.
Endlich ließ der Veränderte ab. Er sog in tiefen Zügen die Luft ein, legte sich über die noch vom frischen Blute warmen Lippen. Erschauernd löste er auch den Griff, der den jungen, zerbrechlichen Körper des Blonden umklammert hielt. Der Schwarzhaarige hatte sich wieder gefangen, das ungestüme Lachen eines außer Kontrolle Geratenen war zunächst verstummt. Angeekelt von dem getrockneten, minderwertigen Blut befreite er sich von seiner Jacke, die an seiner Haut klebte. Ob er diesen grauenerregenden Dunst aus seiner Nase verbannen konnte. Er ging duschen. Der Junge saß verloren auf dem Boden. Hände, Hemd und Körper schmierig von dem Blut eines anderen Opfers.
Als der Hausherr schließlich aus dem Bad kam und sich gerade das Hemd überstreifen wollte, entglitt dem Jüngeren ein entsetztes Quieken. Hand, Bewegung, Griff, Erstarren, Furcht. Das Netz aus geplatzten Adern war weitergewandert, hatte andere Bereiche am Arm in Besitz genommen. Der Träger des Arms selbst blickte mit eigener innerer Ruhe auf die unheimliche Musterung. Er starrte sie an, versuchte sie zu verstehen. Es war ihm, als starrte ihn das Wirrwarr aus Adern und Muskelfäden, ebenso an wie er selbst. Als hätte es eignes Leben und Denken, eigenes Bewusstsein, gar eine Identität entwickelt. In stummer Sorge beobachte der Knabe das Treiben unter der Oberfläche. Wenn er genauer hinsah, so schien es ihm, bewegte sich das Unbekannte mit jedem Herzschlag und Atemzug. Und er war sich sicher, dass es nicht eher ruhen würde, bis es schließlich alles an seinen Herrn verschlungen hatte.
Ohne sich weitere Gedanken zu machen, warf der noch immer halbnackte Mann dem Jüngeren ein frisches Tuch zu. Still machte sich dieser sofort ran, das fremde Blut von seinem Körper zu waschen. Der andere hingegen ließ sich mit dem Badetuch um die Hüften auf das Sofa fallen, den Kopf zurücklegend und die Augen schließend. Während er ein Seufzen losließ, bedeckte er ignorant die Wunde mit dem Hemd, das er noch immer in den Händen hielt. Eilig lief sein kleiner Gefährte in das Schlafzimmer, wo er die Kleidung des Herrn vermutete. Ein paar Schranktüren aufgeschlagen, Gesehenes gleich wieder vergessend, hatte er schließlich die bescheidene Klamottensammlung des jungen Mannes entdeckt und schließlich ein Oberteil entwendet. Endlich kam er mit Hemd, Wundsalbe und Mullbinden an und nahm sich einfach den Platz neben dem Aufnehmenden. Er hockte sich auf das Sofa neben ihn und linste auf die nackte Haut. Schnell bedeckte er den textillosen Oberkörper mit seiner Beute und holte den kranken Arm hervor, den er mit Salbe beschmierte und letztlich verband. Zufrieden klopfte er sachte auf sein vollbrachtes Werk, wobei er den Blick des Versorgten nicht bemerkte. Wie schnell der Kleine aus seiner Scheu hervorgekommen war, sich an ihn gewohnt hatte und sogar ein wenig aufgeblüht war. Naja, er war ja auch nicht sonderlich furchterregend, weshalb nachvollziehbar war, warum der Junge so handzahm war.
Instinktiv fuhr er mit der Zunge über die gewachsenen Zähne. Trotz seiner Vergangenheit war er nicht mehr dieser harmlose, bedeutungslose Bluttrinker. Er wollte Angst. Angst auslösen. In den Augen, die den seinen so ähnlich waren, in den Augen desjenigen, der ihm nach dieser kurzen Zeit schon so vertraut war. Er war Gefahr. Er war Verkörperung der Nacht. Kein Freund, mit dem man eng wurde. Er war Herr. Konnte er doch über das Leben des Jungen entscheiden. Das Rot seiner Augen glühte eindeutig auf, als der Knabe ihm einen kameradschaftlichen Blick zuwarf. Sogleich wurde dieser Blick wieder unterwürfig. Zitternd rutschte das Opfer von der Couch, machte ein paar Schritte weg, fort von freundschaftlicher Nähe, zurück zu unterdrückender Angst. Er liebte es. Das war also Macht. So fühlte sich das Leben des Mächtigen an. Die Veränderungen in seinem Innern waren klar einzusehen. Und es war gut so. Die Zukunft sollte von nun an eine bessere sein. Triumphierend hob er die leuchtenden Augen zur Decke. Ein stechender Schmerz, der abertausender Klingen gleichkam, brach über ihn heran. Was würde er jetzt dafür geben, seinen Arm einfach vom Körper trennen. Wellenartig empfing ihn der Schmerz, hallte in ihm wieder. Der Kampf um Verstand und Bewusstsein gegen den Irrsinn war unerträglich. Entscheidungen zu treffen war noch nie seine Stärke gewesen, schließlich hatte er bevor er seine neue, erfrischende Lebensquelle getroffen hatte, einfach gelebt, wie das Schicksal es mit seinesgleichen zu treiben vermochte, hatte gelebt, wie man es von ihm erwartete. Da war plötzlich Erlösung aus der Kaskade des Leids und sofort fiel er in die Welt der Träume, die für Wesen seiner Natur traumlos und farblos war.
Bewusstlos hockte sein Gebieter auf dem Sofa, das Kinn in die Höhe gereckt. Vorsichtig lugte der Knabe hervor und begutachtete den Mann, der regungslos war. Das Gesicht war bis vor ein paar Sekunden noch ein Wechselspiel von Not und Euphorie gewesen, doch jetzt war es unverzerrt und ruhig und glatt. Fast schon wie eine perfekt geformte Skulptur saß er dort. Jeder Zentimeter seines Körpers unendlich schön. Entspannung machte sich wieder im Körper des Jüngeren frei. Warum war er eigentlich grad so angespannt, ja sogar ängstlich gewesen? Es war ja nicht so, als würde sein Herr ihn grundlos vernichten. Er hatte alles richtig gemacht, ihn niemals verärgert oder sich gegen ihn aufgelehnt. Der junge Mann hatte jedenfalls keinen derartig grausamen Eindruck gemacht. Mal abgesehen davon, dass er selbst noch nie Angst um sein Leben gehabt hatte. Sein Leben war doch erst etwas wert gewesen, als der Schwarzhaarige ihm eine Bleibe geboten hatte. Wenn er das Leben des Jungen wollte, weshalb auch immer, dann sollte er es haben. Schließlich wäre seine Zufriedenstellung ein Grund zu leben-oder zu sterben. Irgendwie fühlte sich der Teenager jetzt schon ein wenig albern. Und auch ein bisschen pervers, schließlich starrte er einen halbnackten Mann seit geschätzten 10 Minuten an. Er hatte keinen Grund Angst zu empfinden und ebenso keinen seinen Retter zu begaffen. Ganz egal, ob er dies wie gewohnt in der Stille der Einsamkeit tat oder aber in jeglicher Öffentlichkeit.
Als der Schlafende endlich erwachte, vernahm er den Geruch von gebratenem Gemüse. Jetzt schließlich schlüpfte er in seine dunkle Kleidung. Schlurfend setzte er sich in Bewegung. Kraftlos und mit trüben Blick betrat er den Küchenbereich. Neugierig lugte er über die Schulter seines Schützlings. Dieser bemerkte sofort den Erwachten und begann wieder sein kameradschaftliches Lächeln zu lächeln. Für einen kurzen Moment hatte der Ältere neu eingenommene Rolle vergessen. Er war schlagartig wieder ganz wach. Als der Junge ihm einen Teller mit Gemüse anbot, riss er den Mund auf, entblößte die Fänge, machte drohenden Laut und schlug ihm den Teller aus der Hand. Ein Krachen des Keramiks, ein Klatschen der beiden Hände, die aufeinanderstießen. Schockiert hielt sich der Jugendliche die geschlagene Hand und zeigte ihm das Rot seiner Augen. Warum waren die Augen des Jungen wie seine eigenen? Pochend machte sich der Schmerz an der Hand bemerkbar. Die Rötung hinterlegte das Netz aus Adern ungemein. Schreiend ging er in die Knie. Aus der Wunde trat das dicke Blut hervor, keuchend presste er den Arm dagegen, versuchte die Blutung zu stoppen. Doch wie unheilsame Fontänen schossen sie hervor, ließen nicht von ihm ab. Sofort fühlte er wie Wärme und Energie, nein, Macht entschwand. Gurgelnde Laute von sich gebend griff er nach dem dünnen Ärmchen. Sich voran schleppend zerrte er ihn hinter sich her, die Angst in den Augen des anderen ignorierend. Das Blut folgte ihnen in einer dicken, klaren Spur. Im Schlafzimmer angekommen, warf er den Jungen vor seinen Sarg und sich gleich hinterher. Wie ruhig der Kleine war, trotz seines Gesichtsausdrucks. Saugend kam der erwärmende und zerstörerische Strom von Blut und in Ekstase trank er mehr und mehr. Es war ihm gleichgültig, welche Höllen er mit jedem Tropfen durchquerte. Er wollte, er musste mehr haben. Allmählich versiegte der Strom von Blut und erschöpft ließ er von dem zitternden Knaben ab. Auf der einen Seite hüllte ihn unendliche Hitze und auf der anderen Seite riesige Kälte ein. Wie in Trance saß er dort, während das Unheil weiter hinauf wanderte und die eine Hälfte seiner Brust bis zum Brustbein einnahm. Der Junge schob sich, den Mann vor ihn fixierend, langsam aus der Gefahrenzone. Doch das von seinem Blut geschaffene Monster riss ihn wieder an sich. Die heiße Zunge fuhr über den blassen, schon wieder vollständig regenerierten Hals. Aber ein weiteres Zustoßen blieb aus. Er saß nur da, das Gesicht in die Brust des Jungen versunken, die Arme fest um dessen Taille geschlungen. Dort saß er nun, festhaltend, fast schon kläglich klammernd, die ganze Nacht, das ruhige Atmen und den regelmäßigen Herzschlag seines Schützlings lauschend.
In der namenlosen Stadt erklang nie das morgendliche Zwitschern der ersten Frühlingsboten oder erste, wärmende Sonnenstrahlen, die durch die Wolkendecke brachen. Dafür war in dieser verfluchten Gegend der zentrale Himmelskörper von zu großer Schwäche. Der Junge wurde einfach durch die Stille der Stadt geweckt, als würde die Trunkenheit der Nacht nun allmählich abklingen und sich zu Ruhe legen. Er öffnete die Augen, blinzelte einmal, zweimal bis er sich in den Armen seines Herrn wiederfand, der ihn noch immer festhielt, als wäre er das einzige menschenähnliche Wesen neben ihm. Unter dem Hemd des Älteren glühte das Netz aus Adern hervor, es hatte sich über Nacht noch weiter ausgebreitet. Mit aller Kraft entwand der Jugendliche einen Arm und tippte nun mit der befreiten Hand auf die Schulter des jungen Erwachsenen vor ihm. Sofort starrte ihn ein rotes Augenpaar eindringlich an. Der Kleinere und mittlerweile schwächere gab ihn mit einem zögerlichen Nicken zu verstehen, dass er sich gerne frei bewegen würde. Als der Bluttrinker schließlich bemerkte, dass er seinen Griff noch immer fest um den Knaben gelegt hatte, ließ er ihn kurz los. Was war eigentlich Abhängigkeit? Klar, sein Opfer war Energiequelle, aber nicht mehr. Er war jederzeit bereit auszulöschen. Sofort packte er den Aufstehenden wieder und riss ihn zu Boden, wo er ihn würgte. Mit einem gewaltigen Grinsen drückte er immer stärker zu, ließ den schwachen Körper auf den Fußboden aufprallen. Er genoss regelrecht die Angst, die sich nach und nach sammelte, die Tränen, die salziger und heißer wurden und diese erstickende Unterwürfigkeit. Er war der Meister, Herr über eine unglaubliche Kraft. Die roten Augen fielen letztlich zu. Der Blonde unter ihm hatte das Bewusstsein verloren. Er ließ los und lachte ein keuchendes, kratzendes Lachen. Das Lachen eines Irren. Langsam erhob er sich. Die Welt. Die Welt musste von seiner neuen Kraft, seinem neuen Gefühl der Macht wissen. Lachend verschwand er in die Ebenen der wolkenvergangenen, namenlosen Stadt.
Schließlich schreckte er wieder auf, fasste sich unwillkürlich an den Hals, der schmerzte. Sein Atmen wurde ein wenig unruhig, als er nachdachte, über das Geschehene. Sein Gebieter wollte ihn töten… War das wirklich Realität? Konnte er nicht noch ein klein wenig länger der Blutlieferant sein und ein paar Augenblicke mehr an der Seite eines Jemands verbringen, der ihm Sinn zum Leben gab? Sein scheuer Blick machte einen Rundgang durch die leere Wohnung. Irgendwie war es erleichternd zu wissen, dass der Würger nicht da war.
Spät am Abend, als die Nacht allmählich hereinbrach, öffnete sich langsam die Haustür. Knarrend. In Zeitlupe. Der Junge hatte sich inzwischen erholt, die Male am Hals waren verschwunden. Er blickte aus dem Fenster. Im ewig bunt erhellten Bezirk war Radau entstanden. Die Schatten der Menschheit kamen heran gekrochen, umzingelten das Ziel, den Ort des Geschehens, voll Gier und Sensationslust und Schadenfreude. Einige Häuser waren erschüttert worden, auseinandergerissen, in grausige Hälften geteilt. Die Bewohner lagen gelähmt, vom Schock und der Existenzangst, auf den Trümmerstraßen, hofften auf einen bald endenden Albtraum. Das was nicht sicher verankert war, verschwand durch die Hände der Gier und des Materialismus. Es gab hier keine Gerechtigkeit, kein Eigentum, kein Besitz. Das einzige, was die Sündigen des namenlosen Biestes hatten, war deren Seele, deren Leben und deren Identität. Doch die namenlose Stadt brachte jeden einzelnen Verirrten dazu seine Seele den Mächten des Bösen zu verkaufen, sein Leben für grausige Illusion zu halten und seine Identität anzuzweifeln.
Er hatte alles gesehen. Gesehen mit den Augen eines Menschen? Der Junge war verwirrt. Wer oder was war er eigentlich? Er hatte nicht das Recht zu fragen, musste er doch in steter Begleitung der Stille verweilen. Der Bluttrinker stand hinter ihm, versenkte die Nase sogleich in der Senke des blassen, jungen Nackens, sog den frischen, wahren Duft ein. In der Spiegelung des Fensters offenbarte sich das Bild des voranschreitenden Zerfalls: Die Zeichnungen hatten sich weiter nach oben gefressen, bedeckten nun den Hals und die linke Gesichtshälfte. Aber auch Brust und Bauch waren nicht unverschont geblieben. Das Weiß seines linken Auges war bitterschwarz geworden und Ansätze seiner Haare im Gegenzug leichenweiß.
Der Junge blieb ruhig stehen und schloss die Augen, um nicht weiter den Teufel der Veränderung anblicken zu müssen. Sofort spürte er die Fangzähne, hörte das weichende Fleisch, das saugende Rauschen des Blutes in seinen Adern. Immer mehr Kraft entfloh ihm, ging über in seinen Herrn.
Glorreiche Energie erfüllte ihn. Er liebte das Knacken, wenn seine Zähne tiefer eindrangen als sie mussten und das Trinkgeräusch, das er so selten von sich selbst hörte. Welche Glückseligkeit in der Lebensflüssigkeit eines anderen verborgen sein konnte! Insbesondere nach seinem kleinem Spaziergang durch die namenlose Stadt, der für kleine, unbedeutende Menschen die Hölle geworden war. Ihm war einfach danach gewesen dem unbedeutenden, unidentifizierbaren Leben seine neue Macht zu demonstrieren. Welch schauriges Schauspiel! Hatte er doch einfach seine eine Hand in die Betonwände gegruben, als wären sie aus Sand und hatte alles was zu packen war, auseinander gerissen. Der Staub war wie Regenschauer auf ihn herab gerieselt, er hatte dieses Gefühl geliebt, erinnerten ihn die winzigen Partikel, die seine Haut gestreift hatten, an die Tränen derjenigen, die sich seine Opfer nennen durften. Er hatte gar nicht das Zusammenkrachen der Trümmer wahrgenommen. Seine Sinne waren mittlerweile nur noch auf das Flehen, das Schreien, das Beten der Verlorenen fixiert. Es gefiel ihm sich nur auf das Wesentliche zu konzentrieren.
Nach und nach sickerte das Blut in jede kranke Ritze seines Körpers und sofort wanderte der dunkle Schatten der Male weiter an der schutzlosen Oberfläche der Haut entlang, fraß sich tief hinein, um nie wieder loszulassen. Aber nicht nur seine Zähne verhakten sich im Fleische seines Opfers, auch seine Krallen wollten nicht mehr loslassen. Den wundersamen Schmerz den er zu Beginn verspürt hatte, nahm er nicht mehr wahr, versank immer weiter in dem Geschmack des Blutes.
War das der Moment auf den er sein ganzes, sinnloses Leben gewartet hatte? Durfte er nun durch die Hand seines Retters sterben? Seine Beine gaben allmählich nach, bald schon lag er in den Armen, die ihn einkerkerten, keine Fluchtmöglichkeit boten. Wahrscheinlich war er dem Blutrausch verfallen, sodass ihn nichts mehr aufhalten konnte. Ihm war speiübel, er hob die Hand, sie zitterte, ließ sie auf die Schulter des Trinkers sinken. Keiner seiner suchenden Bewegungen stieß auf Reaktion. Er verabschiedete sich stumm von der namenlosen Stadt. Lächelte gezwungen. Er wollte nicht sterben. Was hatte er schon erreicht? Er hatte noch nicht mal herausgefunden, was und wer er war! Hatte nicht leben und lieben können, wie er wollte. Nicht von der namenlosen Stadt determiniert werden. Frei sein und sich frei fühlen. Das wollte er.
Plötzlich fiel der Größere nach vorne über und riss den Jüngeren mit zu Boden. Dort lagen sie nun. Schweratmend. Deine eine vollends aufgepumpt, der andere fast leergesaugt. Erschöpft. Verwirrt. Krank.
Es fehlte nicht mehr viel, dann war der Schwarzhaarige ein untergangsversprechendes Kunstwerk.
Als er seinen Rausch ausgeschlafen hatte, öffnete er schlagartig die Augen. Er fühlte, dass er mit der geschenkten Energie auf dem Höhepunkt seiner Macht war. Die namenlose Stadt würde es erfahren. Die Stadt, die die Angst schürte, würde erzittern. Erzittern vor dem Namen, den er sich selbst machen würde. Aber nicht nur diese verdammte Festung würde seine Nachricht aufnehmen und in jede einzelne Pore in sich aufsaugen. Nein! Die gesamte Welt würde bald schon seinen Namen und seine Botschaft kennen. Er war nicht mehr dieser junge, unerfahrene Bluttrinker, dessen Erbe nur kümmerliche Reste darstellte und der das war, wodurch er beschrieben wurde.
Neben ihm lag noch immer kollabiert der Heilerjunge, der Junge, der ihn von seinem alten, vergangenen Ich geheilt hatte. Den Kopf unnatürlich überstreckt, Arme und Beine merklich blass, flache Atmung und sich kaum auf die Luft übertragbarer Herzschlag. Seine eigenen Arme pochten noch von der gestrigen Demonstration. Dennoch berührte er den Ohnmächtigen an der Stirn, wobei ihm die Zeichnungen der Haut ins Auge fielen. Er begutachtete den zerfallenden Körper, fast die gesamte Hautfläche war besiedelt von den grausigen Malen die unbekanntes Grauen vermittelten. Bloß seine Füße und die rechte Gesichtshälfte inklusive Auge waren noch frei von Befall. Aber was sollte schon passieren, wenn die Adern den gesamten Körper überzogen hatten? Er konnte nicht sterben. Er war unsterblich. Ein Bluttrinker. Von höchster Macht. Er lachte kurz auf. Die Haustür gab unter seinem Tritt nach, als er ins Freie treten wollte. Sofort machte er sich auf den Geruch der Ängstlichen aufzuspüren. Und sie bin in den Tod zu verfolgen.
Schreie und schrille Sirenen, rissen ihn aus der Regenerationsphase. Schweißgebadet lag er am kalten Boden, ein ungutes Gefühl in der Magengegend. Es war zugig. Die Eingangstür war eingetreten. Er musste hinterher. Seinem Herrn hinterher. Er rannte durch die Menschenmassen. Blickte sich verwirrt um, suchte mit den Augen den dunklen Horizont ab. Nach ein paar Schritten hatte er die Orientierung verloren, kannte keine Richtung, keinen Weg zurück. Wie abhängig war er in der kurzen Zeit geworden? Seine Beine trugen ihn weiter, vor ihn drängten sich die Menschen immer dichter aneinander, starrten gen Himmel, wo sich eine mächtige Säule aus Rauch erhob. Keuchend blieb er stehen und erblickte das grauenhafte Schauspiel. Ein gigantisches Feuer fraß sich durch Mehrfamilienhäuser und riss alles um sich herum mit sich. Gaffer standen daneben und sahen den Gefangenen zu wie sie elendig verbrannten. Die verzweifelten Hilferufe verstummten nach und nach. Eine gruselige Stille, andächtiges Glotzen waren das einzige das blieb. Und das bedrohliche Knistern der Flammen, die noch immer alles verschlangen, was ihnen im Weg war. Aus dem Glutenmeer stieg eine dunkle Gestalt empor. Augenblicklich erkannte er seinen Retter wieder und lief zu ihm hin. Irgendwie war die Art zu Gehen merkwürdig. Ein paar Meter von dem einzigen vertrauten Fremden entfernt blieb der Junge stehen. Die Male hatten sich also schon so weit ausgebreitet. Aber das war nicht das einzige, was da anders war. Das kühle Gesicht hatte sich zu einer mordenden Fratze verzogen. Aus dem befallenen Auge sprühten Funken, Ursache für das Feuer. An den Klauen hingen Fetzen von Verkohlten. Angeekelt wich er leicht zurück, erschrak aber sofort. Warum versuchte er vor diesem Mann zu fliehen? War er nicht derjenige gewesen, der ihn aus der Dunkelheit geholt hatte? Als der Schwarzhaarige ihn mit den gleichen roten Augen fixierte und ihm die Hand hinhielt, folgte er nur wortlos.
In der Finsternis der altvertrauten Wohnung wurde der Junge sofort wieder von dem Älteren gefangen genommen, biss ohne Zögern zu und trank genüsslich. Diesmal schloss der Blonde nicht die Augen, beobachtete den Trinker bei jeder Bewegung. Im Gesicht und auch an den Füßen wucherten die Zeichnungen der Haut weiter, bis nur noch das rechte Auge des Herrn frei war. Als der blonde Jüngling die Gefahr bemerkte, stieß er das Monster von sich und hielt sich die Bisswunde. Ohne Angst blickte er ihm entgegen. Ruhe, Stille kam über sie. Er befreite sich von der gebeugten Haltung und streckte seinen Rücken. Sie standen sich gegenüber. Er holte tief Luft.
„Herr, ich bin es nicht würdig, Euer Ganzes zu erfüllen. Dennoch bin ich dankbar für das, was Ihr für mich getan habt. Man nennt mich Silent, der der still und stumm alles hinnimmt, was das Leben ihm gibt. Ich habe niemals davon geträumt geschweige denn mir jemals gewünscht eine Stimme zu erhalten, einen Lebenssinn zu haben. Aber ich durfte Euch als Nahrung dienen, hatte einen Grund zu sterben. Ich konnte akzeptieren, dass ich nicht wusste, wer oder was ich war. Aber jetzt, wo ich sehe, wie sehr ich Euch schade, muss ich Euch den Rücken kehren. Ihr dürft nicht durch meine Hand sterben. Wie kann es zu meinem Lebensgrund werden, Euch, meinen geliebten Herrn zugrunde zu richten? Vielleicht werdet Ihr unsere kurze, gemeinsame Zeit für einen bösen Traum halten und wieder vergessen, doch ich werde mich in Zukunft daran erinnern, Eure Güte in Erinnerung behalten und Euch auf ewig danken ein Teil Eures Lebens gewesen zu sein. Durch Euch habe ich in Erfahrung bringen können, dass ich Silent bin, ein Monster wie Ihr, dessen Blut verdorben ist. Aber das ist in Ordnung, denn es hat mir geholfen mich aus der Stille der Einsamkeit zu befreien. Und nun bleibt mir nichts anderes übrig, als zu hoffen, dass wir uns irgendwann in einem anderen Leben, in einer anderen Welt, in einer anderen Gesellschaft wiedersehen werden. Lebt wohl.“ Er strich seinem Gegenüber, der sein altes Ich schon fast gänzlich abgestreift hatte, über die Hand und verbeugte sich kurz. Dann wandte er sich zum Gehen, blickte aber noch einmal zurück. „Bitte, Herr. Ich bitte Euch, geht und besucht Euren Freund, den Arzt.“ Dann war der Junge mit den blonden Haaren und dem süßlichem Blutgeruch mit der Nacht verschwunden.
Noch lange stand der einsame Mann dort und blickte in die Ferne, wusste aber bald schon nicht mehr, was er da eigentlich vermisste und wonach er sich eigentlich sehnte. Er erinnerte sich nur noch an den Ratschlag einen Arzt zu konsultieren. Langsam setzte er sich in Bewegung. Irgendwas fehlte ihm. Er hatte Durst. Sein Körper schmerzte. Jeder Schritt setzte ihm zu. Es war als würde der Boden von unten gegen seine Füße hämmern. Regen setzte ein. Er bemerkte gar nicht, dass er bereits im Heilerviertel angelangt war. Fuß vor Fuß, die Augen auf die eine Tür gerichtet. Dort würde Dr. Speaker auf ihn warten und ihm sagen können, was er hatte.
Er wartete tatsächlich auf ihn, saß auf dem Rollhocker und blickte ihn an. Sein Stetoskop baumelte um seinen Hals, ohne groß Show zu machen, hörte er Herzschlag und Atmung ab. Notierte sich einiges, zapfte ein wenig Blut, ließ es in einer Zentrifuge herumwirbeln. Schließlich machte er ein ernstes Gesicht und zupfte seine Brille zurecht. „Mein lieber Freund, ich kann dir sagen, was du hast. In dir fließt nicht nur das bloße Blut eines Bluttrinkers, nein, das Blut eines Dämons hat sich in deinem Innern breit gemacht! Das, was du auf deiner Haut siehst, ist ein Symptom für eine toxische Reaktion, die das Blut ausgelöst hat. Nur noch ein bisschen mehr und du wärst nun ein toter Untoter.“ Schnaubend klopfte er sich auf die Schenkel, als er allerdings merkte, dass er wie immer nicht auf Lachen stieß, wurde sein Gesicht wieder ernst und er sagte, während er die Brille auf er Nase verschob: „Sei froh, dass du überlebt hast. Aber du kannst nicht mehr so weitermachen. Du musst den Jungen loswerden. Dämon und Bluttrinker sind nicht dazu bestimmt gemeinsame Sache zu machen.“ Das Gesicht des Schwarzhaarigen war von Schatten bestimmt. Er schwieg und blickte bloß auf die hervorstehenden Adern an seinen Armen. Wovon redete er nur? Er war verwirrt. Sein Kopf fühlte sich schwer an. Er hatte das Gefühl, dass er etwas vergessen hatte, was einen Moment der Vergangenheit ausgelöst haben musste. Der Regen hatte aufgehört, dennoch lag da ein Nebel in der Luft, der Beklemmung für ihn bedeutete. Er war Name, der dem man einfach eine Bezeichnung gegeben hatte, wie so vielem Trivialen in der Stadt ohne Namen. Vieles war von geringer Bedeutung, wie sein altes, verlorenes Ich. Er war ein Ausdruck ohne großen, tiefgründigen Wert gewesen und dennoch war es besser als ganz anonym geblieben zu sein. Der Bluttrinker wanderte durch den Nebel. Man hatte ihm ein Todesurteil ausgesprochen. Von seiner alten Identität war nur noch ein Auge der Wahrheit geblieben und Bruchstücke von Erinnerung, die schmerzten, als das er sie so einfach hätte zusammensetzen können. In die Vergangenheit konnte er nicht mehr zurück. Dafür war es bereits zu spät. Er schloss die Faust, seine funkelnden Augen leuchteten ihm einen Pfad durch den Schleier der Nebel. Endlich würde er sich einen Namen machen. Ein Jemand sein. Er brauchte niemanden dafür, er hatte sich selbst. Trotzdem war da eine leichte Melancholie in seinem Innern. In seiner kalten Brust pochte stumm wie in Zeitlupe sein Herz. Es war als hätte es nie existiert.
In einer nichtdatierten Zeit, in einer namenlosen Stadt hat nichts eine großartige Bedeutung. Selbst dann nicht, wenn es eine stille Nachricht in sich trägt und die Wesen miteinander verbindet.
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Tag der Veröffentlichung: 26.05.2014
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