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Brillenboy Imagination

Ich lachte. Was mein Bruder mir so alles erzählte, war so putzig, dass ich es kaum aushielt, ohne das Verlangen ihn übers Telefon zu Tode zu knuddeln. Mein jüngster Bruder, der als Nesthäkchen als einzige in unserem trauten Heim verblieben war, hielt kurz inne und wartete geduldig ab bis ich mein Lachen abgestellt hatte. „Sag mal, Chrissi… Ich frage mich heut schon den ganzen Tag… Was wäre eigentlich, wenn Janosch damals ein Brillenboy gewesen wäre, als du ihn damals zum ersten Mal getroffen hast?“ Ich erstarrte und dachte über die Frage nach. Wenn er damals ein Brillenboy, sprich eher mein Typ gewesen wäre… Was wäre dann bei unserem ersten Treffen passiert?

>>> <I> Einer dieser Fußballhirnis, dieser Daniel, redete gerade mit einem Typen, an dessen Gesicht ich mich überhaupt nicht erinnerte. „Und du bist echt vom Zirkus?“ Überhaupt, im Allgemeinen, war mir so ein Gesicht noch nie in meinem Leben untergekommen! Ich musterte ihn intensiv. Meine Augen wanderten über ihn hinweg, von seinen platinblonden Haaren, das in unterschiedlichen Längen in sein gleichmäßiges, symmetrisches Gesicht, welches wie aus einer fernen, fremden Welt stammte, fiel, zu seinen fast tiefschwarzen, mandelähnlichen Augen bis hin zu den wahrscheinlich sinnlichsten und vollsten Lippen, die ich je mit einem Blick gestreift hatte. Wie gelähmt blickte ich in diese Augen, die von einer simplen, schwarzen Brille eingerahmt waren und ihn schlichtweg intelligent und dennoch extrem niedlich erschienen ließ. Augenblicklich musste ich an Niklas denken, ich begann die beiden zu vergleichen. Doch irgendwie war es nicht dasselbe. Ich meine das Gefühl. Überhaupt nicht dasselbe. Der Körper des Fremden war schmal und androgyn und endete ihn dünnen, formvollendeten langen Beinen. Auch wenn beide süß wirkende, unschuldig dreinblickende Jungen waren, die beide eine Brille trugen, schienen sie mir vom Typ her völlig unterschiedlich. Er war ein wirklich ungewöhnlich aussehender Kerl. Jemand, der eindeutig nicht aus dieser Gegend stammte. Das Ungewöhnliche an ihm, das ihn wie eine Figur aus einer anderen Wirklichkeit erschienen ließ, waren die vitale honigbraun schimmernde Haut und die scheinbar ungefärbten blonden Haare sowie Brauen. Er war wie ein niedlicher kleiner Engel, wie ein unschuldiger Prinz aus einer anderen Dimension. Ein überirdisch gutaussehend!

„Ja… Aber Rummel klingt vielleicht besser. Zwischen Zirkus und Rummel gibt es einen Unterschied…“ Ein Lächeln offenbarte ein strahlend weißes, vollkommen symmetrisches Gebiss. Da nahm man ihm diese leichte besserwisserische Verbesserung nicht wirklich übel. Dieser kleine Brillenboy sollte vom Rummel sein? War er nicht ein Lichtwesen, das vom Himmel zu uns hinunter gesandt worden war? Ich sah ihn wieder an. Trotz seines scheinbar reinen Aussehens, passte der Rummel dann doch wieder zu ihm. Es war, als stände dort ein fleischgewordener Jahrmarktstraum, der leuchtend und unreal schön mit Verführung pur lockte. „Das heißt, deine Familie gehört zur Jahreskirmes, wo es 365 Tage lang Jahrmarkt geben soll? War es nicht so?“, fragte Tino nun blöd wie ein Knäckebrot. Verschüchtert und trotzdem guten Mutes bejahte der Fremdling und gab offen zu: „Eigentlich sind meine Eltern eher ein kleines Nomadenvölkchen und bleiben nicht gern an einem Ort sesshaft, aber da ich dieses Jahr mein Abitur machen soll, war dieses beschauliche Örtchen hier der perfekte Standpunkt, um nicht die Schule wechseln zu müssen.“ Das hier also, war der Neuankömmling, der noch während der 12 bei uns reingerutscht war. Er war Widerspruch pur, die Sünde in Person und gleichzeitig sowas wie das Lamm Gottes. Ich wusste nicht so recht, wie ich ihn einzuordnen hatte. „Also, ich finde, dass das alles total spannend klingt, Janosch“, flötete Jenny, die sich zwischen die Leute gezwängt und sich während sie sich bemühte ihre beiden Zwillinge aus dem viel zu engen Tanktop zu quetschen an den  Angesprochenen gedränt hatte. „Ich meine, dein Leben als Vagabund!“ Ein kurzes Lachen ertönte von diesem Janosch. „Für einen kurzen Moment dachte ich, dass du mich Zigeuner nennen würdest…“ Die Leute, die allesamt um ihn herumstanden, lachten unsicher, während ich das Bedürfnis einen Augenverdreher loszulassen mit Bier ertränkte. „Und nebenbei, fragt erst gar nicht, ob ich ein Tamburin dabei hab und für euch tanze. Ich bin ein Vietnamese, ich habe also keinen Plan von solchen Spielchen.“ Jetzt fing das Gelächter erst richtig an. „Heißt das, du warst noch nie ein ganzes Jahr in einer Klasse? Kommst du da mit dem Stoff klar?“, die Erleuchtung in Person, genannt Josi, wandte sich an den nickenden Blondi. „Jaja, in mir fließt halt das Blut eines Vietnamesen, wie könnte ich da nicht mitkommen? Kennt ihr den nicht die Theorie von dem assigen Asiaten, dessen Gehirn durch eine Reisschale und einen Megaprozessor ersetzt wurde? Das sind die Dinge, die wir zum Überleben brauchen.“ Wie kam dieses einzigartige Lächeln auf, ein interessanter Kerl. „Aber wenn du Probleme hast, werde ich mich mit Freuden um dich kümmern.“ Jenny strich dem assigen Asiaten  nun, wie er sich selbst genannt hatte, während sie ihre Aussage mit doppelten Boden sacken ließ, eine längere Haarsträhne hinter das kleine Ohr. Bestimmt schob er allerdings ihre Hand von seinem Ohr. „Tut mir leid. Du musst dir leider ein neues Opfer suchen, du gehörst überhaupt nicht in mein Beuteschema, Schätzchen.“ Wieder gebrauchte er dieses pseudofreundliches Lächeln, als Janosch  ihr direkt die Meinung geigte. Beleidigt verschränkte Jenny die Arme vor ihre unfreiwillig begurteten Airbags. Überraschung? Keiner hatte damit gerechnet, dass er die Bitch abblitzen ließ, schließlich war sie sowas wie ein gratis Willkommensgeschenk, das in seine Hände geflogen kam. In der Oberstufe war sie als einer der populärsten Liegeunterlagen bekannt. „Wenn ich nicht dein Typ bin, wer dann?“, eine Medusa erwachte in ihren Augen. Die Anzeige auf meiner Selbstbeherrschungsskala erreichte allmählich den kritischen Bereich, sodass ich mein Grinsen fast nicht mehr unter Kontrolle hatte. Die asiatische Blondine schaute sich kurz um, bis er schließlich seinen bebrillten Blick auf mich fokussierte. Hinter dem Glas seiner Brille verbargen sich diese ungewöhnlichen dunklen Augen, die mich nun durchdrangen als wäre ich Zuckerwatte. Letztlich gab er Jenny eine Antwort, während er wieder seine Beißerchen entblößte: „Er wäre mein Typ!“ Dabei verwandelte sich sein zuckersüßes Lächeln in ein böses Monstergrinsen. Vollkommen geblockt über diesen Gedanken, starrte ich in seine Richtung. Hatte ich mich verhört? Irgendwie ist dieser Brillenboy ja schon verlockend, aber etwas störte mich an ihm… Ich überlegte. Während alle mich anstarrten. Dabei verzog sich seine Fratze noch mehr und ich stellte ihn mir vor, wie er einen scheinheiligen Heiligenschein trug, obwohl ihm der Teufelsschwanz und die Fledermausflügel schon förmlich aus dem Rücken wuchsen. Meine Überraschung wich sofort meinem alten Ego und lachend gab ich ihm preis: „Echt ein Lacher… Tut mir ja leid dich enttäuschen zu müssen… Aber Blondinen sind ja so gar nicht meins!“</I> <<<

 

„Chrissi? Hörst du mir zu? Bist du weggetreten? Hast du nen Schlaganfall oder bist du grade in nen Sextraum mit Janosch verwickelt?!“ Benebelt nahm ich die Stimme meines kleinen Bruders war, der noch immer mit mir am Telefon hing. Wovon hatten wir gleich nochmal gesprochen, dass ich in eine abgewandelte, vergangene Version meines  ersten Treffens mit Janosch vertieft gewesen war? „Nein, nein. Alles ok bei mir… Ich habe gerade nur über deine Frage nachgedacht…“ Ich hörte sein bezauberndes Lachen. „Und? Was wäre wenn?“ Ich schmunzelte leicht, verzog aber sofort wieder das Gesicht bei dem Gedanken an all das, was passiert war, bevor wir zusammengekommen waren. „Wenn Janosch damals, als wir uns das erste Mal getroffen haben, ein Brillenboy gewesen wäre, dann wäre es nicht wirklich anders gewesen… Okay, er wär vielleicht ein wenig streberhafter gewesen und vietnamesischer… Aber sein Charakter ist einfach unbeschreiblich und ganz sicher nicht aus seinem Wuselkopf zu löschen.“ Wir sprachen noch über andere, triviale Dinge unseres Lebens und kratzend fragte ich mich noch, ob ich Janosch eine Pseudobrille schenken sollte. Der Brillenboy goes Rock-Look stand ihm… Irgendwie…

 

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 07.08.2013

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Bang Yong Guk

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